Schwerdtfegers Rubicon - Heiko Mallau - E-Book

Schwerdtfegers Rubicon E-Book

Heiko Mallau

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Beschreibung

Das Buch erzählt eine tatsächliche Begebenheit nach, das Gladbecker Geiseldrama. Da der Autor sich in Hamburg gut auskennt, wurde die Handlung dorthin verlegt. Zum Thema Psychopathie (heute auch als „antisoziale/dissoziale Persönlichkeitsstörung“ bezeichnet) wurden umfangreiche Recherchen angestellt. Das fertige Buch wurde von einem Kriminalhauptkommissar geprüft und für fehlerfrei befunden. Die Story wird schnörkellos und gradlinig erzählt, auf Thriller-Effekte, die auf Kosten der Logik gehen, wurde bewusst verzichtet.

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Dieser Krimi schildert ein fast perfektes Verbrechen vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Realität des Deutschlands von heute.

Vorbemerkung des Autors:

Etwaige Ähnlichkeiten mit den von mir erfundenen, in meinem Krimi agierenden Personen sind unbeabsichtigt und wären rein zufällig. Alle ihnen zugeschriebenen Handlungen haben keine mir bekannte Entsprechung in der Realität.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

1

„Guck mal, Mami, da kommt Schweinchen Schlau“, rief eine helle Kinderstimme fröhlich, und alle Kunden, die schon zu dieser frühen Morgenstunde an einem schönen Tag im Mai 2002 den Schalterraum der HanseBank bevölkerten, blickten sich suchend um. Und richtig, soeben betrat ein hochgewachsener, kräftiger Mann, eine Schweinsmaske vor dem Gesicht, die Schalterhalle, gefolgt von einem weiteren, etwas kleineren Mann mit einer identischen Maske. Die Maschinenpistole, die der erste Maskenträger gerade aus seinem Rucksack zog, bildete einen etwas harschen Kontrast zum freundlichen Grinsen seiner Maske.

Der Neuankömmling trat in die Mitte des Raumes. „Ruhe“, rief er mit lauter, ein wenig heiserer Stimme. „Dies ist ein Überfall. Ihnen wird nichts geschehen, wenn Sie sich ruhig verhalten. Alles sofort auf den Boden legen, Gesicht nach unten, Hände hinter den Kopf halten. Los, Oma, beeil' dich etwas“, herrschte er eine alte Dame an, die noch nicht so recht verstanden hatte, worum es hier eigentlich ging. Dann trat er einen jungen Mann, der noch nicht reagiert hatte, von hinten in die Kniekehle. “Los, wird's bald?“

Dieser, von athletischem Körperbau, mit einem weißen T-Shirt und hellblauen Jeans bekleidet, drehte sich zornig um: „Ey, spinnst du? Du glaubst wohl, mit deiner Plastik-MP kannst du hier Eindruck schinden?“ Er trat auf den Maskierten zu, täuschte einen Angriff auf sein Gesicht vor, wobei dessen Maske herunter rutschte und sein Gesicht frei gab, dann griff er nach der Maschinenpistole. Der Verbrecher trat sofort einen Schritt zurück, schlug die Maschinenpistole, die er an beiden Enden fest hielt, dem jungen Mann ins Gesicht.

Dieser taumelte rückwärts, auf seiner Nase floss Blut; der Verbrecher entsicherte seine Maschinenpistole und schoss den jungen Mann drei Mal in die Brust. Dieser brach zusammen, fiel auf den Boden und blieb regungslos liegen. Sein T-Shirt wies drei sich rasch vergrößernde dunkelrote Flecken auf. Jemand schrie laut auf, die alte Dame brach in Tränen aus.

„Was sind Sie nur für ein Mensch“, schrie sie den Schützen schluchzend an.

„Hat der den Mann jetzt tot geschossen?“ fragte das kleine Mädchen seine Mutter. Sie sprach mit leiser Stimme nur zu ihrer Mutter, aber in dem entsetzten Schweigen, das nun folgte, wurde ihre Frage von jedem der im Raum Anwesenden verstanden. Der Schütze, der den Aufschrei der alten Dame ignoriert hatte, war über die kindliche Frage scheinbar doch etwas aus der Fassung geraten. Er blickte das Kind und die Mutter an. Diese umarmte ihr Kind erschrocken und flüsterte: „Sei jetzt bitte still.“

Der zweite der beiden Eindringlinge bückte sich zu dem Erschossenen herunter und untersuchte ihn kurz. Er richtete sich wieder auf und fragte halblaut: „War das jetzt nötig? Wir hatten doch abgemacht….“ „Halt jetzt bitte den Mund“, herrschte der Schütze ihn an. „Wollen wir hier diskutieren oder was?“ Er rückte seine grinsende Schweinsmaske wieder zurecht und gab zwei Schüsse auf eine Videokamera ab, welche unter der Decke des Schalterraumes angebracht war und den Kundenbereich im Visier hatte. Ein Querschläger kreischte durch den Raum, Glassplitter fielen auf den Boden.

„Jetzt ist aber Schluss mit Lustig“, sagte der Schütze, und seine Stimme klang hinter der Maske ein wenig dumpf. „Alles sofort auf den Boden, sonst knallt's.“

Jeder beeilte sich, der Aufforderung nach zu kommen. Die Mutter des kleinen Mädchens legte ihr Kind auf den Boden und drückte sich eng an sie, ihren Arm um sie legend. Der zweite Mann beugte sich zu ihr herunter, tätschelte ihr den Kopf und sagte: „Keine Angst, Kleine, Dir passiert schon nichts.“Der Maschinenpistolenträger trat an die Barriere heran, welche den Kundenbereich vom Arbeitsbereich der Bankangestellten trennten. Hinter dieser Barriere standen drei Schreibtische, auf denen je ein Telefon, ein Computer-Tastenfeld und ein Flachbildschirm standen. Hinter den Schreibtischen war ein weiterer Arbeitsplatz durch eine mobile Wand abgeteilt. „Den Schlüssel zur Eingangstür“, herrschte der Maschinenpistolenträger die ältere der beiden Bankangestellten an. „Wer telefoniert oder den Alarm auslöst, ist tot.“

Und um seiner Drohung Nachdruck zu verleihen, gab er einen weiteren Schuss auf eine Deckenleuchte ab, deren Scherben klirrend zu Boden fielen. Die Angesprochene zog einen flachen Schlüssel aus einer Schublade und reichte ihn wortlos dem Mann. Dieser ging zur Eingangstür, zog aus seiner Jackentasche ein kleines Schild mit der Aufschrift „Heute geschlossen“ und befestigte es mit einem Gummisauger an der Glasscheibe. Dann ließ er die Jalousie der Tür herunter.

„Wer ist hier der Zweigstellenleiter?“ „Das bin ich“, sagte die Ältere der beiden an den Schreibtischen sitzenden Frauen. Sie wirkte trotz der eben abgelaufenen Ereignisse ruhig und gefasst. Sie war etwa Mitte Vierzig, trug einen Rock aus schottischem Tartan, eine weiße Seidenbluse, darüber eine Kette aus großen Bernsteinstücken. Ihr dunkelblondes Haar war zu einem Mozartzopf geflochten.

An ihrem Pullover war ein Namensschild befestigt, das verriet, dass ihr Name Frau Niemeyer war.

„Den Tresor aufschließen, aber sofort!“ Der Rädelsführer unterstrich diese harsche Aufforderung mit einer ausdrucksstarken Bewegung seiner Schusswaffe. Nur kein falsches Heldentum, dachte die Angesprochene, dafür werde ich hier wirklich nicht bezahlt. Man hat ja eben gesehen, wozu dieser Verrückte fähig ist. Wir sind ja außerdem versichert. Eigentlich sollten ja heute früh über eine Millionen € im Tresor sein, aber der Werttransportdienst hat sich wohl verspätet. Hoffentlich platzen die hier nicht noch herein.

Sie zog eine Schublade auf, entnahm ihm einen Schlüsselbund und sagte: „Der Tresor ist im Untergeschoss. Die Tür dorthin ist durch ein Magnetschloss gesichert. Um sie frei zu geben, muss ich auf diesen Knopf hier drücken.“ Sie deutete dabei auf eine verborgene Stelle ihres Schreibtisches. Der Verbrecher schien zu überlegen. Wo ist nur die junge Frau Möller, dachte die Zweigstellenleiterin, die habe ich doch heute schon gesehen, nun ist sie wie vom Erdboden verschwunden. Hat sie irgend wo Deckung gefunden? Hoffentlich bleibt sie außer Sichtweite.

Der Rädelsführer war inzwischen zu ihr herangetreten, „Zeigen Sie mir den Knopf für das Magnetschloss!“ Frau Niemeyer zeigte den Knopf, der an der Unterseite ihres Schreibtisches befestigt war. „Drücken!“ befahl der Verbrecher. Frau Niemeyer drückte, man hörte einen Summton und ein klickendes Geräusch.

Dann ging sie die Treppe ins Untergeschoss hinunter, dicht gefolgt vom Maschinenpistolenträger. Sie standen vor einem Tor aus Metallstäben. Die Zweigstellenleiterin öffnete das Schloss. Der Bereich, den die beiden jetzt betraten, war geräumig, hatte etwa dreißig Quadratmeter. Der Fußboden war mit weichem Teppichboden in dezentem Hellrot belegt, in dem wie kleine weiße Inseln in einem roten Meer Logos der HanseBank schwammen.

Die Wand links vom Eingang war vollständig von Stahlfächern in drei verschiedenen Größen ausgefüllt.

In der Mitte des Raumes stand ein Tisch mit zwei Stühlen, an der rechten Wand befanden sich drei durch einen Vorhang aus schwerem Stoff abzutrennende Kabinen. An der dem Eingang gegenüber liegenden Wand war die massive Stahltür des Tresors sichtbar, die ein Tastenfeld hatte. Die Zweigstellenleiterin, dicht gefolgt vom Rädelsführer der beiden Bankräuber, ging zu dieser Tür, schloss sie auf und schaltete die Neonleuchte an der Decke an. Der dahinter liegende Raum war nur etwa drei Quadratmeter groß. Links von der Tür stand ein kleiner Tisch, auf dem ein großes Heft lag. Ein großer Becher mit dem Logo der HanseBank enthielt einige Fasermaler und Kugelschreiber. Neben dem Heft stand ein Telefon. Der Bankräuber riss dessen Anschlusskabel aus der Wand.

Die Zweigstellenleiterin ging zum Tresor, tippte eine sechsstellige Zahl ein, steckte einen Schlüssel ins Schloss und öffnete die massive Stahltür, welche mit einem seufzenden Geräusch aufschwang. Im Safe lagen Banknotenbündel, Akten und einige versiegelte Umschläge aus braunem Papier.

„Wie viel Geld ist hier im Tresor?“

„Achtundfünfzigtausend Euro.“

„Was, ist das alles? Da müsste doch viel mehr drin sein? Wenn du etwa versuchen solltest, mich verarschen, geht es dir dreckig.“

„Das ist alles, was wir hier im Tresor haben, sehen Sie doch selber nach“, sagte sie unerschrocken und dachte, dafür musste immerhin ein Mensch sterben. Wenn dir das nicht reicht, hättest du vielleicht etwas später kommen oder die Landeszentralbank überfallen sollen. Der Bankräuber stieß Frau Niemeyer beiseite und durchwühlte den Tresor. Plötzlich kam ihr der Gedanke, wieso sagte er eigentlich, da müsste mehr drin sein? Wusste er etwa, dass wir heute früh einen Werttransport erwarteten?

„Pack das Geld ein, aber dalli“, sagte der Verbrecher und reichte ihr einen braunen Jutesack. Und zügig räumte sie die Banknotenbündel aus dem Tresorfach in den Beutel.

„Was ist in den versiegelten Umschlägen?“ fragte der Bankräuber. „Genau weiß ich das selber nicht, wir haben sie von Kunden zur Aufbewahrung bekommen.

Meistens Urkunden und Dokumente.“

„Auch einpacken“, herrschte er sie an. Frau Niemeyer tat, wie ihr befohlen wurde.

Als sie damit fertig war, riss ihr der Verbrecher den Beutel aus der Hand. „Die Schlüssel“, herrschte er sie an. Sie übergab ihm das Schlüsselbund. Als sie wieder im Raum mit den Stahlfächern der Kunden waren, gab er ihr einen kräftigen Stoß, so dass einige Schritte zurück machte und sich dann rückwärts auf den Boden setzte.

„Du bleibst hier“, sagte er und warf das Gittertor ins Schloss. „Sehr liebenswürdig“, murmelte Frau Niemeyer.

2

„Polizeipräsidium, Einsatzzentrale“ sagte eine Stimme. „Wie bitte? Können Sie nicht etwas lauter sprechen? Ich kann Sie kaum verstehen….. Das will ich doch hoffen, dass es sich um einen Notruf handelt, sonst wäre es missbräuchliche Benutzung einer Notrufnummer…Sie heißen Möller? Wo sind Sie? HanseBank, Zweigstelle Vierzehn? Es wurde geschossen?…. Sechs Schüsse?….Was, Sie sind auf der Toilette und haben die Schüsse gehört?…. Es hat auch jemand geschrien?….OK, wir kümmern uns drum. Wo ist Ihre Zweigstelle? Mönckebergstraße Ecke Rathausmarkt. Habe ich alles verstanden, Frau Möller. Verhalten Sie sich ruhig und bleiben Sie, wo Sie sind. Wir schicken sofort einen Wagen vorbei.“

Der neue Innensenator, welcher der kleineren der beiden konservativen Parteien angehörte, die jetzt die Regierung des Stadtstaates bildeten, hatte mit dem, wie er sagte, „sicherheitspolitischen Laissez faire“ der abgewählten Vorgänger-Regierung gründlich Schluss gemacht. Während bis dato die Streifenwagen, die keinen aktuellen Einsatz hatten, zum Zwecke der Betriebskostenersparnis auf den Revieren geparkt waren, hatte er als eine seiner ersten Amtshandlungen angeordnet, dass regelmäßige Streifen zu fahren waren.

Die vorsichtigen Hinweise des langjährigen Polizeipräsidenten Dr. Guilleaume, dass dadurch die jährlichen Dienst-Kfz-Betriebskosten um einen einstelligen Millionenbetrag steigen würden, hatte er kühl mit dem Hinweis abgeschmettert, dass die die öffentliche Sicherheit Vorrang vor Budgetüberlegungen habe. Der ehrliche Bürger müsse wieder das Gefühl bekommen, dass die Polizei Präsenz zeige und dadurch potentielle Verbrecher abschrecke. Dass das Geld kosten würde, sei ihm selber klar; er hätte schon für eine entsprechende Verstärkung der der Polizei zugewiesenen Mittel gesorgt.

Wie der Zufall es nun wollte, war eine Zivilstreife in unmittelbarer Nähe der HanseBank-Zweigstelle Nr. 14, als der Diensthabende des zuständigen 12.

Polizeireviers den Rundruf über Polizeifunk absetzte, und meldete sich einsatzbereit. „Da hat es so einen merkwürdigen Anruf aus der Zweigstelle 14 der HanseBank gegeben, seht doch mal nach, ob ihr da etwas feststellen könnt.“

Der Streifenführer parkte das grün-weiß markierte Einsatzfahrzeug vor der Zweigstelle in der zweiten Reihe. Polizeiobermeister Matthias Dierks, der Beifahrer der Streifenwagenbesatzung, war ein breitschultriger, hochgewachsener Mann. Er trug ein weißes T-Shirt, darüber eine schwarze Lederjacke, Uniformhose und Turnschuhe. Er schaltete sein tragbares Funkgerät ein, fasste unter seine Jacke, um sich vom korrekten Sitz der Dienstwaffe zu überzeugen, und ging zur Zweigstelle. Die Tür war versperrt, „Heute geschlossen“ besagte ein kleines Schild, das an einem auf dem Glas der Tür haftenden Gummisauger hing. Was drinnen vorging, war nicht zu sehen; eine Jalousie aus einem leichten, hellgelben Material verhinderte den Einblick. Das Ganze wirkte schon etwas verdächtig. Der Beamte klopfte, erst leise, dann, als sich nichts tat, etwas energischer. Dann trat er zur Seite.

Vielleicht gab es ja irgend eine Reaktion? Besser, nicht gesehen zu werden. Und tatsächlich, zwei Hände drückten die Blätter der Jalousie auseinander und eine Schweinsmaske schaute heraus. POM Dierks ging sofort zum Wagen zurück.

„Na, was zu sehen?“ begrüßte ihn sein Kollege. „Du glaubst es nicht! Die Tür ist abgesperrt, und als ich klopfte, schaute Schweinchen Schlau durch die Jalousie!“

Der Streifenführer schaute Dierks von der Seite an und sagte: „Ich seh' das doch richtig, dass du das nicht für einen Kindergeburtstag hältst?“ Der antwortete: „Quatsch keine Opern, ruf endlich das Revier an und frage den Diensthabenden nach Anweisungen.“

„Na, denn wollen wir mal“, sprach der Streifenführer, griff nach dem Mikrofon und tastete den Sender hoch. „12-3 für 12, bitte kommen.“

Das Revier meldete sich. „12 hört. Was habt Ihr herausgefunden?“ „Also, irgend etwas ist faul in der Zweigstelle 14 der HanseBank. Dierks ist zum Eingang der Filiale gegangen und fand die Tür verschlossen. Eine Sonnenschutz-Jalousie war herunter gelassen, davor hing auch ein Schild 'Heute geschlossen'. Als er an die Tür klopfte, schaute ein Maskierter durch die Jalousie.“

„Ein Maskierter? Hatte er eine Strumpfmaske über den Kopf gezogen?“

„Nein, es war eher so eine grinsende Schweinsmaske.“ „Vielleicht Schweinchen Schlau“?

„Von solchen Schweinereien habe ich keine Ahnung, ich bin Single und kein fünfköpfiger Familienvater, so wie du.“

„Bitte etwas mehr Funkdisziplin. Und was passierte dann weiter?“

„Gar nichts, dann haben wir Euch angefunkt. Sollen wir vielleicht einmal versuchen, in der Bankfiliale anzurufen?“

Der Diensthabende des 12. überlegte einige Sekunden und sagte dann: „Das halte ich nicht für nötig, die Situation ist wohl eindeutig. Wir leiten die Angelegenheit weiter ans Polizeipräsidium, die werden dort höher besoldet und sollen entscheiden, wie es weiter geht. Haltet inzwischen die Stellung, wir schicken Euch sofort Verstärkung. Ende.“

Der Streifenführer beendete die Verbindung, dann gingen die zwei Polizisten zum Eingang der Bankfiliale und stellten sich zu beiden Seiten der Tür auf, bereit, beim geringsten Geräusch sofort ihre Dienstwaffen zu ziehen.

Nach und nach traf das ganze Aufgebot ein: weitere Funkstreifen, zwei Notarztwagen, die Einsatzbereitschaft vom Polizeipräsidium und das Mobile Einsatzkommando. Die Polizei begann, das Gelände um die Zweigstelle Vierzehn der HanseBank mit rot-weißem Plastikband weiträumig abzusperren. Die Leute vom MEK bezogen Stellungen in der Nähe des Einganges der HanseBank und an der Rückseite des Gebäudes.

Der Einsatzleiter nahm sofort Kontakt mit dem Kommandoführer des MEK und den Streifenführern auf und ließ sich von den Kollegen über die Situation und ihre Einschätzung der Lage informieren.

„Wir müssen uns als erstes einen Überblick über die Lage in der Bank verschaffen“, sagte er dann. „Wie ich hörte, wurde drinnen geschossen. Gibt es Verletzte, die Hilfe brauchen? Wie viele Bewaffnete sind drinnen, wie viele Leute haben sie in ihrer Gewalt? Nehmen wir also Kontakt auf. Rufen wir in der Zweigstelle an. Wir sollten in der Lage sein, die Gespräche aufzuzeichnen. Fordern Sie bitte eine mobile Kommunikationseinheit an“, sagte er zu einem jüngeren Kollegen. Dieser, ein junger Kriminalkommissar, griff nach seinem Handy, um die Anforderung weiter zu leiten.

Der Kommandoführer des MEK trat an den Einsatzleiter heran und sagte: „Es wäre gut, wenn wir eine Zeichnung von den Räumlichkeiten der Bank hätten. Vielleicht gibt es irgend welche Hintereingänge, Lüftungsschächte oder Fenster, über die wir eindringen könnten.“

„Halte ich eher für unwahrscheinlich“, meinte der Einsatzleiter. „Aus Sicherheitsgründen sind alle Fenster vermutlich vergittert. Die Pläne dieser Filiale haben wir übrigens dabei. Am besten wäre es, wenn die Zentrale der Bank und jemanden schicken könnte, der die Räume und auch die Leute kennt.“

„Ich kümmere mich darum“, versprach der junge Kriminalkommissar.

3

Im Schalterraum der Zweigstelle 14 der HanseBank herrschte bedrücktes Schweigen.

Die beiden Bankräuber hatten die Leiche des Erschossenen aus dem Wege geräumt. Sie hatten sie hinter einen der Schreibtische gezogen. An den vor wenigen Minuten statt gefundenen Mord erinnerte nur noch ein großer Blutfleck in der Mitte des Kundenbereiches und eine blutige Schleifspur. Während der Anführer der beiden Bankräuber mit der Zweigstellenleiterin unten beim Tresor war, hatte sein Kumpan im Kundenraum mit gezogenem Revolver Wache gehalten. Nun kam der Anführer alleine zurück. In der linken Hand trug er einen braunen Jutesack. „Wir sind hier fertig“, informierte er seinen Kumpanen. „Zeit für den Abflug.“

„Während ihr unten wart, hat jemand an die Tür geklopft“, sagte dieser. „Ich habe hinaus geschaut, konnte aber niemanden sehen.“

„Das war vermutlich ein Kunde“, meinte der Anführer. „Ich sehe mal nach.“ Er ging zur Eingangstür, drückte die Elemente der Jalousie auseinander und blickte nach draußen.

„Verdammt“, sagte er, „wir haben ein Problem.“ Die Kunden und die übrig gebliebene Bankangestellte, die Frau Kamphausen hieß, lagen mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden. Die Mutter des kleinen Mädchens redete beruhigend auf ihr Kind ein. „Heute Nachmittag gehen wie erst Eis essen und danach gehen wir ins Kino.“

„Au fein“, sagte das Mädchen, welches mit der gesunden Robustheit der Kinder, welchen die wenigsten Erwachsenen ihnen zutrauen, schnell über die schlimme Szene, die es mit ansehen musste, hinweg gekommen war und sich einigermaßen mit seiner Lage abgefunden hatte. „Am besten in einen Harry-Potter-Film. Mutti, müssen wir noch lange hier auf dem Boden liegen?“ „Es dauert bestimmt nicht mehr lange.“

„Ich muss mal dringend auf die Toilette“, meldete sich ein älterer Mann zu Wort. „Ich mach das schon“, sagte der kleinere der beiden Bankräuber zum Anführer. „Ich gehe mit und passe auf ihn auf.“

Und nachdem vom Anführer kein Einspruch kam, sagte er: „Steh langsam auf, Opa, ich komme mit. Wo ist denn hier die Toilette“, fragte er die im Schalterraum übrig gebliebene Angestellte.

„Hinter der Trennwand mit dem Schreibtisch für den Anlageberater“. Und sie zeigte die Richtung. Die beiden begaben sich in die angegebene Richtung. „Die Tür ist zu“, sagte der ältere Mann. Der Kleinere der beiden Bankräuber fragte die Bankangestellte: „Haben Sie die Tür abgeschlossen?“ Diese antwortete, einigermaßen eingeschüchtert: „Nein, die Tür ist nicht abgeschlossen. Wir haben gar keinen Schlüssel für die Toilettentür. Die ist immer offen.“

Der Verbrecher schwieg einen Moment, so, als wisse er nicht, wie es nun weiter gehen sollte, und sagte dann: „Dann muss die Toilette wohl besetzt sein.“

Jetzt wurde der Anführer aufmerksam. „Warte hier“, sagte er zu seinem Kumpanen. Er ging zum Waschraum, trat gegen die Toilettentür und rief: „Kommen Sie sofort heraus. Ich zähle bis drei, dann schieße ich durch die Toilettentür. Eins, zwei…“ Die Tür öffnete sich und eine zitternde junge, blonde Frau kam heraus. Sie war mittelgroß, hatte ein sympathisches rundes Gesicht, ihr Haar war halb lang, es wies einen Pagenschnitt auf und bedeckte gerade ihre Ohren. Sie war mit hellblauen Jeans und einem dunkelblauen Sweatshirt bekleidet.

„Sieh an, ein Unterseeboot“, sagte der Bankräuber. „Du dachtest wohl, du könntest hier warm und trocken überwintern.“ Plötzlich kam ihm ein Gedanke. „Hast du vielleicht ein Handy bei dir?“

Sie griff in eine Gesäßtasche und zog ein knallrotes Mobiltelefon hervor.

„Anschalten“, befahl er.

Nachdem sie die PIN eingegeben hatte, riss er ihr das Telefon aus der Hand und blätterte im Menü umher.

Endlich hatte er gefunden, was er suchte. Er schlug ihr brutal ins Gesicht und stieß sie in den Kundenraum. „Weißt du, wem wir diese Scheiße da draußen verdanken?“ sagte er zu seinem Kumpanen.

„Diese Ratte hier hat von der Toilette aus mit ihrem Handy die Polizei alarmiert. Sie war aber zu dämlich, die Liste der abgehenden Anrufe zu löschen, und die letzte gewählte Nummer ist die 110. Das sage ich dir“, jetzt wandte er sich an die schluchzende junge Frau, „wenn wir wegen dir Schwierigkeiten bekommen, wirst du dafür bezahlen.“ Dann steckte er ihr Mobiltelefon in eine Gesäßtasche seiner Hose.

4

Die Polizei hatte ihre Vorbereitungen abgeschlossen. Das Gelände rund um die HanseBank war abgesperrt und von Zivilisten geräumt. Die Mönckebergstraße, eine der innerstädtischen Verkehrsschlagadern, wurde vollständig gesperrt, was in den umliegenden Straßen prompt den totalen Verkehrsinfarkt nach sich zog. Die Männer des MEK hatten ihre Positionen rund um das Gebäude, in dem sich die Zweigstelle befand, bezogen.

Die angeforderte Mobile Kommunikationseinheit war eingetroffen. Das war ein Kleinlaster, in dessen kastenförmigem Aufbau Gestelle und Einschübe mit Telekommunikationseinrichtungen und Einrichtungen zur Tonaufzeichnung untergebracht waren. Über Funktelefon konnten gleichzeitig drei Telefongespräche geführt und aufgezeichnet werden.

Der Einsatzleiter saß auf einem der unbequemen Sitze. Vor ihm war eine schmale Arbeitsplatte, auf der ein Telefonbuch, ein Notizblock und einige Stifte lagen. Er hatte einen Kopfhörer auf und ein Mikrofon vor seinem Mund. „Fertig?“ fragte der Techniker, und der Einsatzleiter nickte. Der Techniker wählte die Nummer der Bank und startete ein Bandgerät.

Sieben Mal ertönte des Freizeichen, dann hörte der Einsatzleiter eine etwas heisere Männerstimme: „Was wollen Sie?“

„Kriminalhauptkommissar Hoffmann hier. Ich bin hier der Einsatzleiter. Die Bank ist von Polizeikräften umstellt. Gibt es bei Ihnen Verletzte, die Hilfe brauchen?“

„Das können Sie vergessen. Wir wollen einen Fluchtwagen und freien Abzug, keine Verfolgung, sonst gibt es hier Tote.“

„Wir können über alles reden, aber am wichtigsten ist für uns, Verletzte zu versorgen. Ich frage noch ein Mal: Gibt es jemanden bei Ihnen, der ärztliche Hilfe braucht?

„Gibt es nicht, ich habe mich doch wohl deutlich genug ausgedrückt. Wenn nicht in zehn Minuten ein neuer BMW, 5er oder größer, vor der Türe steht, gibt es hier den ersten Toten. Also beeilt euch gefälligst.“

Ich muss jetzt Zeit gewinnen, dachte der Einsatzleiter und sagte: “Verlangen Sie bitte nichts Unmögliches.

Wir haben hier vor Ort nur Dienstfahrzeuge, Sie wollen ja sicher einen zivilen Wagen. Wir müssen uns erst einen beschaffen, vermutlich müssen wir einen mieten.“ „Wie lange ?“ wollte die heisere Stimme wissen.

„Kann ich noch nicht sagen, wir tun unser Möglichstes.“

„Sie haben eine Stunde. Dann brauchen wir noch ein Vier-Mann-Zelt, aber ohne durchsichtige Fenster. Bis dann, Ende.“

Die Verbindung war unterbrochen. Wozu braucht der ein Zelt, will der vielleicht Camping machen, fragte sich der Einsatzleiter. Dazu gehört ja wohl etwas mehr als nur ein Zelt. „So, die Aufnahme haben wir im Kasten“, sagte der Tontechniker befriedigt.

„Er will einen Fluchtwagen, andernfalls droht er, in zehn Minuten die erste Geisel zu erschießen. Außerdem will er ein Zelt.“

Der Einsatzleiter beriet sich mit dem Kommandoführer des Mobilen Einsatzkommandos und seinem Kollegen über sein weiteres Vorgehen. „Sicherlich wird er eine Geisel nehmen, um sich seinen Abgang zu erzwingen“, vermutete er. „Da liegt auch die Drohung auf dem Tisch, Leute zu erschießen, wenn wir ihm nicht bald ein Fluchtfahrzeug zur Verfügung stellen.“

„Vielleicht blufft er ja nur“, sagte der junge Kommissar. „Das Dumme ist nur, dass man das nicht so genau weiß. Wir wissen noch rein gar nichts über ihn. Um keine Menschenleben zu gefährden, wäre es besser, zunächst auf seine Forderungen einzugehen.“ „Da könnte etwas dran sein“, sagte der Einsatzleiter. Und, an den Kommandoführer das MEK gewandt: „Was ist Ihre Meinung, Herr Kollege?“

„Ich habe gelernt, dass wir anstreben sollten, die Gangster festzuhalten“, erwiderte der. „Wir müssen versuchen, ihn hinzuhalten und ihn in Verhandlungen zu zermürben. Vielleicht bringen wir ihn dazu, aufzugeben und seine Geiseln frei zu lassen. Wenn er erst mal wieder in Freiheit ist, möglichst noch mit einer oder mehreren Geiseln, weiß man nicht, was er noch alles anstellen wird. Lassen Sie uns doch einmal die Möglichkeit prüfen, unbemerkt in die Schalterhalle einzudringen und ihn und seine Kumpane mit einem Überraschungsangriff kampfunfähig zu machen. Wir sollten uns einmal die Pläne der Bankfiliale anschauen.“

„In Ordnung“, entschied der Einsatzleiter. „Um keine Zeit zu verlieren, werden wir aber gleichzeitig die Beschaffung eines Fluchtwagens voran treiben.“ Und, an seinen jungen Kollegen gewandt: „Lasse bitte einen zivilen BMW bereitstellen. Ach, und dann wollte er noch ein Vier-Mann-Zelt ohne Fenster.“

„Den Wagen mit Peilsender, wie üblich, nehme ich an“, sagte der junge Polizeibeamte. „Was will er nur mit dem Zelt?“

„Ich habe keine Ahnung. Lasse jedenfalls eins besorgen und in den Kofferraum des BMW legen.“

„Mache ich.“ Der Junge zog sein Handy aus der Tasche und gab die Anforderung weiter.

Inzwischen holte der Einsatzleiter den mitgebrachten Lageplan der Filiale 14 der HanseBank aus seinem PKW.

Er breitete ihn auf dem Kofferraumdeckel des Wagens aus. Der Kommandoführer des MEK trat herzu. „Es gibt nur einen Eingang“, sagte er., Und die Fenster sind alle vergittert.“ „Scheint mir normal für eine Bankfiliale zu sein“, erwiderte der Einsatzleiter.

„Damit wird das Risiko von Einbrüchen minimiert.“

„Das ist aber schlecht für einen Zugriff“, sagte der Kommandoführer. „Gibt es irgend welche Deckendurchbrüche oder Lüftungsschächte?“ Der Einsatzleiter studierte den Plan. „Die Betondecke hat eine Stärke von 30cm“, sagte er. „Ganz schön massiv. Wenn es irgend welche Durchbrüche gibt, dann sind sie hier jedenfalls nicht eingezeichnet.“

„Wir hätten also als einzigen Zugang die Eingangstür“, resümierte der Kommandoführer des MEK. Der Einsatzleiter schwieg. Die Entscheidung fällt ihm schwer, dachte der Kommandoführer.

„Ich werde meinen Vorgesetzten über die Lage informieren, mal hören, wie der darüber denkt“, sagte der Einsatzleiter und ging zur Mobilen Kommunikationseinheit.

Nach einigen Minuten kam er zurück. „Na, gibt es was Neues?“ wollte der Kommandoführer wissen. „Man hat mir die Entscheidung überlassen“, erwiderte der Einsatzleiter. „Das Argument lautete, wir seien vor Ort und könnten die Lage am Besten überblicken.“

Da ist was dran, dachte der Kommandoführer. „Also, was machen wir?“

„Ich werde kein Risiko eingehen“, entschied der Einsatzleiter. „Wir lassen sie abziehen. Vielleicht ergibt sich ja dabei noch eine Gelegenheit, sie durch einen gezielten Schuss unschädlich zu machen.“ Er wandte sich an seinen jungen Kollegen. „Wie weit sind wir mit dem Wagen und dem Zelt?“

„Das Zelt zu kaufen, dürfte nicht besonders lange dauern. Da ist schon jemand unterwegs. Was aber seine Zeit braucht, ist der Einbau des Peilsenders in den Fluchtwagen. Unsere Werkstatt schätzt, dass es etwa noch vierzig Minuten dauern wird. Der Einbau des Gerätes an sich und der Anschluss ans elektrische Bordnetz sind kein Problem. Was scheinbar etwas kompliziert ist, das ist die Einkopplung des Senders in die Autoantenne. Es muss verhindert werden, dass Energie aus dem Peilsender ins Autoradio zurück fließt. Wenn die Gangster das Radio anschalten und es gibt Störungen, könnten sie eventuell Verdacht schöpfen.“

„Na gut“, sagte der Einsatzleiter. „Dann werde ich jetzt den Bankräuber informieren, dass sein BMW in etwa fünfzig Minuten bereit stehen wird. Wir müssen versuchen, ihn bei Laune zu halten.“ Und er begab sich wieder zur Mobilen Kommunikationseinheit, wo der Techniker ihm eine Verbindung herstellte.

5

Im Kundenraum der Zweigstelle 14 der HanseBank war die Situation unverändert. Die Gefangenen, unter ihnen die junge Frau, die mit ihrem Handy die Polizei alarmiert hatte, Sandra Möller mit Namen, lagen auf dem Boden, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, während der Anführer der beiden Bankräuber mit dem Rücken an einer Wand lehnte, seine Maschinenpistole schussbereit in der Händen. Der zweite der beiden redete beruhigend auf das kleine Mädchen ein, welches zunehmend unruhiger wurde.

„Ich habe solchen Durst“, sagte das Kind. „Gibt es hier irgendwo einen Getränkeautomaten?“ fragte er die in Raum gebliebene ältere Bankangestellte. „Nicht hier im Raum. Wir holen uns unsere Getränke immer im Kiosk um die Ecke.“

„Also irgendwie hast du deinen Beruf verfehlt“, sagte der Anführer spöttisch zu seinem Kumpanen. „Vielleicht wärst du ja besser zur Heilsarmee gegangen.“ Dieser sah ihn nur an und reagierte nicht weiter auf die zynische Ansprache.

Der alte Mann meldete sich zu Wort und fragte: „Darf ich mich vielleicht aufsetzen? Mir tun schon alle Knochen weh.“

„Liegen bleiben“, befahl der Anführer. „Wenn hier jeder tut, was er will, würde ich schnell die Übersicht verlieren.“ Danach herrschte wieder gespanntes Schweigen in der Zweigstelle 14 der HanseBank.

Das Telefon klingelte. Der Anführer ging zum Telefon, hob ab und sagte kurz: „Ja?“

„Hier Einsatzleiter Hoffmann“, meldete sich die Stimme am anderen Ende der Verbindung. „Ihr Fahrzeug, wie gewünscht ein BMW, steht in etwa fünfzig Minuten vor der Tür. Das Zelt haben wir auch besorgt. Es liegt dann im Kofferraum das Wagens.“

Der Bankräuber sagte ungeduldig: „Was soll ich mit dem Zelt im Kofferraum? Ich brauche es hier. Eine unbewaffnete weibliche Person, die nur eine Bluse und einen Rock anhaben soll, soll uns das Zelt in die Bank bringen. Sie soll fünf Mal an die Tür klopfen. Wenn ihr diese Gelegenheit nutzen wollt, hier einzudringen, dann lasst euch folgendes sagen: Ich werde während der Übergabe des Zeltes meine Waffe auf den Kopf meiner Geisel richten. Wenn die Situation unübersichtlich wird, stirbt die.“

„Das haben wir verstanden“, antwortete der Einsatzleiter. „Es wird keine unübersichtliche Situation geben.“

„Gut für die Geisel. Und beeilt euch etwas mit dem Wagen. Wir hatten eine kürzere Zeit abgesprochen. Ende.“ Der Bankräuber hatte aufgelegt.

„Er will das Zelt in die Bank gebracht haben“, sagte der Einsatzleiter. „Was er nur damit vor hat?“

„ Keine Ahnung. Wie ich gerade höre, ist der Wagen übrigens fertig“, sagte sein junger Kollege. „Er ist in zehn Minuten hier.“

„Fein. Dann kann es ja los gehen.“ Und zum Kommandoführer des Mobilen Einsatzkommandos: „Wir haben uns doch richtig verstanden. Ich möchte auf keinen Fall, dass wir durch eine riskante Aktion das Leben einer Geisel gefährden.“

„Ich habe meine Leute entsprechend angewiesen“, erwiderte der Kommandoführer des MEK. „Das geht schon klar, es sind erfahrene Leute.“

„Danke“, sagte der Einsatzleiter. Dann, wieder zu seinem jungen Kollegen: „Wenn die Verbrecher die Bank geräumt haben, geht gleich der Notarzt rein, um eventuellen Verletzten zu helfen. Die Leute von der Spurensicherung sollten schon mit gehen, um darauf zu achten, dass keine Spuren unbrauchbar gemacht werden. Sind die schon angefordert?“

„Da treffen sie eben ein“, der junge Beamte zeigte auf einen Kleinbus in neutralem Grau, der gerade in die Absperrung einfuhr.

„Du hast mal wieder alles voll im Griff“, sagte der Einsatzleiter anerkennend.

„Man tut, was man kann,“ tat sein Kollege bescheiden. „Ach, noch was“, dem Einsatzleiter fiel noch ein weiterer Punkt ein. „Der oder die Gangster werden vermutlich mit einer Geisel flüchten. Damit wir die später auch sicher identifizieren können, sollten wir Aufnahmen von der Abfahrt des Fluchtfahrzeuges machen. Wer kümmert sich darum?“

„Das könnten zwei von meinen Leuten machen“, bot der Mann vom MEK an. „Die können nämlich nicht nur schießen, sondern auch fotografieren, und sie sind auch schon dafür positioniert.“

„Die Spurensicherung hat eine Videokamera und zwei Hochleistungskameras dabei,“ wusste Hoffmanns Assistent.

„Fein. Kümmern Sie sich drum?“ fragte der Einsatzleiter den Kommandoführer.

„Machen wir, geht in Ordnung. Im übrigen werde ich meine Männer so platzieren, dass sie den Gangster ausschalten können, wenn die Situation das erlaubt. Der Anstoß dazu müsste dann von Ihnen kommen.“

„Ich bin grundsätzlich damit einverstanden“, sagte der Einsatzleiter. „Dieses Vorgehen ist zur Abwehr einer unmittelbaren Gefahr für das Leben einer Geisel zulässig. Wir müssen wohl davon ausgehen, dass diese Gefahr hier besteht. Ich ordne das also hiermit an.

Die Einzelfallentscheidung müssten aber ihre Leute je nach der augenblicklichen Situation treffen, die sind dafür ausgebildet. Um es noch einmal zu sagen, ich möchte nicht, dass jemand ein Risiko für das Leben der Geisel eingeht.“

„In Ordnung“, sagte der Mann vom MEK.

Das Fluchtfahrzeug, ein ziviler BMW, erschien am Einsatzort. Der junge Beamte holte das Zelt aus dem Kofferraum und gab es einer in Zivil gekleideten Polizistin. Diese nahm das große Paket in beide Hände und marschierte damit los.

6

Es klopfte an der Eingangstür der Filiale 14 der HanseBank. Der Anführer zählte mit. Fünf Mal! Dann herrschte er Sandra Möller an: „Los, aufstehen! Komm hierher zu mir!“ Er zog eine Pistole, die er zusätzlich zu seiner MP im Hosengürtel trug, entsicherte sie, lud durch, und richtete die Waffe auf den Kopf der jungen Frau. „Los, schließ die Tür auf. Sieh nach, ob es eine einzelne, unbewaffnete Frau ist. Dann nimm das Zelt entgegen. Lass sie aber nicht herein“, wies er seinen Kumpanen an.

Dieser ging zur Tür schloss sie auf und öffnete sie einen Spalt. „Ich bringe Ihnen das verlangte Zelt“, ließ sich eine weibliche Stimme vernehmen. „Es ist noch verpackt, ich gebe es Ihnen gerade in die Hand.“ Der zweite Mann nahm eine Rolle in Empfang und verschloss die Tür wieder.

Der Anführer nahm das Paket ungeduldig entgegen und schnitt mit einem Taschenmesser die Verpackung auf. Eine Flut von Plastik und Stoff fiel auf den Boden. Er nahm das Gebilde auf und sprach mit sich selber: „Wo ist denn hier oben? Dieser Reißverschluss muss der Eingang sein.“ Er zog den Reißverschluss zu, kroch unter das Zelt. „Das können wir so nicht gebrauchen. Wir müssen den Boden heraus schneiden“, sagte er dann. „Verdammt, ist der fest! Mit dem Taschenmesser schaffe ich das nicht.“

Er kroch wieder heraus und ging zu der im Raum verbliebenen Bankangestellten, die neben ihrem Schreibtisch auf dem Boden lag. Er gab ihr einen Stoß in den Rücken und sagte: „Habt ihr eine Schere hier?“ „Für unsere Arbeit hier brauchen wir keine Schere. Ich habe einen Manikürenset hier, da ist eine Nagelschere dabei“, sagte sie mit zitternder Stimme.

„Das hilft mir nicht weiter“, sagte der Anführer der beiden Bankräuber, „Was wir hier brauchen, ist ein Universalmesser.“

Unmittelbar darauf traf das Fluchtfahrzeug ein. „Es geht los“, sagte Einsatzleiter Hoffmann und ging wieder zur Mobilen Kommunikationseinheit. Er rief in der Bank an.

„Ja?“ meldete sich wieder die etwas heisere Stimme. „Hier ist Hoffmann. Der Wagen ist jetzt da. Er steht außerhalb der Absperrung, ist vollgetankt, und der Schlüssel steckt. Ich habe Anweisung gegeben, dass Sie nicht behindert oder verfolgt werden.“

„Es wird jetzt noch etwas dauern. Wir brauchen nämlich vorher von Ihnen noch ein Universalmesser.“

„Bitte was brauchen Sie?“ fragte der Einsatzleiter verblüfft.

„Meine Güte, kennen Sie kein Universalmesser? Das ist ein Spezialmesser zum Schneiden von Teppichböden, das gibt es in jedem Baumarkt. Also was ist, bekommen wir das jetzt?“

„Bekommen Sie, aber da müssen wir erst wieder jemanden losschicken.“

„Beeilt euch gefälligst.“ Und die Verbindung war unterbrochen.

„Jetzt will er noch ein Universalmesser“, sagte der Einsatzleiter zu seinem Kollegen. „Also dann holen wir ihm um des lieben Friedens Willen auch noch das Universalmesser“.

„Am besten mit Blaulicht“, schlug dieser vor und sprach mit dem Führer eines der Streifenwagen. Dieser nickte verständnisvoll, setzte sich in sein Fahrzeug und brauste davon.

Einsatzleiter Hoffmann schüttelte nachdenklich seinen Kopf. „Ein Universalmesser! Was hat er bloß damit vor?“

„Ich habe wirklich keine Ahnung“, sagte der Kommandoführer des MEK. „Situationen wie diese hier habe ich schon etliche erlebt, aber von Zelten und Universalmessern war dabei noch nie die Rede.“ „Auf jeden Fall werden wir hier keine Risiken eingehen“, sagte der Einsatzleiter.

„Der Schutz des Lebens von möglichen Geiseln hat absoluten Vorrang. Wir wissen noch nicht, wer der oder die Bankräuber sind oder wie viele es sind. Wir wissen nur, dass in der Bank Schüsse gefallen sind. Ob dabei jemand zu Schaden gekommen ist, wissen wir auch nicht. Mittelfristig hat er keine Chance, uns zu entkommen. Der Wagen hat einen Sender an Bord. Wir können ihn also einpeilen und so Kontakt mit ihm halten. Dann wird sich sicher eine Gelegenheit ergeben, ihn mit einer Situation zu konfrontieren, die ihn überfordert. „Sie halten es mit dem Sprichwort, 'Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste', ist es nicht so?“ wollte der Kommandoführer des MEK wissen.

„Gewiss“, sagte der Einsatzleiter. „Das ist ja wohl nicht verkehrt. Ich bin bisher immer gut mit diesem Grundsatz gefahren. Ich möchte ich keine Situation herbeiführen, die ich mir dann für den Rest meines Lebens vorwerfen muss.“

„Ein gutes Gewissen ist halt ein sanftes Ruhekissen, stimmt's?“ fragte der Kommandoführer. Dem Einsatzleiter fiel hierauf keine passende Erwiderung ein.

Nach nur etwa einer Viertelstunde war der Streifenwagen wieder da. Der Streifenführer übergab dem Assistenten des Einsatzleiters ein Plastikpäckchen. „Sicherheits-Universalmesser mit Ersatzklingen. Neu: Jetzt mit Warnleuchte“, stand auf der Packung.

„Da kannst du mal sehen, wie fürsorglich die Polizei mit ihren Verbrechern umgeht“, sagte der junge Mann grinsend zum Kommandoführer des MEK. „Er braucht ein Universalmesser und wir besorgen ihm ein Exemplar mit Warnleuchte.“

„Unsere Aufgabe ist es, die Verbrecher vor Gericht zu bringen und nicht, sie vorher zu schlachten“, grinste der Kommandoführer zurück. „Ich könnte mir aber durchaus vorstellen, dass ich den einen oder anderen Verbrecher ganz gern schlachten würde“.

„Aber Herr Kollege“, sagte der Einsatzleiter und drohte schalkhaft mit dem Zeigefinger, „denken Sie bitte an die notwendige Verhältnismäßigkeit der polizeilichen Maßnahmen.“

„Zu Befehl“, sagte der Kommandoführer ironisch, knallte die Hacken zusammen, grüßte militärisch und machte ein zerknirschtes Gesicht.

Es klopfte wieder fünf Mal an der Tür der Bankfiliale. Die Lamellen der Jalousie wurden auseinander geschoben, eine Schweinsmaske blickte hindurch, dann öffnete sich die Tür.

„Ich bin's wieder, ich bringe Ihnen das gewünschte Universalmesser“, sagte die junge Polizistin und reichte das Plastikpäckchen durch die Tür.

Der Anführer der beiden Bankräuber betrachtete das Päckchen misstrauisch. „Wozu braucht ein Universalmesser eine Warnleuchte?“ fragte er mehr sich selber als seinen Kumpanen.

Dieser sagte, den Kopf schüttelnd: „Glaubst du vielleicht, dass das eine Bombe ist? Gib her.“ Er nahm ihm das Päckchen aus der Hand, entfernte resolut das Verpackungsmaterial und schob an einem Knopf: Die Klinge kam zum Vorschein und ein rotes Lämpchen begann zu leuchten.

„Da hast du deine Bombe“, sagte er und gab das Messer seinem Begleiter zurück. Dieser murmelte „ein Universalmesser mit Beleuchtung habe ich ja noch nie gesehen“, öffnete den Zelteingang weit und begann, den Boden des Zeltes heraus zu trennen.

Mit dem neuen Werkzeug war diese Arbeit schnell erledigt, er stieg in das jetzt bodenlose Zelt, schloss den Reißverschluss von innen und machte einige Schritte.

„Du siehst aus wie eine wandelnde Vogelscheuche“, sagte sein Kumpan belustigt. „Du wirst schon noch sehen, wofür das gut ist“, antwortete der Anführer bissig. „Einer von uns beiden muss ja schließlich mitdenken.“

Dann griff er in seine Gesäßtasche, zog das Handy der jungen Frau heraus und wählte die Nummer des Einsatzleiters.

„Hoffmann hier.“

„Hören Sie genau zu, ich sage das nur dieses eine Mal. Wir kommen in fünf Minuten raus. Und noch mal, zum Mitschreiben: Wenn irgend etwas passiert, das mir nicht gefällt, stirbt meine Geisel.“

„Tun Sie bitte nichts, was Ihre Lage nur verschlimmern könnte. Wenn Sie hier heile weg kommen wollen, würde Ihnen der Tod Ihrer Geisel dabei sicher nicht helfen.“ Der Einsatzleiter hörte den Besetztton, der Gangster hatte während seines letzten Satzes schon aufgelegt. Alle Anwesenden beobachteten angespannt den Eingang des Bankraumes. Plötzlich wurde die Jalousie hoch gezogen, man sah das Gesicht einer junge Frau, auf deren Kopf ein großkalibriger Revolver gerichtet war.

„Fotografieren“, sagte der Kommandoführer in sein Handfunkgerät.“

„Ich habe sie schon im Kasten, mit Tele“, kam es aus dem Lautsprecher zurück.

„Nehmt auch die Abfahrt auf, vielleicht erkennen wir den einen oder anderen Gangster.“

„Roger,“ „verstanden,“ kamen zwei Echos.

„Gut eingespieltes Team“, sagte der Einsatzleiter anerkennend.

„Ja, wissen Sie,“ antwortete der Kommandoführer, „wir haben halt schon ziemlich viel geübt.“

Die Geisel wurde wieder in den Raum hineingezogen, die Tür wurde geschlossen und die Jalousie wieder herunter gelassen. Nach einigen Minuten öffnete sich die Eingangstür weit, und was der Einsatzleiter jetzt sah, hatte er in seinem langen Berufsleben noch nie zu sehen bekommen. Ein Phantasiegebilde, eine Art gestauchter Lindwurm in Tarnfarben trippelte auf sechs Füßen auf den Platz vor der Bank hinaus. Vorne in Augenhöhe waren zwei Schlitze in den Stoff des Zelteinganges geschnitten, unter dem sich drei eng aneinander gedrängte Menschen verbargen. „Dazu haben die also das Zelt gebraucht,“ sagte der Kommandoführer des MEK zum Einsatzleiter. „Das sind ja ganz Gerissene. Unter diesen Umständen und ohne Wärmebildkamera ist ein Schuss nicht zu verantworten.“ Das Gebilde bewegte sich mit kleinen Schritten in Richtung auf das Fluchtfahrzeug, einen schwarzen 5er BMW, dessen Türen offen standen. Die Polizeikräfte hatten sich zurück gezogen und sahen dem Geschehen überrascht und tatenlos zu. Als der BMW erreicht war, wurde der Zelteingang geöffnet und die junge Frau rutschte auf den Beifahrersitz. Eine mit einer Schweinsmaske maskierte Gestalt nahm blitzschnell auf den Fahrersitz Platz. Hinter ihr kam ein zweiter Maskierter zu sitzen, der sofort seinen großkalibrigen Revolver zog und der Geisel an den Kopf hielt. Dann wurden die Türen des Fluchtfahrzeuges zugeschlagen, der Motor startete und der Wagen fuhr mit quietschenden Reifen davon.

„Sie haben das Zelt als Tarnung benutzt. Ein gezielter Schuss war unter diesen Umständen nicht möglich. Sie sind eben abgefahren“, sagte der Einsatzleiter in sein Mobiltelefon. „Es war schon ein ziemlich rasanter Abgang.“

„Wir haben sie auf dem Monitor“, sagte sein Gesprächspartner, der in einem zivil aussehenden Polizeiwagen saß. „Ich habe das doch richtig verstanden: Wir unternehmen in Sachen Verfolgung zunächst einmal nichts.“

„Das ist richtig“, bestätigte der Einsatzleiter. „Wir wollen mit weiteren Maßnahmen warten, bis die Geisel frei ist. Bis dahin bitte nur beobachten.“

„Verstanden“, sagte der Gesprächspartner, und „Ende“, sagte der Einsatzleiter.

7

Als erste betraten die Leute vom Notarztteam den Schalterraum, dicht gefolgt von den Beamten der Spurensicherung in ihren weißen Overalls. „Braucht hier jemand Hilfe?“ fragte der Notarzt, als er die Blutspur auf dem Boden sah. Die im Raum verbliebene Angestellte zeigte wortlos auf einen der Schreibtische.

Der Notarzt fand den bewegungslosen Körper, versuchte, den Puls zu fühlen und leuchtete mit einer kleinen Lampe in dessen Augen. „Hier liegt ein Toter, wir können nichts mehr für ihn tun,“ informierte er die Leute von der Spurensicherung. Diese begannen, kleine Schilder mit Zahlen im Raum und in der Nähe der Leiche aufzustellen, die Lage des Körpers mit Kreide zu markieren und Fotos zu schießen.

Die Gefangenen waren vom Boden aufgestanden. Die Mutter nahm ihr kleines Mädchen weinend in die Arme, der alte Mann reckte sich stöhnend, die Sanitäter gingen vom einen zum anderen und sprachen sie an, fragten, ob sie Hilfe brauchten.

Der Einsatzleiter betrat den Raum und nahm die Szene in sich auf.

„Wo ist Frau Niemeyer?“ fragte die Angestellte, und „hier bin ich, im Tresorraum, lassen Sie mich bitte heraus“, kam die Antwort aus dem Untergeschoss.

Als sie die Treppe herauf gestiegen war, ging der Einsatzleiter auf sie zu. „Wie geht es Ihnen?“ fragte er sie.

„Ich hatte, im Gegensatz zu einigen anderen, wenig zu erdulden. Der Bankräuber hat mich allerdings mit vorgehaltener Waffe gezwungen, ihm den Tresor zu öffnen und unsere Barbestände, achtundfünfzigtausend Euro, herauszugeben. Ich habe mir gedacht, dass es wenig Sinn machen würde, Widerstand zu leisten.“

„Das war sehr vernünftig“, stimmte der Einsatzleiter ihr zu.

„Wie geschah eigentlich der Mord an dem jungen Mann?“ wollte er wissen.

„Der Anführer der beiden hat ihn zu grob angefasst, er hat ihn, glaube ich, getreten“, erwiderte die Zweigstellenleiterin. „Das wollte der sich nicht gefallen lassen, er griff den Anführer an und riss ihm die Maske vom Gesicht. Er schien zu glauben, dass seine Maschinenpistole eine Attrappe war. Der Verbrecher schlug ihn mit der Waffe ins Gesicht, dann erschoss er ihn mit mehreren Schüssen. Was für ein brutaler Mensch! Anschließend schoss er auf die Videokamera und machte sie unbrauchbar.“

Diese Frau hat starke Nerven, dachte der Einsatzleiter. Trotz der gerade überstandenen schrecklichen Erlebnisse macht sie eine sehr präzise Aussage zum Ablauf der Ereignisse. Wenn wir doch immer so gute Zeugen hätten. Er machte sich Notizen in ein kleines Schreibheft.

„Wo ist übrigens unsere Frau Möller?“ wollte Frau Niemeyer wissen.

„Ist das eine junge Frau mittlerer Größe mit rundem Gesicht und blondem, halb langen Haar?“

„Das ist sie.“

„Ich fürchte, da habe ich eine schlechte Nachricht für Sie. Die beiden haben die junge Frau als Geisel genommen und sind mit ihr geflüchtet.“

„Der Anführer hatte einen ziemlichen Zorn auf sie“, trug die andere Bankangestellte bei. „Es scheint, dass Fräulein Möller während des Überfalles auf der Toilette war, die Schüsse hörte und mit ihrem Handy die Polizei informierte. Der Verbrecher hat das gemerkt. Er hat die Notrufnummer im Menü ihres Handys gefunden.“

Während dessen gingen die Spurensicherer in den Räumen umher. Nachdem sie mit der Leiche des jungen Mannes fertig waren, wurde diese abtransportiert. Sie begannen, ausgewählte Stellen auf der Suche nach verwertbaren Fingerabdrücken mit weißem Pulver einzustäuben. Ein Polizeibeamter in Uniform nahm die Personalien der Anwesenden auf.

„Die Videokamera wurde scheinbar gleich zu Beginn des Überfalles zerstört“, vermutete einer der Spurensicherer. „Dann sind also keine auswertbaren Bilder von den beiden zu erwarten. Außerdem waren sie sowieso maskiert.“

„Das glaube ich nicht“, sagte der Einsatzleiter. „Nach Aussage der Zweigstellenleiterin zerschoss der Anführer die Kamera erst nach dem Mord an dem jungen Mann, der im die Maske vom Gesicht gerissen hatte. Wenn wir Glück haben, ist der gesamte Mord und das Gesicht des Mörders auf dem Band.“

„Na, das wär's doch“, sagte der Spurensicherer und begab sich auf die Suche nach dem dazu gehörigen Videorecorder.

Die Leiche war abtransportiert worden, die Beamten der Spurensicherung hatten ihre Arbeit beendet, die Kunden der Bank wurden entweder psychologisch betreut oder waren nach Hause gegangen.

„Jetzt geht's ans Aufräumen“, seufzte Frau Niemeyer. „Hoffentlich kommt Frau Möller heile aus dieser schrecklichen Geschichte heraus.“

„Wir können Ihnen das nicht versprechen“, erwiderte der Einsatzleiter ernst. „Wir versprechen Ihnen aber, dass wir bei allem, was wir tun, an ihre Sicherheit denken werden.“

„Das Fluchtfahrzeug ist verschwunden“, meldete der Kommandoführer des MEK dem Einsatzleiter. „Unsere Leute sagen uns, dass sie es in der Nähe von Planten un Blomen vom Monitor verloren haben. Sie vermuten, es sei in das Parkhaus eingefahren. Dort wäre es dann für die Empfänger des Peilnetzes unsichtbar, weil diese die Signale des Bordsenders den Stahlbeton nicht durchdringen können.“

„Vermutlich setzen sie die Flucht mit einem anderen Fahrzeug fort“, meinte der Einsatzleiter.

„Oder sie kaufen ein, besorgen sich Reiseproviant“, mutmaßte der Mann vom MEK.

„Stelle ich mir schwierig vor, wenn sie eine Geisel dabei haben“.

8

Die Aufzeichnungen, welche die Videokamera kurz vor ihrer Zerstörung noch gemacht hatte, waren Viel versprechend. Die Auswerter sahen zunächst, wie ein hochgewachsener Mann, der eine Schweinsmaske vor dem Gesicht trug, ins Bild trat. Er bewegte zunächst den Kopf, schien zu sprechen. Dann hob er das rechte Bein hoch, schien damit zu treten. Ein junger, kräftig gebauter Mann kam ins Bild, wandte der Kamera den Rücken zu. Er schlug nach dem Gesicht des Maskierten, wobei dessen Maske auf die Brust herunter rutschte. Dabei war sein Gesicht deutlich zu erkennen. Der junge Mann griff jetzt nach der Maschinenpistole des Bankräubers. Dieser trat jedoch blitzschnell einen Schritt zurück, ergriff die Maschinenpistole mit beiden Händen und schlug damit auf das Gesicht des Angreifers. Dieser stolperte, schien auf den Rücken zu fallen und verschwand aus dem Bild. Der Verbrecher riss seine Maschinenpistole hoch und gab einige Schüsse in die Richtung ab, in der sich der junge Mann befinden musste. Dann schien er auf den Betrachter der Szene zu zielen, man sah Mündungsfeuer, unmittelbar darauf wurde der Bildschirm dunkel.

Mitunter kommt den Ermittlern ein Zufall, ein günstiger Umstand zur Hilfe, der es möglich macht, einen schwierigen Fall zügig aufzuklären. So war es auch hier. Das unmaskierte Gesicht des Verbrechers war deutlich zu erkennen und konnte mit Hilfe der Digitalen Lichtbild -Vorzeigekartei des Landeskriminalamtes einem Straftäter zugeordnet werden. Es handelte sich um einen Gewohnheitsverbrecher, der Maik Ebeling hieß. Er war erst vor einigen Monaten aus der Haft entlassen worden. Da dieser, kaum auf freiem Fuß, schon wieder einen Mord begangen hatte und mit einer Geisel flüchtig war, wurde der Fall dem Landeskriminalamt zur weiteren Bearbeitung zugewiesen.

Noch am Abend des gleichen Tages bildete das LKA eine Gruppe von drei Kriminalbeamten, die mit der Bearbeitung des Falles beauftragt wurden. Zum Leiter dieser Gruppe wurde Kriminalhauptkommissar Manfred Schwerdtfeger bestimmt. Dieser hatte die größte Erfahrung von den Beteiligten. Nicht nur aus diesem Grunde genoss er unter seinen Kollegen einen sehr guten Ruf.

Schwerdtfeger hatte nur noch wenige Monate bis zu seiner Pensionierung. Er wurde von Leuten, die ihn nicht kannten, stets jünger eingeschätzt. Er war mittelgroß, muskulös und ohne Fettansatz. Man sah ihm an, dass er in seinem Leben viel Sport getrieben hatte. Sein Haar war noch dicht, wenn auch die Grautöne überwogen. Der jüngste der Gruppe, Kriminalkommissar Günter Pauli, war praktisch noch ein Dienstanfänger. Er war der typische Norddeutsche, blond, mit blauen Augen, etwas größer und schlanker als Schwerdtfeger. Obwohl er noch wenig Berufserfahrung hatte, schätzte Schwerdtfeger seine scharfe Beobachtungsgabe und seinen klaren Verstand, der häufig vor anderen, erfahreneren Kollegen verborgene Zusammenhänge fand. Da die beiden sich auch menschlich gut verstanden, arbeitete er gerne mit Pauli zusammen.

Demgegenüber war der Dritte im Bunde, Martin Michaelis, in Schwerdtfegers Augen eher ein unbeschriebenes Blatt. Michaelis war der Kleinste von den Dreien; obwohl er noch ein relativ junger Mann war, zeigte er schon Ansätze von Korpulenz. Sein fast schwarzes Haar begann bereits Geheimratsecken zu zeigen, aber vom „Geheimrat“ war Kriminaloberkommissar Michaelis noch weit entfernt. Obwohl er Pauli schon einige Dienstjahre voraus hatte, hatte er als Kriminalist noch kein Profil entwickelt. Er war ein zuverlässiger, auch genauer Arbeiter, entwickelte aber wenige eigene Ansätze. Schwerdtfeger hielt ihn nicht für einen Genius.

Manfred Schwerdtfeger liebte seinen schwierigen Beruf, ging voll in ihm auf, engagierte sich weit über die wöchentliche Regelarbeitszeit hinaus. Trotz seines Alters war er stets bereit, Neues aufzunehmen, hatte auch, anders als viele seiner Altersgenossen, keinerlei Berührungsängste vor dem „Kollegen Computer“. Seine Arbeitsweise war methodisch und rational, ihr hatte er die Lösung einiger sehr schwieriger Fälle zu verdanken. „Mein erfolgreichster Kriminalist“, pflegte sein letzter Vorgesetzter, der Leitende Kriminaldirektor Westerkamp, der vor zwei Jahren in den Ruhestand gegangen war, von ihm zu sagen.

Schwerdtfeger bezeichnete sich selber gelegentlich als einen „Beamten alter Schule“, wohl auch, in bewusster, ein wenig ironischer Übertreibung, als „Dinosaurier.“ Er begriff seine Arbeit als eine von ihm zu leistende Pflichterfüllung im Dienste des Staates; genauso, wie er es in seiner Ausbildung gelernt hatte. Da seine Arbeit ihn ausfüllte und befriedigte, unterzog er sich dieser Pflichterfüllung gern. Den Opportunismus vieler der jungen Dienstanfänger, die schon vor der Abschlussprüfung in eine politische Partei eintraten, um möglichst schnell im Beruf voran zu kommen, und denen ihre Arbeitsergebnisse mehr oder minder gleichgültig waren, betrachtete er mit Ablehnung. Früh am Morgen des nächsten Tages hatte Schwerdtfeger den Bericht der Kollegen vom Polizeipräsidium auf dem Tisch. Nachdem er ihn gelesen hatte, runzelte er die Stirn. Warum hatte die beim Banküberfall vor Ort befindliche Einsatzgruppe eigentlich entschieden, die Verbrecher abziehen zu lassen, und dazu auch noch mit einer Geisel? Es bestand die Gefahr, dass die Geisel etwas über die Identität der Verbrecher herausgefunden hatte oder noch herausfand. Dann wurde sie zu einer Gefahr für die flüchtigen Bankräuber, die dadurch in Versuchung gebracht wurden, sich ihrer zu entledigen. Nachdem der eine der Beiden ja ohnehin schon einen Menschen auf dem Gewissen hatte, kam es ihm auf einen zweiten Mord wahrscheinlich auch nicht mehr an. Über die Schilderung der Tatumstände hinaus gab der Bericht nicht sehr viel her und Schwerdtfeger beschloss, selber den Ort des Überfalls aufzusuchen, um vielleicht noch ein wenig mehr über die Hintergründe in Erfahrung zu bringen.

9

„Schwerdtfeger, vom Landeskriminalamt“, stellte er sich der Zweigstellenleiterin vor.

„Guten Tag, Herr Schwerdtfeger“, sagte Frau Niemeyer. „Sie sind wegen dieses furchtbaren Überfalls von gestern hier? Kommen Sie, wir setzen uns auf den Platz von Frau Möller, der ist ja immer noch frei. Der Anführer der beiden Gangster war wohl ziemlich wütend auf sie.“

„War das, weil sie von der Toilette aus die Polizei informiert hatte?“

„Das war wohl der Grund. Nach dem, was Frau Kamphausen mir erzählte, hat er ihr mit Vergeltung gedroht.“ Schwerdtfeger hatte im Bericht der Einsatzgruppe gelesen, dass Frau Kamphausen die zweite Angestellte der Filiale war. Über irgend welche Drohungen gegen die junge Frau hatte er jedoch nichts im Protokoll gefunden. „Da werde ich Frau Kamphausen nach Einzelheiten befragen. Sie waren zu diesem Zeitpunkt im Tresorraum eingesperrt, oder irre ich mich?“ „Das ist richtig.“

„Ist Ihnen noch irgend etwas aufgefallen?“