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In Rom, Florenz und Palermo explodieren Bomben, die Richter Falcone und Borsellino fallen grausamen Attentaten zum Opfer. Die Mafia agiert skrupelloser denn je, entschlossen, die Regierung zu einem neuen Pakt zu zwingen.
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Seitenzahl: 421
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GIANCARLODE CATALDO
SCHMUTZIGEHÄNDE
POLITTHRILLER
Aus dem Italienischen vonKarin Fleischanderl
Die Originalausgabe dieses Buches ist erstmals 2007 unter dem Titel „Nelle mani giuste“ bei Giulio Einaudi editore, Turin, erschienen.
© der Originalausgabe: Giulio Einaudi editore, Torino 2007
Lektorat: Ines Gebetsroither
© der deutschsprachigen Ausgabe
FOLIO Verlag Wien • Bozen 2011
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagfoto: Agentur
Graphische Gestaltung: Dall’O & Freunde
Druckvorbereitung: Graphic Line, Bozen
Printed in Austria
ISBN 978-3-85256-554-5eISBN 978-3-99037-028-5
www.folioverlag.com
Hinweis für den Leser
PrologAuf dem Land in der Nähe von Caserta, Sommer 1982
Zehn Jahre späterHerbst 1992
Dafür ist die Cosa Nostra zuständig
Vecchios Waisen
Kontakte & Kontrakte
Maya und die anderen
Spitzenpolitik
Die Tochter des Gründers
Die Catena
Der Tod und das Mädchen
Pino Marino und Valeria
Die Schöne und das Biest
Saubere Hände
Der amerikanische Freund
Enthüllungen
Statisten
Lady Heroine comes back
Weihnachten … in Weiß
Götterdämmerung
Carús Erleuchtung
Die Unerbittlichen
Auferstehung
Wenn aus dem Spiel Ernst wird
Nebeneffekte
Aufrichtigkeit
Family life
Das Epos der Bomben
Verdammnis
I left my heart in Portofino
Die Macht der Gefühle
Das Ende ist bekannt
EpilogDezember 1993
Abspann
Dieser Roman hält sich an historische Fakten, interpretiert sie jedoch, indem er Reales metaphorisch überhöht.
Die Rekonstruktion der Fakten basiert vor allem auf der Lektüre von Gerichtsakten, auf Gesprächen mit Personen, die an den Massakern der 1990er-Jahre aktiv beteiligt waren, sowie auf den Erkenntnissen und scharfsinnigen Beobachtungen von Journalisten wie Francesco La Licata, die sich mit den Verflechtungen zwischen Mafia und Politik beschäftigt haben. Wichtige Erkenntnisse verdanke ich auch Maurizio Torrealta und seinem ausführlichen Buch La trattativa. Die Kenntnis des „Jargons“ und des modus operandi der Mafiosi verdanke ich vor allem der Abschrift von Abhörprotokollen.
Abgesehen von den bewusst genannten realen Personen sind die Protagonisten dieses Romans jedoch frei erfunden; Firmennamen, öffentliche Strukturen, Medien und Politiker werden nur genannt, um Figuren, Bilder und das Wesen der kollektiven Träume zu benennen, die sie wesentlich mitgeprägt haben. Nur die metaphorische Überhöhung gestattet es, die Personen, die dem Autor als Vorbild gedient haben, in literarische Archetypen zu verwandeln.
Herzlich bedanken möchte ich mich bei den zahlreichen Freunden, die wertvolle Hinweise und aufrichtige Kritik beigesteuert haben.
Was die Autobombe im römischen Olympiastadion betrifft, entwirft der Roman eine These, die dem Ergebnis des Florentiner Prozesses widerspricht, demzufolge das Attentat entgegen dem Willen der Täter gescheitert ist; der Roman hingegen unterstellt andere Gründe. Im Übrigen halte ich es mit Tolstoi, der meinte, die Geschichte wäre eine schöne Sache, wenn sie nur wahr wäre.
Dieses hier aber ist schließlich nur ein Roman.
G. D. C.
Der Mann, den sie umlegen sollten, hieß Settecorone. Seine Selbstsicherheit grenzte an Leichtsinn, denn er versteckte sich in einem Bauernhaus mitten im Territorium der Casalesi, im Gebiet der Verräter, beschützt von einem Netz von Informanten, die eigentlich für die Sicherheit des Verstecks hätten garantieren sollen. Pech für ihn, dass einer von ihnen, ein kleiner Gauner aus Acerra, schon seit geraumer Zeit auf der Gehaltsliste der Catena stand. Vecchio hatte Stalin Rossetti mit der Aufgabe betraut.
– Warum denn? Dafür sind wir nicht zuständig!
– Natürlich nicht. Sie sollen auch nur Deckung geben. Wenn Ihnen etwas Merkwürdiges auffällt, hauen Sie augenblicklich ab.
Nun lehnte Stalin, versteckt in einem dichten Pinienwäldchen, an seinem Land Rover und rauchte, kaum hundert Meter von der Via Domitiana entfernt, in Blickweite des Bauernhauses … es war ein Nachmittag wie aus einem Spaghettiwestern, in dieser Landschaft wie aus einem Spaghettiwestern, in der es nur so wimmelte von Kleinkriminellen, Huren und armen Teufeln, die kein menschliches Handeln und auch kein göttliches Wunder jemals von ihrer banalen Spaghettiwestern-Existenz hätte erlösen können. Ciro ’o Russo, das Camorramitglied, das die Exekution durchführen sollte, war vor ein paar Minuten hineingegangen: ein nach Luft ringender Fettsack, der den ewigen Zwiebelgestank mit literweise Kölnischwasser der Marke „Je teurer, desto besser“ zu übertönen versuchte. Stalin rauchte und dachte nach. Die Camorra war dafür zuständig, aber auch der Staat. Die Drecksarbeit mussten allerdings immer sie erledigen. Sie von der Catena.
Settecorone war einer der verlässlichsten Killer von Don Raffaele Cutolo. Seinen Namen verdankte er den Kronen, die er sich auf die rechte Schulter hatte tätowieren lassen, zur Erinnerung an die Feinde, die er umgelegt hatte: sieben Kronen, sieben Skalps. Aber nicht irgendwelche unbedeutende Skalps, die zählte er nicht mehr. Qualitätsskalps sozusagen, von Kapos aufwärts, sogar ein Bürgermeister war darunter, der seine Vorstellung von „Recht und Gesetz“ nicht hatte aufgeben wollen. Settecorone war ein Knallharter, einer, der nicht klein beigab, der seinem Boss, der ihm Bildung, Rang, Ansehen – mit anderen Worten Hoffnung – gegeben hatte, treu bis zum Tode war. Vor etwas mehr als einem Jahr, als die Roten Brigaden den Stadtrat Ciro Cirillo entführt hatten und an höchster Stelle beschlossen worden war, für Cirillo zu tun, was man Aldo Moro aus Hochmut verweigert hatte, nämlich mit den Entführern zu verhandeln, hatte sich Cutolo als wertvoller Verbündeter erwiesen. Dank seiner Vermittlung hatten Staat und Terroristen eine zufriedenstellende Übereinkunft getroffen, und die Geisel war nach drei Monaten freigelassen worden. Die Kampfgenossen hatten ein wenig Kleingeld erhalten, das sie aufs Neue in den Kampf für die Befreiung des von den Kapitalisten unterdrückten Volkes investierten. Cutolo hatte alle möglichen Garantien erhalten: freie Hand im Kampf gegen die rivalisierenden Clans und das Versprechen, beim Wiederaufbau des vom Erdbeben 1980 zerstörten Südens kräftig mitmischen zu dürfen. Und noch etwas war Cutolo versprochen worden: Man würde versuchen, seine Haftstrafe zu verkürzen. Keiner konnte sich erklären, in welchem Anfall von Wahnsinn der Boss der Neuen Camorra das O. K. für die Operation gegeben hatte. Denn nur ein Verrückter konnte glauben, dass der Staat tatsächlich einen Häftling freilassen würde, der eine Haftstrafe von mehrmals lebenslang absaß. Gewisse Grenzen wagte nicht einmal Vecchio zu überschreiten. Schon gar nicht die Grenze der convenienza, der Kosten-Nutzen-Rechnung. Man hatte bereits mehr als genug für Cutolo getan, und Cutolo, der als kluger und umsichtiger Boss galt, hätte das eigentlich kapieren müssen. Aber kaum war die Euphorie über den günstigen Verhandlungsausgang vorüber, war Cutolo nicht nur nicht seinem Ruf als Mann von Welt gerecht geworden, sondern hatte noch dazu Ansprüche gestellt. Es genügte ihm nicht, dass man ihn für unzurechnungsfähig erklärt hatte. Es genügte ihm nicht, dass man ihn aus dem Hochsicherheitstrakt ins normale Gefängnis verlegt hatte. Cutolo wollte frei sein. Cutolo verlangte die Freiheit. Die Kassiber, die aus seiner Zelle geschmuggelt wurden, waren genauso drohend wie eindeutig. Cutolo drohte, es würde Enthüllungen geben, Cutolo drohte, es würde Massaker geben. Das alles war inakzeptabel. Diskret, aber unmissverständlich und entschieden hatte man den alten Clans erlaubt, drohend das Haupt zu erheben. Die militärische Vorherrschaft Cutolos und seiner Anhänger wurde von einer mit Volldampf betriebenen und intelligenten Gegenoffensive infrage gestellt. Seine Männer wurden der Reihe nach dezimiert. Jetzt war Settecorone dran.
Mit der Kippe zündete sich Stalin eine neue Zigarette an. Wie lange brauchte dieser Ciro ’o Russo bloß? War er schon hineingegangen? Dem Informanten zufolge war der Verräter allein, er mochte zwar ein guter Schütze sein, aber mit dem Überraschungsfaktor auf ihrer Seite hatte er eigentlich keine Chance.
Er hörte das Echo eines Schusses. Erledigt, sagte sich Stalin und wollte schon in seinen Land Rover steigen. Dann hörte er einen zweiten Schuss. Dann einen dritten. Und einen Schrei. Stalin entsicherte die Kaliber 22 und lief im Zickzack zum Gebäude. Noch ein Schrei. Die Tür stand halb offen. Stalin ging hinein. Was er sah, gefiel ihm gar nicht. Das Bauernhaus war äußerst luxuriös eingerichtet. Zwei Diwane, ein kleiner Fernseher, Teppiche, ein kitschiges Aquarell mit einem Hafen und dem Vesuv im Hintergrund. Stalin bot sich ein eindeutiger Anblick: Der Verräter war tot. Ein Loch mitten in der Stirn. Aber der Informant war ungenau gewesen. Da waren noch eine Frau und ein Junge. Die Frau lag im Sterben. Sie war noch jung, ein wenig verlebt, sie jammerte leise, und ein resigniertes Zittern durchlief ihren Körper. Der Junge, halb ohnmächtig, rieb seinen Kopf. Er war ungefähr dreizehn, vierzehn Jahre alt. Groß, dünn, dunkel. Ciro ’o Russo fluchte, er versuchte sich die Klinge eines kleinen Messers aus dem linken Oberschenkel zu ziehen. Auf seiner kakibraunen Hose breitete sich ein großer Blutfleck aus.
– Dieses Arschloch. Bring ihn um, Rosse’, bring ihn um und hauen wir ab!
Stalin versuchte sich ein Bild zu machen. ’O Russo war eingedrungen und hatte Settecorone kaltgemacht. Er hatte nicht mit der Anwesenheit der Frau und des Jungen gerechnet. Instinktiv hatte er auf die Frau geschossen. Der Junge hatte sich auf ihn gestürzt und ihn am Schenkel verletzt. ’O Russo hatte sich von ihm befreit und ihn an die Wand gestoßen. Der Junge hatte Mut bewiesen.
– Bring ihn um, verdammt noch mal, mir ist die Pistole runtergefallen, bring das Arschloch um!
Der Junge war endlich aufgestanden. Er schwankte, konnte kaum klar sehen. Ciro ’o Russo schrie und fluchte. Stalin hob den Revolver des Camorrista auf. Die Frau jammerte nicht mehr. Aus weit aufgerissenen Augen betrachtete sie die Decke. Grünen Augen.
Stalin ging zu dem Jungen und zeigte auf die Frau.
– Deine Mutter?
Der Junge schüttelte den Kopf.
– Worauf wartest du denn noch? Schieß, du Trottel, und hauen wir ab.
Stalin legte dem Jungen den Zeigefinger an die Gurgel und zwang ihn, ihn anzusehen. Er hatte himmelblaue Augen. Verzweifelte Augen. Stalin Rossetti verabscheute Märtyrer und Helden. Aber einen Kämpfer erkannte er auf den ersten Blick. Dieser Junge war ein geborener Kämpfer. Dieser Junge verdiente es zu leben.
Stalin reichte ihm den Revolver von Ciro ’o Russo.
Brüllend stürzte sich der Camorrista auf sie.
Der Junge schoss. Ciro ’o Russo drehte sich um die eigene Achse, fiel jedoch nicht hin. Der Junge schoss noch einmal, immer wieder. Als das Magazin leergeschossen war, nahm ihm Stalin vorsichtig die glühende Waffe aus der Hand.
– Wie heißt du?
– Pino. Pino Marino.
– Komm mit, Pino Marino.
Der Junge senkte den Kopf. Und begann zu weinen.
Zehn Jahre später
Herbst 1992
Ein paar Tage nach der Ermordung des Steuereintreibers Salvo war Zu’ Cosimo in einen Bungalow in der Nähe des Strands gezogen. Und zwar deshalb, weil der Ort sicher und Jod, wie er behauptete, in einem gewissen Alter ein Segen war. Offiziell war Herbst, aber Sizilien schien nichts davon zu wissen, die Sonne versengte wie immer Felder, Städte, Menschen und Tiere. Zu’ Cosimo ging niemals an den Strand. Ein ausgeklügeltes Staffelsystem erlaubte ihm, rasch den Ort zu wechseln und im Falle unerwünschter Begegnungen unterzutauchen. Hin und wieder brachte ihm ein absolut vertrauenswürdiges Familienmitglied einen Teller Cannoli, seiner Leibspeise.
– Iss, iss, mein Sohn. Sie sind mit Frischkäse gemacht, mit cavagna … so was findet man nicht auf dem Festland!
Tja. Das Festland. Genau von dort kam Angelino Lo Mastro an diesem Nachmittag. Zu’ Cosimo höchstpersönlich hatte die zögernden Mitglieder der Provinzkommission von der Notwendigkeit überzeugt, ihn kommen zu lassen, um den Bezirkschef von Resuttana umzulegen. Eigentlich bestand absolut keine Notwendigkeit, den vielversprechenden Jungen wegen so einer Bagatelle zu belästigen, den Jungen, der nicht vorbestraft war und der das Wort der Cosa Nostra in gewissen Kreisen verbreitete, die sich selbst als „ehrenwert“ bezeichneten (ein Eigenschaftswort, bei dem Zu’ Cosimo immer gelben Schleim spuckte). Als ein paar Mitglieder der Kommission gemeint hatten, dass es sich dabei um eine Verschwendung von Energie und Talent handelte, hatte Zu’ Cosimo sie mit einem Schulterzucken verabschiedet.
– Zu’ Totò sagt, ein wenig Bewegung kann nicht schaden!
Was im Klartext hieß: Riina höchstpersönlich bestand darauf, dass der Junge kam. Und Riinas Befehle wurden nicht diskutiert. Die Aufnahme Angelinos in den Führungsstab war einstimmig beschlossen worden.
Auch Angelino begriff sofort, dass es sich um eine Art Bewährungsprobe handelte. Und er empfand heftiges Unbehagen, als er sich einen Haufen Ausflüchte einfallen lassen musste, um lange vereinbarte Termine abzusagen. Ein Unbehagen, dessen abgestandener Geruch ihn auf der ganzen Reise, während der Vorbereitungen, bei der Tat und auch danach noch begleitete. Ein Unbehagen, das ihm jetzt die Anwesenheit des Alten beinahe unerträglich machte.
Fürs Erste hatte ihn Zu’ Cosimo ins nahe Einkaufszentrum La Vampa geschickt, um eine Flasche Mineralwasser ohne Kohlensäure zu kaufen.
Erst nachdem der Alte seine Flasche ausgetrunken hatte, beruhigte er sich.
Und jetzt wartete Angelino geduldig darauf, dass das Ritual der Cannoli-Verkostung zu Ende ging. Er wartete auf eine Erklärung. Zu’ Cosimo hatte es nie eilig.
Angelino Lo Mastro schluckte den letzten Bissen runter und räusperte sich. Zu’ Cosimo hatte es nie eilig, hasste jedoch umständliche Reden. Und auf einem Ohr war er schwerhörig.
Nach den Morden an den Richtern hatten die üblichen Klatschmäuler für ein bisschen Aufregung gesorgt. Als erste Notmaßnahme hatte man ein paar Leichen exhumiert und sie auf würdige und endgültige Weise in Salzsäure bestattet. Dafür hatte man ein paar Lehrlinge aus Belmonte Mezzagno eingesetzt. Sie hatten ordentliche Arbeit geleistet. Die Bullen machten auf dem von den Klatschmäulern angegebenen Gut einen Lokalaugenschein und fanden rein gar nichts. Die Frischlinge hatten eine Belohnung bekommen.
Zu’ Cosimo nickte.
Die Beseitigung des Familienoberhaupts der Resuttana hatte sich schwieriger herausgestellt als vorgesehen. Der beauftragte Killer, Nino Fedele, war der Aufgabe nicht gewachsen gewesen. Und so hatte Angelino höchstpersönlich eingreifen müssen.
– Red weiter!
Das Familienoberhaupt hatte keinerlei Verdacht geschöpft, als er und Nino Fedele zu ihm gegangen waren. Angelino überbrachte die Nachricht der Kommission, dass sie sich an einem sicheren Ort unterhalten müssten. Sobald sie im Auto saßen, hatte Nino Fedele eine Schnur aus der Tasche geholt und sie ihm von hinten um den Hals gelegt. In diesem Augenblick war eine Veränderung mit ihm vorgegangen. Die Adern an seinem Hals schwollen an, die Augen waren blutunterlaufen, Schweiß lief ihm über das Gesicht. Einen Augenblick zuvor war er noch normal gewesen, jetzt hatte er sich in eine Art Teufel verwandelt. Er begann das Opfer zu beschimpfen. Er spuckte und beleidigte Mutter und Vater des armen Teufels. Seine Brüder, alle seine Verwandten. Viel Gerede, keine Taten. Das Familienoberhaupt trat um sich und versuchte die Schnur zu fassen zu bekommen. Mit einem Fußtritt zerschmetterte er das rechte Wagenfenster. Je mehr sich Nino Fedele aufplusterte, desto lockerer wurde der Griff.
– Und weiter?
– Da hab ich ihn genau ins Genick geschossen.
Mit hängenden Augenlidern und unablässig zuckenden Lippen machte ihm Zu’ Cosimo ein Zeichen fortzufahren. In dem Augenblick, als sein Ex-Familienoberhaupt leblos in sich zusammengesunken war, hatte auch Nino Fedele sich beruhigt. Sie hatten den Leichnam in den Kofferraum eines anderen, sicheren Autos gelegt, und den Wagen, den sie für das Gemetzel verwendet hatten, mit Benzin überschüttet und verbrannt. Dann waren sie in die Bar Albergheria gefahren und hatten alles Vittorio Carugno übergeben, der bereits informiert war und Salzsäure besorgt hatte.
Zu’ Cosimo seufzte.
– Und Nino Fedele?
– Er hat sich die Golduhr genommen, das Portemonnaie, den Gürtel, das Goldkettchen mit dem Bild der Madonna und das Armband und ist seiner Wege gegangen …
Zu’ Cosimo lächelte.
– Du hättest auch ihn erschießen sollen. Wir haben den räudigen Hund extra für diese Aufgabe ausgesucht. Aber er hat keine Eier und kein Hirn. Du hättest ihn erschießen sollen!
Angelino wurde blass. Zu’ Cosimo schien plötzlich eingenickt zu sein. Aber Angelino kannte ihn zu gut. Er hatte ihn in die Familie eingeführt. Er hatte sein Schicksal bestimmt, das sich so sehr von der gewöhnlichen Karriere des Ehrenmannes unterschied. Er war sein Gönner und sein Fluch. Zu’ Cosimo dachte nach. Er musste entscheiden, ob er die Bewährungsprobe bestanden hatte. Ob ihn die Jahre im Norden zu einem Weichling gemacht hatten oder ob er noch immer würdig war, eine Rolle in der Cosa Nostra zu spielen. Ob man ihm bedingungslos vertrauen konnte. Deshalb hatte man ihn für diesen dummen, zweitklassigen Mord angeheuert. Und er hatte es vermasselt!
Aber Zu’ Cosimo dachte, dass es sich im Grunde um eine lässliche Sünde handelte, weil die convenienza aufgegangen war. Man hatte das Ziel erreicht. Der Junge hatte Geistesgegenwart und Kaltschnäuzigkeit bewiesen. Die Kritik hatte ihn verletzt und eingeschüchtert. Der Erfolg war ihm nicht zu Kopf gestiegen. Der Junge respektierte die Regeln. Auch wenn er im tausend Kilometer entfernten Norden lebte, sich wie eine Schwuchtel kleidete und parfümierte und vielleicht sogar den Dialekt seiner Heimat vergessen hatte … gehorchte er nach wie vor.
Das hatte er beweisen müssen, und er hatte es bewiesen.
Zu’ Cosimo schlug die Augen auf. Er hatte eine Entscheidung getroffen.
– Ist in Ordnung. Ist erledigt. Und Nino Fedele stellen wir ein wenig ruhig. Aber du … hast du mir noch was zu sagen?
Angelino Lo Mastro zögerte, bevor er „nein“ hauchte. Zu’ Cosimo schien ihn mit seinen leeren, wässrigen Augen zu durchdringen, die manchmal eiskalt und manchmal ein Feuer speiender Vulkan zu sein schienen. Angelino Lo Mastro senkte den Blick.
– Mach mir einen Kaffee, befahl der Alte knapp.
Angelino hatte ihm nicht direkt in die Augen geblickt. Zweifel stiegen in ihm auf. Wenn sogar einer wie Angelino ihm nicht direkt in die Augen blickte … Zu’ Cosimo bereitete eine Botschaft an alle vor, die ihm nicht direkt in die Augen blickten. Gegen das verräterische Familienoberhaupt hatte man vorgehen müssen, weil der Verräter das Gerücht verbreitet hatte, Provenzano, Zu’ Binnu, stünde mit der Cosa Nostra auf Kriegsfuß. Fürs Erste hatten sie einmal zugewartet. Man ließ ihn reden, als wäre seine Stimme bloß ein ferner Ruf, den der Schirokko heranwehte. War es jemals vorgekommen, dass Gottvater mit allen Heiligen auf Kriegsfuß stand? Aber wie sich herausstellte, verdiente der Verräter keine Nachsicht. Der Verräter äußerte Zweifel hinsichtlich ihrer Entscheidungen. Der Verräter hatte es gewagt, öffentlich zu erklären, dass man sich auf einem Holzweg befände, dass sogar das Überleben der Organisation auf dem Spiel stünde, dass Zu’ Totò und Zu’ Cosimo verrückt geworden seien. Die Situation entglitt ihnen. Und da wurde deutlich, was für ein Spiel der Verräter spielte: Er wollte Zu’ Binnu auf seine Seite ziehen. Es gab keinen Konflikt, es durfte gar keinen geben. Der Verräter hatte versucht, Zwietracht zu säen. Und wenn sich jemand auf seine Seite geschlagen hätte? Wenn die vom Wind herangewehte Stimme zum Chor geworden wäre? Deshalb hatte man eingreifen müssen. Der Augenblick duldete kein Zögern. Das war die offizielle Version. Doch die Wahrheit sah anders aus. Viele zweifelten und waren sich unsicher. Hätte Zu’ Cosimo eine Liste aufgestellt, wären mindestens ein Viertel der besten Köpfe der Cosa Nostra draufgestanden. Eines Tages würde er diese Liste auch tatsächlich erstellen. Hätte er dann Angelino Lo Mastro an die oberste Stelle setzen müssen? Angelino, der für ihn wie ein eigenes Kind war? Böse Gerüchte waren im Umlauf. Lügengeschichten. Und der Zweifel, der Zweifel … Zweifel geht mit Tatenlosigkeit einher. Und Tatenlosigkeit mit Tod. Ein bewegungsloser Körper ist tot. Deshalb musste man die Sache beschleunigen. Augenblicklich zuschlagen, solange die Wunden noch nicht verheilt waren und noch schmerzten.
Zuschlagen, bis sich einer anpisste und sagte: aufhören. So erreichte man gar nichts.
Hört auf und einigen wir uns. Wie in den alten Zeiten.
Angelino kam aus der Küche zurück, mit zwei Tassen Kaffee, kurz und schwarz, wie es sich gehörte.
Zu’ Cosimo schaute ihm direkt in die Augen.
– Du kannst ruhig sein. Ihr könnt alle ruhig sein. Die convenienza geht auf.
Diesmal hielt Angelino seinem Blick stand. Der Junge hatte sich nicht korrumpieren lassen. Man musste Nachsicht walten lassen, ihm und all den anderen gegenüber, die bereits vom Wurm angefressen waren. Sie hatten ein Exempel statuiert, das musste reichen. Jetzt ging es darum, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Mit der Zeit würde die Kosten-Nutzen-Rechnung, die convenienza, aufgehen.
– Fahr nach Mailand zurück. Sprich mit Giulio Gioioso und sag ihm, sein Freund soll seinen Verpflichtungen nachkommen. Wegen ihm haben wir Zeit und Geld verloren – denn Zeit ist Geld –, deshalb soll uns der Freund ein kleines Geschenk machen …
– Wie klein?
– 1,5 Prozent. Eine angemessene Kosten-Nutzen-Rechnung … Und weil wir gerade von Kosten-Nutzen sprechen: Wieviel hast du für das Mineralwasser bezahlt?
– Zweihundert Lire.
– Das nenn ich angemessen.
Zu’ Cosimos Gesicht verfinsterte sich, er schüttelte den Kopf, schnaubte. Er erzählte, dass jeden Tag einer vom Supermarkt zu ihm käme. Er brächte ihm sechs Flaschen Mineralwasser und verlangte dafür fünfzehnhundert Lire. Das Arschloch machte also jeden Tag einen Gewinn von dreihundert Lire.
– Für die Dienstleistung, stellte Angelino fest, dem langsam etwas dämmerte.
– Aber das war nicht vereinbart. Der macht seine eigene convenienza. Und dort, wo jemand eine eigene Kosten-Nutzen-Rechnung anstellt, zweigt er was ab!
Die Mineralwasser-Lieferung stand unmittelbar bevor, deshalb bat Zu’ Cosimo Angelino, er möge ihm noch ein paar Minuten Gesellschaft leisten. Er möge da sein, wenn der Laufbursche aus dem Supermarkt kam. Dann würde ihm Zu’ Cosimo eine Kugel durchs Maul jagen, damit er kapierte, worin Bildung und Geschäftsmoral bestanden, und dann würde Angelino wohl so freundlich sein, sich um die Leiche zu kümmern.
Genau in diesem Augenblick begriff Angelino, dass Zu’ Cosimo völlig verrückt war. Alt und verrückt. Er dachte an das auserkorene Opfer: Saro Basile, sechzig Jahre alt, sieben Kinder, drei Zähne, steifes Bein. Der Supermarkt im Einkaufzentrum La Vampa hatte ihn aus Mitleid eingestellt. Zu’ Cosimo war der Sinn für die Realität abhandengekommen … Der Cosa Nostra stand eine Versammlung von Verrückten vor. Alten Verrückten. Sie verfolgten strikt den einmal eingeschlagenen Weg, während sich die Welt in eine ganz andere Richtung drehte. Angelino Lo Mastro hatte absolut keine moralischen Einwände gegen Gewalt. Der kluge Einsatz von Gewalt war einer der Grundpfeiler der Organisation. Die Gewalt diente dazu, die Dinge zu regeln, sie war der einfachste und unmittelbarste Weg, um von den zahlreichen Propheten des Chaos verstanden zu werden. Aber was hatte Gewalt mit dem Schicksal dieses armen, hinkenden Teufels zu tun? Das war nur dumm! Nein, nein! Die Cosa Nostra musste sich ändern! Die Cosa Nostra musste mit der Zeit gehen! Und die Zeit forderte einen tief greifenden Wandel. Neuerungen. Fortschritt. Wenn doch er eines Tages gemeinsam mit einem anderen jungen Mann wie er selbst …
– Es wird spät, flüsterte Zu’ Cosimo. Bitte schau mal, ob er schon kommt, Angelino.
Am liebsten hätte Angelino Lo Mastro den Alten zerquetscht wie eine Laus. Aber dazu war er nicht imstande. Angelino Lo Mastro hatte Angst vor ihm.
Der arme Teufel, der Familienvater, das Schaf, ging inzwischen dem sinnlosesten Tod entgegen, den man sich nur vorstellen konnte, während Zu’ Cosimo lächelte und sich darauf freute, ihn kaltzumachen …
Da hatte Angelino Lo Mastro eine Idee.
– Aber seid ihr euch sicher, dass die convenienza stimmt? Das hier ist immerhin ein sicherer Unterschlupf, ihr werdet ihn verlassen müssen …
Das Lächeln auf Zu’ Cosimos Lippen erlosch. Sein Blick irrte im Zimmer umher, er vermied es tunlichst, Angelino anzusehen.
An der Tür klopfte es. Angelino rührte sich nicht. Zu’ Cosimo seufzte.
– Mach auf. Gib ihm zwölfhundert Lire und sag ihm, dass sie ab morgen einen anderen schicken sollen.
Verkehrslärm vom Lungotevere. Abenddämmerung über den Platanen, durch die die letzten Ausläufer des Westwinds strichen. Scialoja saß an Vecchios ehemaligem Schreibtisch und erteilte Camporesi Befehle, dem jungen Leutnant, den er zu seinem Assistenten gemacht hatte.
März. Mord an Salvo Lima. Das jahrzehntelange Gleichgewicht zwischen Politik und Mafia war endgültig gekippt. Falcone im Mai. Zwei Monate später Borsellino. Dazwischen war Scalfaro zum Präsidenten der Republik gewählt worden. Und schließlich im September der Mord an Salvo, dem Steuereintreiber. Dem Letzten auf der Liste. Zumindest im Augenblick. Die politische Elite der Ersten Republik versucht den von Mani pulite entfachten Sturm zu überleben. Craxi kämpft wie ein Löwe, aber sein Schicksal ist besiegelt. Die Postkommunisten schlüpfen indessen in den Sonntagsstaat, sie können es kaum erwarten, an die Macht zu kommen. Mit dem Fall der Berliner Mauer ist auch ihr Auftrag, in der Mitte zu bleiben, hinfällig geworden. Die uralten Übereinkünfte sind vom Sprengstoff abgelöst worden. Alle gegen alle. Absolute Handlungsfreiheit für alle. Großes Chaos unter dem Himmel, eine ausgezeichnete Gelegenheit für fähige und vorurteilslose Männer. Kein System hält lange einen Überschuss an Dynamik aus. Und früher oder später ergibt sich wieder ein Gleichgewicht. Aber welches? Im Augenblick: weit verbreitete Besorgnis in Wirtschafts- und Finanzkreisen, keinerlei Garantie für die zukünftige Ordnung. Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass sich falsche Seilschaften, gefährliche Geheimdienste durchsetzen. Die Freimaurer in Aufruhr. Die Katholiken wissen nicht, ob sie sich auf die Seite der Rechten oder der Linken schlagen sollen. Selbst der Papst staunt über das enorme Vakuum, das der Niedergang des Kommunismus hinterlassen hat. Die Mafia eine treibende Kraft. Nach dem Anschlag auf Borsellino hatte die ROS, die Spezialeinheit der Carabinieri, Verhandlungen mit der Cosa Nostra aufgenommen. Mithilfe von Vito Ciancimino, dem Ex-Bürgermeister von Palermo, dem Mann, der mit dem Clan der Corleonesen von Riina verbunden war. Im Augenblick war er mehrmals verurteilt und unter Hausarrest. Ciancimino war nach allen Richtungen offen. Nicht alle Teile der Cosa Nostra befürworteten die Strategie der Massaker. Die Spezialeinheit setzte auf die bedingungslose Kapitulation der Untergetauchten. Riina wollte etwas, aber niemand wusste, was. Diese Tatsachen waren einem Kreis gut Informierter wohlbekannt. Mit Ausnahme der Richter, für die wie immer die Schweigepflicht galt. Worum ging es? Einigen um die Macht, anderen einfach ums Überleben. Die Mafia: eine Kraft im Spiel. Ihre Waffe: Massaker.
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