16,99 €
Ein abgehalfterter Anwalt zwischen Integrität und schönem Leben. Anwalt Valentino Bruio ist am Arsch. Die Anwaltskammer droht ihm mit Ausschluss, er ist pleite und hat gerade einen schwarzen Immigranten abgewiesen, der von seinem Kind in Not erzählte. Er hat Loser als Klientel einfach satt. Als er aber erfährt, dass der Mann getötet wurde, gerät Bruio in eine moralische Krise. Mit Freunden aus der schwarzen Community Roms beginnt er eine Untersuchung. Sie führt ihn in die Villa der mächtigen Familie Alga-Croce. Die Konfrontation mit dem rätselhaften Patriarchen Noè öffnet ihm den Blick auf Machtgier und grenzenlose Amoralität der Oberschicht. Seine Zuneigung zur Tochter des Hauses aber stellt Bruio vor ein Dilemma. Bereits in seinem Erstling erweist sich De Cataldo als hellsichtiger Analytiker einer korrumpierten Gesellschaft. Provokativ, politisch inkorrekt, packend – ein Noir der Spitzenklasse!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 266
Anwalt Valentino Bruio ist am Arsch. Die Anwaltskammer droht ihm mit Ausschluss, er ist pleite und hat gerade einen schwarzen Immigranten abgewiesen, der von seinem Kind in Not erzählte. Er hat Loser als Klientel einfach satt. Als er aber erfährt, dass der Mann getötet wurde, gerät Bruio in eine moralische Krise. Mit Freunden aus der schwarzen Community Roms beginnt er eine Untersuchung. Sie führt ihn in die Villa der mächtigen Familie Alga-Croce. Die Konfrontation mit dem rätselhaften Patriarchen Noè öffnet ihm den Blick auf Machtgier und grenzenlose Amoralität der Oberschicht. Seine Zuneigung zur Tochter des Hauses aber stellt Bruio vor ein Dilemma.
Bereits in seinem Erstling erweist sich De Cataldo als hellsichtiger Analytiker einer korrumpierten Gesellschaft.
DER AUTORGIANCARLO DE CATALDO wollte Filmregisseur werden, studierte aus Rücksicht auf den Vater Jura und jobbte als Radio-DJ. Als Richter lernte er das Elend der Knäste kennen und das ganze Spektrum der Kriminellen, von der Terroristin über den Dealer bis zur berüchtigten Magliana-Bande. Diese inspirierte ihn zu seinem internationalen, mehrfach verfilmten Bestseller Romanzo Criminale. In Suburra beschreibt er die Verstrickungen von Halbwelt, Politik und Vatikan.
2016 war der leidenschaftliche Cineast Juror der Internationalen Filmfestspiele von Venedig. Schwarz wie das Herz ist sein erster Roman, er wurde in vielen Auflagen gedruckt und mit Giancarlo Giannini in der Hauptrolle verfilmt.
DIE ÜBERSETZERIN KARIN FLEISCHANDERL übersetzt aus dem Italienischen und Englischen, u. a. Gabriele D’Annunzio, Pier Paolo Pasolini, Melania G. Mazzucco, Paolo Rumiz. Österreichischer Staatspreis für literarische Übersetzung.
Giancarlo De Cataldo
Schwarz wie das Herz
Die Hauptpersonen
Valentino Bruio, Anwalt
Giovanna Alga-Croce, junge Erbin
Noè Alga-Croce, Vater von Giovanna
Rodney Vincent Wilson, Besitzer des Sun City
Giacomo Del Colle, Kommissar
Enrico Testi, genannt „Zaphod“, Hacker, Freund von Valentino Bruio
Mario Poggi, Arzt, Verlobter von Giovanna Alga-Croce
The Devil, I safely can aver, has neither hoof, nor tail, nor sting:nor is he, as some sages swear, a spirit, neither here nor there, in nothing – yet in every thing.
He is – what we are.
Percy Bysshe Shelley, Peter Bell the Third
Ein Schwarzer, der nach Wein stank, einen unverständlichen Dialekt sprach und an seinem gelben, schweißnassen T-Shirt zerrte. Der erste Klient seit einer Woche. Ich hatte jedoch überhaupt keine Lust, mich noch einmal mit einem Schwarzen auseinanderzusetzen, der nichts auf die Reihe brachte. Ich war zu müde, zu deprimiert, zu angeödet.
Ich aktivierte einen uralten Phonola-Ventilator aus dem Jahr 1962, der strategisch auf einem Stapel des Fachblatts „Foro Italiano“ platziert war. Das leise Summen schaffte es nicht, einen Haufen von Wechselprotesten, die meinen Lebensunterhalt sicherten, aus dem irreversiblen Koma zu erwecken. Vorhuten von Spinnen stürmten meinen Sessel. Der Schwarze hatte den Kopf auf den Arm gelegt und schien kurz davor, einen Heulkrampf zu bekommen.
– Al, seufzte er schließlich, – Call me Al …
– Gut, Al. Wie heißt dein Sohn? Was ist ihm deiner Meinung nach zugestoßen?
Er schüttelte den Kopf. Große Tränen glitzerten in seinen müden Augen. Er stank nach dem Dreck von tausend Niederlagen. Bitteren Niederlagen. Er stand langsam auf, mit gesenktem Kopf. Ich versuchte ihm klarzumachen, dass ich nicht viel für ihn tun konnte. In einer großen Stadt mit vier Millionen Einwohnern konnte ich seinen Sohn nicht suchen. Nicht ohne Foto. Nicht ohne die Hilfe der Polizei.
– Du glaubst mir nicht … Niemand glaubt …
Verzweiflung lag in seinem Blick. Und seinem Schweigen. Hartnäckigem Schweigen.
– Aber was soll ich glauben? Wie kann ich dir helfen, wenn ich dich nicht verstehe?
Er war jedoch schon an der Tür. Dann drehte er sich um, als ob er es sich anders überlegt hätte. Er blickte mich mit mittlerweile trockenen Augen an.
– Du zu beschäftigt, keuchte er, bevor er verschwand.
Beschäftigt! Meine beruflichen Verpflichtungen! Meine Mutter wartete seit drei Wochen auf einen Besuch. Bei Lolita war ich dreihundert Seiten im Rückstand. Meine Essensvorräte bestanden aus zwei Dutzend Bierdosen und vier genmanipulierten Pfirsichen. Ich besaß zwei Karten für das Konzert der Sud Sound System im Mattatoio, doch ich hatte niemanden, mit dem ich hätte hingehen können, denn Vittoria war mit ihrem Freund, dem Augenarzt, in Terracina, um ein Wochenende im Zeichen von Sonne & Sex zu verbringen. Auf dem alten Lenco-Plattenspieler wiederholte David Byrne unablässig, das Paradies sei eine Bar, in der nie etwas passiert, und der zwingende Aufruf der Anwaltskammer kündigte mir an, dass ich in zehn Tagen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr Anwalt Valentino Bruio, sondern aus der Kammer ausgeschlossen und arbeitslos sein würde.
Donna Vincenza, die Portiersfrau, kam hoch, um sich zu vergewissern, dass der schwarze Mann keinen Schaden angerichtet hatte. Al. Oder wie auch immer er hieß, hätte mein letzter Klient sein können. Und ich hatte ihn gehen lassen, samt seiner Verzweiflung und einem verschwundenen Sohn, den zu suchen ich mich geweigert hatte. Ich zappte ein wenig durch die TV-Programme, mit dem einzigen Ergebnis, dass ich in einem Meer von Melancholie und Schläfrigkeit versank. Zu spät für einen harmlosen italienischen Film, zu früh für den POMO-Nachrichtendienst. Ich beendete einen weiteren sinnlosen Tag würdevoll mit einem Klassiker von Camilleri. Mein letzter Gedanke galt dem Schwarzen: Wenn er wirklich so verzweifelt war, würde er bald wieder auftauchen.
Am Tag darauf hatte es sechsunddreißig Grad und das Hygrometer zeigte eine Luftfeuchtigkeit von achtundsechzig Prozent an.
Um drei Uhr nachmittags stand ich am Ende der Via Appia. Vor dem Hintergrund des strahlend blauen Himmels hoben sich majestätisch die berühmten Pinien ab. Ihre strengen, edlen Formen machten die Übelkeit, die mir die gelbliche Farbe der Villen im Quarto Miglio verursachte, noch schlimmer.
Der Cappuccino in der Bar dello Sport war ekelhaft, genauso schmierig wie der Barmann mit der schmutzigen Schürze, der in einen stummen Streit mit einem besoffenen Gast verwickelt war.
Ich machte einen Anruf von meinem alten NEC-Handy, mittlerweile eine moderne Antiquität. Der Besoffene starrte mich benommen an. In seinem ausdruckslosen Blick aus roten, wässrigen Augen hätte man sich verlieren können. Beim vierten Klingeln antwortete eine Frauenstimme.
– Man muss sie im Schlaf überwältigen, sagte ich.
– Hallo? Wer ist da? Wer spricht?
Ich drückte auf den roten Knopf und das Gespräch brach ab. Der Besoffene hob sein randvoll mit Likörwein gefülltes Glas und stimmte heiser, lallend und spuckend die Marseillaise an. Ich bezahlte auch seine Zeche und machte mich zu meiner erbärmlichen Mission auf.
Haus Nummer 40 befand sich zwischen einer niedrigen Mauer und einer Parfümerie. Auf jeder freien Fläche wünschten Lazio-Fans den Roma-Fans Tbc an den Hals und diese ihren historischen Rivalen im Gegenzug Aids. Signor Calderai hatte ein Schlafzimmer und eine komplette Einbauküche aus Resopal gekauft und dem Möbelhersteller Plu aus Civita Castellana ungedeckte Wechsel vorgelegt. Der Möbelhersteller war im Grunde ein anständiger Mensch. Andere wandten sich zum Zweck der Geldeintreibung nicht an einen Anwalt, sondern direkt an einen Slawentrupp, der kein Pardon kannte. Meine Gage bestand aus großzügigen fünfundzwanzig Prozent zuzüglich Spesen. Drei Monate, um den Säumigen aufzuspüren. Ein hoffnungsloser Fall. Und jetzt würde der schwüle Nachmittag mir zu der Gleichgültigkeit verhelfen, die man brauchte, um das uralte Handwerk des Mörders oder des Winkeladvokaten auszuüben. Der Telefonanruf war ein Akt der Höflichkeit gewesen. Ich schieße den Leuten nicht gern in den Rücken.
Ich klopfte an die gepanzerte Tür. Auf dem Schild stand Büro. Ich ging entschlossen hinein und ignorierte die kleine, müde Frau im rosa Schlafmantel. An den Wänden einer Art Wartezimmer hingen nachlässig Drucke mit Fuchsjagdmotiven. Unter einem leeren Bücherregal stand ein Sofa, mit einem Laken darauf, auf dem eine Nummer von „Novella 3000“ oder vielleicht auch von „TV Sorrisi e Canzoni“ lag, Spuren einer menschlichen Anwesenheit. Es war nicht einfach, Signora Calderai begreiflich zu machen, dass die hässlichen Möbel in ihrer Wohnung früher oder später bezahlt werden mussten. Sie berief sich auf die Krankheiten ihrer Kinder und einen kürzlich erfolgten Konkurs ihres Mannes, ich brachte diskret die Straftat der Unterschlagung ins Spiel, worauf ich ein paar Münzen kassierte und gehen durfte, gefolgt von einem Hagel an bösen Blicken.
Während ich mit dem Honda Concerto, Baujahr 1990, über die Kurven der Tangenziale Est fuhr, gefangen in einer zyanotischen Blechlawine, wuchsen meine Unzufriedenheit, meine Desillusionierung, meine Bitterkeit immer mehr an.
Ich legte mich ins Bett und fiel in einen komatösen Schlaf, aus dem ich erst erwachte, als der Sonnenuntergang den kobaltblauen Himmel überzog, der über dem Hof an der Via Casilina 333 zu sehen war. Der Prattico-Wohnblock, den ich als Mieter beehrte, bereitete sich auf die abendlichen Rituale vor.
Donna Vincenza rief ihre Kinder nach Hause, zwei künftige Serienmörder, die sicherlich gerade dabei waren, die Tore des Viertels mit blauer Farbe zu besprühen. Die Freier Vanessas, der Hure aus dem dritten Stock, schlichen diskret und verlegen an der Wand entlang. Auf hundert Fernsehschirmen, die in hundert einsamen Haushalten flimmerten, ertönten die Fragen der Quizshow Wer wird Millionär?
In meiner kleinen Welt herrschte Ordnung. Ich mochte den Prattico-Wohnblock, vier anonyme, achtstöckige Gebäude unter der Aufsicht Donna Vincenzas. Mein Vater hatte seine ganze Abfertigung in diese sechsundachtzig Quadratmeter Wohn- und Arbeitsraum investiert. In der Hoffnung, ich würde die Träume aufgeben und meine prekäre Finanzlage in Ordnung bringen. Seine Gefäßerkrankung hatte ihn davor bewahrt, meine brillante Karriere mitzuverfolgen, die mit einem Disziplinarverfahren vor der Anwaltskammer endete.
Meine Mutter rief an.
Bei ihr sei zwar noch nicht eingebrochen worden, doch die Räuber, ganz sicher Zigeuner und Albaner, waren auf dem Kriegspfad. Das war natürlich die Schuld der Regierung und der Richter, die nicht mehr mit harter Hand einzuschreiten verstanden. Es gab da eine Sängerin, die sie sehr mochte, eine gewisse „La Madonna“, sie erinnerte mich daran, ihr eine ihrer Platten mitzubringen, sofern ich sie vor ihrem baldigen Hinscheiden überhaupt noch einmal besuchen würde. Schließlich teilte sie mir noch mit, sie habe sich bei Ritzino, einem eleganten, „modernen“, auf Preppies spezialisierten Laden, ein entzückendes blaues Kleid mit weißen Tupfen gekauft. Sie war vom Witwer Vignanelli, einer überaus anständigen Person, die leider viel Pech im Leben gehabt hatte, zum Abendessen eingeladen worden!
Ich flüchtete mich ins Netz. Ich fand eine ungeöffnete Mail. Ich las. Um 79,90 Euro bot die Online-Werbefirma Plaid eine Fahrt zum Heiligtum von Padre Pio in San Giovanni Rotondo an, samt Lunchpaket und Gratisdecke. Ich stellte mir Hunderte einsame Menschen vor, die den Sonntag im Wallfahrtsort verbrachten, liebevoll umsorgt von den E-Commerce-Assistenten. Ich stellte mir Tausende einsame Menschen vor, die nicht den Mut fanden, auf die Werbeanzeige zu antworten. Als ich mich dabei ertappte, wie ich mir alle einsamen Menschen auf dieser Welt vorstellte, wurde mir klar, dass ich unbedingt ins Sun City musste.
Schreckliche Bluttat im Nordosten: Eine Frau und ihr zwölfjähriger Sohn erstochen. Die überlebende Tochter, einzige Zeugin, beschuldigt zwei Personen, die mit slawischem Akzent sprachen. Ein Rechtspolitiker: Slawen genetisch kriminell. Der Bürgermeister ruft zu einer Demonstration gegen illegale Einwanderer auf. Der Bischof warnt vor der Gefahr des Islam. Die Regierung kündigt ein noch härteres Durchgreifen gegen die illegale Immigration an.
– Der schwarze Mann macht Angst, seufzte ich und gab Rod die Zeitung zurück. – Ganz was Neues!
– Nicht die Schlagzeilen, du musst das Blattinnere lesen.
Alarm Nullwachstum. Nach dem Babyboom wird Italien zunehmend ein Land von Alten. Die Mieten in den historischen Zentren der Metropolen steigen stetig an. Nasdaq und Dow Jones: Chronik einer angekündigten Krise. Margherita Dalla Piazza, aufstrebende Managerin im Dienstleistungssektor, erzählt ihre Geschichte: Ich, Unternehmerin, aber vor allem Mutter. Armani eröffnet ein neues Geschäft auf der Fifth Avenue in New York. Prada triumphiert auf der Modemesse in Vancouver. Kleine Tipps einer Ausnahme-Lehrerin: Michelle Hunziker verrät, wie Sie Ihre perfekte Figur und tolle Brüste bewahren.
– Es reicht, Rod, du weißt, gewisse Dinge ertrage ich nicht!
Doch Rodney Vincent Wilson war an diesem Abend nicht in Stimmung. Sogar die Atmosphäre im Sun City erschien mir düster, plötzlich fremd. Ich betrachtete die schmutzigen Tische, die mehr schlecht als recht von erlöschenden Kerzen in rauchgeschwärzten Glaslaternen beleuchtet wurden. Und die wackelige Bühne, auf der sich lustlos ungelenke Tänzer und besoffene Musiker abwechselten. Und den Tresen, auf dem ein Haufen Rum- und Schnapsflaschen standen, hinter denen man vage die kleine Küche und das Hinterzimmer sehen konnte, das Reich käuflicher Liebesaffären von mehr oder weniger illegalen Einwanderern, heimatlosen Revolutionären, die es satthatten, Komplotte gegen kannibalistische Generäle und imperialistische Herrscher zu schmieden, Gymnasiasten mit Kufija, die nach einem Abstecher ins schwarze Rom fassungslos ins nächstgelegene Sozialzentrum weiterzogen, wo sie sich mithilfe von ein paar Joints in die Gedankenwelt von Subcomandante Marcos zu versetzen versuchten.
– Wenn nicht einmal du sie siehst, Valentino, sind die Jungs so gut wie unsichtbar, flüsterte Rod.
Ich folgte der imaginären Linie, die er mit seinem langen schwarzen Finger auf der Zeitung zog.
– Eröffnungsparty der Tripla Folla, des neuen Lokals in Trastevere … Im zahlreich erschienenen Publikum befanden sich auch die Dragqueen Platinette und der Abgeordnete Vittorio Sgarbi, die miteinander Tango tanzten …
– Weiter unten, Bruder, weiter unten, zischte er ungeduldig.
Endlich sah ich es. Einen nichtssagenden weißen Fleck inmitten eines undeutlichen, großkörnigen schwarzen Flecks. Mit makabrem Sinn für schwarzen Humor wurde in Form von zwanzig Zeilen über den ungeklärten Tod des zweiunddreißigjährigen südafrikanischen Bürgers Ray Anawaspoto berichtet, dessen Leiche kurz vor Morgengrauen in der Via Goito, in der Nähe der Stazione Termini gefunden worden war, einem „Viertel, das trotz der lobenswerten Bemühungen der Stadtverwaltung nach wie vor ein Freihafen der illegalen Einwanderung ist“. Todesursache: eine Schusswunde. Ich überflog die knappen Nachrichten: Die Ermittler sprachen von einer Abrechnung innerhalb der afrikanischen Community, die, wie allseits bekannt, vom Drogenhandel lebte. Auf einer Seite weiter im Blattinneren gab ein Journalist einen giftigen Kommentar ab, der sich in zwei grundlegenden Sätzen zusammenfassen ließ: „Nigger, es reicht. Bringt euch zu Hause um!“ Dabei war diese Zeitung früher einmal das halboffizielle Organ des aufgeklärten Bürgertums gewesen. Entweder hatte das Bürgertum sich verändert oder jemand hatte das Licht der Aufklärung ausgeknipst.
– Tut mir leid, Rod …
– Das ist nicht der Erste und er wird auch nicht der Letzte sein, Valentino.
– Kanntest du ihn?
– Mann, jeder Schwarze in dieser großen Kloake landet früher oder später im Sun City. Wahrscheinlich hast auch du ihn des Öfteren gesehen.
– Ich erinnere mich nicht, Bruder.
– Weil es hier dunkel ist.
– Erzähl mir von ihm.
– Sie nannten ihn Al … ein x-beliebiger Name … Er war an einem Ort zur Welt gekommen, wo es schwierig ist, ein Mensch zu bleiben. Er kam, um hier sein Glück zu versuchen, wie alle …
– Dealte er?
– Ich glaube nicht, keine Ahnung. Er hatte seinen Job verloren, hatte jedoch noch immer Geld. Er trank. Er war traurig … Er trank und heulte. Eines Abends musste ich ihn rausschmeißen, so besoffen war er. Armer Al. Er hat immer wieder einen Namen gerufen, er war wie besessen davon …
– Was für einen Namen?
– Barney, sagte Rod mit einer vagen Geste. – Ein Kind. Barney. Ich nehme an, sein Sohn. Einmal hat er mir ein Foto gezeigt. Ein Baby mit krausen Haaren und großen lachenden Augen … wirklich ein wunderhübsches schwarzes Baby, Val. Du hättest das Foto sehen sollen. Es stammte aus der Zeit, als sie in Ladispoli wohnten … einem Ort voller Palmen und Wind. Wie Nairobi …
– Beschreib ihn mir.
– Unauffällig. Groß, dünn, in letzter Zeit trug er immer ein dreckiges gelbes T-Shirt. Aber er war kein schlechter Junge.
Der Name. Nenn mich Al, hatte er gesagt … Er war es. Meine Güte, er war es wirklich! Wenn ich nicht so faul, so fertig gewesen wäre … Er war ausgerechnet zu mir gekommen, man hatte ihm im Sun City von mir erzählt. Gestammelte Sätze, er war betrunken, konnte kaum Italienisch … Für mich war er bloß einer der vielen unsichtbaren Schwarzen gewesen … einer, den man umbringen wollte.
– Eine hässliche Geschichte, begann Rod von Neuem. – Heute hatten wir eine Durchsuchung … Dein Freund Castello war dabei …
– Was haben sie gesucht?
Er lächelte bitter.
– Alles und nichts. Ein toter Schwarzer ist bloß ein weiteres Ärgernis.
Ich senkte den Blick. War meine Gleichgültigkeit gegenüber Al so viel besser gewesen?
– Was seid ihr doch für seltsame Leute, Bruder! Es kommen jede Menge armer Italiener hierher und dennoch führt ihr noch Sklaven ein.
Das Foto in der Zeitung tat mir weh. Ein weißer Fleck inmitten eines größeren schwarzen Flecks war alles, was von einem schwierigen Leben am anderen Ende der Welt übrig blieb.
– Tut mir leid, Rod. Du weißt, wie ich denke.
Rod zündete sich einen Joint an.
– Denken? Denken reicht nicht, Mann, man muss was tun! Wir können nicht zulassen, dass sie uns wie Hunde abknallen.
Er war erregt, zornig. Der süßliche Geruch des Grases verursachte mir Niesreiz.
– Nachdem dein Freund Castello gegangen war, gab es hier ein Treffen. Die Jungs sind verzweifelt. Sie wollen bewaffnete Patrouillen bilden. Nachts herumlaufen. Sich verteidigen …
– Hört sich wie Schwachsinn an.
Rod entspannte sich. Seine Augen leuchteten zufrieden. – Ja, sicher, Schwachsinn. Doch die Brüder sind nervös. Die Brüder fragen sich: Wenn ein Weißer umgebracht wird, setzen die Bullen Himmel und Hölle in Bewegung, doch warum wird der Fall in zwei Tagen zu den Akten gelegt, wenn einer von uns umgebracht wird?
– Das stimmt so nicht, Rod, ich …
– Spiel mir gegenüber nicht den weißen Anwalt, Valentino. Wie auch immer, es ist mir gelungen, die Wogen zu glätten. Unter einer Bedingung …
– Und zwar?
– Du.
– Ich?
– Du. Du wirst den Mordfall untersuchen. Abrechnung. Drogen. Für Rauschgift sind Nigerianer und Nordafrikaner zuständig. Unsere Community ist sauber. Al war sauber. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer, Bruder. Al war der harmloseste Schwarze auf der Welt. Mit einer gültigen Aufenthaltsgenehmigung. Geh zur Polizei. Tritt ihnen in den Arsch. Du bist ein Weißer. Du bist einer von ihnen. Finde Als Mörder. Du bist ein Weißer, doch du bist auch einer von uns!
Ich legte eine Hand auf seinen muskulösen schwarzen Arm.
– Rod, flüsterte ich, unfähig, ihm ins Gesicht zu sehen. – Er ist zu mir gekommen und ich habe ihn weggeschickt …
– Du?
– Ja, ich. Ich bin ein müder Weißer, Rodney. Ich stehe kurz davor, meine Zulassung zu verlieren. Ich bin pleite, ich bin ein totaler Versager. Nicht mehr und nicht weniger.
Rod rüttelte mich wütend.
– Blödsinn! Das ist bloß ein Grund mehr zuzusagen. Denk an Al … Er hat dir vertraut … Alle glauben an dich. Die Brüder haben Geld gesammelt. Dreitausend Euro für die ersten Spesen. Du bekommst alles, was du brauchst: Männer, Hilfe … Du wirst nicht allein sein, du musst dich um nichts kümmern.
– Ich kann es nicht machen, Rod.
– Aber warum nicht, in Gottes Namen?
Warum nicht? Eine ergreifende Kora-Melodie hing in der Luft, mein Herz war schwer wie Stein. Ich erinnerte mich an die vielen Abende, die ich an den schmutzigen kleinen Tischen in dem Kellerlokal auf der Piazza Vittorio verbracht hatte. Mitten unter ihnen, unter Menschen wie Al, die ich nicht verstand, die ich nie ganz würde verstehen können. Inmitten ihrer heiseren, warmen Stimmen, dem Zighini und dem Mangosaft, einem nach Kreuzkümmel schmeckenden Afrika, meiner Kanzlei, in der sich Glanz und Elend der römischen Peripherien mischten. Doch dieser Geruch war nicht mein Geruch. Sie forderten mich auf, einer von ihnen zu werden … Einer von ihnen! Rodney Vincent Winston, ein ehemaliger südafrikanischer Freiheitskämpfer, bot mir einen Fall an, mit dem ich mich identifizieren konnte. Doch ich wollte keinen Fall. Schon der Klang des Wortes bereitete mir Unbehagen. Rod war wie in Trance, regungslos, mit kaum wahrnehmbarem Wimpernschlag, der darauf schließen ließ, dass er unter dem dichten, krausen Haarschopf noch am Leben war. Ich war ihnen etwas schuldig. Saleh stellte seufzend die Kora ab. Maryia erwachte träge aus ihrem tiefen Schlummer. Tequif verlangte lautstark ein Bier.
Da waren sie, die Fremden, die die Albträume meines reichen und gedankenlosen Landes bevölkerten. Da waren sie, die Schwarzen, die stinken und Krankheiten übertragen. Die Schwarzen, die nicht bereit sind für die Demokratie. Die Schwarzen, die nur dazu gut sind, zu singen, zu tanzen und zu trommeln. Die Schwarzen, die uns die Frauen und die Arbeit wegnehmen. Die Schwarzen, die schnell laufen und gut beim Zuschlagen sind, die Rhythmusgefühl haben, die ficken wie Gott, weil sie einen großen Schwanz haben. Die Schwarzen, denen man alles beibringen muss, weil sie allein nicht über die Runden kommen …
– Rodney, du schwarzer Bastard, du hast gewonnen!
Mitten in der Nacht kam ich halb betrunken nach Hause. Im Hof des Prattico-Wohnblocks traf ich Vanessa, die von einem nächtlichen Einsatz zurückkam. Ihren Tränensäcken nach zu schließen war es kein erfreulicher gewesen. Ich versuchte sie zu trösten und sagte, dass das Leben früher oder später für jeden die große Chance bereithielte.
– Meinen Sie, Anwalt? Ich habe bereits eine große Chance. Man hat mir eine Rolle in Angels of Pleasure angeboten … Was soll ich tun? Zusagen?
Besser bleiben lassen. Um Schlaf zu finden, las ich den Leitartikel der Zeitung des einst aufgeklärten Bürgertums. Der Verfasser, der vor den neuen Eigentümern seine 68er-Vergangenheit in Parka und Clarks rechtfertigen musste, vertrat die Thesen der Historiker, die meinten, Auschwitz stellte die letzte Bastion des arischen Abendlandes gegen die Invasion der Kosaken dar.
Ich war froh, dass ich mich nicht für meine Gegenwart schämen musste.
Dann wurde es Sonntag. Der Tag des Herrn der Hausarbeit. Pünktlich um acht wurde die Tür von einer Irren aufgerissen, die mit Besen, Eimern, Wischmopps, Flaschen, Schürzen und einem unvermeidlichen elektrischen Staubsauger bewaffnet war, der ein unerträgliches Summen von sich gab. Donna Vincenza schmiss mich aus dem Bett und schickte mich ungeachtet meiner Nacktheit ins Bad.
– Und lassen Sie sich eine halbe Stunde lang ja nicht blicken! Sie wissen, ich dulde keine Fußabdrücke auf dem frisch gewischten Boden!
Binnen einer Stunde veränderte meine Kanzlei radikal ihr Aussehen. Der Schreibtisch glänzte, der PC wirkte tatsächlich wie ein brandneues Technologieprodukt und nicht wie das Überbleibsel eines Abverkaufs, die juristischen Fachzeitschriften und die Romane waren so eingeordnet, dass man sie mithilfe einer rationalen Suche nie wieder würde finden können. In jeder Ecke des Raumes lag ein kompaktes graues Staubhäufchen.
– Sterminator!, verkündete die Swiffer-Vestalin stolz, – die endgültige Lösung für das Problem von Hausmilben und Insekten!
Ich versuchte ihr zu erklären, dass ich weniger an der Vernichtung der Gattung der Spinnentiere interessiert war denn an einem würdevollen Waffenstillstand, der in ein friedliches Zusammenleben mündete.
– Versuchen wir eine Eskalation zu vermeiden, Vincenza. Lernen wir, den Feind zu respektieren …
Die Portiersfrau setzte sich auf das rote Kunstledersofa, das ich gemeinsam mit Rod vom Flohmarkt in Porta Portese auf dem Rücken nach Hause geschleppt hatte.
– Bei Ihnen ist Hopfen und Malz verloren, Anwalt. Das habe ich auch Nina gesagt. Hopfen und Malz.
– Wie geht es Nina?
– Sie ist traurig. Sie müssten nur ein Wort sagen …
– Ich habe ein Wort gesagt: Nein!
– Sie sind herzlos.
– Genau.
– Sie werden einsam sterben!
Vincenza hatte kein Verständnis für meinen Singlestatus. Oder für meinen Zustand als „lediger junger Herr“, wie sie sagte. Die Tatsache, dass sie mich ein paarmal am Morgen in Gesellschaft von Zufallsbekanntschaften überrascht hatte, hatte sie in dem Glauben bestärkt, dass ich ganz normale Vorlieben hatte. Sie duldete zwar Schmutz, Unordnung, Extravaganz und nächtlichen Lärm, doch nicht meine hartnäckige Weigerung, zu heiraten und Kinder zu bekommen, eine Familie zu gründen.
– Und was sollen wir Frauen dann tun?
Im Durchschnitt bot sie mir eine bis zwei Anwärterinnen pro Monat an. Nina war ihr bislang letzter Schützling. Sie hatte Schulabschluss und war eine hervorragende Köchin, denn „Ehemänner gewinnt man im Bett, und man hält sie bei Tisch“: Was wollte ich mehr?
– Liebe vielleicht, Vincenza? Die große Liebe?
– Die Liebe, die Liebe! Sie bekommen schon graue Haare und denken noch immer an die Liebe.
Ich zog mich sorgfältig an, band mir eine der wenigen Krawatten um, die keine Brandlöcher hatten. Ich machte mich schön für die Polizisten, die tröstliche Bilder lieben, um das instinktive Misstrauen zu lindern, das sie gegenüber der ganzen Menschheit empfinden.
– Bevor Sie gehen, Anwalt …
Mit einer resignierten Grimasse ließ ich mich auf die Couch fallen.
– Was hat sie diesmal ausgefressen?
Wir alle, vom Master of Ballantrae bis zu Donald Duck, haben einen Erzfeind. Donna Vincenzas Erzfeind hieß Carmen. Platinblond gefärbtes Haar, eins sechzig groß, fünfundsiebzig Kilo an den falschen Stellen, schmuddeliges kleines Pizzalokal im Herzen des historischen Pigneto-Viertels, das früher einmal von Messerstechern bevölkert gewesen war und jetzt ein Vorzeigeprojekt der Stadtverschönerung aus der Ära von Bürgermeister Rutelli war. Wenn es nach Vincenza gegangen wäre, wäre Carmen öffentlich hingerichtet worden. In der akuten Phase des Konflikts hatte ich mich darauf beschränkt, mir wohlwollend und verständnisvoll die Berichte über die ruchlosen Taten der Pizzabäckerin anzuhören und Vorladungen in Aussicht zu stellen, die ich wohlweislich nicht abschickte. Ich hatte auch versucht, Vincenza klarzumachen, dass die Todesstrafe moralisch nicht vertretbar ist. Doch sie war sturer als ein Wähler von Vater und Sohn Bush.
– Ich habe es gesehen, Anwalt, ich schwöre! Sie löst die Etiketten von der abgelaufenen Mayonnaise ab und klebt die von frischem Joghurt drauf. Und streckt Ferrarelle-Flaschen mit Leitungswasser!
– Und wo landet das Ferrarelle-Wasser?
– Im Putzmittel natürlich!
– Ungeheuerlich!
Unempfänglich für Ironie, schüttelte Vincenza ihr schönes weißes Haupt, das vom Zahn der Zeit und dem Leid einer frühen Witwenschaft gezeichnet war.
– Aber wie stehen wir in den Augen Europas da?
Ich riss die Augen auf.
– Was bitte hat Carmen mit Europa zu tun?
– Sehr viel, sehr viel, Anwalt! Stellen Sie sich vor, es kommen Deutsche, gehen zu dieser Schmuddeltante, die ihnen verdorbene Milch und schmutziges Wasser verkauft: Wie stehen wir da? Jetzt, wo Italien eine neue Regierung hat, müssen wir uns Sorgen um das Image unseres Landes machen. Das hat sogar Bruno Vespa gesagt.
Ich zuckte resigniert mit den Schultern … Wenn es sogar Bruno Vespa gesagt hatte! Bevor ich ging, legte ich eine Schweigeminute im Gedenken an das erste Opfer von Sterminator ein. Meine letzte, kostbare Cohiba, das Relikt eines beschwingten Abends am Kuba-Stand beim Festival der Rifondazione Comunista. Vincenza hatte sie in ihrem Hygienewahn entschlossen und endgültig in Gift ertränkt.
Sonntags bieten die verkehrsfreien Straßen Roms ein verstörendes Schauspiel an Schönheit und Entspanntheit. Ich entschloss mich zu einem Spontanbesuch bei meiner Mutter, hoffte halbherzig, zum Mittagessen eingeladen zu werden, selbst wenn ich mir dafür den Bericht über ihr Rendezvous mit dem Witwer anhören musste. Doch sie war nicht zu Hause. An der Tür klebte ein Zettel: „Bin mit dem Ragioniere in den Wallfahrtsort von Padre Pio gefahren. Du hättest auch mittfahren können, du Heide. Er wird mir die Platte von Madonna bringen, er ist nicht so gleichgültig wie du. Küsse, Mama.“
Als ich die Treppe zur Polizeiwache hochging, wusste ich immer noch nicht, ob ich darüber lachen oder weinen sollte. Junge Beamte im Disco-Outfit machten sexistische Witze; flinke Polizistinnen im Minirock trafen am Telefon Vorkehrungen für das Sonntagsessen. Nichts erinnerte an das klassische Bild einer Polizeiwache. Kein Dreck, keine Spinnweben und auch kein ranziger Geruch. Insgesamt ein sonniges, gepflegtes Lokal mit vielen Pflanzen, sehr kultiviert.
Alles schien im Zeichen von „Die Polizei, dein Freund und Helfer“ zu stehen. Alles, mit Ausnahme meines alten Freundes, Kommissar Pellegrino Castello, alias Rino, das Bleihändchen.
Sie hatten ihn in eine Rumpelkammer verbannt, die fast zur Gänze von einem Schreibtisch eingenommen wurde, der mit Fett und Flüssigkeiten ungewisser Herkunft verschmiert war. Hinter ihm prangte ein Farbfoto, auf dem Zinédine Zidane zu sehen war, wie er 1998 als Weltfußballer des Jahres die Chevron-Trophy entgegennimmt; an einem Fleischerhaken hing eine Jacke, die im Achselbereich eine dreifache Schweißschicht aufwies, umrahmt von einem Carabinieri-Kalender, der mit Hymnen auf Juventus übersät war, und einem alten Blutfleck, der sich aus irgendeinem Grund nicht entfernen ließ.
Dieser Fleck war der Beweis für einen gescheiterten Versöhnungsversuch zwischen Castello und seiner Ex-Frau. Ich war ihr zu Hilfe geeilt, es war mir sogar gelungen, sie noch lebend seinen Händen zu entreißen. Das hat er mir nie verziehen.
Bei seinem nahezu pathetischen Versuch, das Bild eines alten Straßenpolizisten abzugeben, war er im Grunde ein Mann mit wenigen und schlichten Gedanken. In seinen fünfundzwanzig Berufsjahren, pflegte er immer wieder zu sagen, sei er weder einem Unschuldigen noch einem ehrlichen Menschen begegnet. Als Verbrecher wird man geboren, das ist eine Sache der Vererbung, sagte er, allein die Absicht reicht, auch wenn man keine Straftat begeht. Der Unterhalt eines verurteilten Straftäters kostet den Staat pro Tag mehr als das halbe Gehalt eines alten Ordnungshüters: Mit ein paar Euro, dem Preis einer guten Kugel, könnte man das Problem an der Wurzel lösen. Und so weiter und so fort. Ich setzte mich mit einem entwaffnenden Lächeln hin und zündete mir eine Toscano an. Ich wusste, er hasste den Geruch von Zigarren. Ich wiederum hasste seine Zigaretten, also waren wir quitt. Früher oder später würde er explodieren, doch im Augenblick brachte sein stumpfes, gelbliches Gesicht nur einen leisen Widerwillen zum Ausdruck. Offensichtlich hatte man ihm einen Haufen Dreck vor die Füße gekippt. Der Dreck war ich.
– Wie geht es dir, Rino?
Er rülpste, wie es sich für einen richtigen Mann gehörte, und schleuderte mit einer wütenden Geste eine noch ungeöffnete Kopie der italienischen Verfassung auf den Boden.
– Na ja, andere machen das mit mehr Stil, sagte ich. – Doch das Ergebnis ist dasselbe …
– Es heißt, wir sollen lernen, was da drinsteht, brummte er verärgert.
– Sag mir, wann ihr anfangt, dann schenke ich dir eine schöne Schürze.
Rino beschränkte sich auf ein schiefes Grinsen und tat, als wäre er unwiderstehlich von einem Lichtstrahl angezogen, der durch die Fensterläden drang und in dem Staub tanzte. Am liebsten hätte er mich gegen die Wand geschleudert, doch er konnte sich beherrschen. Entweder hatte er seine Selbstkontrolle optimiert oder man hatte ihm befohlen, keine Schwierigkeiten zu machen. Oder er hatte einfach genug von dem ewig gleichen alten Rollenspiel.
– Bist du für den Schwarzen zuständig, der in der Via Goito umgebracht wurde?
– No comment.
– Komm schon, Rino, ich bin ja kein Journalist. Ich versuche bloß etwas über den Fall herauszufinden.
Seine Augen leuchteten hinterhältig.
– Fall? Von was für einem Fall sprichst du denn? Es gibt keinen Fall. Wahrscheinlich eine Abrechnung unter Heroindealern … oder eine schiefgelaufene Erpressung. Oder der Typ hat die falsche Frau gefickt. Vielleicht hat er sich auch umgebracht. Ja. Selbstmord. Warum nicht? Du bist wirklich am Ende, Bruio. Kümmerst du dich jetzt um schwarze Ausländer?
– Hatte er eine Adresse hier in Rom?
– Ermittlungsgeheimnis.
– Komm schon, Rino, mein Klient hat mich beauftragt …
– Klient? Du hast noch Klienten? Da musst du dich aber beeilen, denn in gut zehn Tagen …
Die Gerüchte verbreiten sich schnell! Sogar Castello wusste, dass ich bald neue Visitenkarten drucken lassen sollte. Ex-Anwalt Bruio, würde ich draufschreiben müssen. Zum Glück habe ich nie Visitenkarten besessen. Aber egal, die Sache war ernst. Sehr ernst sogar. Eine Verleumdung des berühmten Strafverteidigers Ponce del Canavè stand im Raum. Eines mächtigen, gefürchteten, verehrten Kollegen. Gegen ihn hatte ich keine Chance. Nicht um alles Geld der Welt würden die Mumien der Anwaltskammer ihm widersprechen. Außerdem war ich mit meinen Beiträgen für den Anwaltsfonds um ein paar Jahre im Rückstand. Castello würde mir also keinen Gefallen tun. Als ich aufstand, entschloss ich mich zu einer kleinen Revanche.
– Weißt du, wen ich gestern getroffen habe? Deine Frau.
Sein Blick wurde misstrauisch.
– Sie hat mir Grüße ausgerichtet, sagte ich unerschrocken. – In aller Freundschaft. Ach übrigens … Ein junger Mann war bei ihr … ein freundlicher, wohlerzogener junger Mann, einer von der Sorte, die ihre Hände im Zaum halten können. Ein Quantensprung, nicht wahr?
Das war zu viel für Rino. Das wilde Tier, das seit seiner Geburt in ihm lebte, brach durch. Er schnellte hoch, seine Hände griffen nach meinem Hals. Ich wich gerade so viel aus, dass er in seiner Wut die Zigarre erwischte. Er zerbröselte sie und verbrannte sich an der Glut. Er brüllte immer lauter.
– Du Arschloch! Du bist nur gekommen, um mich zu provozieren, stimmts? Wenn du die dreckige Hure noch einmal siehst, kannst du ihr sagen, sie soll abhauen …
Die Tür hinter mir wurde sanft geöffnet. Castello verstummte, versuchte vergeblich, sich zu fassen, ließ sich, wirre Rechtfertigungen stammelnd, auf den Stuhl fallen.