Schwermetall - Karl Ulrich Lippoth - E-Book

Schwermetall E-Book

Karl Ulrich Lippoth

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Beschreibung

Wie überwindet man eine Heavy Metal-Jugend in den Rehbergen? Vier gesetzte Weddinger auf Landpartie an die Ostsee. Vergleich ihrer Lebenswege. Der Heilige Augustinus. Humanistische Hochzeit, Die See - erlösende Undeutlichkeit. Warnhinweis: Es werden Stereotype verwendet. Unverhüllt gezeigt Indifferenzen können verstörend wirken. Das Buch richtet sich an Boomer und Gen-Xler. Für andere kann der Inhalt aversiv sein.

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›Die Frage ist zweifellos berechtigt, und das Problem ist recht interessant, denn die Gründe dieser Erscheinung würden sich bei der Beobachtung vieler allgemeiner Tatsachen ergeben und, einmal aufgewiesen, zur Erklärung mehrerer anderer, ähnlicher Erscheinungen führen; es wären aber viele und weitschweifig zu erörternde.‹

Manzoni

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I. KRÄFTIG – ENTSCHIEDEN

Herrisch und dreist hielt sich Emil Eduard Daus, der sich, seit er zu heiraten beschlossen, der Belfagor nannte und für einen Teufel hielt, auf seiner Türschwelle und schnitt Grimassen um ein zwischen den Zähnen steckendes Zigarillo herum. Der linke Fuß wippte in Empfindung einer schnell getretenen Basstrommel, und jedes Mal, wenn der Daus oder Belfagor einen Schwall Rauch in die Morgensonne blies, kniff er die Augen zusammen, nickte entschieden, aber ohne Begeisterung im Takt einer nur ihm hörbaren Chorzeile, und in seinem Gesicht spielten durch den Rauch stoßende Sonnenstrahlen, als wären sie Scheinwerfer und leuchteten über eine Bühne. Ein Mann von solcher Art, die schon der Kirchenvater nennt und böse wird darüber und mit hart geballter Faust ein solches sagt: Da mögen sie nun lächeln, die Selbstsicheren, die noch nicht heilsam von Dir, mein Gott, hingeworfen und zermalmt sind; Emil Eduard Daus, durchaus nicht hingeworfen und schon gar nicht heilsam, noch nicht, vielmehr im Begriff sich zu verheiraten und den Kopf noch höher erst zu tragen; dieser Selbstsichere begrüßte den Tag. Um ihn her war nichts als Vogelgezwitscher zu hören, rund um einige zueinander und ineinander gedrängte Gärtchen samt kleinerer Häuser und niederer Obstbäume ragte der Wald, als befände man sich hier in einer noch jungen Rodung tief in unerschlossenem Gebiet, wo man den Pastor lange suchen muss. Vom See her ging ein leichter Ostwind, der kaum die Baumspitzen regte. Und trotz der Sonne war der Morgen kalt, es war erst Ende April.

Einige zwanzig Meter vom Haus entfernt auf der Straße stand schon seit einigen Minuten ein großer schwarzer Wagen älteren Baujahrs, vom Hausherrn unbemerkt oder nicht zur Kenntnis genommen. Die Insassen, zwei Männer um die Vierzig, saßen still und sahen staunend zum Haus. Sie sahen Emil Eduard Daus; sahen, wie er, der sich der Belfagor nannte, seit er zu heiraten entschlossen, den Morgen begrüßte. Sie staunten über ihn. Der Fahrer, untersetzt, aber stramm, über dessen Bauch sich ein buntes Hemd wölbte und den daher stark verzerrten Kopf eines Monsters zeigte, nickte, je länger er zusah, je stärker mit dem Kopf. Das Staunen wich von ihm, indem er so nickte, und machte einem Ausdruck von Zufriedenheit platz, einem sehr harmonischen Ausdruck, als sei es dieser Mann seit längerem gewohnt, so auf die Dinge hinzusehen – als gewährte ihr Anblick ihm, sich für einen zufriedenen Menschen zu erachten. Und jetzt gerade blickte er hin auf musikalische Dinge, auf die Frage – genauer – welche Musik Emil Eduard Daus dort auf seiner Schwelle im Sinn hatte, dass ihm Fuß und Nacken zuckten, und genau das glaubte er zu wissen, denn hier ging es um Schwermetall, und da beanspruchte er Expertenrang.

Einem Mann von so scharf verzeichnender Sinnesart mit einem gewöhnlichen Namen Schmach zuzufügen, hätte wohl seine Befähigung beeinträchtigt, sich zufrieden zu zeigen, und so hieß er klangvoll Karl von Kurtz. Neben ihm auf dem Beifahrersitz ein länglicher Kerl in einer alten Lederjacke, der eben seinen Morgenjoint geraucht und so seine Wahrnehmung dessen, was da ist, zugunsten dessen, was dahinterliegt (wohlunterschieden) vermindert hatte. Da er sich unbequem vorbeugen und den Kopf wenden musste, um den Daus auf seiner Türschwelle erkennen zu können, war seine Wahrnehmung noch obendrein beschränkt. Er zwinkerte angestrengt, aber es wollte ihm durchaus nicht einleuchten, was Emil Eduard Daus und Karl von Kurtz in diesem Moment verband. Dieser Mann hieß Pütt. Pütt hatte kein solches Einsehen wie sein Fahrer. Er sah den Daus auf der Schwelle stehen und räusperte sich mit einer Art Schrei. Karl von Kurtz nickte und trommelte auf dem Lenkrad, Pütt räusperte sich lauthals, und beide sahen hin auf Emil Eduard Daus, der den Morgen auf seiner Türschwelle begrüßte. Sie staunten. Und nicht so sehr über den Daus staunten sie, den sie immerhin wiedererkannten, obwohl er jetzt kurze Haare und zur Jeans ein blütenweißes Oberhemd trug, was, wohlverstanden, überaus lächerlich war. Vielmehr staunten sie über sein Haus. Als sie gelegentlich gehört hatten – von Anna Neander – dass der Daus sich einen Besitz in Caputh am Schwielowsee zugelegt habe – als sie das gehört hatten, diese Männer aus dem Wedding... sie hatten traurig lächelnd genickt: Ja, ja, hatten einander bestätigt gefunden, wie der Mensch herunterkommen kann, wenn er nicht gut achtgibt, und hatten vor dem geistigen Auge eine Villa mit Portikus und Weibern, nackt in Stein gehauen, sehen können, schändlich grünen Rasen und am Steg ein Motorboot mit aufgepumpten Muskeln. Nun der Daus im weißen Hemd vor einem Neubau! Hässlich, dieses Haus, und unscheinbar, die Mauern rot, die Fenster weiß, der Garten eine Baustelle mit Büschen. Das Gras war schütter, sandig, hilflos aufgestellte Bäumchen standen da und regten kümmerlich die Zweige.

Überhaupt, die ganze Gegend hier, Caputh am Schwielowsee – jetzt erst fiel es ihnen auf, wie sie im Auto saßen und erstaunten – diese ganze Gegend hier enttäuschte sie: Wo waren denn bitte die Villen, die man sich vom Wedding her hier dachte? Überall nur Häuschen, Sozialismus, trockne Gärten. Nicht mal Zäune zwischen dem Besitz, allein die Unordnung engherziger Versuche, hier und da mal etwas blühen zu lassen, der Bequemlichkeit des Auges halber, und der des Gesäßes mit einer Gartenbank zu schmeicheln; nur das Durcheinander, die Verzweiflung, das Scheitern dieser Versuche errichteten dem Auge Grenzen hier, Begrenzung, wirr verschachtelt ohne Plan – und mitten drin der Daus, der große, der gewaltig Geld verdient und einen Ruf hatte... Donnerhall, so böse. Vögel immerhin, man hörte Vögel schlagen, keine Grenzerfahrung, Vögel hatte es im Wedding auch, aber immerhin.

Pütt ertrug nicht länger diese Lage, das verständnislose Starren auf den Daus, die Vögel und das Garteneinerlei.... Mit kühner Geste, auf den Fahrer lauernd, warf er die Musik an, drehte laut, es klirrte, zitterte und schlug im Wagen. Niemand lärme mir dazwischen, sagt der Kirchenvater, da man ihm dazwischenlärmt, und wäre Karl von Kurtz beim Memorieren der Kirchenväter aufmerksamer gewesen, er hätte ganz sicher Pütt beschieden: Niemand lärme mir dazwischen! Denn eine Neigung zu schonungsloser Kürze besaß er ohne Zweifel. So stieg er einfach aus. Es war die Musik, Pütt hatte falsch gewählt. So konnte er sich nicht sammeln und nicht zu einem Urteil über diese sonderbaren Umstände kommen, in welchen sein Freund, der Daus – sein alter Freund von damals, den er Jahre nicht gesehen hatte – das Dasein jetzt hinbrachte. Besinnung wollte er und Urteil, aber die Gitarren heulten! Entschlossen stieg er aus.

Pütt indessen warf sich im Sitz vor und zurück, stieß mit der Nase fast ans Armaturenbrett, und hinten schlug sein Kopf bedrohlich weit über die Kopfstütze. Ganze sieben Mal schnellte er so hin und zurück, dann erst sprang er aus dem Wagen, streckte seine Arme, wiewohl sie eher dürr waren, drohend zum Himmel und schrie etwas wie »Supershitty«. Schließlich hieb er mit den Fäusten auf das Wagendach. Er richtete keinen Schaden an, aber den Versuch musste Karl von Kurtz anerkennen. –»Genau«, rief er und hieb nun auch aufs Dach.

Angesichts zweier Männer, die vor seinem Haus auf einen schwarzen Wagen hämmerten, wäre es jetzt an Emil Eduard Daus gewesen zu staunen. Aber er stand weiter in der Morgensonne, paffte sein Zigarillo und lächelte ohne eine Spur von Erstaunen, gar etwas abschätzig. Mit einer knappen Handbewegung bedeutete er Karl und Pütt, ihm zu folgen, und verschwand in seinem Haus. Die Besucher fanden so ihren Widerwillen gegen die neuen Lebensumstände eines alten Freundes wieder und schritten durch den Garten mit gefurchter Stirn, Pütt sehr finster, Karl nur ohne Glauben. Mit langausgestrecktem Arm zeigte er Pütt alles, was bedenklich war: den halb versteckten Wagen hinterm Haus, Ferrari; einen Blümchensonnenschirm und Plastikstühle zwischen zwei im Staub verkrümmten Bäumchen, Kirschen; eine Katze, struppig, die um einen Schuppen strich, der bald dem Einsturz nahe war. Pütt verfolgte das Bedeuten, ruckhaft warf er seinen Kopf herum, mit aufgesperrten Augen. Seine Arme waren willenlos, hingen schlenkernd an den Schultern, wenn er sich herumriss.

Sie betraten ein mit wenigem, aber teurem Mobiliar erst halb und nicht sehr passend ausstaffiertes Zimmer. Emil Daus hantierte an einem Schrank, mit Flaschen sichtlich besser ausgerüstet als sonst das Haus mit Einrichtung, und schenkte Whiskey aus einer geschliffen funkelnden Karaffe in schwere Gläser. Die reichte er den Gästen.

»Das ist schlimm«, sagte Karl von Kurtz. Er sprach mit Bedeutung, hielt sich fest im Kreuz und fasste Emil Daus ins Auge: »Und ich dachte, du bist dekadent geworden.« – »Böse«, sagte Pütt.

»Dekadent und böse«, sagte Karl, »das ginge ja noch an, aber böser Spießer? Unschön.« – »Ist halt noch nicht fertig hier«, bemerkte Pütt und grapschte nach dem Glas. Emil Eduard Daus steckte gesegnet voll Gleichmut. Ganz recht, dieses Projekt war noch nicht fertig – und sollte es nicht sein. Er wies um sich: »Das Heim bestellt die Frau, die wird ja noch geholt, nicht wahr?« Und er fügte hinzu: »Wozu heirate ich denn!«

Pütt musterte einige herumliegende Musikalben und verschluckte sich. Er hustete: »Nein, nein, die nicht, das Heim bestellt die nicht, nur Bücher! Scheißmusik, was ist denn los mit dir?« Karl von Kurtz, mit steifem Rücken, warf einen Blick auf die Musik und spitzte seine Lippen. Das Glas, das Emil Eduard Daus ihm, Karl von Kurtz, dem Fahrer, aus Gedanken- oder Verantwortungslosigkeit oder nur der Vollständigkeit halber gegeben hatte, reichte er Pütt: »Trink du.« Er schob die Hände in die Hosentaschen, hob das Kinn und fragte: »Anna sagt, sie nimmt dich, weil du so viel Geld gemacht hast. Muss ich mich um Anna sorgen?« Und er hob das Kinn noch höher, sah zur Decke, kniff die Augen zu. Das war ein Schmunzeln, eine Art; bei Karl von Kurtz war Schmunzeln Härte mit entblößtem Kehlkopf.

»Kaum«. Emil Eduard Daus sprach weder prahlerisch noch zu bescheiden. Allerdings: Er lachte in sein Glas. »Ich habe noch mehr Objekte... im privaten Gebrauch... vorübergehend, immer nur vorübergehend. Eins in Dahlem, eins in Friedenau, und eins... na, ist ja gleich. Und dieses Haus, hmm... es gilt den Schein zu wahren, nicht wahr?«

»Ja, verstehe«, sagte Karl von Kurtz, »dann ist es schlimmer, als ich dachte.« Pütt beklagte, dass er nicht verstehe: »Dieses Haus ist scheiße, das versteh' ich.« Sein Unverständnis für die Verhältnisse, in denen Emil Eduard Daus als Ehemann sich einzurichten im Begriff war, ließ eine kurze Pause entstehen. Emil Eduard Daus stahl sich im Verlauf dieser Pause ein Grinsen ins Gesicht, ein Grinsen, wie gesagt zu werden verdient, welches durchaus böse war. Er sagte: »Jungs, als wär's gestern! Herrlich.« Er präsentierte Zigarillos. »Raucht mal die, die sind in Whiskey eingetaucht.« Und Pütt griff zu, Karls Nein war nur ein Ruck im Kinn. Pütt und Emil rauchten, wohlverstanden, hingegeben, dass ihre Sinne ganz und gar die Lust am Rauchen ihnen wiesen. »Und ihr beiden«, sagte Emil Eduard Daus mit List und Vorsatz, »hängt noch miteinander rum.« Er dachte wohl, jetzt Würze ins Gespräch zu bringen. Karl von Kurtz, getreu dem Satz des Kirchenvaters, dass, um Alles aus dem Nichts hervorzubringen, Eines reicht, versetzte knapp und streckte seinen Bauch vor: »Jepp.« Das musste auch ein Emil Daus zur Kenntnis nehmen. Dann war Pütt soweit, er stierte in sein Glas, er suchte, schwenkte es, o nein, es war nicht leer, Pütt trank, er warf den Kopf nach hinten, trank und sagte: »Yippie! Yeah!«

Es machte sich jetzt doch bemerkbar, dass diese drei Pastoren, wie sie einstweilen schon einmal angesprochen werden sollen, sich so lange nicht gesehen hatten. Als Karl im Auto gesessen und den Daus angesehen hatte, auf der Schwelle, wie er nickte, war es ihm wie Gestern, Freude, Holla vorgekommen, ein Erkennen, Schauern, Wiedermal, als wäre es wie eh und je, man könnte weitermachen, wo es abgerissen war. Da war er einem Irrtum aufgesessen. Allerhand. Er dachte nach und wurde förmlich: »Du trinkst Whisky.« Emil Daus sah prüfend in sein Glas. »Nicht ganz. Ich trinke Bourbon, straight. Ich trinke single barrel.«

Pütt erschrak und heulte auf. Er dachte an seine Leidenschaft für Malt, den irischen, jene Leidenschaft, die ihn mit Anna Neander verband, wenn ihn auch sonst nicht mehr viel mit ihr verband. Er hatte seine Zweifel, leidvergessen roch er an dem Bourbon, fragte sich, ob Anna das verdient hatte. Strafe, ja, aber Bourbon? Unbeirrt erkundigte sich Karl von Kurtz nach allem, was ihm maßgeblich erschien, und was er wissen musste, um zu sehen, was hier eigentlich geschah; warum es eigentlich geschah: »Und hast nie mehr gekifft?« – »Wie angekündigt.« – »Und hast Geld gemacht.« – »Wie Heu.« – »Mit Immobilien.« Emil Eduard Daus, es war ja Zeit, nahm sich sein Glas vor, nippte, schnalzte mit der Zunge, nickte.

»Tja. Und bist berühmt, ein Immobilienhai, wirst angeprangert, öffentlich. Ich kenne Leute, die das interessieren würde, wo du den Ferrari parkst.« Das waren Feststellungen, einfache Tatsachen, die Karl von Kurtz sich einprägte, unumwunden, ungerührt, damit die Fakten unbestreitbar wären, wenn er dennoch die Geschichte nicht verstand. – »Ja, allerhand.« Pütt maulte.

Emil Eduard Daus focht das nicht an, er stellte bloß sein Glas ab, dumpf, ein satter Ton stand noch im Raum: »Ich handle konsequent.« Das interessierte Karl von Kurtz, er nahm das zweite Glas, das Pütt im Trotz dennoch geleert hatte, und stellte es daneben, horchte auf den Klang. »Konsequent!« Der Klang war rein, und rein war das Begehren Karls von Kurtz, er wollte Aufschluss. »Und wie ist es mit Gemeinheit?« – »Konsequenz. Ich strafe Dummheit.« – »Wer nicht sehr gerissen ist, ist dumm. Verstehe.« Karl verzog kaum eine Miene, Wertung brauchte es hier nicht, nur eine Haltung. – »Ja, wer mein Interesse nicht erkennt, nicht wahrhat, was ich will, ist dumm, nun ja«, erwiderte der Daus in großer Ruhe. »Ja, die Anna«, sagte Karl, »nun sieh mal an, ihr heiratet!«

Emil Eduard Daus zuckte der Mundwinkel. Wohl nicht das Verhör, vielleicht aber die darin zur Anwendung gebrachte Taktik konnte er anerkennen. Karl von Kurtz verbarg immer noch einen gewissen Scharfsinn hinter seiner barschen Art, über alles hinwegzugehen, was nicht in seine Welt passte. Und Karl von Kurtz lebte nun einmal in einem Comic. Semjon Schlechta hatte das mal festgestellt und irgendetwas von Stilmitteln des Comics, Reduktion und Immanenz des Mannigfaltigen im stilisierten Bild gesagt, das übliche Geschwätz, nur so viel stimmte: Karl von Kurtz lebte in einem Comic. »Ja«, sagte Emil Eduard Daus darum und vermied es, Karl anzusehen: »Ich glaube, ihr seid deswegen hier.« Beim Blick auf Pütt überwand aber doch etwas wie ein unbeherrschtes Lächeln seine Aufführung. Auf ein solches Zeichen, dass ein Emil Eduard Daus immer noch aus der Kulisse heraustreten könne – oder auch herausstolpern – schien Karl von Kurtz gewartet zu haben. Er legte ihm feierlich die Hand auf die Schulter und verkündete: »Das wäre alles... wir können dann fahren.« Damit wandte er sich um, ernst und gesammelt.

Emil Eduard Daus, wie angenommen werden muss, war sein Wackeln in der selbsterrichteten Kulisse durchaus bewusst, weshalb er nun gleich die Haltung fahren ließ und neugierig nachhakte: »Dekadent und böse? Ja?« Aus Gründen, die noch deutlicher hervortreten werden, erweichte diese ungedeckte Neugier Karl von Kurtz, ja, sie rührte ihn geradezu an, und so ließ er die Strenge, trat auf Emil Daus zu und umarmte ihn, förmlich, steif, nicht ohne Zier, doch war ihm gut. »Hab´ ich gesagt, dass ich mich freue, Mensch?« – »Nein«, erwiderte Emil Eduard Daus und zupfte seinen weißen Hemdkragen, »das hast du nicht.« – »Du auch nicht.« – »Scheißzigarren«, sagte Pütt. Er starrte angewidert in den Aschenbecher und sah zu, wie seine eigene Hand den Zigarillo Zentimeter um Zentimeter zu Krümeln rieb. Gefährlich sah er aus, ein kalter und gewissenloser Täter: »Emil Daus, das stinkt nach Schnaps. Schnaps muss man trinken, Mann, und rauchen muss man Shit!«

»Pütt hält Reden«, staunte der Daus, »wer hat ihn das gelehrt?« – »Semjon«, sagte Karl, »er hängt den ganzen Tag bei Semjon rum.« Pütt widersprach, energisch: »Niemand«, rief er, »niemals, nie, ich rede wie ein Fürst!« – »Ach, Semjon?« Emil Daus hielt sich an Karl: »Der lebt noch?« – »Schon.« – »Und ihr... ihr seht euch...« – »Schon.« – »Den hätte ich natürlich auch einladen können«, überlegte er und dachte hin und her, »ach was«, er schüttelte den Kopf: »Nein, nein, das wäre wieder dekadent und böse.« – »Das habe ich für dich geregelt«, sagte Karl von Kurtz. Er machte seine Lippen schmal und zeigte sich beflissen, dienstbar, als ein Mann zugleich, dessen moralischer Rigorismus es seinem Gegenüber unmöglich machte zu unterscheiden, ob Härte oder Milde ihn durch diesen Mann betraf. »Dachtest du, ich fahre ohne Semjon? Wir fahren jetzt gleich zu ihm hin, er wartet schon.« – »Zu Semjon!« Für Pütt dauerte das hier schon zu lange, zumal er durch die Kombination von Schnaps und Drogen am frühen Morgen hinreichend benommen war, jede Veränderung des Gegebenen zu begrüßen. Er wankte aus dem Haus, das Whiskey-Glas noch in der Hand. Emil Eduard Daus schüttelte den Kopf. »Konsequent«, sagte er und ging. Immer noch beflissen folgte Karl von Kurtz. Er zog die Haustür zu, überwachte Emil Eduard Daus beim Schließen und zeigte sich erst zufrieden, als der Schlüssel zweimal umgedreht worden war: »So. Vorne steht mein Wagen, der ist neu, den kennst du noch nicht, Benz, sonst alles wie gehabt. Schwarz und schmutzig. Schwermetall.« Er wies auf seinen Wagen.

Pütt, der auf halber Strecke seinen Schwung verloren hatte, stand angewurzelt im Garten und kratzte sich am Kopf. Die Vögel sangen nicht, vorn auf der Straße dröhnte es im leeren Wagen, Gitarren, schwer und nass, dazwischen eine Kopfstimme, irrlichternd über dem Dröhnen. »Moormusik« hatte Emil Eduard Daus so etwas früher genannt, verächtlich, weil Karl von Kurtz diesen Morast als Geburtsstätte allen Schwermetalls verehrte. Neben Pütt stak zwischen Grasbüscheln ein Nachtlämpchen im Sande Brandenburgs, daneben lag das Whiskey-Glas. Eine Lampe, ein Glas, Pütt, dazu war es gekommen, und es hatte nicht den Anschein, dass Pütt sich selbsttätig aus diesem Arrangement zu lösen wüsste. Entgeistert studierte er das Lämpchen.

Vorsichtig, auf Zehenspitzen, um ihn zu schonen und seinen Erkenntniswillen zu ehren, der wütend auf die Lampe drang, passierten ihn die beiden Anderen. Am Wagen holte er sie ein, gerötet, dass er dieses Abenteuer ausgestanden, schnaufte durch und prustete: »Ist es nicht besser, wenn gleich Semjon vorne sitzt und nicht hinten neben Daus... vielleicht?« Er hatte seine Zweifel. Da saß Emil Eduard Daus längst auf dem Vordersitz und kramte Pütts Gepäck aus dem Fußraum vor, Verpflegung, Sachen, Lumpen, die er nicht mal nennen konnte, und warf alles auf die Rückbank.

Karl von Kurtz ließ den Motor an, stellte die Musik aus und wendete den Wagen, ruhig, mit Umstand, wie es seine Art war. Seine Art war es, gründlich nach der Vorschrift vorzugehen. Streng nach Liste führte er jeden Handgriff aus, getan wie abgehakt, jeden Handgriff, und achtete, dass jeder Handgriff einzeln unternommen wurde, nichts sich mischte zu gleicher Zeit. Emil Eduard Daus sah ihm zu, als fühle er sich an einen alten Angsttraum zurückerinnert. »Welch ein Glück«, sagte er, »dass ich dir nicht beim Wichsen zusehen muss.« Er betrachtete seine Hände und verzog das Gesicht. Karl von Kurtz bediente zärtlich lehrbuchhaft den Automatikhebel und fuhr an. »Du hast dein Gepäck vergessen«, gab er ihm zur Antwort, »jetzt ist es leider zu spät zum Umkehren, ich kehre nicht um. Ich kehre niemals um.« – »Ich habe kein Gepäck.«

Der stolze Satz erfuhr von der Rückbank her ein empörtes Murmeln als Echo. Gleichzeitig wurde an etwas genestelt, gekramt, das Murmeln wich einem Schnaufen, schließlich zischte ein Bier. Das immerhin war, wie es immer gewesen war – Karl stellte es mit Befriedigung fest: Nicht alle Lebensäußerungen Pütts riefen in seiner Umgebung Reaktionen hervor. Manche verhallten einfach im Bewusstsein, blieben unerhört. Er beobachtete im Augenwinkel, wie Pütts Genestel und Murren auf der Rückbank an Emil Eduard Daus vorbeizog, ohne irgendeine Regung bei ihm zu bewirken. Der Wagen rollte an Häusern und Gärten vorbei, kleinen Häusern und Gärten, die wirr und regellos dazwischen lagen, einzelnen Villen, einem Bootsclub. Karl lag mit verschränkten Armen auf dem Lenkrad und musterte alles aufmerksam. »Abscheulich«, sagte er und wies auf den Bootsclub. »Hast du da dein Boot?« – »Ja.« – »Was für eins?« – »Ein kleines Segelboot.« – »Ohne Motor?« – »Hilfsmotor. Er knattert sehr.« – »Segelboote sind scheiße.« – »Genau«, schrie Pütt von hinten.

Karl ließ sich in den Sitz sinken, er wusste jetzt Bescheid über die Gegend, er war jetzt fertig mit ihr. Hier zu leben war ein Traum, den er nicht träumte, und er wusste nicht mal anzugeben, warum nur eigentlich er diesen Traum nicht träumen konnte. »Fahren wir«, sagte er und schnallte sich an. Seine Hand näherte sich der Musikanlage. Vor ihnen schloss sich eine Schranke. Auf der Herfahrt hatten sie nichts bemerkt, keine Schranke, Schienen, nichts, wie Rotwild stahlen sich die Gleise aus dem Unterholz und schlüpften wieder rein, im Straßenstaub dazwischen lagen sie fast unsichtbar. Emil Eduard Daus kam das gelegen. »Oh, na bitte«, sagte er, »das dauert jetzt.« Pütt erschien zwischen den Sitzen, um zu sehen. Emil Eduard Daus hatte wieder diesen Tonfall wie damals, wenn er entschlossen gewesen war, etwas Unvernünftiges, Gewalttätiges oder sonst Verrücktheiten zu begehen; etwas, das sich ansehen ließ wie einen Film, man lehnte sich zurück und sah es sich an, doch sah man etwas an, das wenigstens Pütt vor das Rätsel stellte, wie man so etwas tatsächlich tun konnte, es ausführen, den Impuls dazu in sich erzeugen. Ein Paradox. Und Emil Eduard Daus stiegt auch schon aus dem Wagen, mit der Ruhe des Mannes, der unaufhaltsam ist, weil er das Unabdingbare tut, lief seitab den Weg hinunter, der zum See ging, schmal, nur Sand und spitze Steine. Ungenau war eine Brücke zu erkennen, die die Gleise übers Wasser führte. Emil Daus war jetzt am Ufer und begann damit, sich auszuziehen. Erst fiel das weiße Hemd, das, wohlverstanden, albern weiße Hemd, es wurde abgetan mit herrischer Gebärde; darauf fielen auch die Jeans, die albernen, die Wäsche riss er sich vom Leib. Im Wagen sahen zu: Hier Pütt, vor kalten Augen lief der Film ihm ab, dort Karl von Kurtz, dem Neugier Frieden schenkte. Vor der Schranke querte jetzt ein Vorortzug, erst langsam, dann beschleunigt, rollte auf die Brücke zu. Der Daus erstieg die Böschung zu den Schienen, stand jetzt splitternackt am Gleis und wartete den Zug ab. Pütt dachte an die Leute, die im Zug nach Potsdam fuhren und den Daus erblicken mussten. Die Szene war so schlicht und übersichtlich, dennoch komisch, das war ganz nach seinem Sinn. Ein Nackter steht am Zug! Er lachte, bis ihn Karl mit einem Blick verstummen ließ.

Als der Zug vorbei war, betrat Emil Eduard Daus die Brücke. Vom Wagen aus sah man ihn erst wieder, als er zwischen Stahlstreben hervor an den Rand trat. Er sah nach unten, sprang sofort. Fünf, sechs Mann hoch war die Brücke, zwei Mann hoch die Woge um den Daus. Die Schranke hob sich, Daus versank. Der Wagen wartete. Jetzt legte Karl sich wieder mit dem Arm aufs Lenkrad, stellte die Musik ab. Jemand hupte, Pütt stieg aus und fuchtelte erbost mit beiden Armen. Das sah nicht eben furchterregend aus, bewirkte aber Frieden. Daus kam hoch, er tauchte prustend auf und ruderte ans Ufer. Dort, mit einem Schütteln wie ein Hund, bekleidete er sich ohne Eile, machte trabend sich zum Wagen auf. Nichts, niemand hupte, da war Pütt vor, riss sich hin und her, mal Richtung See, mal Richtung Straße, wo zwei Wagen standen. Schlenkernd hingen seine Arme an den Schultern. »Irgendwer hupt immer«, sagte Emil Daus, als er herankam, ganz durchnässt das weiße Hemd. Er strich das Haar zurück. »Das mach' ich immer, wenn die Schranke runtergeht. Macht angriffslustig, dreist und klug. Da springt viel Geld im Kasten.« – »Können wir?« Es fragte Karl von Kurtz. Er ließ den Wagen an und die Musik, ein Heulen, Pfeifen, Wettern, rasend. Unerlässlich für die Landpartie. Dann stieg noch Pütt ein, langsam rollte, holperte der Benz über die Schiene, Schwermetall. Da es von hinten hupte, blieb er nochmal stehen, drohend sprang Pütts Tür auf, bloß einen Spalt breit; schloss sich wieder. Schleichfahrt durch Caputh am Schwielowsee, der Schalldruck stieß sich durch den Wagen. »So, wo wohnt denn Semjon jetzt?« – »Neukölln.« – »Natürlich.« Pütt erzeugte hinten ein Geräusch. Es klang wie Klage, wie Mechanik, wie ein schadhaft Räderwerk, es machte: Prrrt. Er sang die Schlagzeugpartie mit.

Emil Eduard Daus ließ keinen Zweifel aufkommen, dass er Geschäftsmann war. Solange sie stadteinwärts fuhren, hantierte er mit seinem Telefon, regierte seine Welt mit Kurzkommandos, und die Finger huschten herrisch um den Apparat. Er trug ihn in der Hosentasche bei sich, die aus genau diesem Grund – das vermutete Karl von Kurtz immerhin, und Karl von Kurtz vermutete nicht ohne Grund – so weit geschnitten war, dass dieses Machtmittel in der Hose Platz fand. Emil Eduard Daus empfing und machte Mitteilung, er prüfte, fragte etwas ab und hatte sein Interesse, fluchte viel und grinste viel – und sein Fluch war hochherzig und endgültig, fast wonnig allerdings, das Grinsen voller Niedertracht. Karl von Kurtz lag hinterm Steuer, hatte seinen linken Fuß aufs Armaturenbrett gestemmt, knapp zwischen Tür und Lenkrad, das er mit zwei Fingern hielt. Der Bauch hing straff im Gurt, und nichts in seinem Blick verriet Bewegung, innerlich. Nur der Bauch im Gurt bewegte sich. Karl von Kurtz: Das war ein Mann von Haltung, und nicht nur das, er legte Wert darauf, dass etwas angedeutet lag in seiner Haltung; dass sie nicht für sich stand, sondern noch dazu, dass solche Haltung angemessen sei – gegeben dass die Dinge lagen, wie sie lagen, Karl von Kurtz ans Meer fuhr, Schwermetall, im Wagen Freunde, die er mit sich nahm. Ein Epiker, der nicht die Braue hob, die Stirn in Falten legte, mit dem Fuß aufpochte außer im gerechten Anspruch auf die Allgemeinheit seines Handelns, die Bedeutung seiner Taten, die zum epischen Gesang sich aneinanderreihten. Allerdings, was Pütt da hinten auf der Rückbank machte, blieb im Ungewissen – mangels Überlieferung. Von außen war nichts zu erkennen, und auch Pütt, er selbst, erkannte nichts und wusste nichts, da sein Gedanke sich vor ihm verschlüsselte.

Von Zeit zu Zeit nur, wenn ein neues Stück begann, blickte Emil Eduard Daus kurz auf, sein Telefon sank in den Schoß, und für einen Moment kehrte sein Blick sich nach innen, wanderte auf Karl zur Linken, Karl von Kurz, der keinen Finger rührte, keine Miene unter diesem Blick. Und Emil Eduard Daus, mit alten Freunden unterwegs zur Hochzeit, stand ins Gesicht geschrieben etwas zwischen Müdigkeit und zähem Wesen und Erheiterung. Doch er wandte sich wieder der Arbeit zu.

Erst als das Ziel erreicht war und der Wagen, wohlverstanden, mit viel Umstand eingeparkt in einer ruhigen Straße stand, fand Karl von Kurtz es an der Zeit, zu geselligem Sprechen zurückzukehren: »Geht das jetzt immer so weiter? Soll ich nicht dein Telefon für dich verwahren? Du bekommst es wieder, wenn die Hochzeit aus ist.« – »Nein, eigentlich ist alles unterwegs und spult sich ab«, sagte Emil Eduard Daus, »hab bloß noch ein paar Zufälle geordnet.« Er grimassierte, was ihm Karl als Teufelei, Pütt als Scham auslegte: »Selber schuld.« Er trampelte voran. Karl folgte. Emil Eduard Daus ließ seinen Blick über die Häuser laufen, diese Gegend sah er selten: Schmutzig-altes West-Berlin, im blanken Frühjahrslicht noch schmutziger anzusehen als im gröbsten Dreckwetter im Winter. Pestilenz und Räude. Ohne dass der Daus je als Bewunderer von Natur- oder Kunstschönheit von sich reden gemacht hätte, bemängelte er nuschelnd, was er sah: »Wie ist die Ecke traurig, kann der Pöbel nicht Geranien züchten? Lauter Fenster und kein Blumentopf! Die haben es verdient, dass man sie kurzhält. Und da wohnt er? Ist zum Heulen!« – »Nein, wir parken hier«, berichtigte ihn Karl von Kurtz und lehnte es so ab, Stellung in der Blumenfrage zu beziehen, dabei besaß er zwei Balkone, und Tomaten, Stachelbeeren, sogar Aprikosen wuchsen dort. »Semjon wohnt am Kranoldplatz, im Hinterhaus, sehr schön.«

Emil Eduard Daus seufzte. Sie bogen um zwei Ecken, immer dem Pütt hinterdrein, der mit Eifer, nein wie von Verlangen gepackt, vorauslief, folgten kurz der Hauptstraße und hielten vor einer vergitterten Durchfahrt: Zwei Gittertore mit noch einem Türchen darin. Pütt hatte schon geläutet, und sobald es knackte in der Sprechanlage – und schon das Knacken musste man dieser Sprechanlage durchaus nicht mehr zutrauen – ließ Pütt ein Heulen hören, das wie »Semjon« klang, und rüttelte am Gitter, bis es aufsprang. Emil Eduard Daus sah noch einmal nach links und rechts, bevor er durch das Gitter trat – geläufig alles prüfend, kalt geschätzt: Links war ein Laden mit Elektrokram, vermutlich Hehler, rechts wiederum ein Laden, doch vernagelt; alles Altbau, lange vor der Zeit erbaut schon damals für die Ärmsten, niemals renoviert, ein grauer Anstrich aus den 50ern. Nun ja, da half nicht mal Sanierung, nicht in dieser Gegend, nicht mal jetzt, da ja die Innenstadt schon näher rückte, Abriss, Abriss, und die Finger weg, wenn kein Investor eben Geld zu waschen hätte. Das Gittertürchen fiel fast wieder zu, noch eben hielt er es und folgte, schlüpfte durch das Gitter. »Ach, zum Heulen«, zischte er, sprach durch die Zähne, »aber Semjon mag's ja radikal. Kranoldplatz, als ob man nicht ein schönes Loch für ihn in irgendeiner Platte hätte finden können, Lichtenberg vielleicht. Man muss halt mal den Daus bemühen.« Also murmelnd, kam er in den Innenhof.

Da sah es schlimm aus. Emil Eduard Daus erstarb das Zischen und Gemurmel. In der Mitte des kleinen Hofes nahm eine wirre Zusammenrottung von Mülltonnen allen Raum ein, um die herum sich große Ballen Unrat türmten. Alles stank erbärmlich, viele der Tonnen waren selbst längst Müll und zwei sogar halb heruntergebrannt. Auf dem Müll waren schwärzlich die Spuren des brennend heruntergetropften Plastiks zu finden. Entlang der Hausmauern ein einziges Durcheinander von Fahrrädern und Kinderwagen sämtlicher denkbaren Grade des Verfalls. Kaum blieben schmale Pfade rechts und links, den Unrat zu umrunden und die Tür des Hinterhauses zu gewinnen. Um vieles trostloser noch als dieser Anblick war der Blick am Haus hinauf. Die Fassade grindig und geschwärzt, die Fensterrahmen wie leprös verrottet. Blind starrten Fenster in blinde Fenster gegenüber. Nirgends ein Schmuck, ein Vorhang, nicht mal schmutzig, Pflanzen, nicht mal eingegangen. Umso mehr zerbrochene Scheiben. Wären nicht der Müll und der Gestank, die hier von Leben zeugten, man müsste dieses Haus seit vielen Jahren unbewohnt vermeinen. Stiefeldreck und weggeworfener Werbemüll beherrschten den Hausflur, schmutzig ausgetretene Stufen führten in die Geschosse. Ein dichter Speckglanz schmierte sich auf alle Wände, und das Geländer mochte kein Lebender anrühren, und hätte er den phobischen Schwindel. Emil Eduard Daus beschleunigte seinen Schritt und sprang die Treppen hoch. Im zweiten Stock überrundete er Pütt, der eine Pause zur Einkehr machte. Im vierten traf er Karl von Kurtz. Langsam, regelmäßig, mit schwerem Stiefeltritt walzte er die Treppe hoch. Emil Daus reihte sich hinter ihm ein. Oben angekommen, hörten sie symphonische Musik, die durch eine der Türen drang, blätternd braun gelackt. Sie wies Löcher wie von einer langen Belagerung auf. Ein Klebezettel als Namensschild musste genügen: Schlechta. Emil Eduard Daus blies empört die Backen auf: »Extremistenscheiße.« – »Ich habe Semjon nur gesagt, es geht ans Meer«, sagte Karl von Kurtz, bevor er klingelte. Trotz seines Bauches war er in guter Verfassung und schnaufte nicht mal nach den Treppen. »Von deiner Hochzeit weiß er nichts, das kann ich dir nicht abnehmen.« Karl sprach mit väterlichem Ernst. – »Warte, ich erinnere mich noch an einen Karl von Kurtz, der solche Artigkeiten peinlich fand, dies pädagogische Geklapse«, sagte der Daus mehr wütend als verächtlich. – »Ich spiele Schicksal mit dir, Emil Eduard Daus, du meine kindische Einfalt.« Karl von Kurtz sah sich zärtlich gestimmt, seine Intrige gelang.

»Ei der Daus«, sagte Emil Eduard Daus und baute sich entschlossen vor der Tür auf. Nach und nach kroch Pütt heran. Dann tat die Tür sich auf und Emil Eduard Daus, die Hände auf dem Rücken, weil er zu heiraten beabsichtigte, schoss mit langen Schritten in die Wohnung, kam erst tief im Flur zum Stehen. Wohlgeboren wandte er sich um und sagte: »Semjon, nicht erschrecken, wusste selbst kaum, dass ich hier bin. Und es geht nicht an die Ostsee, bitte komm auf meine Hochzeit mit. Wir feiern an der Ostsee, Anna...« – »...hat mich eingeladen, wusstest du das nicht?« Semjon Schlechta eignete sich den angefangenen Satz an, nachdem eine knappe Pause Emil Eduard Daus enteignet hatte. »Was erzählt der Unglücksmensch da, Karl?« Karl von Kurtz trat ein und wahrte schweigend seine Würde. – »Wieso muss ich schweigen, und dann lädt dich Anna ein!« Keuchend unter Protest rettete Pütt sich in den Flur. »Schweigen?«, fragte Semjon. – »Hab geschwiegen wie ein Fürst«, schrie Pütt ohne Atem, »weil Karl es so wollte: Sag dem Semjon nix, den überrumpeln wir, sonst kommt er nicht.« Semjon warf die Tür zu. »Kindskopf«, sagte er zu Karl. Der dankte die Herablassung mit Zeichen tiefer Demut. Sie traten auf dem Fleck in Semjons Flur. »Behaglich«, sagte Emil Eduard Daus.

Der Hausherr: Semjon Schlechta, hochgewachsen wie auch Pütt, von Alter wie die anderen Drei, wie Karl von Kurtz von fortgeschrittenem, jedoch unkritisch zu nennenden Bauchumfang, wie Emil Eduard Daus mit Spuren von Alkoholmissbrauch im Angesicht, doch nicht schon ohne alle Modulation. Die Haare trug er länger, leicht ergraut – er nahm sich gut aus gegen Daus. Das stellte Karl von Kurtz fest, als er sie so beieinander sah. Er rieb die Hände, während Daus sie auf dem Rücken hielt, der noch immer die Diele musterte. Da stand ein großer alter abgeschabter Schrank voll alter abgeschabter Bücher, noch eine Kommode im selben Stil, dazu zwei Stühle wie zwei schlanke Throne, abgeschabt, mit durchgesessenem Korbgeflecht. Das sah gediegen aus, nach Lebensart und anererbtem, abgeschabtem Gut. Emil Eduard Daus mahlte mit den Zähnen. »Geht ins Wohnzimmer zu Pütt, ich brauche noch ein wenig«, sagte Semjon Schlechta und verschwand durch eine der drei Türen. Karl von Kurtz wies Emil Daus den Weg. Sie fanden Pütt auf einem Sofa hingestreckt, ganz der Musik gegeben.

»Nicht übel«, brummte der Daus, »...für so einen Supermarktpunk.« – »Was?« Pütt schlug die Augen auf, unterzog sich gar der Mühe, den Kopf zu wenden. – »Was was!« – »Pütt will wissen, was das ist – ein Supermarktpunk. Ich auch.« – »Ach, Männer, macht mir keine Faxen, ihr hasst die Figuren doch auch! Punks, die zu gesetzt zum Schnorren sind, zu gute Manieren haben.« – »Nein.« Der Daus mit Zeichen der Verzweiflung: »Lumpen vor dem Supermarkt! Die Teufel, die da stehen und warten, dass man ihnen ins Gesicht sieht, wie es Menschen miteinander machen. Aber Kötern sieht man auf die Rute, ob sie beißen. Streif so einem mal die Physiognomik, nur ein Blick, da schnappt die Falle zu: Er lächelt unterwürfig, und du kannst nicht anders, als den Menschen zu erkennen. Diese Jesus-Attitüde: Ich bin der Erniedrigte! Abends Whiskey, weil du Jesus nichts gegeben hast und wütend bist. So ist das!« – »So.« – »Ja, Scheiße, Glückwunsch, hab ich mich kurzrund von dir zum Affen machen lassen?«