Schwesternehe - Katharina Höcker - E-Book

Schwesternehe E-Book

Katharina Höcker

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Beschreibung

Elisabeth hat sich im Gegebenen eingerichtet und deutet das Gleichmaß ihres Alltags und die zur Schwesternliebe gewordene Beziehung mit ihrer Partnerin Judith als Glück. Doch durch die Begegnung mit der Psychotherapeutin Jan wird Elisabeths scheinbar so intakte Welt nachhaltig erschüttert, und sie muß ihr Leben und ihre Ziele noch einmal neu überdenken. Die eindringlich erzählte Geschichte einer Liebe zwischen zwei Frauen, die an der Gleichförmigkeit des Alltags zu zerbrechen droht. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 261

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Katharina Höcker

Schwesternehe

Erzählung

FISCHER Digital

Inhalt

Die Frau in der [...]Für D. [...]IDer Sommer ist weit und lautJan wollte am zwölften DezemberIIDann halte ich anDer Morgen des SonnabendsIIIDer Glanz, das Elend dieser TageTrüber kleiner Tag, der dann kamIVDas Aushalten deiner Liebe

Die Frau in der Gesellschaft

Herausgegeben von Ingeborg Mues

Für D.

I

DER SOMMER IST WEIT UND LAUT, ein schwitzender Streich, der uns gelingt. Schön, könnte man sagen, ein beliebiges Wort, wir sagen es nicht. Wir sitzen viel draußen. Es ist schon August, längst über die Hälfte des Jahres, aber noch dauern die Tage bis in die Nacht. Die Blumen brauchen viel Wasser, ich vergesse es oft; sonst steckt ja der Sommer nur diesig in den Wolken und tut sich nicht auf. In diesem Jahr ist es anders. Nichts ist wie immer. Auch dieser kätzische Frühling davor, er war nicht wie sonst, er war so weich und verhuscht, daß wir ihn beim Blick aus dem Fenster nicht einmal sahen. Es regnete viel, und viel war zu tun. Die Arbeit, das Leben, alles ging seinen Gang, wir gingen nur mit. Davor dieser Winter, von dem ganz zu schweigen, du weißt, wie der Winter war. Schlimm, auch das so ein Wort, das wir nicht sagten: wozu sollten wir auch. Wir wußten es ja. Es gab keine Sprache in dieser Zeit. Die Angst hielt den Mund.

 

Du fährst jeden Morgen früh. Im Hemd laufe ich auf den Balkon und winke deinem Auto nach, als wäre es du. Ein Anflug von Trauer geht durch meinen Blick, während du in der Biegung verschwindest; es könnte ja sein, du kämest nicht wieder. Nicht lange, dann ist es gut. Ich weiß es besser.

Danach habe ich Zeit. Ich koche Kaffee, rauche die erste Zigarette an das Balkongeländer gelehnt, schnippe die Asche in den Wind und habe schon Lust auf ein Wort, irgendeins, noch ist es egal. Keine Eile tut not. Ich setze mich an den kleinen Klapptisch, von dem sich die Farbe in rostigen Blättern wölbt, seit er den Winter über draußen war. Der Balkon hat noch Schatten, aber der Himmel zerreißt sich schon wieder in einem bläßlichen Blau. Dick und würzig riecht die Luft, nach Staub und Büschen und Müll. Die Hitze kommt wie ein Fieber herauf; nicht lange, dann wird die Stadt in alpträumerischer Schönheit stehen, staubschwarz und leer. Vielleicht fahren wir abends, wenn es ein wenig kühler geworden ist, wieder hinaus ans Meer, dorthin, wo wir am Dünenrand einmal miteinander geschlafen haben, im Frühjahr, der Sand war noch klamm von kälteren Nächten, und das Wasser biß in die Zehen, als wir dann barfuß ein wenig liefen. Vielleicht fahren wir nicht. Ich sorge mich nicht. Alles ist offen und weich und wird gehen, irgendwohin.

Ich könnte dir etwas erzählen, denke ich dann. Zum Beispiel von dieser Sonne, die jetzt unerhört schnell über den Rand der Dächer kommt. Wie sie sich streckt und in Bündeln zu mir herüberfällt, warm auf der Haut. Und wie eine Taube über den Mauervorsprung hinter dem Balkongeländer stakst, steif und ruckend, doch dann fliegt sie schon auf, zu den anderen herüber, die gerade gereiht auf winzigen Simsen sitzen. Und mehr. Erzählen, wie wir heute morgen wieder die Zeit nach dem Wecker in den Betten vertuschelten; nichts war gemacht, nicht einmal der Kaffee, und du mußtest längst los. Und wie ich zu dir sagte: Liebe ist eine Lust, die Welt zu betreten, und du hast gelacht und ein Bein unter der Decke hervorgestreckt und gesagt: Meinst du das so? Ja, so und ganz anders. Und überhaupt: Wie du jetzt immer lachst, anders als früher, als sei etwas vorbei.

Aber warum davon erzählen. Du weißt es ja doch. Es gibt keine Not, keinen Grund, etwas zu sagen. Keine Geschichte erzählt sich im Dauern, und jede Geschichte ist so: vorbei.

 

Davon habe ich dir einmal geschrieben, damals im Dezember, es war noch das alte Jahr, jetzt fällt es mir ein. Das Wetter war rauher geworden zwischen den Jahren, der Himmel über der Stadt eine stürmische Ballung von Grau. Du wolltest kommen, bald, sobald es nur ginge, sagtest du abends am Telefon. Aber es würde wohl Januar werden, und dann auch nur kurz, zwei Tage, nicht mehr. Das dachte ich mir, sagte ich und bemühte mich, heiter zu klingen. Mir macht es nichts aus, dieses Warten, wir haben doch Zeit. Etwa nicht? Aber ja, so viel Zeit. Deine Stimme war harsch, als du das sagtest. Wir verabredeten, am nächsten Tag wieder zu telefonieren. Paß auf dich auf, batest du mich, und das nicht zum ersten Mal. Ich nickte, dann legten wir auf. Ich weiß noch, das Zimmer war leer wie immer, wenn deine Stimme so plötzlich verschwand. Ich nahm meine Jacke und lief ein paar Schritte. Regen sprühte durch die Luft, also zog ich nur eine Schachtel Zigaretten aus dem Automaten, kehrte um und begann dir zu schreiben. Ein langer Brief, ich weiß noch, ich schrieb ihn gleich in die Maschine hinein. Es fiel mir schwer, Zeichen zu setzen, aber schließlich tat ich es doch. Du solltest verstehen. Ich wollte, daß diese Gegenwart endlich verging. Alles sollte vergehen und aufhören und erst später, viel später, wieder wichtig werden, als etwas, das war.

Irgendwann wird es Vergangenheit geben, eine Geschichte, die mit der kühlen Überlegenheit des Imperfekts erzählt werden kann. Es war einmal. Es ist gewesen. Solange aber alles anhält, wird kein Wissen kommen. Solange halten wir aus.

So schrieb ich es dir, und so war es auch.

JAN WOLLTE AM ZWÖLFTEN DEZEMBER kommen, dieses Mal wirklich, ohne weiteren Aufschub. Ein Freitag, hatte Elisabeth gleich im Terminkalender gesehen, wahrscheinlich mausgrau und waschwarm, so war der Dezember in diesem Jahr, eine müde Angelegenheit. Beim Telefonieren hatte sie lustlose, dicke Striche mit dem Füller an den Rand der Kalenderseite gemalt und sich bemüht, höflich in den Hörer hineinzusprechen; sonst nuschelte sie meist schief an der Muschel vorbei, eine schlechte Angewohnheit, als wolle sie gar nicht verstanden werden, hatte Judith einmal behauptet.

Viertel vor vier, hatte Jan gesagt, Hauptbahnhof, ist dir das recht? Ja, sicher, kein Problem, hatte Elisabeth erwidert. Die helle grüne Jacke, das bin ich. Wir werden uns schon finden, hatte Jan gemeint. Also bis dann.

Ein seltsam leises Lachen, aber sie lachte offenbar viel.

Beim Auflegen hatte Elisabeth mit ihrer sorgfältigen Schrift im Terminkalender notiert: 15.45 Hbf, Jan. Das Bedürfnis, die Notiz mit einem mahnenden Ausrufezeichen zu versehen, war von irgendwoher gekommen, dumm, sie hatte es unterdrückt. Dennoch hatte sie das Gefühl gehabt, daß durchaus die Gefahr bestand, Jan zu vergessen. Denkst du dran? hatte sie Judith durch die offene Flügeltür gefragt.

Aber ja. Natürlich.

Ein leichter, sehr selbstverständlicher Tonfall, der Elisabeth irgendwie, sie hatte nicht sagen können wie, beruhigt hatte. Mach dir keine Gedanken, wir kriegen das schon hin. Wahrscheinlich ist sie ganz nett.

 

Die Woche war schnell gegangen, voller Arbeit und Regen und frühem Schlaf. Das Wetter war trübe geblieben, zu warm für diese Zeit, kein Winterwetter, das fanden alle. Der Himmel hing wie ein verwaschenes Laken herab, das in der stehenden Luft keine Falten schlug, und selbst der Regen schlich nur dahin, zu fein, um zu fallen. Auch der Wind, der in der Nacht zum Freitag aufgekommen war, in rasch anschwellenden Böen, hatte sich gegen Morgen wieder gelegt. Gegen Viertel vor sechs war Judiths Wecker gegangen, mehrmals kurz hintereinander, ohne daß Judith sich geregt hatte. Elisabeth hatte sie leicht an den Arm gefaßt, Süße, wach auf, du mußt. Mit gepreßten Flüchen war Judith hochgefahren und eine Weile dumm vor Müdigkeit durchs dunkle Zimmer gelaufen, ehe sie ins Bad gegangen war. Elisabeth hatte sich gleich wieder auf den Bauch gedreht und die Augen geschlossen, aber sie war fahrig geblieben, wach und müde zugleich. Soll ich dir Kaffee machen? hatte sie Judith noch hinterhergerufen, aber sie hatte verneint, laß mal, schlaf lieber weiter.

Schon in der Nacht hatte Elisabeth unruhig geschlafen, einen kurzatmigen Schlaf, als hätte sie immer wieder an die Oberfläche gemußt, um zu Luft zu kommen. Judith und sie waren früh ins Bett gegangen, bereits gegen zehn. Nur kurz hatten sie noch einmal über Jan gesprochen. Sie käme dann ja wohl, hatte Judith gemeint, schließlich habe sie sich nicht mehr gemeldet. Oder habe sie etwa einen unzuverlässigen Eindruck gemacht? Elisabeth hatte die Schultern gehoben, keine Ahnung, wir werden ja sehen. Judith hatte nicht weiter gefragt. Elisabeth hatte noch eine Weile gelesen, nicht lange, nur so, daß sie über dem Buch hatte müde werden können. Ein dümmliches Buch, hatte sie gleich gefunden, einer von diesen Krimis, in denen der Mörder schon auf den ersten Seiten seine Spuren ausstreute, als sei er nur darauf aus, dem Autor keine Sorgen zu bereiten. Ein Buch, das in seiner Glätte mehr Ärger brachte, als es nahm. Nach ein paar Absätzen hatte sie es nachlässig über den Bettrand geschoben und zufrieden gehört, wie es auf den Parkettboden gefallen war. Im Halbschlaf hatte sie überlegt, ob es nicht möglich war, eine Geschichte voller Unberechenbarkeiten zu erzählen, eine, die nicht erfüllte, was sie versprach. Die Aussicht, eine solche Geschichte irgendwann, bald, erfinden zu können, hatte sie angenehm träge gemacht, als sei sie nun, da sie wußte, was zu tun war, von den Belästigungen des Buches befreit. Dennoch war sie nicht sofort eingeschlafen. Immer wieder hatte sie auf die Bewegungen des Windes gehorcht, der in ruppigen Böen durch die Bäume gegangen war, abschwellend, dann wieder heftiger. Aus dem Hof war das helle, unrhythmische Reißen einer im Wind schlagenden Plastikplane heraufgekommen. In der Dunkelheit hatten die Geräusche überzogen geklungen, wie dramatisiert, aber sie war schon zu müde gewesen, um noch einmal aufzustehen und die Fensterklappe zu schließen.

Jetzt lag der Hof wieder still. Von weitem war der dünn fließende Motorenlärm der Straße zu hören, die hinter den Häuserblocks verlief, kaum mehr als ein Murmeln. Aus dem Bad kam das Geräusch des laufenden Wasserstrahls; wie jeden Morgen hatte Judith beim Duschen die Tür offengelassen, um den Kater nicht zu verärgern. Elisabeth legte sich auf die Seite, bemüht, das Gefühl zu genießen, um diese Zeit niemandem verpflichtet zu sein. Alles war leise und weit weg, ohne Bezüge zu ihr. Sie schloß die Augen, aber der taumelnde Zustand blieb aus, in dem sie sonst oft die Viertelstunde vorm Aufstehen dalag, irgendwo an den Rändern, zwischen Nacht und Tag. Kurz darauf waren Judiths Schritte auf den ausgetretenen Bodendielen zu hören, dazwischen die lauten, quengelnden Schreie des Katers, der aufgeregt hinter ihr herlief. Psst, Dicker, nicht so laut, Elisabeth schläft noch, ermahnte Judith ihn mit gesenkter Stimme, aber er schrie unbekümmert weiter, lauter sogar als zuvor. Einen Moment überlegte sie, empört die Tür aufzureißen und ihn anzufahren, doch dann erinnerte sie sich, daß sie beschlossen hatte, freundlicher mit ihm zu werden. In der Absicht, mit dieser neuen Freundlichkeit über sein terroristisches Lärmen hinwegzuhören, wurde sie vollends wach. Sie setzte sich auf und wollte gerade das Licht einschalten, als Judith ins Zimmer kam, bereits in der Jacke.

Du bist wach? Schlecht geschlafen?

Nicht besonders gut, nein.

Hat der Dicke dich etwa wieder gestört?

Sie stieß den Kater, der durch die angelehnte Tür gekommen war, leicht mit dem Fuß in die Seite. Nicht so schlimm, erwiderte Elisabeth. Ich will sowieso aufstehen. Judith beugte sich zu ihr hinunter und küßte sie kurz. Ich muß los, Süße. Bin schon wieder zu spät dran. Auf jeden Fall werde ich zusehen, einigermaßen pünktlich wegzukommen, damit wir Jan mit dem Auto abholen können. Aber du kennst den Laden ja, versprechen kann ich es nicht.

Elisabeth nickte. Seit gestern hatte sie nicht mehr an Jan gedacht, sie aber auch nicht vergessen. Etwas dazwischen. Ein Wissen und Nicht-wissen-Wollen. Eine klamme Erinnerung, die sich mehr im Körper bewegt hatte, nicht im Kopf.

Ich weiß, sagte sie. Hetz dich nicht ab, ich kann auch die S-Bahn nehmen.

Ja, ich beeil mich, rief Judith noch einmal durch den Flur, als hätte sie nicht gehört.

 

Elisabeth wartete, bis die Wohnungstür schlug. Dann schaltete sie die kleine Klemmlampe im Regal ein und stand auf. Die Zimmerluft war drückend, voll Schweiß und Schlaf. Dennoch fröstelte sie, als sie barfüßig über die blanken Holzdielen zum Fenster lief. Sie drehte den Heizkörper an und suchte die Norwegersocken zwischen den Kleidungsstücken hervor, die auf dem Stuhl lagen. Ein dünn geflocktes Grau war schon in den Wolkenfilz geflossen. Sie mochte die kriechenden Winterdämmerungen, in denen der Tag gemächlich gleitend auftauchte, nicht aggressiv wie im Sommer, wenn frühmorgens eine reißende Helligkeit ins Zimmer brach und nach Aktivität und Heiterkeit verlangte. Zufrieden lehnte sie sich an die warmwerdenden Rippen der Heizung und sah in den Hof. Ein feiner, weichlicher Regen fiel, der sich kaum merklich auf die Scheibe setzte. Die Luft roch feucht, nach moderndem Laub und auf dem Pflaster stehenden Pfützen. Gegenüber hantierte eine Frau im Bademantel in einer hellerleuchteten Küche. Ein Auto rollte mit mattem Scheinwerferlicht aus einem der Schuppen und verschwand in der Ausfahrt.

Sie drückte die klemmende Fensterklappe zu, entschlossen, auf den üblichen Ärger über die immer wieder verschobenen Wohnungsreparaturen zu verzichten. Es blieb ja kaum Zeit, seit sie beide den ganzen Tag arbeiteten. Judith war meist über neun Stunden aus dem Haus, und sie selbst arbeitete am Schreibtisch ebensoviel, oft sogar mehr. Als sie an ihre Arbeit dachte, fühlte sie sich sofort leicht und erfrischt. Der Tag war wie gemacht für leise, vertraute Gewohnheiten. Ein Tag, den man am besten in freundlicher Distanz am Schreibtisch verbrachte, bei Lampenlicht, mit einem lose um den Hals gelegten Schal. Daß Jan heute kam, war zweifellos ein Irrtum. Verabredet zwar und nun nicht mehr rückgängig zu machen, aber doch unpassend. Wie ein zu enges Kleidungsstück, in das sie sich gequält lächelnd hineinzwang.

Ja, es paßt. Wunderbar.

Ähnlich unglaubwürdig mußte ihre Stimme am Telefon geklungen haben, als sie es Jan versichert hatte. Höflich, aber verhalten. Möglich, daß Jan ihren Mißmut gehört hatte. Das leise Bleib-mir-vom-Leibe. Aber selbst wenn es ihr aufgefallen sein sollte, so war es egal. Schließlich kannten sie sich nicht, es gab also auch keinerlei Verpflichtungen. Erst recht nicht die, einander zu mögen.

Sie sah zu Judiths Radiowecker hinüber, fast sieben, kein ganzer Arbeitstag mehr, bis sie zu Jans Empfang auf dem Hauptbahnhof antreten mußte, in der hellen grünen Jacke, das durfte sie nicht vergessen und irrtümlich die Lederjacke anziehen. Hallo, ich bin es, würde sie dazu wohl sagen müssen. Und Jan würde wieder lachen, leise, wie schon am Telefon.

Ach, du also.

Fahrig begann sie, eine Hose von Judith zusammenzufalten, die über den Sessel am Fenster geworfen war. Darunter lagen weitere Hosen, Pullover und Hemden, all die Kleidungsstücke, die sie im Laufe der Woche getragen und nicht weggeräumt hatten. Sie schnippte ein paar Katzenhaare von ihrer dunklen Cordhose auf den Boden. Nachher mußte sie ohnehin putzen, saugen, wischen, aufräumen. Wenn sie auch sonst zu nichts verpflichtet war, so blieben doch die mit Jans Besuch zwangsläufig kommenden Verpflichtungen zur Gastfreundlichkeit bestehen. Eine Freundlichkeit, die sich zumindest auf den Zustand der Wohnung erstrecken mußte. Sie schaltete die Stehlampe ein und sah sich um. In die Parkettritzen hatten sich feine, aber doch sichtbare Staubfäden gesetzt. Auch die schwarzgestrichenen Regale waren staubgrau. Auf Judiths Schreibtisch lagen Zettel, Bücher und Stifte wirr durcheinander, als hätte sie gerade gestern noch an einer wichtigen Ausarbeitung gesessen. Dabei hatte sie dort schon seit Wochen nicht mehr gearbeitet. Judiths Schlampereien waren unerhört, fast beneidenswert. Ihr eigenes Zimmer wirkte dagegen geradezu zwanghaft ordentlich. Eine penibel eingerichtete, symmetrisch gegliederte Landschaft, in der alles zweckmäßig zueinander in Beziehung gesetzt war. Obwohl sie gern Ordnung schuf, ohne den Widerwillen, den Judith dabei empfand, kam ihr die Vorstellung, nachher mit Staubsauger und Putzlappen durch die Zimmer gehen zu müssen und nicht nur ihren eigenen, sondern auch Judiths Dreck zu beseitigen, wie eine Zumutung vor, lästig und zeitraubend, wo ohnehin schon nicht genügend Zeit für die Schreibtischarbeit blieb. Vielleicht war es möglich, Jan mit dem Hinweis auf dringend zu erledigende Terminarbeiten zwischen Staubflocken, Katzenhaaren und ungespültem Geschirr zu empfangen. Oder aber zu sagen: meine Freundin ist eine Schlampe, und ich lasse alles zu Demonstrationszwecken liegen. Ein Gedanke, der sie in seiner Grobheit zugleich befremdete und amüsierte. Sicherlich war Jan eine noch peniblere Hausfrau als sie selbst; immerhin war sie um einiges älter, Mitte Vierzig, meinte sie sich zu erinnern, und damit an Ordnung gewöhnt. Aber wahrscheinlich gab sie sich gerade deshalb für Banalitäten wie Staub und Unordnung gar nicht mehr her.

Müßig, darüber zu spekulieren. Jan war irgendwie oder auch anders. Sie hatte nicht vor, sich den ganzen Vormittag mit diesem Möglichen oder Unmöglichen, das Jan war, zu befassen. Entgegen ihren Gewohnheiten legte sie sich wieder ins Bett. Unter der Decke spürte sie ihre Körperwärme, ein weiches, kriechendes Gefühl, das zu genießen war. Kurz überlegte sie, in dem Krimi weiterzulesen und damit die Zeit bis zu Jans Ankunft fahrlässig faul zu verdösen, aber als sie sich an den geheimnislosen Gang der Handlung erinnerte, verlor dieser Gedanke sofort seinen Reiz. Es gelang ihr ohnehin nur mit größter Willensanstrengung, bis in den Mittag hinein untätig im Bett zu liegen. Obwohl es für sie keinerlei Verpflichtungen gab, frühmorgens mit der Arbeit zu beginnen, tat sie es ohne Mühe, meist sogar freudig, mit Lust. Schließlich war sie alt genug, sich selbst zu verpflichten, hatte sie hin und wieder ungehalten gesagt, wenn andere sie bewundernd auf ihre Disziplin angesprochen hatten. Die grausam faulen Jahre waren vorbei. Sie arbeitete gern. Die Arbeit als Korrektorin, mit der sie schon während ihrer Studentinnenzeit sporadisch begonnen hatte, damals als Aushilfe in einem kleinen Verlag, tat sie zwar, um Geld zu verdienen, aber auch sie war mehr als eine lästige Pflicht. Mehr als etwas, das die Gegebenheiten ihr diktiert hatten. Die eingehenden Korrekturarbeiten erledigte sie zügig und genau. Selbst wenn sie gelegentlich darunter litt, daß die wachsende Zahl von Aufträgen ihr immer weniger Zeit ließen für ihre eigene Arbeit, kam sie mit dem Buch, an dem sie seit einem halben Jahr schrieb, gut voran. Die Arbeit daran ein äußerster Genuß. Sie fühlte sich nicht wie alle anderen befreit, wenn sie untätig war. Eher wurde sie nervös, von einer unangenehm leeren Unruhe befallen, so daß die Pausen, zu denen sie sich gelegentlich zwang, zwar Judith befriedigten, nicht aber sie selbst. Ein Zustand, der sie im Grunde nicht störte. Sie lebte leicht darin, bequem und zufrieden. Auch wenn es für andere so schien, als leiste sie ihr Leben mit rigider Strenge ab, in gewissenhafter Erfüllung einer unerbittlich auferlegten Pflicht. So war es nicht.

Sie schlug die Decke zurück und stand auf.

 

Die Küche war unaufgeräumt und dunkel. Elisabeth machte Licht, aber die Atmosphäre blieb unfreundlich, nicht zum Verweilen gedacht. Sie beschloß, erst später zu frühstücken. Obwohl der Kaffeerest, den Judith in der Glaskanne hatte stehenlassen, noch warm war, schüttete sie ihn in den Ausguß und füllte frisches Wasser in die Kaffeemaschine. Ein angenehm würziger Geruch verbreitete sich in der Küche, als sie die Dose mit Kaffeepulver öffnete. Nachlässig zählte sie die Hütchen ins Filterpapier. Mit einem munter klingenden Geräusch begann die Maschine, stoßweise das Wasser in den Filter zu spucken. Bevor sie ins Bad ging, sah sie noch schnell auf dem Küchentisch nach, ob Judith ihr eine Notiz hinterlassen hatte, doch der kleine Schreibblock, auf dem Judith morgens oft kurze Mitteilungen über dringend zu erledigende Einkäufe oder noch offene Verabredungen hinterließ, war leer. Obwohl sie es nicht anders erwartet hatte, fühlte sie eine weiche, grundlose Enttäuschung. Schreib mir mal wieder was, Süße! notierte sie in einer schiefen Linie auf dem Block. Noch während sie schrieb, kam ihr der Satz unangenehm plärrend vor, so wehleidig, als würde sie ohne ein morgendliches Zeichen von Judith den Tag über nichts weiter tun, als unglücklich ihre Rückkehr zu erwarten. Dabei war sie immer häufiger dazu imstande, Judith im Laufe des Tages so vollständig zu vergessen, daß es ihr Mühe bereitete, sie abends aufmerksam und liebevoll zu empfangen. Sie riß den Zettel vom Block und warf ihn in den Mülleimer.

Im Badezimmer beeilte sie sich. Nachher würde sie ein Bad nehmen, irgendwann, nicht jetzt. Der Aufschub auf später erhöhte den Genuß, den sie dabei empfand. Sie überlegte, was heute an Arbeit zu tun war, nicht viel, aber doch so, daß sie einen milden, grübelnden Reiz verspürte. Aus der Küche kam das gurgelnde Geräusch der laufenden Kaffeemaschine. Die Aussicht, gleich mit einem starken Kaffee am Schreibtisch sitzen und die Papiere ausbreiten zu können, schien ihr verlockend, wie ein Geschenk. Vor dem Spiegel im Flur zog sie ein schwarzes Hemd an, darüber den schwarzen, grobmaschigen Pullover, den Judiths Mutter gestrickt hatte und den sie nun ohne ihr Wissen beide trugen, im konspirativen Wechsel. Judiths Mutter, die ihren Umzug in die gemeinsame Wohnung eher skeptisch verfolgt hatte, war nach wie vor um Judiths Eigentum besorgt, nicht wissend, daß Judith und Elisabeth alles teilten, was es zu teilen gab. Wozu sie mit unnötigem Wissen belasten, hatte Judith oft gemeint und sich laut ihr Entsetzen vorgestellt.

Schrecklich. Sie würde es nicht verkraften.

Während sie die schwarze Bundfaltenhose anzog, überlegte sie, ob Judiths Mutter wirklich schockiert wäre, wenn sie erführe, daß Elisabeth nicht nur irgendeine beliebige Freundin, sondern Judiths Geliebte war. Ihre Lebensgefährtin. Partnerin. Was immer man dazu sagen mochte. Die Sprache sah ja nicht einmal eine Bezeichnung für eine solche Beziehung vor, und etwas Unbenennbares barg immer einen beunruhigenden Kern. So daß auch Judiths Mutter zweifellos entsetzt wäre. Aber vielleicht wäre es nur der jahrhundertealte Schrecken aller Mütter, die ihre Kinder mit einem Menschen gehen lassen mußten, den sie zu dick oder zu frech, zu alt oder zu arm, auf jeden Fall unpassend fanden. Ein Hände-über-dem-Kopf-Zusammenschlagen, ja, aber nicht unbedingt das Entsetzen, das Judith meinte und das allein darin lag, daß Elisabeth eine Frau war. Wahrscheinlich würde Judiths Mutter sie lediglich prüfend ansehen und sie für zu dünn befinden. Zu bleich. Mädchen, iß mal ordentlich, würde sie vielleicht sagen und dann eine herzhafte Mahlzeit bereiten. Anschließend würde spazierengegangen werden.

Sie steckte das Hemd in die Hose. Ganz in Schwarz gekleidet wirkte ihre Gestalt im Spiegel noch magerer und blasser als sonst. Auch ihre kurzgeschnittenen Haare, die wie jeden Morgen in Büscheln vom Kopf abstanden, sahen seltsam flüchtig und durchscheinend aus. Nicht schön, aber schließlich kam niemand, um sie zu betrachten. Judiths Mutter würde sie, wenn überhaupt, erst in ein paar Wochen besuchen, wenn es Judiths Vater wieder besser ginge und sie nicht mehr jede freie Minute mit seiner Pflege verbrächte. Und arbeiten konnte sie ebensogut in dürftigen Körperzuständen, ungewaschen, mit fettigem Haar, sogar im Bademantel, wenn ihr danach war. Bei ihrer Art Arbeit bedurfte es keinerlei Anstrengung, täglich die Spuren von Unlust und Muffigkeit zu entfernen. Eine Freiheit, die sie immer wieder genoß, wenn sie Judith bei ihren morgendlichen Bemühungen um Zugänglichkeit sah. Dennoch hatte sie das unbehagliche Gefühl, sich diese Schlampigkeiten nicht leisten zu können. Nicht heute. Im Bad hielt sie den Kopf unter den laufenden Wasserhahn und wusch sich das Haar. Naß kam es ihr noch befremdlicher vor. Sorgfältig rieb sie es trocken und ging mit dem Kamm hindurch, wieder in dem Gefühl, sich möglichst vorteilhaft präsentieren zu müssen. Dabei lagen noch Stunden dazwischen, ehe sie sich von Jan auf dem Hauptbahnhof begutachten lassen würde. Die Annahme, Jans Enttäuschung mit gewaschenen Haaren oder einem sauberen Hemd mildern zu können, war ohnehin lächerlich genug. Natürlich hatte Jan aus den spärlichen Informationen längst ein anderes Bild von ihr zusammengesetzt; selbst wenn ihr dafür nur eine grüne Jacke, ein in Arbeit befindliches Buch, eine Freundin und eine Altersangabe von Anfang Dreißig zur Verfügung standen. Ein schiefes Bild also. Sie dachte an die Mühe, die es kosten würde, diesem Bild zu entsprechen oder es zu korrigieren. An den nicht zu kaschierenden Riß, der bereits beim ersten Blick das Wirkliche schamlos vom Erwarteten entfernte.

Ach, du also.

Wahrscheinlich würde Jan dabei sogar ihr Lachen einstellen. Eine peinliche Stille in ihrem Gesicht: Ach.

So daß sie sich wohl besser darauf einrichtete, das Lachen selbst zu übernehmen.

Sie probierte ein souveränes, leicht in den Mundwinkeln sitzendes Lächeln in den Spiegel hinein, aber im Neonlicht der Stablampe wirkte es verkrampft, eine kalte Grimasse. Klein und kurzsichtig standen ihre Augen hinter den Brillengläsern. Keine Augen, vor denen es sich in acht zu nehmen lohnte; niemand würde damit rechnen, daß sie genau hinsahen. Auch ihre Arme hingen wie ausgerenkt vom Körper herab, seltsam kraftlos und dünn. Obwohl sie sich niemals besser gefühlt hatte als jetzt. Selbst Judith hatte neulich spätabends im Bett gesagt: Gut siehst du aus, Süße. Ein bißchen mager, aber du arbeitest einfach zuviel. Wortlos hatten sie sich umarmt, wie Komplizinnen. Der Verdacht, daß Judith nicht sorgfältig hingesehen hatte, war zwar von irgendwoher gekommen, aber nur dunkel, nicht wichtig.

Ja, mir geht es gut, hatte Elisabeth nach einer Weile gesagt.

Mit dir geht es mir gut.

 

Ein wenig schreiben, dachte sie, als sie ins Arbeitszimmer ging, jetzt, solange draußen noch alles dunkel und undeutlich war und Jan nicht einmal auf dem Weg. Eine Handvoll weicher und fließender Sätze, leicht aufs Papier geworfen. Sie schlug das Manuskriptbuch auf, lehnte sich aber wie jeden Morgen noch einen Moment im Stuhl zurück, die Stille genießend, in der die Wohnung lag. Der Kater hatte sich auf dem Korbsessel zusammengerollt und schlief; Stinksocke, hatte sie vorhin im Vorbeigehen zu ihm gesagt, aber eher aus pädagogischem Pflichtgefühl heraus und im Grunde schon wieder zärtlich, wie eine Liebkosung. Der Raum war licht und freundlich, eine Wohltat, nachdem sie noch vor ein paar Wochen hinten in dem kleinen Zimmer gearbeitet hatte, zwischen kaum zwei Meter voneinander entfernten Wänden; eine Zelle, in der ihr nur Grausamkeiten eingefallen waren, furchtbare Sätze, aus furchtbaren Gedanken gemacht.

Jetzt ging alles gut.

Besser als alles, was bisher da war, bin ich jetzt, schrieb sie auf eine leere Seite des Buches. Der Satz war plötzlich gekommen, so unerwartet, wie ihr die Sprache manchmal aus dem Kopf in die Hand fuhr, ganz ohne Bedacht. Als sie ihn noch einmal las, kam er ihr jedoch zweifelhaft vor, in seiner Absolutheit nicht angemessen. Sie strich ihn durch. Während sie nach einer anderen Formulierung suchte, die dieses leichte Gefühl transportieren konnte, erschienen ihr alle denkbaren Sätze heuchlerisch, voller unzulässiger Vergröberungen, als wollten sie einen Sinn vortäuschen, der nicht mehr als eine hehre Absicht war. So, wie sie damals, im Herbst der Atomraketenstationierung, den Satz Wir machen weiter auf Flugblättern wie eine Tatsache verbreitet hatten, obwohl er nur ein kümmerlicher Wunsch gewesen war, nicht einmal eine Hoffnung.

Damals.

Eine Zeit trauriger Kämpfe.

Aber immerhin hatte sie gekämpft. Sie legte den Füller beiseite und nahm einen Schluck Kaffee. Der Regen war noch immer lautlos und leicht, aber schon dichter geworden. Mit einem leise ziehenden Geräusch rollten die Autoreifen unten auf der Straße über den nassen Asphalt. Langsam kam jetzt die Helligkeit hinter den Häusern hervor, ein unfarbener Strich, nicht mehr.

 

Bis um zehn hatte bereits zweimal das Telefon geklingelt, aber es waren nur kurze Gespräche gewesen, Absprachen mit dem Verlag, der neue Satzfahnen schickte, keine Störung. Ein Kurier war gekommen und hatte einen Umschlag abgegeben. Elisabeth hatte ihn ungeöffnet beiseite gelegt und sich wieder auf das neue Kapitel konzentriert, aber schon nach wenigen Sätzen hatte sie sich dumpf und müde gefühlt, abgeschnitten von allem, auch von der Sprache. Sperrig bewegten sich die Wörter über das Papier, so hart, daß man sich beim Lesen daran wundstieß. Immer wieder kam ihr Jan in den Kopf, all das, was noch getan werden mußte. Die Blumen mußten gegossen werden, dringend. Das Bett beziehen, hinten im kleinen Zimmer, für Jan. Nicht vergessen, das Katzenklo sauberzumachen, das in der Ecke im Flur ekelerregende Gerüche verbreitete. Imme anrufen, bevor sie in die Mittagspause ging.

Sie lehnte sich im Stuhl zurück und horchte auf die anschwellenden Stimmen, die gerade auf der Straße zu streiten begonnen hatten. Zwei Männer, deren Pöbeleien sich offenbar an einem Parkplatz entzündeten. Idiot, schrie jemand. Sofort stand sie auf. Vom Fenster aus beobachtete sie, wie einer der Männer ausstieg und die Arme in die Hüften stemmte, während der andere anhaltend hupte. Sie stritten erbittert, als ginge es ums Überleben. Sie fühlte eine leichte Welle von Ekel. Dennoch sah sie konzentriert zu, als ginge es dabei um sie. Auch im gegenüberliegenden Haus waren Gardinen zurückgeschoben worden. Die alten Eheleute, die im ersten Stock wohnten und im Sommer auf dem Balkon Abend für Abend Mensch-ärgere-dich-nicht spielten, hatten das Fenster geöffnet und die Ellenbogen auf ein Kissen gestützt. Schon seit längerem verbrachte Elisabeth ihre Arbeitspausen immer häufiger damit, ihre Tagesabläufe so genau wie möglich zu studieren. Die Ereignislosigkeit, in der sie lebten, ließ auf einen großen Vorrat an Lebendigkeit schließen, den sie im Laufe der Jahre zusammengetragen hatten und von dem sie nun friedlich zehren konnten. Eine Art, alt zu sein, dachte sie auch jetzt wieder. Obwohl die nachbarschaftlichen Beziehungen in dieser Gegend ausschließlich voyeuristischer Art waren, wünschte sie sich plötzlich, mit ihnen bekannt zu sein und ihnen freundlich zuwinken zu können. Im selben Moment nahm die alte Frau das Kissen von der Fensterbank und schloß das Fenster. Kurz darauf brachen die rüpelhaften Beschimpfungen auf der Straße ab. Schweigend stiegen die Männer in ihre Autos und fuhren in entgegengesetzte Richtungen davon.

Sie stützte sich auf die Fensterbank. Unglaublich, daß Jans Besuch bereits jetzt, Stunden vorher, Löcher in ihre Abläufe riß. Eine unangemessene Irritation, zu heftig für diesen läppischen Anlaß. Jan war ein Irrtum, keine Frage. Dennoch war es möglich, Irrtümer kühl lächelnd zu absolvieren oder sie nicht einmal als Irrtümer wahrzunehmen. Daß sie statt dessen nur mürrisch die Zeit abzusitzen verstand, war ausschließlich ihr selbst zuzuschreiben. Was für ein engstirniges, kleingeistiges Arbeitstier sie geworden war, sich immer gleichmäßig im Kreise drehend und bei der kleinsten Unebenheit stolpernd. So daß ihre Lust, Jan zu beschuldigen, lächerlich war. Schließlich hatte sie diese Verabredung arrangiert; keine Rede davon, daß Jan versucht hätte, sich aufzudrängen. Sie hatte die Einladung nach Hamburg sogar mehrfach und mit immer mehr Nachdruck in ihren Briefen wiederholen müssen, ehe Jan angerufen und gesagt hatte: ich komme.

Jan war eher zurückhaltend als zudringlich. Unnahbar, hatte Elisabeth nach dem Telefongespräch mit ihr gedacht, auch wenn sie offen und leicht geklungen hatte. Die Grenzen wahrend, die zwischen ihnen lagen. Keine Fragen, die eine Gier nach unnötigen Informationen verrieten. Nur das Notwendigste. Eine grüne Jacke war ihr bereits genug. Nicht einmal Judith hatte ihre Aufmerksamkeit erregt, als Elisabeth beiläufig gesagt hatte: Meine Freundin Judith. Wir wohnen zusammen. Als interessiere sie sich nicht für derartige Besitzverhältnisse. Andererseits: Warum sollte sie sich interessieren? Die Verbindung zwischen ihnen war ausschließlich eine Arbeitsbeziehung, in deren brieflichem Verlauf die Idee entstanden war, einander kennenzulernen, irgendwann einmal, wenn sich eine Gelegenheit böte. Nachdem Jan ihr aber bei der Entwicklung einiger Kapitel ihres Buches so sehr geholfen hatte, hatte Elisabeth sich schnell verpflichtet gefühlt, diese Gelegenheit zu schaffen. Verpflichtet dazu, etwas zu tun, während es vorher Jan gewesen war, die etwas getan hatte.