Romanzo Criminale - Giancarlo De Cataldo - E-Book

Romanzo Criminale E-Book

Giancarlo de Cataldo

4,6

  • Herausgeber: Folio
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2012
Beschreibung

Rom in den 1970er und 1980er Jahren: Eine Gruppe Jugendlicher aus den Elendsvierteln - die Magliana-Bande - steigt in großem Stil in das Geschäft mit Rauschgift, Prostitution und Glücksspiel ein. Binnen Kurzem kontrolliert sie den Drogenmarkt der italienischen Hauptstadt. Staat und Mafia werden gleichermaßen auf sie aufmerksam, protegieren und instrumentalisieren sie. In Romanzo Criminale zeigt De Cataldo vor der Folie einer realen Begebenheit, wie korrupt Teile der italienischen Gesellschaft sind. Er führt ungeschminkt vor Augen, wie organisiertes Verbrechen und Politik sich verzahnen, wie einfach es ist, die politischen und staatlichen Strukturen sowie die alltägliche, banale Korrumpierbarkeit des Einzelnen für kriminelle Zwecke zu nutzen. Dieser Thriller kennt keinen Kommissar, der für Recht und Ordnung sorgt, sondern nur die beunruhigende Gewissheit, dass das politische System nicht weniger kriminell ist als jenes derer, die morden und stehlen. Offen bleibt, ob dieses Kapitel der italienischen Geschichte - dessen Eckpunkte die Ermordung des Politikers Aldo Moro und der Terroranschlag auf den Bahnhof von Bologna waren - abgeschlossen ist oder ob nicht vielmehr dessen Strukturen in die Gegenwart herüberreichen.

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Seitenzahl: 810

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Giancarlo De Cataldo

RomanzoCriminale

Die Originalausgabe dieses Buches ist erstmals 2002 unter dem Titel „Romanzo criminale“ bei Giulio Einaudi editore, Turin, erschienen.

© der Originalausgabe: Giulio Einaudi editore, Torino 2002

Die Fotos auf dem Schutzumschlag stammen aus der gleichnamigen Verfilmung von „Romanzo criminale“ (2005) von Michele Placido.

© Philippe Antonello / Photomovie

Lektorat: Ines Gebetsroither

© der deutschsprachigen Ausgabe

FOLIO Verlag Wien • Bozen 2010

Alle Rechte vorbehalten

Graphische Gestaltung: Dall’O & Freunde

Druckvorbereitung: Graphic Line, Bozen

Printed in Austria

ISBN 978-3-85256-508-8

eISBN 978-3-99037-029-2

www.folioverlag.com

Inhalt

PrologRom, heute

Erster Teil

1977/78Der Beginn

Februar 1978Abmachungen

März–April 1978Geschäfte, Politik

April–Juli 1978Rein und raus

August–September 1978Abrechnung

Januar–Juni 1979Die Idee

Juli–Dezember 1979Mit der Zeit Schritt halten

1980Die Richtung beibehalten

1980Tod eines Bosses

Zweiter Teil

1980/81Hybris, Dike, Oikos

Winter–Frühling 1981Blutvergießen

1981Rien ne va plus

Januar–April 1982Der Geruch des Blutes

1982/83Si vis pacem para bellum

1983Verräter

1983Weitere Verräter

Dritter Teil

1984Alle im Knast

1984Einsamkeit. Disamistade

1984/85Vergangenheit und Zukunft

1985/86Epidemien

1986Zusammenbrüche, Fluchten

1987Individuum und Gesellschaft

1988Die Gewissheit des Rechts

1989Die Freiheit

1990Dandis Blues

EpilogRom, 1992

Abspann

Die Einschränkung des Blutvergießens auf ein Minimum, seine Rationalisierung ist Geschäftsprinzip.

Bertolt Brecht, Anmerkungen zur Dreigroschenoper

Ich bitte dich, immer gelassen und aufrecht zu sein, korrekt und konsequent, aus den Erfahrungen zu lernen, die Worte der anderen gelten zu lassen, beim Sprechen die Wahrheit vor Augen zu haben und dich daran zu erinnern, dass ein Beweis allein nicht reicht, um sich einer Sache sicher zu sein. Um sich einer Sache sicher zu sein, braucht man drei Beweise, Korrektheit und Konsequenz. Der Herr segne und beschütze dich.

Bernardo Provenzano, Juli 1994

Prolog

Rom, heute

Er kauerte zwischen zwei geparkten Autos und wartete, die Hände schützend vor das Gesicht gelegt, auf den nächsten Schlag. Sie waren zu viert. Der Kleinste, mit einer Narbe quer über die Wange, die von einem Messerschnitt stammte, war der Gemeinste. Zwischen den einzelnen Schlägen unterhielt er sich mit seiner Freundin am Handy: ein Live-Bericht. Sie schlugen aufs Geratewohl zu, ohne hinzusehen. Für sie war es einfach Spaß. Er dachte, dass sie seine Söhne hätten sein können. Von dem Schwarzen abgesehen, natürlich. Durchgeknallte Jungs. Er dachte, noch vor ein paar Jahren hätten sie eher Selbstmord begangen, wenn sie seinen Namen gehört hätten, als auf Rache zu warten. Vor ein paar Jahren. In den alten Zeiten. Ein fataler Augenblick der Unaufmerksamkeit, und der genagelte Schuh traf ihn an der Schläfe. Er glitt in die Dunkelheit.

– Gehen wir, befahl der Kleine, ich glaub, der steht nicht mehr auf.

Aber er stand doch noch auf. Er stand auf, als es schon finster war, mit stechenden Schmerzen im Brustkorb und völlig durcheinander. In der Nähe befand sich ein Brunnen. Er wusch sich das getrocknete Blut ab und trank einen großen Schluck vom rostig schmeckenden Wasser. Er stand. Er konnte gehen. Autos mit voll aufgedrehter Stereoanlage fuhren über die Straße. Die Jugendlichen, die mit ihren Handys spielten, kümmerten sich nicht um seinen torkelnden Schritt. In den Fenstern das bläuliche Licht von tausend Fernsehern. Noch ein Stück weiter eine beleuchtete Auslage. Er betrachtete sich in der Scheibe: ein gebeugter Mann mit zerrissenem, blutverschmiertem Mantel, spärlichem fettigem Haar, faulen Zähnen. Ein Greis. Das war er geworden: ein Greis. Eine Polizeistreife mit Sirene fuhr vorbei. Instinktiv drückte er sich an die Mauer. Aber niemand suchte ihn mehr.

– Ich war einer von Libanese!, flüsterte er, ungläubig beinahe, als hätte er sich eben einer fremden Erinnerung bemächtigt.

Das Geld war weg, aber den Pass und die Fahrkarte hatten die Jungs übersehen. Und sogar die Rolex, die in einer Innentasche eingenäht war. Sie wollten nur Spaß haben, sie hatten sich gar nicht die Mühe gemacht, ihn ordentlich zu durchsuchen. Die würden noch hartes Brot fressen müssen.

Er hatte noch drei Stunden Zeit bis zum Abflug. Jede Menge Zeit. Das Zigeunerlager war nur einen Kilometer entfernt.

Der Schwarze bemerkte ihn als Erster. Er ging zu dem Kleinen, der gerade mit dem Mädchen rummachte, und sagte zu ihm, der Alte sei wieder da.

– Ich dachte, der ist tot.

– Was weiß ich. Jetzt ist er jedenfalls da.

Ohne Eile ging er über den Platz, blickte sich mit einem bescheuerten Grinsen um, fast, als wollte er sich für sein Eindringen entschuldigen. Nach einem gedankenverlorenen Blick wandten sich die anderen Jungs wieder ihren Geschäften zu.

Der Kleine sagte zum Mädchen, sie solle einen Spaziergang machen, und wartete mit verschränkten Armen auf ihn. Flankiert vom Schwarzen und von den anderen beiden: einem Riesen mit pockennarbigem Gesicht und einem kleinen Fetten, der über und über mit Tattoos bedeckt war.

– Guten Abend, sagte er, ihr habt was, was mir gehört. Ich will es wiederhaben.

Der Kleine wandte sich zu den anderen.

– Er hat noch nicht genug!

Sie lachten. Er schüttelte den Kopf und zog die Waffe.

Der Schwarze setzte sich in Bewegung. Der Kleine spuckte auf den Boden, überhaupt nicht beeindruckt.

– Jetzt machen wir einen schönen Ringelreihen. Glaubst du, du machst uns Angst mit dem Spielzeug?

Er warf einen traurigen Blick auf die kleine Halbautomatische Kaliber 22, die er bei dem Zigeuner gegen die Rolex eingetauscht hatte.

– Stimmt schon, sie ist winzig, aber wenn man mit ihr umgehen kann ...

Er schoss, ohne zu zielen und ohne den Blick von dem Kleinen abzuwenden. Der Schwarze ging mit einem Schrei zu Boden, hielt sich das Knie. Plötzlich war es ganz still geworden.

– Verschwindet!, sagte er ohne sich umzudrehen, alle, mit Ausnahme der vier hier.

Der Kleine fuchtelte mit den Armen, wie um ihn zu beschwichtigen.

– Schon gut, schon gut, für alles gibt es eine Lösung ... aber zuerst einmal beruhigen wir uns, ja?

– Alle auf den Boden, hab ich gesagt, wiederholte er ruhig.

Der Kleine und die anderen knieten sich hin. Der Schwarze wälzte sich stöhnend auf dem Boden.

– Das Geld hab ich meinem Mädchen gegeben, wimmerte der Kleine, aber ich ruf sie an, damit sie es dir bringt, ja?

– Halt’s Maul. Ich denk nach ...

Wie viel Zeit hatte er noch bis zum Abflug? Eine Stunde? Etwas mehr? Das Mädchen konnte in ein paar Minuten da sein. Er würde sein Geld zurückbekommen. Venezuela wartete auf ihn. Es würde schwierig sein, Fuß zu fassen, aber ... so schwierig nun auch wieder nicht. Es wäre klug gewesen, jetzt einzulenken. Aber wann war er schon klug gewesen? Wann waren sie jemals klug gewesen? Außerdem, die Angst des Kleinen ... der Geruch der Straße ... waren es nicht Augenblicke wie dieser gewesen, für die sie gelebt hatten?

Er beugte sich über den Kleinen und flüsterte ihm seinen Namen ins Ohr. Der Kleine begann zu zittern.

– Hast du schon mal was von mir gehört?, fragte er ihn freundlich.

Der Kleine nickte. Er lächelte. Vorsichtig legte er ihm den Lauf an die Stirn und schoss ihm zwischen die Augen. Ohne sich um das Geheule, die Schritte, die näherkommenden Sirenen zu kümmern, drehte er sich um, zielte mit der Waffe auf den Mond und schrie, so laut er konnte:

– Ich war einer von Libanese!

Erster Teil

1977/78

Der Beginn

I.

Dandi war dort zur Welt gekommen, wo Rom noch den Römern gehört: in Tor di Nona.

Mit zwölf hatte er ins Infernetto-Viertel ziehen müssen. Auf der Verfügung des Bürgermeisters stand „Revitalisierung der gefährdeten Bausubstanz im historischen Zentrum“. Die Sache war nun schon eine Ewigkeit her, aber Dandi sagte noch immer, irgendwann würde er ins Zentrum zurückkehren. Als Chef. Und alle müssten sich verneigen, wenn er vorüberginge.

Im Augenblick wohnte er mit seiner Frau auf zwei Zimmern mit Blick auf den Gasometer.

Libanese kam zu Fuß vom Testaccio. Das war nicht weit, aber es war August und er schwitzte so sehr, dass das Hemd auf der behaarten Brust klebte. Mit jedem Schritt wuchs seine Wut auf den Jungen.

Mit schläfrigem Blick öffnete Dandi die Tür. Er trug einen getupften roten Schlafmantel. Rein zufällig hatte er einmal ein Buch über Lord Brummel gelesen. Von da an nannten ihn alle Dandi, weil er um jeden Preis elegant sein wollte.

– Ich brauche das Motorrad.

– Leise, Gina schläft. Was ist los?

– Sie haben mir den Mini gestohlen.

– Na und?

– Mit der Tasche drin.

– Na, dann los.

Auf der Kawasaki war der Schirokko sogar angenehm. Sie fuhren bis zum Pumpwerk im Magliana-Viertel, parkten vor einem Geschäft mit verrosteten Rollläden und gingen über die Halde. Die Baracke befand sich zwischen einem Abfallhaufen und einem Eisenlager. Verriegelte Tür, kein Licht.

– Er ist noch nicht da, sagte Libanese.

– Wer er?

– Der Junge. Der Neffe von Franco, dem Barmann.

Dandi nickte. Sie setzten sich auf einen hohlen alten Baumstamm. Dandi zog einen Joint aus der Tasche. Libanese machte zwei Züge und gab ihn zurück. Das war nicht der richtige Augenblick, um sich zu bekiffen. Eine Zeitlang schwiegen sie. Dandi schloss die Augen und entspannte sich.

– Wir verlieren Zeit, sagte Libanese.

– Irgendwann wird der Wichser ja nach Hause kommen.

– Darum geht es nicht. Ich meine überhaupt. Wir verlieren Zeit.

Dandi schlug wieder die Augen auf. Sein Freund war nervös.

Libanese war klein, dunkel und kräftig gebaut. Er war in San Cosimato, mitten in Trastevere, zur Welt gekommen, aber seine Familie stammte aus Kalabrien. Sie kannten sich schon ewig. Als Kinder hatten sie eine Bande gegründet, jetzt waren sie eine Gang.

– Ich spreche vom Baron, Dandi.

– Darüber haben wir uns doch schon x-mal unterhalten, Libano. So was ist kein Kinderspiel. Wir sind zu wenige. Für so was ist Terribile zuständig. Und der wird uns nie die Erlaubnis geben.

– Aber genau das meine ich, Da’. Ich hab es satt, immer um Erlaubnis zu bitten. Machen wir es doch einfach ohne.

– Vielleicht. Wir sind aber trotzdem zu wenige.

– Noch, noch, unterbrach ihn Libanese nachdenklich.

Ein fetter gelber Mond hing über dem Horizont. Libanese hatte nicht Unrecht. Man musste im großen Stil denken. Aber eine Gang von vier Jungen hatte keine große Zukunft. Sich organisieren. Wie oft hatten sie schon darüber geredet? Aber wie sollten sie es angehen? Und mit wem? Ein Hund begann zu kläffen.

– Hast du gehört?

Schritte auf dem Pflaster. Wer auch immer es war, er versuchte sich nicht zu verstecken. Sie schlichen zu einem Stapel Lkw-Reifen. Ein krummer, dürrer Junge kam dahergestolpert. Als er nahe genug war, schnellten sie los. Libanese packte ihn von hinten und hielt ihn fest. Dandi gab ihm einen Tritt in den Unterleib. Mit einem Stöhnen ging der Junge zu Boden. Libanese presste sein Gesicht auf die trockene Erde, zog einen Revolver und setzte ihm den Lauf ans Genick.

– Weißt du, wer ich bin, du Vieh?

Der Junge nickte heftig. Libanese steckte die Waffe ein.

– Steh auf!

Der Junge rutschte auf die Knie.

– Der stinkt ja wie ein Ziegenbock, sagte Dandi angewidert.

– Das kommt vom Gift. Der ist fix und fertig. Steh auf, hab ich gesagt.

Der Junge versuchte hochzukommen. Libanese grinste.

– Ich habe deinem Onkel versprochen, nicht zu übertreiben, aber strapazier meine Geduld nicht. Sag nur ja oder nein.

Der Junge sah ihn wie betäubt an. Sein Gesicht war voller Pickel. Dandi trat ihm aufs Kinn.

– Ja oder nein?

– Ja.

– Also, fuhr Libanese fort, du hast den Mini im Testaccio geklaut, nicht wahr?

– Ja.

– Hast du einen Blick in den Kofferraum geworfen?

– Nein.

– Sicher nicht?

– Nein.

– Dein Glück. Wo ist das Auto jetzt?

– Ich hab es nicht mehr …

Dandi begnügte sich damit, ihm einen Schlag ins Genick zu verpassen. Der Junge begann zu weinen. Libanese seufzte.

– Hast du es verkauft?

– Ja.

– An wen?

Der Junge fiel auf die Knie. Das durfte er nicht sagen. Die waren gefährlich. Sie würden ihn umbringen.

– Scheißsituation, nicht wahr, Freundchen?, sagte Libanese. Wenn du pfeifst, bringen die dich um. Und wenn nicht, bringen wir dich um …

– Libano, ich hab einmal einen Western gesehen …

– Na und?

– Da kam so ein armes verletztes Pferd vor, kurz vor dem Verrecken … und sein Besitzer wusste nicht, was er tun sollte … das arme Vieh schaute ihn so traurig an … warum muss ich so leiden, sagte es …

– Aahh! Hab verstanden! Und er gibt ihm den Gnadenschuss … bam!

– Genau!

– Entschuldige, Dandi, aber ich muss dir was sagen.

– Sag schon, Libano!

– Das Pferd war verletzt … aber der da ist noch ganz gesund.

Dandi schoss ihm ins Bein. Der Junge griff sich brüllend ans Knie.

– Schau genauer hin, Libano!

– Du hast Recht, Dandi. Er ist wirklich am Ende! Und wie er leidet. Was meinst du, geben wir ihm den Gnadenschuss?

Der Junge packte aus.

II.

Freddo hatte jetzt den Mini. Libanese kannte ihn nicht, aber Dandi war ihm schon ein paar Mal über den Weg gelaufen. Ein ernster, wortkarger Typ, der eine gewisse Erfahrung mit Postschaltern hatte. Einmal wäre er beinahe hopsgegangen, weil er einen Koch erpresst hatte. Doch das Opfer hatte einen Rückzieher gemacht und er war davongekommen. Mit einem Wort, einer, auf den man sich verlassen konnte.

Sie traten die Tür ein und drangen in das aufgelassene Lager hinter dem Restaurant Il fungo vor. Vorsichtshalber hatten sie die Waffen gezogen. Libanese fand den Lichtschalter. Abgesehen vom Benzingestank nur die Karkasse eines Fiat 850. Hinter einer Glaswand, die schon bessere Zeiten gesehen hatte, ein schäbiges Büro.

Beunruhigt sahen sie sich an. Der Junge hatte ehrlich gewirkt, aber man konnte nie wissen. Libanese bereute schon fast seine Nachsicht, doch dann bemerkten sie, dass jemand hinter ihnen war.

Langsam drehten sie sich um. Die anderen waren zu viert. Sie hatten wohl auf der Straße auf sie gewartet, irgendwo, vielleicht in einem Auto versteckt. Libanese sah sie sich an: zwei Knirpse in kurzer Hose und T-Shirt, mit ein- und demselben grimmigen Blick, wie zwei zu kurz gekommene Zwillinge, ein Bärtiger mit Gladiatorenkörper, der so sehr schielte, dass man nicht wusste, ob er einen ansah oder nicht, und in der Mitte der Jüngste, dünn wie eine Bohnenstange, mit schwarzem, krausem Haar, Freddo. Fast noch ein Junge. Durchdringender Blick. Konzentriert, entschlossen.

Dandi hingegen studierte das Waffenarsenal: drei Halbautomatische, Freddo hatte einen Revolver mit langem Lauf. Colt Kaliber 38. Ein schönes Ding: verlässlich, traditionell.

– Wie geht’s, Freddo?

– Wir haben auf euch gewartet.

Kritische Situation. Sie waren eindeutig im Nachteil. Die anderen waren kein bisschen nervös. Sonst hätten sie sofort geschossen. Freddo schien imstande zu sein, die Seinen im Zaum zu halten. Libanese dachte, es wäre wohl kein Zufall, dass sie ihm diesen Namen gegeben hatten, und deutete ein unbestimmtes freundschaftliches Lächeln an. Freddo zuckte mit keiner Wimper und das Schielauge ging in aller Ruhe ins Büro, darauf bedacht, nicht in die Schusslinie zu geraten. Eine Minute später landete ein Boxsack vor den Füßen von Libanese. Die Tasche.

– Schau nach. Ist alles noch drinnen. Vier Beretta, zwei Tanfolio, die Ladestreifen und die Patronen, sagte Freddo.

– Ich vertrau dir, Freddo. Hab schon viel von dir gehört.

– Du bist wohl Libanese. Was den Mini anbelangt, ist es zu spät, tut mir leid.

Er grinste. Das war wohl seine Art zu lächeln.

– Macht nichts. Bin ja versichert.

Die Spannung löste sich in allgemeinem Gelächter auf. Alle steckten die Waffen ein. Dandi machte den Vorschlag, im Re di picche was trinken zu gehen. Libanese fragte, ob er das Telefon benützen dürfe, sofern es überhaupt eines gab. Das Schielauge führte ihn ins Büro. Von dort rief er Franco, den Barmann, an und bat ihn, seinen Neffen abzuholen.

– Er ist noch ganz, keine Sorge. Vielleicht hinkt er ein wenig, aber sonst ist er billig davongekommen.

Freddo stellte die Brüder Buffoni und Fierolocchio, den Schielenden, vor. Die Bar leerte sich schon, nur ein Barkeeper mit Fliege und ein paar Huren mit dunklen Ringen unter den Augen waren noch da. Sie ließen sich eine Flasche Champagner und Karten bringen und spielten bis in die Morgenstunden lustlos Zecchinetta. Irgendetwas lag in der Luft, irgendwas, das früher oder später ausgesprochen werden würde. Aber sie wussten nicht, wie sie anfangen sollten. Als der Morgen graute, hatten Dandi und Buffoni genug. Fierolocchio war auf dem Spieltisch eingeschlafen. Freddo bot Libanese an, ihn nach Trastevere zu fahren. Sie stiegen in einen schwarzen, fünftürigen Golf und Libanese versuchte das Terrain zu sondieren.

– Das Re di picche ist ein Scheißhaus.

– Das kannst du laut sagen.

– Wem gehört es?

– Offiziell einer gewissen Rosa, einer alten Hure. Aber eigentlich Terribile …

– Terribile hier, Terribile dort … immer wieder dieser Terribile, dieser hirnlose Wichser … wenn Leute wie wir so ein Lokal hätten, würden wir eine Goldgrube daraus machen …

Freddo gab keine Antwort, scheinbar aufs Fahren konzentriert. Aber seine Augen hatten zu leuchten begonnen. Libanese beschloss, aufs Ganze zu gehen.

– Stell dir mal vor, ein paar Pokertische, aber nur für ausgesuchte Gäste. Diskretes Ambiente. Ein paar anständige Mädchen, nicht so heruntergekommene Nutten … ein Barkeeper, der sein Geschäft versteht … wie viel, glaubst du, verdient man mit so einem Lokal? Im Monat? In der Woche?

– Einen Haufen Geld. Aber man braucht auch eine Menge, um so was auf die Beine zu stellen.

– Alles ist möglich. Mit den richtigen Leuten.

Freddo blieb an der Ecke Viale Trastevere und San Francesco a Ripa stehen und sah ihn mit seinem missmutigen und unergründlichen Blick an.

– Was hast du vor?

– Eine Entführung.

– Wen?

– Den Grafen Rosellini. Den mit den Pferden.

– Warum ausgerechnet ihn?

– Er ist ein Gewohnheitstier. Genau festgelegte Arbeitszeiten, fixe Gewohnheiten. Ein einfacher Job.

– So ein Job ist nie einfach.

– Wie viele Männer braucht man deiner Meinung nach?

– Ungefähr zwanzig … vielleicht reichen auch fünfzehn.

– Meine kennst du schon. Wie viele seid ihr?

– Von mir und Dandi einmal abgesehen, Satana und Scrocchiazeppi …

– Vier und noch mal vier. Weniger als die Hälfte.

– Wo finden wir die anderen?

– Gib mir zwei Wochen.

Libanese lehnte sich zuversichtlich zurück. Endlich begann das Leben.

III.

Den Grafen zu entführen war ein Kinderspiel gewesen. Genau, wie er es sich vorgestellt hatte. Libanese hatte darauf bestanden, erst später zu entscheiden, wer die Anrufe machen sollte. Ein paar hatten gemault, aber Freddo hatte seine Autorität ausgespielt. Das Bündnis begann zu funktionieren. Sie würden sehr, sehr viel erreichen. Gemeinsam. Libanese wusste auch schon, wer die Anrufe machen sollte. Seine Idee hatte mit Loyalität, Angst und dem Beherrschen von Schwächeren zu tun. Kaum war er zu Hause, rief er Franco, den Barmann, an und bestellte den Jungen zu sich.

In nicht einmal einer halben Stunde war er da, die Augen noch ganz verquollen. Er zog das verletzte Bein nach, aber wenigstens hatte er geduscht und stank nicht mehr. Libanese forderte ihn auf, sich auf einen der beiden schwarz überzogenen Sessel zu setzen. Der Junge zögerte, neugierig betrachtete er die Büste auf der Kommode, die vom Flohmarkt in Porta Portese stammte.

– Wer ist das?

– Mussolini.

– Und wer soll das sein?

– Ein großer Mann. Setz dich.

Der Junge gehorchte. In seinen Augen flackerte wilde Angst.

– Wie geht es dem Bein?

– Solala. Ich mache Therapie.

– Drückst du noch immer?

– Ich bin clean, ich schwöre.

– Das kannst du deiner Großmutter erzählen. Willst du eine Arbeit?

– Was für eine Arbeit?

– Antworte mit ja oder nein.

Der Junge zitterte am ganzen Körper. Libanese hatte Mühe, ein Lächeln zu unterdrücken.

– Wie heißt du?

– Lorenzo.

– Du kommst mir vor wie eine Maus, eine ängstliche Maus … wirklich wie eine Maus … also: ja oder nein?

– Ja.

– Das ist die richtige Antwort. Du bist angeheuert, Maus. Fürs Erste fährst du nach Florenz – und kein Schuss, bis ich es dir erlaube. Du brauchst nur ein paar Anrufe zu erledigen.

Auch Freddo kam im Morgengrauen nach Hause. Gigio wartete auf der Schwelle auf ihn, blau vor Kälte.

– Was machst du hier?

– Ich gehe nicht mehr nach Hause.

– Hat Vater dich wieder verprügelt?

Gigio schüttelte den Kopf.

– Was dann?

– Mir reicht’s! Die Schule ist eine Katastrophe und nie habe ich eine Lira in der Tasche. Lass mich für dich arbeiten. Bitte …

Gigio war sechs Jahre jünger als er. Aufgrund einer Kinderlähmung hatte er ein steifes Bein, und auch im Kopf war er ein wenig zurückgeblieben. Freddo spürte eine merkwürdige Zuneigung zu seinem vom Unglück verfolgten Bruder. Ein anderes Leben, warum nicht? Wo steht geschrieben, dass man sich mit seinem Schicksal abfinden muss? In einem seiner seltenen Tagträume hatte er sich sogar als Arzt gesehen. Er kramte in seinen Taschen und gab ihm einen Hunderttausender.

– Geh jetzt nach Hause, zieh dich um und ab in die Schule. Oder ich hau dir eine in die Fresse. Klar?

Gigio zog den Kopf ein. Er gehorchte, wie immer. Und er war ausgeschlossen, wie immer. Als er wieder allein war, warf Freddo sich aufs Bett, ohne auch nur die Stiefeletten auszuziehen.

IV.

Polizeibericht über die Entführung mit erpresserischer Absicht zu Schaden des Barons Valdemaro Rosellini (verfasst von Kommissar Nicola Scialoja).

Das Untersuchungsergebnis im vorliegenden Fall lautet folgendermaßen: Zum Zeitpunkt der Entführung war Baron Rosellini mit seinem Privatauto, einem braunen Mercedes Turbodiesel, unterwegs. Das Verbrechen wurde in der Nähe der Via del Casale di San Nicola in der Ortschaft La Storta begangen. Das Opfer wurde von zwei anderen Autos gezwungen, mitten auf der Straße und quer zur Fahrtrichtung stehen zu bleiben. Der Aussage des Zeugen Oscar Marussi zufolge, der von seinem eigenen Auto aus, einem Fiat 131, die Entführung beobachtete, handelte es sich um einen Citroën DS 21 und eine blaue Alfetta 1750. Weiters gab Marussi zu Protokoll, dass die beiden Autos den Mercedes des Barons von beiden Seiten in die Zange nahmen und ihn nötigten stehen zu bleiben. Daraufhin stiegen vier Personen aus der Alfetta aus, packten das Opfer, zerrten es zum Citroën und zwangen es einzusteigen. Das Auto fuhr sofort in Richtung Rom los, während die vier Verbrecher, nachdem sie Marussi bedroht hatten, ebenfalls losfuhren, drei an Bord der Alfetta, der vierte im Mercedes des Barons. Dieser wurde am Tag darauf in der Via Cristoforo Colombo auf der Höhe von Nr. 459 gefunden.

Die Telefongespräche mit der Familie des Entführten wurden von einem Ort außerhalb Lazios geführt, um die von der Telefongesellschaft SIP bereitgestellte Fangschaltung zu umgehen.

Aus den Tonbandaufnahmen der Polizeibeamten, die die Telefonate mithörten, geht hervor, dass der Anrufer eine Person männlichen Geschlechts ist, im Alter von nicht mehr als fünfundzwanzig bis achtundzwanzig Jahren, über keinen speziellen Akzent verfügt und auch keine regionalen Akzente vortäuscht.

Die Familie erhielt an der Zahl fünf Schreiben, in denen sie aufgefordert wurde, Lösegeld zu zahlen. Die Briefe waren Collagen aus Ausschnitten verbreiteter römischer Zeitungen (aus Il Messaggero und Paese Sera, in einem Fall aus dem Secolo d’Italia, einer Zeitung der extremen Rechten).

In den Anrufen wurde ursprünglich ein Lösegeld von zehn Milliarden Lire gefordert, das später auf sieben und schließlich auf drei Milliarden reduziert wurde. Aus den Aussagen der Freunde und Verwandten des Barons geht hervor, dass letztendlich ein Lösegeld in dieser Höhe bezahlt wurde.

Die erste Botschaft wurde am 29. Dezember 1977 in der Nähe der Piazza Cavour hinterlegt. Sie enthielt drei Polaroidfotos, auf denen der Entführte mit einer Ausgabe des Messaggero zu sehen ist.

Am 2. Januar wurde um 16 Uhr ein Treffen in der Bar Cubana vereinbart, wo der Sohn des Entführten, Alessandro, vergeblich auf einen Anruf wartete; dieser erfolgte erst, als er die Bar bereits verlassen hatte. Eine andere Verabredung, die am selben Tag in der Bar Georgia vereinbart wurde, verlief ebenfalls erfolglos.

Am 11. Februar wurde eine Nachricht in einem Mülleimer am Lungotevere di Pietra Papa angekündigt, konnte jedoch nicht gefunden werden.

Am 15. Februar wird Alessandro Rosellini aufgefordert, sich zum Bahnhof Termini zu begeben, um eine Nachricht aus einem Fotoautomaten abzuholen. In der Botschaft, die wie immer aus aufgeklebten Zeitungsausschnitten besteht, wird er aufgefordert, nach Torvajanica zu fahren. In dieser Ortschaft erhält der junge Mann eine zweite Botschaft, in der ihm ein weiteres Treffen in der Autobahnraststätte Pontecorvo an der Autosole unterbreitet wird. Zum Treffen erscheint jedoch niemand.

Der Anrufer wirft Rosellini vor, dass ihm drei Polizeiautos gefolgt seien.

Am 23. Februar erneute Verabredung beim Fungo im EUR, wieder ohne Ergebnis.

So auch die darauffolgende am 27. Februar in der Ortschaft Piancastagnaio di Siena.

Am 2. März findet auf der Via Cassia, Höhe Autobahnauffahrt Monterosi di Viterbo, die Übergabe des Lösegelds statt. Der Zeuge, der – auf ausdrückliche Anordnung der zuständigen Justizbehörde – in diesem Augenblick nicht unter Beobachtung stand, hat zu Protokoll gegeben, dass er auf Aufforderung dreier maskierter Individuen, die sich an Bord eines Fiat Kombi mit Kennzeichen Viterbo befanden, die Tasche mit dem Geld aus dem Autofenster geworfen hat.

Die Banknoten des Lösegelds sind in der Folge in verschiedenen italienischen Städten aufgetaucht, haben jedoch keinerlei für die Ermittlungen relevante Details geliefert.

Es ist überflüssig anzumerken, dass die trotz der Lösegeldübergabe nicht erfolgte Freilassung des Entführten Anlass zu der Vermutung gibt, dass das Verbrechen einen tragischen Ausgang genommen hat.

V.

An dem Schlamassel waren die Katanier aus Casal del Marmo schuld. Der Baron hatte einem von ihnen ins Gesicht gesehen, deshalb hatten sie ihn beseitigt. Libanese und Freddo waren vor vollendete Tatsachen gestellt worden, aber sie hätten ohnehin nichts unternommen. Ohne Zeugen ging man außerdem weniger Risiken ein. Sobald Feccia seinen Anteil erhalten hatte, beschloss man allerdings, den Kontakt zu den Dilettanten abzubrechen. Bufalo, ein großer, dicker Junge aus Acilia, der Chloroform und die Alfetta 1750 besorgt hatte, schlug vor, sie zu beseitigen. Aber die Euphorie angesichts der Einnahmen überwog. Nachdem sie den Idioten aus Casal del Marmo ihren Anteil ausbezahlt hatten, blieben noch immer zweieinhalb Milliarden, die sie wie besprochen aufteilen mussten. Zweieinhalb Milliarden durch zehn.

Libanese hatte alle in die Wohnung in San Cosimato bestellt. Alle waren gekommen. Dandi, Botola – ein kleiner Untersetzter aus dem Piramide-Viertel, der sehr gut mit der Pistole umgehen konnte –, Satana, der zwar schnell die Nerven verlor, aber knallhart war, mit spärlichem rotem Haar und in schwarzem Diabolik-Overall, Scrocchiazeppi … kurz und gut, alle waren da, mit Ausnahme von Sorcio, der Maus. Über ihn hatte sich Libanese noch kein Urteil gebildet: Einige Anrufe hatte er ziemlich zugedröhnt getätigt, auf die Gefahr hin, alles auffliegen zu lassen. Aber im Großen und Ganzen hatte er sich ganz gut geschlagen. Seinen Anteil würde er erhalten.

Ja, das Geld. Bis jetzt hatte er nur im Kino so viel auf einem Haufen gesehen. Am meisten faszinierte ihn allerdings die Reaktion der anderen. Die Buffoni-Zwillinge zum Beispiel: Aldo – oder Ciro, man konnte sie kaum unterscheiden – versuchte sich ein Papierhütchen aus Banknoten zu basteln. Und Ciro – oder Aldo – sagte:

– Mein Vater wollte uns in die Fabrik zum Arbeiten schicken. Jetzt kann er uns am Arsch lecken.

Bufalo hatte sich auf Kredit ein Tütchen Koks gekauft und stand wie betäubt vor dem Zaster, mit weißem Pulver an der Nase. Hin und wieder riss er das Maul auf und gab eine Art Seufzer von sich (Ah! Oh! Ah! Oh!). Dandi blätterte einen Ferragamo-Prospekt und den Katalog einer Gemäldeausstellung durch. Fierolocchio zog ein mehrmals gefaltetes, kariertes Blatt Papier voller Telefonnummern aus der Tasche.

– Die beste Fut von ganz Rom!

Bierdosen und Joints machten die Runde und alle überlegten, wie sie das Geld auf möglichst schnelle und dumme Weise ausgeben konnten. Fast alle. Freddo stand etwas abseits. Er blickte aus dem Fenster: ein grauer Morgen, ein trübsinniger Regen, der durch und durch ging.

– Teilen wir?

Bufalo war wieder aufgewacht.

– Also: Fünfhundert haben die Idioten bekommen. Amen. Bleiben zweieinhalb. Libano und Freddo jeweils vierhundert. Die stehen ihnen zu, immerhin war es ihre Idee, nicht wahr? Bleiben siebzehnhundert. Wir sind acht. Zweihundert pro Person, das macht sechzehnhundert. Den restlichen Hunderter geben wir in der Spielhölle aus, was meint ihr?

Was gab es dagegen einzuwenden? Sie stürzten sich auf ihn, sogar Scrocchiazeppi, der so dünn war, dass man ihn mit einem Rempler hätte umstoßen können. Nur Libanese und Freddo rührten sich nicht. Der eine hatte die Hand auf den Kopf des Duce gelegt und der andere stand am Fenster, eine Zigarette zwischen den Lippen.

Libanese beschloss, seinen Trumpf auszuspielen.

– Einen Moment, Freunde!

– Was ist denn jetzt los?

Sie drehten sich um und sahen ihn an, als wäre er verrückt geworden. Bufalo sogar mit der Hand am Revolverhalfter unter der Achsel. Argwöhnisch, voller Angst, in die Falle gegangen zu sein. Libanese blieb sitzen, breitete beschwichtigend die Arme aus. Freddo schaute wie immer konzentriert zu.

– Ich meine: Wir haben hier zweieinhalb Milliarden. Das ist mehr als vierhundert Millionen für mich und zweihundert für dich, und dann noch der Hunderter fürs Spiellokal …

– Was redest du?, protestierte Fierolocchio.

– Klappe, unterbrach ihn Freddo. Red weiter, Libano.

– Ich fange bei dir an, Dandi, weil wir uns schon eine Ewigkeit kennen. Du bist ein Dandy und deshalb kaufst du dir jetzt eine neue Garderobe – was für ein Dandy wärst du sonst?

– Die Kawasaki ist auch schon ein wenig verrostet …

Ein paar lachten. Bufalo ließ das Halfter los. Libanese holte Atem.

– Und du, Scrocchiazeppi?

– Bin heute bei Bedetti & Bandiera vorbeigegangen und hab ein paar Rolex mit jeder Menge Schnickschnack gesehen …

– Und du, Fierolocchio … Weiber, Koks und Champagner?

– Das Beste vom Leben eben.

Wieder lachten einige. Libanese geriet in Fahrt. Auch Bufalo zeigte schön langsam Interesse.

– Ich meine, wir alle haben Wünsche, Ansprüche …

– Was nur recht und billig ist, das steht uns zu, begehrte Satana auf.

Ein paar nickten. Libanese sagte, einverstanden.

– Uns steht nur eines zu. Etwas Besseres.

– Worauf warten wir also, warum teilen wir nicht?

Libanese ahnte, dass Satana am meisten Widerstand leisten würde. Er wandte sich ihm zu und blickte ihm in die kleinen, funkelnden Augen.

– Dann teilen wir eben. Und morgen fangen wir wieder bei null an. Die Autos sind alt, das Koks ist verbraucht, die Weiber rennen uns davon, weil wir keine Moneten mehr haben, kein Geld … und ich sage Geld, Fierolo’ … aber stell dir mal vor, wir teilen nicht … wir lassen die zweieinhalb beisammen … wir bleiben beisammen … könnt ihr euch vorstellen, was aus uns werden könnte? Statt wenig zu haben, könnten wir viel haben. Und je mehr wir haben, desto mehr bekommen wir … erinnerst du dich, was der Priester gesagt hat, Satana? Wo Tauben sind, da fliegen Tauben zu … so müssen auch wir es machen. Heute wenig, um morgen alles zu haben.

– Das musst du mir genauer erklären, sagte Bufalo, mit offenkundigem Interesse.

Libanese lächelte ihn an, aber sein Blick suchte Freddo. Der war jedoch wie abwesend, steif, erstarrt, seine Augen waren zu zwei kleinen Schlitzen geworden.

– Bufalo, ich stelle es mir so vor. Wir sind eine Gang. Wir nehmen uns das, was wir brauchen, und kaufen uns ein paar Kleinigkeiten … sagen wir, jeder fünfzig Millionen.

– Du auch?, staunte Bufalo.

– Ich auch. Gleicher Anteil für alle.

– Wirklich alle?, fragte Satana provokant und warf Freddo einen verwunderten Blick zu.

Freddo war der zweite Boss. Er musste Stellung beziehen. Aber Freddo zuckte mit keiner Wimper, sein Blick wanderte von der Büste zu dem hässlichen Toilettentisch mit der Madonna unter dem Glassturz zu den Sesseln mit schwarzem Bezug, zur Stereoanlage, die von einem Hehler in der Via Sannio stammte.

– Fünfzig Millionen mal zehn … sofern alle mitmachen … das heißt, zwei Milliarden bleiben über, stellte Scrocchiazeppi fest.

– Zwei Milliarden sind eine gute Grundlage, Libanese ließ nicht locker, wir brauchen Waffen und ein sicheres Lager, um sie aufzubewahren … sagen wir, wir investieren eineinhalb Milliarden in unser gemeinsames Projekt, oder auch eine Milliarde und acht …

– In was für ein Projekt?

– Hast du noch immer nicht begriffen, Satana? Ich will das, was ihr alle wollt!

– Und zwar?

– Rom.

– Bum! Mussolini hat gesprochen! Und wie zum Teufel eroberst du Rom?

– Mit Zuckerbrot und wenn nötig mit Peitsche, du Idiot. Mit Rauschgift. Mit Glücksspiel …

Nun ging es drunter und drüber. Jeder wollte seine Meinung sagen: Gebrüll, wilde Drohgebärden. Libanese stand langsam auf und ging zu Freddo. Sie warfen sich einen Blick zu. Die beiden verstanden sich auch ohne Worte, was sie vom Rest der Gruppe unterschied. Freddo zog den Revolver aus der Tasche und schlug damit fest auf die Kommode.

– Haltet mal alle das Maul!

Er hatte nicht einmal die Stimme erhoben.

– Libanese hat Recht. Wenn wir das Geld aufteilen, ist es zu nichts gut. Gemeinsam sind wir stark. Du hast mich überzeugt, Libano. Gleicher Anteil für alle und den Rest in die Gemeinschaftskasse. Vielleicht legen wir etwas für Notfälle zur Seite … wenn einer im Knast landet oder familiäre Probleme hat.

– Das ist vernünftig, sagte Libanese. In Zeiten der Flaute finanzieren wir uns mit dieser … Reserve. Ein paar Scheine im Monat werden sich schon ausgehen.

– Ich bin auf eurer Seite, sagte Dandi.

Die Kawasaki konnte warten, das Zentrum Roms nicht.

– Freunde, das ist eine gute Idee, knurrte Bufalo und schlug Libanese auf die Schulter.

Im Grunde war Geld doch nur dazu da, Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen.

Auch Fierolocchio sagte zu. Ein paar Wochen Sex konnte er sich immerhin auch mit fünfzig Riesen leisten.

Auch Scrocchiazeppi sagte zu: Die Rolex würde er sich auf andere Weise besorgen. Auf die übliche.

Auch Botola sagte zu. Er wohnte bei seiner Mutter und hatte ihr eine Waschmaschine, einen Geschirrspüler und einen nagelneuen Fernseher versprochen.

Auch Aldo und Ciro sagten zu: Was Freddo sagte, war für sie Gesetz.

Als Satana an die Reihe kam, setzte er einen provokanten Blick auf und zählte die zweihundert Millionen.

– Du bist offenbar nicht einverstanden, sagte Libanese herausfordernd.

– Ich glaube, euch hat man ins Hirn geschissen.

– Satana, sagte Dandi, du hast deines in der Kirche vergessen, aber das ist nicht unsere Schuld.

Hinterhältiges Lachen. Hinterhältig war auch Satanas Blick.

– Erstens: Wir sprechen von einem Spiel … aber wir wissen alle, dass Terribile das Spiel bestimmt.

– Wir reden mit ihm, schlug Fierolocchio versöhnlich vor.

– Und wenn er uns zum Teufel schickt?

– Dann erschießen wir ihn, unterbrach ihn Bufalo seelenruhig.

– Terribile? Und wer erschießt ihn? Du?

– Ja, ich. Und wenn es dir nicht passt, erschieß ich auch dich, du Trottel!

Bufalo war stinksauer. Und Satana hatte bereits die Hand in der Tasche. Libanese versuchte sie zu beschwichtigen. Das fehlte gerade noch, dass sie sich angesichts der Beute in die Haare kriegten.

– Schön langsam. Satana macht nicht mit? Auch egal, wir können auf ihn verzichten. Satana, nimm deinen Anteil und verzieh dich. Wir bleiben trotzdem Freunde.

Aber Satana gab nicht klein bei.

– Zweitens, sagte er, ohne der Aufforderung nachzukommen, sprechen wir über Rauschgift … dafür sind die Neapolitaner zuständig, sie beherrschen den Markt. Erschießt du auch die Neapolitaner, Bufalo?

– Da irrst du dich, Satana, unterbrach ihn Dandi. Puma importiert schon jahrelang Stoff aus China und noch keiner hat ihn …

– Vergiss doch den Arsch, stieß Bufalo hervor.

Satana tat, als ob er ihn nicht gehört hätte. Jetzt war er auf Dandi sauer.

– Puma zahlt den Neapolitanern Schutzgeld. Hast du das gewusst?

– Wir werden niemandem Schutzgeld zahlen, stellte Libanese fest, wir werden auf gleicher Augenhöhe verhandeln …

– Du willst Rom erobern, Libano. Aber niemand wird jemals Rom erobern. Du schon gar nicht, du halber Afrikaner …

Alle blickten auf Libanese. Der seufzte. Würde es ihm und Freddo niemals gelingen, die Jungen im Zaum zu halten? Wegen jeder Kleinigkeit gerieten sie sich in die Haare. Aber um auf dieser Welt Erfolg zu haben, brauchte man Gelassenheit und Verstand. Satana wollte ihn provozieren. Er musste sich gegen ihn durchsetzen, sonst würde er die Achtung der anderen verlieren. Er deutete ein Lächeln an, schüttelte den Kopf und versetzte Satana eine Ohrfeige, die einen Abdruck auf dessen Wange hinterließ.

– Ich bringe dich um, du Hund.

Satanas Reaktion war vorauszusehen gewesen, aber er war so schnell, dass er Libanese zuvorkam. Mit einer schlangenartigen Bewegung hatte er den Revolver gezogen und ihn Libanese unter das Kinn gehalten. Zum Glück hatte Freddo aufgepasst. Ein Tritt in die Nieren und Satana ging zu Boden wie ein leerer Sack. Bufalo riss die Waffe an sich, die er fallen gelassen hatte.

– Jetzt wird’s lustig.

Aber Freddo riss sie ihm aus der Hand und half Satana beim Aufstehen.

– Nimm dein Geld und verschwinde – und danke deinem Schöpfer, dass wir gute Laune haben …

Satana nickte grimmig. Bevor er Leine zog, ließ er seinen Blick über die neugegründete Organisation schweifen.

– Die zwei Arschlöcher haben euch eingekocht. Aber ihr werdet schon noch draufkommen.

Kaum war er weg, wollte ihm Bufalo nachlaufen. Libanese versperrte ihm den Weg.

– Wo willst du hin?

– Den Trottel zusammenschlagen.

– Du wirst niemanden zusammenschlagen, Bufalo.

Freddos Ton duldete keine Widerrede.

– Wir sind jetzt eine Firma, Kumpel, erklärte Dandi, die Entscheidungen treffen wir gemeinsam, es gibt keine Alleingänge mehr.

Bufalo senkte den Kopf.

Februar 1978

Abmachungen

I.

Satana hatte Recht gehabt. Wenn man im großen Stil ins Drogengeschäft einsteigen wollte, musste man sich in irgendeiner Weise mit den Neapolitanern arrangieren. An Mario il Sardo führte kein Weg vorbei. Bufalo, der ein guter Verhandler war, vereinbarte ein Treffen. Trentadenari fungierte als Gewährsmann: Er kam aus Forcella und war ursprünglich bei den Giuliano gewesen. Dann hatte es einen Streit mit ihren Verbündeten, den Licciardiello, gegeben und zwei der Bosse des Clans waren auf der Strecke geblieben. Trentadenari hatte sich zu Cutolo geflüchtet, der ihn mit offenen Armen in der Nuova Camorra aufnahm. Infolge eines Kuhhandels, der bei Trenette mit Tintenfisch und in Salzwasser gekochtem Knurrhahn beschlossen worden war, hatte ihn das Gericht der Cumparielli freigesprochen, und nun galt Trentadenari auf beiden Seiten als glaubwürdiger Gesprächspartner. Nicht schlecht für einen, der zweimal das Lager gewechselt und sich den Spitznamen Judas eingehandelt hatte.

Trentadenari war ins Genovesi-Gymnasium gegangen, war aus gutem Hause und bildete sich viel auf sein Wissen und seine guten Manieren ein. Er war ein Riese von einem Meter neunzig und von oben bis unten mit Tattoos bedeckt, passend, wie er sagte, zu den auffälligen Marinella-Krawatten, welche er nicht einmal in intimen Situationen abzulegen pflegte. Mit den Einkünften aus dem Kokainhandel hatte er sich im EUR ein Apartment im Portoghesi-Stil eingerichtet, in einer Gegend, wo auch viele Adelige wohnten.

– Die Gräfin ist ’ne echte Dame, sagte er, wenn er seinen Gästen die Veranda zeigte, die auf einen Hof mit hohen Magnolien und Hecken im Italian-Garden-Stil blickte. Schade, dass sie Kommunistin ist. Keine Ahnung, warum ausgerechnet die Reichen Rote sind.

Libanese nickte zustimmend. Er war immer schon Faschist gewesen. Für ihn repräsentierte die Rechte Ordnung und Organisation. Und genau das versuchte er auch bei der Bande durchzusetzen. Er wollte einem Haufen undisziplinierter Hitzköpfe Ordnung und Organisation beibringen. Die Macht steht dem zu, der die besten Ideen hat und die Kraft, diese auch durchzusetzen.

Während Bufalo und Trentadenari einander umarmten und lustige Beschimpfungen von sich gaben, nahmen Freddo und Libanese die Umgebung in Augenschein. Alles schien ruhig. Dandi war vom Prunk im Hause Trentadenari völlig platt. Designermöbel, Glastische, Stereoanlage mit ultramodernen Lautsprechern, Großbild-TV, riesiges Wohnzimmer mit großen Sofas … das war Stil! Das war ein Leben! … Trentadenari hängte sich freundschaftlich bei ihm ein.

– Gefällt dir, was? Der Architekt hat mich ein Vermögen gekostet … aber immerhin ist er ein Profi. Ich mach ein wenig Musik.

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