Science Fiction Dreierband 3026 - Drei Romane in einem Band - Alfred Bekker - E-Book

Science Fiction Dreierband 3026 - Drei Romane in einem Band E-Book

Alfred Bekker

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Beschreibung

Dieser Band enthält folgende SF-Romane:Lennox und die Arena der Götter (Jo Zybell)Die Drachenreiter von Dharioona (Alfred Bekker)Das Erbe der Altairer (Alfred Bekker & Wilfried A. Hary)Dharioona, die Welt der Drachen und anderer phantastischer Geschöpfe, befindet sich in einem Doppelsternsystem, das wiederum ein Schwarzes Loch umkreist. Hier verläuft die Zeit langsamer, als im Rest des Universums. Die ersten Menschen kamen einst mit Raumschiffen der krakenartigen Ktoor hierher. Die Ktoor betreiben auf Dharioona einen Raumhafen. Ein zweiter Raumhafen wird von den gestaltwandelnden Nugrou betrieben, die mit den Ktoor um das Handelsmonopol auf Dharioona kämpfen. Der dritte Machtfaktor sind die Bhalakiden - Energiewesen, die jenseits des Ereignishorizontes beheimatet sind. Sie schützen Dharioona mit einem Energieschirm vor den Strahlenausbrüchen des Schwarzen Lochs - und lassen sich dafür von Menschen, Ktoor, Nugrou und allen anderen Bewohnern Dharioonas auf eine ganz besondere Weise bezahlen: Sie fordern ihre Geschichten, um das Multiversum zu vergrößern, denn sie glauben daran, dass alles, was denkbar ist, auch in irgendeiner der zahllosen, miteinander verschränkten Raumzeiten existiert.Die menschlichen Siedler dieser Welt widmen sich unterdessen überwiegend der Drachenzucht und dem Krieg untereinander, denn sie sind vollkommen zerstritten. Unter ihnen gilt das Recht des Stärkeren, aber letztlich bleiben selbst die mächtigsten Drachenrancher nur Spielbälle im Kampf höherer Mächte.

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Jo Zybell, Alfred Bekker, Wilfried A. Hary

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Inhaltsverzeichnis

Science Fiction Dreierband 3026 - Drei Romane in einem Band

Copyright

Lennox und die Arena der Götter: Das Zeitalter des Kometen #11

​Die Drachenreiter von Dharioona

Das Erbe der Altairer

Science Fiction Dreierband 3026 - Drei Romane in einem Band

Alfred Bekker, Wilfried A. Hary, Jo Zybell

Dieser Band enthält folgende SF-Romane:

Lennox und die Arena der Götter (Jo Zybell)

Die Drachenreiter von Dharioona (Alfred Bekker)

Das Erbe der Altairer (Alfred Bekker & Wilfried A. Hary)

Dharioona, die Welt der Drachen und anderer phantastischer Geschöpfe, befindet sich in einem Doppelsternsystem, das wiederum ein Schwarzes Loch umkreist. Hier verläuft die Zeit langsamer, als im Rest des Universums. Die ersten Menschen kamen einst mit Raumschiffen der krakenartigen Ktoor hierher. Die Ktoor betreiben auf Dharioona einen Raumhafen. Ein zweiter Raumhafen wird von den gestaltwandelnden Nugrou betrieben, die mit den Ktoor um das Handelsmonopol auf Dharioona kämpfen. Der dritte Machtfaktor sind die Bhalakiden - Energiewesen, die jenseits des Ereignishorizontes beheimatet sind. Sie schützen Dharioona mit einem Energieschirm vor den Strahlenausbrüchen des Schwarzen Lochs - und lassen sich dafür von Menschen, Ktoor, Nugrou und allen anderen Bewohnern Dharioonas auf eine ganz besondere Weise bezahlen: Sie fordern ihre Geschichten, um das Multiversum zu vergrößern, denn sie glauben daran, dass alles, was denkbar ist, auch in irgendeiner der zahllosen, miteinander verschränkten Raumzeiten existiert.
Die menschlichen Siedler dieser Welt widmen sich unterdessen überwiegend der Drachenzucht und dem Krieg untereinander, denn sie sind vollkommen zerstritten. Unter ihnen gilt das Recht des Stärkeren, aber letztlich bleiben selbst die mächtigsten Drachenrancher nur Spielbälle im Kampf höherer Mächte.

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author /COVER A.PANADERO

© dieser Ausgabe 2022 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

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Lennox und die Arena der Götter: Das Zeitalter des Kometen #11

von Jo Zybell

Der Umfang dieses Buchs entspricht 128 Taschenbuchseiten.

Eine kosmische Katastrophe hat die Erde heimgesucht. Die Welt ist nicht mehr so, wie sie einmal war. Die Überlebenden müssen um ihre Existenz kämpfen, bizarre Geschöpfe sind durch die Launen der Evolution entstanden oder von den Sternen gekommen und das dunkle Zeitalter hat begonnen.

In dieser finsteren Zukunft bricht Timothy Lennox zu einer Odyssee auf …

Eigentlich wollten Fanlur und Marrela so schnell wie möglich die Suche nach Tim Lennox fortsetzen, doch sie machen überraschend die Bekanntschaft eines weiteren Stammes von Eingeborenen auf dem ehemaligen Island. Und hier lernen sie plötzlich mechanische Wesen kennen, die sich als Götterhelfer gebärden, dabei aber von unglaublicher Grausamkeit sind.

Prolog

„Entscheide dich!“ Borisaas flüsterte, trotzdem übertönte seine Stimme alle anderen Geräusche in dem finsteren Lagerraum.

Die Rumpfplanken ächzten. Von außen klatschten die Wellen gegen die Bordwand. Eng aneinander gedrückt lagen oder hockten sie in vollkommener Dunkelheit. Über ihnen knallten Stiefel auf Holzbohlen. Stimmen riefen Worte in einer unverständlichen, hart klingenden Sprache. Und von irgendwo her aus dem Schiffsrumpf erklang dieses rätselhafte rhythmische Stampfen. Seit Beginn ihrer unfreiwilligen Reise begleitete es sie. Seit fünf Sonnenaufgängen. Die meisten von ihnen achteten schon nicht mehr darauf.

„Du musst dich entscheiden, Suljaana, du musst!“

1

Es roch nach Teer, Schweiß und Urin. Ihr dunkles Gefängnis schaukelte auf und ab. Einige der kleineren Kinder weinten leise vor sich hin. Andere stöhnten im Schlaf. Die älteren waren wach. Alle. Sie saßen an den Wänden, um mit ihren steifen Rücken die Kälte von den Jüngeren fernzuhalten. Fast jeder von ihnen drückte einen oder zwei der kleinen Körper an sich.

Sie lauschten in die Dunkelheit. Borisaas ballte die Fäuste so fest, dass seine Fingernägel sich in die Handballen bohrten. Die Anspannung trieb seinen Herzschlag an.

Nicht dem dumpfen Brausen des Meeres auf der anderen Seite der Bordwand lauschten sie. Nicht den Schritten und fremden Männerstimmen über ihnen. Auch nicht dem Gewimmer der Kleinen und dem für sie unerklärlichen Stampfen. Sie lauschten auf ein Wort von Suljaana. Oder besser: Ihrem Schweigen. Denn noch blieb Suljaana stumm.

„Entscheide dich endlich!“ Borisaas beugte sich in die Richtung, aus der er ihre Atemzüge hören konnte. Hastige, ein wenig rasselnde Atemzüge. „Wirst du es tun?“ Er sprach mit leiser eindringlicher Stimme.

Niemand außer ihm konnte es wagen, Suljaana diese Frage zu stellen – Suljaana war die Tochter der obersten Priesterin der Dreizehn Inseln. Und mit ihren vierzehn Wintern die Älteste unter den siebenundfünfzig verschleppten Kindern und Halbwüchsigen. Nur Borisaas – er hatte dreizehn Winter gesehen – konnte es an Klugheit und Stärke mit ihr aufnehmen. Die anderen akzeptierten beide, als wären sie schon kampferprobte Jungkrieger.

„Suljaana!“, zischte Borisaas. „Sie werden dich gleich holen! Ich frage dich – wirst du es tun?“ Er hätte auch fragen können, ob das Mädchen gleich oder erst später sterben wollte.

„Ja!“ Die zitternde Stimme Suljaanas aus der Dunkelheit. Allen, die wach waren, stockte der Atem. Nicht nur, weil sich die Angst in Suljaanas Stimme auf sie übertrug – normalerweise zitterte sie nicht, Suljaanas Stimme! Es waren vor allem ihre Fantasien über die Folgen von Suljaanas Antwort, die ihnen lähmendes Entsetzen durch die Glieder jagte.

„Ja“, wiederholte Suljaana, diesmal mit festerer Stimme. „Ja, ich werde es versuchen.“

„Gib ihr den Nagel, Dolwuunas“, flüsterte Borisaas. Er sah den Jungen neben sich nicht, aber dessen Ellbogen berührte ihn, während er den Nagel unter seinem Fell hervorkramte. Ein langer rostiger Nagel – ein kleines Mädchen hatte ihn zwischen ein paar leeren Fässern in ihrem Gefängnis hier unter Deck gefunden. Und an den eisernen Fassreifen hatte Borisaas seine Spitze zugeschliffen. Tagsüber, wenn das Stampfen aus dem Schiffsrumpf besonders laut war.

Dolwuunas Hand streckte sich aus, und Suljaana tastete nach ihr. Bis sie den Nagel berührte. Sie schälte sich aus ihrem Fellmantel und steckte ihn zwischen den Lendenschurz und die Haut ihres Gesäßes. Kalt und spitz fühlte er sich an.

Danach sprach keiner mehr ein Wort. Lange nicht. Jeder wusste, was zu geschehen hatte, wenn Suljaana zurück kam. Falls sie zurück kam. Borisaas hatte seinen Plan wieder und wieder erklärt. Bis auch der Ängstlichste unter ihnen begriffen hatte.

Schließlich erklangen Schritte auf der Stiege vor der Tür des Lagerraums. Männerstimmen, raues Gelächter – wie schon in den beiden Nächten zuvor. Wie ein Fiebertraum fiel die Erinnerung über Suljaana her. Ihr abgemagerter, hoch gewachsener Körper versteifte sich, sie schauderte.

Selbst das Schluchzen der kleinen Kinder verstummte. Nur ein dünnes Stimmchen erhob sich plötzlich aus der Dunkelheit. „Wudan geht mit dir, Suljaana, Wudan wird helfen …“ Dann das Scharren des Eisenriegels. Die Tür wurde aufgerissen.

Die Umrisse von vier Nordmännern wurden sichtbar. Einer hielt eine Öllampe in den dunklen Raum. Ihr Lichtschein fiel auf die eng aneinander gekauerten Gestalten. Ein zweiter Mann drängte sich an ihm vorbei. Sein Schatten legte sich auf die jungen Gefangenen, seine Peitsche weckte schlafende Kinder auf. Die am Boden zusammengekrümmten Körper zuckten zusammen, schreckten hoch und wichen den Stiefeln des Mannes aus. Eine Gasse bildete sich.

An ihrem Ende, an der Wand, die der Tür gegenüber lag, saß Suljaana. Die Schultern hochgezogen, die Augen weit aufgerissen, die geballten Fäuste gegen die Brust gepresst sah sie ihm entgegen.

Der Mann beugte sich wortlos zu ihr herunter. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen. Er packte sie am Handgelenk, zog sie hoch und zerrte sie hinter sich her. Vorbei an dem Lampenträger. Dessen Gesicht lag deutlich sichtbar im Lichtschein: Gelblich, lippenlos, mit einem quallenartigen Gewächs statt einer Nase über den braunen Zähnen und kalten leblosen Schlitzaugen. Sie erinnerten Suljaana an die Augen eines Fischs.

Ähnlich die beiden hinter ihm, vor der ausgetretenen Holzstiege: Dem einen hing ein Hautlappen anstelle einer Nase mitten im hohlwangigen Gesicht, der andere hatte zwar eine Nase, dafür aber keine Ohren; quastige Stummel ragten aus seinen Schädelseiten. Alle vier trugen Hosen und Jacken aus erdfarbenem Wildleder und Kurzschwerter in schwarzen Hüftgurten.

Suljaana stolperte hinter dem Mann mit der Peitsche her die Stufen hinauf. Es war Nacht; kalte Seeluft strömte schneidend in ihre Lunge. Hinter sich hörte sie die Tür ins Schloss fallen. Der eiserne Riegel wurde vorgeschoben. Auf der letzten Stufe stürzte sie. Kopf und Spitze des langen Nagels unter ihrem Lendenschurz bohrten sich in ihre Haut. Der Peitschenkerl riss sie hoch. Sein harter Griff um ihr Handgelenk schmerzte.

An der Reling vorbei zerrte er sie über das Oberdeck. Das Meer rauschte, Gischt sprühte Suljaana ins Gesicht. An den Ecken der Deckaufbauten baumelten Öllampen. Ihr ärmlicher Schein sickerte durch die Dunkelheit. Suljaana taumelte hinter dem Peitschenmann her und blickte über die Reling: Das Meer erschien ihr als schwarzes kochendes Nichts. Undeutlich nur sah sie die Umrisse der letzten vorbeiziehenden Eisberge. Drei Sonnenaufgänge lang hatten sie den Dampfer vom Kurs abgedrängt. Wenn du dich losreißen könntest, dachte sie, wenn du über die Reling springen könntest … alles wäre vorbei …

Eine Faust stieß sie von hinten zwischen die Schulterblätter. Der zweite Nordmann trieb sie an, der mit der Lampe. Ein weiterer hielt Wache vor der Tür zum Lagerraum mit den Gefangenen. Im Wechsel von Tag und Nacht lösten sich die Wächter dort ab.

Der Seewind schlug Suljaana das eigene Haar ins Gesicht. Sie blickte in den Nachthimmel. Ein verwaschener Fleck in grenzenloser Schwärze – der Mond. Bizarre Wolkengebilde jagten durch den Lichtfleck hindurch. Und Rauch, der aus den Rohren des Nordmannschiffes stieg. Sie dachte daran, dass Borisaas glaubte, der Rauch hinge mit dem Stampfen aus dem Schiffsrumpf zusammen.

Sie wurde in einen schmalen Gang hineingezerrt. Vor einer Tür blieb der Peitschenmann stehen – vor derselben Tür wie schon in den vergangenen beiden Nächten. Angst und Ekel schnürten Suljaanas Kehle zu. Mit dem Peitschenknauf schlug der Mann gegen die Tür.

Sie wurde aufgerissen. Licht fiel auf das Gesicht des Peitschenmannes. Eine unförmige Beule wölbte sich anstelle des linken Auges aus seinem Gesicht. Hautlappen hingen von spitzen Nasenknorpeln herab. Lange Schneidezähne ragten über seine Unterlippe. Lächerlich sah er von der Seite aus. Doch als er sie packte, um sie durch die Tür zu schieben, sah Suljaana sein rechtes Auge. Ein großes eisgraues Auge voll kalter Grausamkeit.

Sie taumelte in einen von zwei Öllampen erhellten Raum und stürzte auf die Holzplanken. Die Männer palaverten an der Tür. Sie drehte sich um und sah den Rücken des Mannes, der diesen Raum bewohnte. Ein Eisschauer rieselte ihr über den Rücken. Wie sie ihn fürchtete, diesen Kerl, wie sie ihn hasste …

Ein rötlicher Haarzopf lugte aus seinem schwarzen Lederhelm. Schwarz auch und aus Leder war der Mantel, den er trug. Ein breiter roter Streifen zog sich über den Rücken. Suljaana wusste, dass der Schwarze der Schiffsführer war. Und sie hatte gespürt, wie die anderen ihn fürchteten.

Sie verstand nicht, was die Männer redeten, natürlich nicht. Sie verstand aber, dass der Schwarze den Einäugigen Turkaz nannte. Er verscheuchte den Peitschenmann und den anderen mit einer heftigen Armbewegung. Dann schlug er die Tür zu, schob den Riegel vor und drehte sich um.

Sein schwarzer Helm ging an der Vorderseite in eine Maske über, die bis in Nasenhöhe hinab reichte. Durch die Seeschlitze konnte Suljaana die Augen erkennen. Grünliche Augen – Suljaanas Albträume der vergangenen zwei Nächte waren voll von ihnen gewesen.

Mit einer Handbewegung bedeutete er ihr aufzustehen. An einem Hocker zog sie sich hoch. Ihre Knie zitterten, ihre Unterlippe bebte. Du musst stark sein, Suljaana, dachte sie, ganz stark!

Mit einem Schritt war er bei ihr. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und wich bis zur Wand zurück. Ihre Gedanken flohen zu ihren Leidensgenossen in dem dunklen Lagerraum. Vielleicht sind sie direkt unter mir …

Über vierundsechzig waren sie gewesen, als die Nordmänner sie vor sechs Sonnenuntergängen auf ihren Kahn geschleppt hatten. Drei kleine Kinder und vier Mädchen, nur wenig jünger als Suljaana selbst, waren seitdem gestorben oder umgebracht worden. Tu es, sagte eine Stimme in ihr. Stirbst du, dann musst du wenigstens das Elend nicht länger ertragen.

Der Mann öffnete seinen schwarzen Mantel und ließ ihn zu Boden fallen. Darunter trug er eine schwarze Lederweste – ebenfalls mit balkenartigen roten Streifen gezeichnet – und ein braunes sackartiges Hemd. Er zog die Weste aus. Die Augen in den Sehschlitzen ließen Suljaana nicht los.

Mit einer einzigen Handbewegung riss er ihr den Fellmantel vom Leib. Suljaana machte erst gar nicht den Versuch ihre Blöße mit den Armen zu bedecken. Nur in der ersten Nacht hatte sie versucht sich zu wehren. Sein Mund verzog sich zu einem Grinsen. Er legte die Hände auf ihre Schultern und schob sich an sie heran. Sein Atem stank nach Fisch.

Sein Maskengesicht verschwamm vor Suljaanas Blick. Ihre Gedanken kreisten um Borisaas. Seine Stimme füllte ihren Kopf aus. Taste über seine Rippenbögen … auf der linken Seite schräg nach oben … es ist schwerer als du es dir vorstellen kannst … du wirst deine ganze Kraft brauchen!

Sie legte ihre Rechte auf die Brust des Mannes. Unter dem groben Stoff des Hemdes ertastete sie seine Rippen.

Das Grinsen des Mannes schien noch breiter zu werden. Er missdeutete Suljaanas Geste und stieß ein zufriedenes Grunzen aus. Langsam beugte er sich über das Mädchen.

Suljaana hatte längst den Nagel aus ihrem Lendenschurz gezogen. Jetzt bog sie den linken Arm hinter sich, holte aus –

– und stieß mit aller Kraft zu!

Mit einem hässlichen Knirschen fuhr das Eisen ins Herz des Mannes. Suljaana spürte, wie ihn ein Zucken durchlief und er starr wurde. Nichts als ein Röcheln kam über seine Lippen.

Suljaana hielt ihn, als er langsam nach unten zu rutschen begann, damit er nicht auf dem Boden aufschlug. Sie starrte den Nagelkopf an – schräg nach unten gerichtet ragte er unter dem linken Rippenbogen des Sterbenden heraus, etwa eine Handbreite. Sie wunderte sich, weil nur wenig Blut aus der Einstichstelle in den Hemdstoff sickerte. Der Nagelkopf zuckte im Rhythmus der letzten Herzschläge. Der Kopf des Maskierten fiel auf seine Brust. Die Zuckungen des Nagelkopfes hörten auf.

Das Mädchen drehte sich um und ließ den Toten gegen ihren Rücken kippen. Auf den Knien rutschend schleppte sie ihn zu seinem Lager und wälzte ihn hinauf. Sie deckte die Leiche zu, zog ihr das Kurzschwert aus dem Gurt und legte sich neben sie. Borisaas hatte ihr eingeschärft, das zu tun. Er rechnete damit, dass es Männer unter der Besatzung gab, die sich einen heimlichen Blick durchs Kajütenfenster nicht verkneifen konnten.

Suljaana legte das Schwert des Toten auf ihre nackte Brust und hielt es umklammert. Bis in die letzten Nachtstunden hinein würde sie auf dem Lager des Schiffsführers liegen bleiben. Borisaas wollte es so!

2

Schmutziges Rot schob sich am Horizont in den Nachthimmel. Gischt spritzte über die Reling. Das rhythmische Stampfen aus dem Schiffsrumpf klang gedämpft. Nachtsüber drosselten die Nordmänner die Geschwindigkeit. Der kastenartige Kahn schaukelte im stürmischen Wellengang. Der Wind riss die Rauchschwaden von den Eisenrohren auf das Oberdeck herab. Es roch nach Feuer. Suljaana tastete sich an den spröden Holzdielen der Deckaufbauten entlang. Keine Nachtwache der Nordmänner zu sehen bisher.

Unter dem Fellmantel trug sie jetzt ein Hemd aus groben Stoff. Sie hatte es in der Kajüte des Schiffsführers gefunden. Seinen schwarzen Gurt hatte sie sich um die schmale Taille geschnallt. Alle Waffen, die sie in der Kajüte des Toten gefunden hatte, steckten darin: Drei Messer, ein kurzstieliges Beil, ein Schwert mit schmaler Klinge. Das Kurzschwert des Ermordeten hielt sie mit beiden Händen unter ihrem Fellmantel fest.

Ein Holzgeländer schälte sich aus der Dunkelheit: Die Stiege, die hinab in den Lagerraum führte. Sie blickte zurück, nach oben zur Kommandobrücke, spähte um die Ecke der Deckaufbauten. Nirgends die Spur eines Nordmannes. Doch Suljaana wusste, dass nicht die ganze Besatzung – etwa dreißig Mann insgesamt – schlief. Wie viele wohl auf der Kommandobrücke Wache hielten? Doch mehr als einer bestimmt. Auch vorn am Bug beobachtete ein Mann das nächtliche Meer. Und im Rumpf des Schiffes, dort wo es Tag und Nacht stampfte, mussten auch zwei oder drei Nordmänner wach sein. Und schließlich die beiden Wächter vor der Tür des Lagerraums.

Suljaana ging in die Knie, legte sich flach auf den Boden und robbte dem Stiegenabgang entgegen, bis sie durch die Geländerholme zur Tür hinabspähen konnte. Der Wächter! Er lehnte gegen die Tür und stützte sich auf sein Schwert.

Suljaana presste ihre Stirn gegen das nasse Holz der Deckplanken. Fieberhaft überlegte sie, wie sie sich verhalten sollte. Sie entschied sich schließlich dafür, einfach die Stiege hinunterzugehen. Als hätte der Schiffsführer sie wieder zurückgeschickt. Der Wachmann würde ihr glauben, oder nicht? Würde den Riegel öffnen und sie hinein zu den anderen lassen. Und dann …

Plötzlich klangen Schritte auf. Suljaana hob den Kopf. Der Wächter war aufgestanden und stapfte die Stiege hinauf. Wild schlug Suljaanas Herz in ihrer Kehle. Sie sah, dass der Mann sein Schwert auf der untersten Stufe zurückgelassen hatte.

Sie drückte sich flach auf die Planken. Jetzt packte der Mann den Holm des Geländers und zog sich die letzte Stufe hinauf. Er schlurfte zur Reling. Wie ein Schlaftrunkener wankte er. Suljaana kniff die Augen zusammen und versuchte zu erkennen, was der Mann an der Reling zu schaffen hatte. Er fummelte vor seinem Bauch herum. Seine Beinkleider rutschten ein Stück über sein Gesäß. Suljaana hörte den Urinstrahl nicht plätschern – dazu brauste die See zu laut – aber sie wusste jetzt, dass er sein Wasser abschlug.

Eine Sturmböe fegte über Deck. Der Mann wankte und stellte sich breitbeiniger hin, um dem Wind zu trotzen. Suljaana schluckte trocken. Ein Gedanke füllte ihr Hirn aus und ließ sich nicht mehr verdrängen. Ein verrückter Gedanke, doch sie erkannte ihre Chance.

Sie ging in die Hocke und zog das Kurzschwert aus dem Mantel. Tief atmete sie durch. Behutsam richtete sie sich auf und schlich an den Wächter heran. Wie einen Speer hob sie die Klinge über den Kopf. Die letzten vier Schritte nutzte sie, um Anlauf zu nehmen …

Ein leises Ächzen. Der Wächter sackte mit dem Kopf voran über die Reling. Die Klinge glitt wie von selbst aus seinem Rücken. Ängstlich sah Suljaana sich um. Keine Schritte, keine Stimmen. Geschafft.

Sie musste nur die Knie des Toten umfassen und ihn ein wenig anheben, um ihn über Bord gehen zu lassen. Sie konnte den Aufschlag seines Körpers im Wasser kaum vom Rauschen der Wogen unterscheiden.

Suljaana schlich zur Stiege, eilte die kurze Treppe hinab und zog den Riegel zurück.

Gestank und stickige Luft schlugen ihr aus dem in einen Kerker verwandelten Lagerraum entgegen. Der Dunkelheit wegen konnte Suljaana nichts sehen. Doch sie hörte Felle rascheln, hörte Füße scharren, hörte dutzendfaches Seufzen.

Jemand packte sie bei den Schultern und zog sie an sich. Sie spürte einen warmen Körper, sie hörte ein Herz schlagen. Und dann Borisaas Flüsterstimme: „Suljaana … meine tapfere Suljaana!“ Tränen stürzten ihr aus den Augen.

„Hast du Waffen?“ Dolwuunas ließ ihr keine Zeit, die plötzlich abgefallene Spannung herauszuweinen. Der Junge tastete ihren Mantel ab. Der Kampf hatte gerade erst begonnen!

Borisaas und drei Knaben von nicht einmal neun Wintern schlichen zum Bug des Nordmannschiffes, um den Wächter dort auszuschalten. Suljaana, Dolwuunas und einige andere Halbwüchsige kletterten auf die Kommandobrücke. Sie wussten, dass sie nichts zu verlieren hatten. Sie alle wussten das. Mit dem Mut der Verzweifelten fielen sie über den Steuermann und seinen Gehilfen her.

Sie raubten den Toten ihre Waffen. Anschließend drangen sie in die Schlafgemächer der Besatzung ein.

3

Die Elektromotoren summten im Rumpf der Twilight of the Gods. Vom Heck her dröhnten die beiden Luftpropeller. Aus den Augenwinkeln beobachtete Fanlur die Konsole mit den Armaturen. Die vielen Lichter, Digitalanzeigen und Zeiger waren ihm noch lange nicht vertraut. Gestern erst waren sie von den Dreizehn Inseln aus in See gestochen.

Wulf, der weiße Lupa lag zwischen Konsole und Kapitänssessel auf dem Boden und schlief. Hin und wieder sackte das Luftkissenboot in ein Luftloch. Fanlur hatte sich inzwischen an diese Momente gewöhnt, in denen er glaubte, seine Eingeweide würden sich ihm in die Kehle drängen.

Er sondierte das Material aus einer der Leichtmetallkisten, die hier oben an der Rückwand der Kommandobrücke gestapelt waren. Trockennahrung und Decken fand er, Medizin, chirurgische Instrumente, Munition, primitive Gewehre, Sauerstoffflaschen und Taucheranzüge aus Neopren.

Nur oberflächlich hatte er die Ausrüstung des Schiffes in der vergangenen Woche gesichtet. Die Armaturenkonsole und der Maschinenraum der Twilight of the Gods hatte seine ganze Aufmerksamkeit beansprucht. Der letzte Besitzer des Fahrzeugs, Jacob Blythe, hatte keine Gebrauchsanleitung hinterlassen. Alles, was er in der Community von seinem Vater gelernt hatte, sein ganzes Wissen, musste Fanlur aufbieten, um dem Schiff seine Geheimnisse zu entreißen. Marrela war ihm dabei keine große Hilfe.

Die Navigations- und Steuerungselektronik hatten ihm noch die geringeren Probleme bereitet. Der Computer funktionierte zwar nicht auf DNS-Basis wie die Rechner, die er aus den Communities kannte, aber so viel Ahnung von Wissenschaftshistorik hatte Fanlur, um zu wissen, dass die Alten vor Alxanatan Rechner mit Mikroschaltkreisen gebaut hatten. Und selbst wenn er es nicht gewusst hätte – das Ergebnis unterschied sich nur in seiner Visualisierung auf dem Monitor und in der Geschwindigkeit seines Zustandekommens.

Was ihn jedoch viele Tage Zeit gekostet hatte, waren die Motoren des Fahrzeuges. Dass es Elektromotoren waren, hatte ihm die Analyse des kleinen Trilithiumrechners enthüllt, den ihm sein Vater Leonard Gabriel anvertraut hatte.

Das handtellergroße, scheibenförmige Gerät konnte wegen der CF-Strahlung zwar keine Verbindung mit der Zentralhelix der Community Salisbury mehr aufnehmen – nicht einmal zwanzig Kilometer vermochte es zu überbrücken, und Salisbury lag gut tausend Kilometer entfernt. Der T-Computer arbeitete aber auch als autarke Recheneinheit zuverlässig und schnell.

Woher gewannen die Motoren den Strom, der sie antrieb? Trilithiumbatterien waren nirgends zu finden gewesen. Auch keine Geräteverkleidung, die auf einen antiken Generator hindeutete. Erst vor drei Tagen hatte Fanlur das Rätsel der beiden Maschinenblöcke neben dem Elektromotor lösen können: Es handelte sich um zwei Brennstoffzellen, in denen Wasserstoff mit Sauerstoff reagierte und die auf diese Weise Strom produzierten. Und Wasser als Nebenprodukt.

Die Anlage zur Wasserstoffgewinnung konnte er mit Hilfe des T-Rechners schnell analysieren. Wasser gab es in Hülle und Fülle. Fanlur rechnete sich gute Chancen aus, mit der Twilight of the Gods die lange Reise nach Meeraka bewältigen zu können.

Sein Blick wanderte zufrieden über die Ausrüstungsgegenstände. Er hatte sie zwischen Sesselzeile und Rückwand ausgebreitet. Vor allem die Trockennahrung würde ihnen vermutlich noch gute Dienste erweisen. Marrela war zwar eine geschickte Fischerin – geschickter als Fanlur – aber auf hoher See fing selbst sie nicht jeden Tag etwas.

Er sah zur Tür der Kommandobrücke. Marrela war noch immer nicht zurückgekehrt. Auf welchem Teil des Luftkissenbootes mochte sie sich aufhalten? Er ging zur Instrumentenkonsole. Der Autopilot war eingeschaltet. Das Radar zeigte keine Hindernisse auf dem einprogrammierten Kurs – keine Eisschollen, keine Klippen, keine Inseln. Vor den Frontfenstern war noch immer dunkle Nacht. Manchmal klatschte Gischt von der Bugwelle gegen das Kunstglas.

Er lief zur Tür und verließ die Kommandobrücke. Der Lupa hob den Kopf, sprang auf und folgte seinem Herrn.

An der Stahlreling entlang hangelte der ganz in Fell gehüllte hoch gewachsene Mann sich heckwärts auf das Dach über dem Passagierraum. Eiskalter Wind ließ sein langes Grauhaar flattern. Am östlichen Horizont mischte sich ein milchiger Streifen in das Schwarz der zu Ende gehenden Nacht. Vor diesem Streifen zeichnete sich die Silhouette einer menschlichen Gestalt ab. Reglos stand sie an der Dachreling und blickte über die runden Stahlhülsen der Luftpropeller hinweg nach Osten. Windböen rissen an ihrem Haar, am Fell ihres Mantels.

„Marrela!“, rief Fanlur. Sie hörte ihn nicht. Zu laut war das Dröhnen der Propeller.

An der Reling entlang tastete er sich über das Dach. Das Getöse der Propeller schwoll an, Fahrtwind im Rücken drückte ihn förmlich heckwärts. Endlich stand er neben ihr. Sie wandte nicht einmal den Kopf. Ihre schönen Züge schienen versteinert, ihre Kiefermuskulatur zuckte.

Fanlur ahnte, was in ihr vorging. Nicht den schmutzigen Sonnenaufgang, der bald einen neuen Wintertag heraufführen würde, wollte sie beobachten. Das, was ihr inneres Auge fern im Osten noch sah, war für Fanlur längst nicht mehr zu erkennen. Nicht einmal für das Radar auf der Kommandobrücke. Die Inseln, die sie schon vor Stunden verlassen hatten. Die Dreizehn Inseln – Marrelas alte Heimat. Der Abschied setzte ihr zu. Sie hatte kein Wort mit ihm gesprochen, seit sie in See gestochen waren.

Es war aussichtslos, sich bei dem Lärm, den die Propeller verursachten, verständigen zu wollen. Fanlur fasste Marrelas Oberarm und machte Anstalten, sie von der Heckreling wegzuziehen. Wenn es hell würde, brauchte er sie auf der Kommandobrücke.

Sie wandte ihm den Kopf zu. Trotz der Dunkelheit meinte er ihre Augen blitzen zu sehen. Dann schüttelte sie seine Hand ab und trat einen Schritt zur Seite.

Fanlur stieß einen Fluch aus. Noch nicht allzu lange kannte er die junge Frau. Während des kurzes Krieges gegen die Nordmänner bei London hatte er sie kämpfen gesehen. Das war vor seiner schweren Verwundung gewesen. Danach hatte er sie längere Zeit aus den Augen verloren.

Seit einem halben Mond aber tat Fanlur kaum noch einen Atemzug, ohne ihre Stimme zu hören und ihr Gesicht zu sehen. In Plymeth hatte er sie aus den Fängen des wahnsinnigen Wissenschaftlers Jacob Blythe befreit. Dann die Flugreise im Helikopter ins Nordland und der Kampf gegen die Invasoren. Seite an Seite mit Marrelas Volk hatten sie die Nordmänner vertrieben und Blythe überlistet. Wie es schien, hatte ihn eine Eisbestie gefressen.

Marrela war eine hartnäckige und eigensinnige Frau – bei Wudan, das war sie! Hartnäckiger und eigensinniger als Fanlur es sich vorgestellt hatte. Und als es ihm lieb war. Er wandte sich ab und stemmte sich gegen den Fahrtwind, um zurück zur Kommandobrücke zu gehen. In den Tagen vor dem Aufbruch waren sie sich ein paar Mal in die Haare geraten.

Der Lupa begann plötzlich zu bellen, sah zu Fanlur zurück, wandte sich wieder der Kommandobrücke zu und bellte erneut. Bald hörte es auch Fanlur – der akustische Alarm! Er beschleunigte seinen Schritt.

Zurück auf der Kommandobrücke flog sein Blick über die Armaturen. Ein rotes Licht neben dem Radarschirm blinkte. Der Suchstrahl glitt rhythmisch über einen grünen Punkt. Wulf stand neben ihm auf den Hinterläufen. Die Vorderpfoten lagen auf der Instrumentenkonsole. Er kläffte den Monitor an.

Fanlur schaltete den akustischen Alarm aus. Seine Finger glitten über die kleine Tastatur seines T-Rechners. Er hatte ihn mit dem Prozessor des Navigationsrechners verbunden. Wulfs Gekläff verstummte endlich. Plötzlich spürte Fanlur die körperliche Nähe eines Menschen. Er drehte sich um und blickte in Marrelas braune Augen.

Sie stand an der offenen Tür. Ihre bronzefarbene Gesichtshaut war von der Kälte gerötet. Schweigend betrat sie die Kommandobrücke und zog die Tür hinter sich zu. Fanlur sah sie an.

„Du trauerst“, sagte er. „Diesmal hat dich niemand gezwungen, dein Volk zu verlassen. Du hättest bleiben können.“

„Was gehen dich meine Gefühle an?“ Sie trat neben ihn an die Konsole mit den Navigationsinstrumenten.

„Wenn wir Meeraka je erreichen wollen, brauche ich einen Menschen mit einem klaren Kopf und einem starken Herzen an meiner Seite. Ich fürchte, du hast deins auf den Dreizehn Inseln zurückgelassen.“

„Du weißt nicht, was du redest“, beschied sie ihm kühl. „Als ich meine Heimat zum ersten Mal verließ, war ich ein kleines Mädchen in den Händen einer fremden Horde. Ich hatte keine Zeit, Abschied zu nehmen. Todkrank wurde ich damals.“ Sie seufzte bitter. „Achtzehn Winter ist das her, fast neunzehn. Jetzt aber habe ich Zeit, Abschied zu nehmen. Zeit, mich meiner Trauer hinzugeben. Na und?“ Sie wies auf den Radarschirm. „Was bedeutet das?“

Fanlur beachtete ihre Geste nicht. Noch immer sah er sie an. Er wusste, was es bedeutete, Abschied zu nehmen – o ja, das wusste er. Er selbst war zwölf gewesen, als er die Community und seinen Vater verlassen hatte, um auf eigene Faust das Festland zu erreichen und nach Mutter und Schwester zu suchen. Viele Winter lang war er am Großen Fluss und den Gebirgen entlang seines Ufers unterwegs gewesen, bevor er in Coellen das Schicksal der Frauen aufklären konnte. Nicht einmal Gräber waren von ihnen übrig geblieben.

Und dann die lange Zeit in den Wäldern um Coellen, der Kampf gegen die Bruderschaft der Scheußlichen Drei. Und vor wenigen Monden erst wieder ein Abschied.

„Ich weiß, was du fühlst“, sagte er leise. „Trotzdem: Bist noch immer entschlossen, Tinnox zu suchen? Meeraka ist sehr weit …“

„Niemand weiß wirklich, was der andere fühlt“, unterbrach sie ihn schroff. Hartnäckig deutete sie auf den Radarschirm. „Was hat das zu bedeuten?“

Fanlur gab auf. Er wandte sich den Navigationsinstrumenten zu. „Ein Objekt in Richtung Sonnenuntergang.“

„Was ist ein Objekt?“

„Ein Eisberg, ein Schiff, was weiß ich – eine Insel kann es nicht sein.“

„Woher willst du das wissen?“

Fanlur tippte auf der Minitastatur des T-Rechners herum. Manchmal verdrossen ihn ihre kritischen Fragen. Die Männer aus Coellen, die er in den Widerstandskampf gegen die Bruderschaft geführt hatte, pflegten nie solche Fragen zu stellen. „Weil es vorhin noch nicht auf dem Radarschirm zu sehen war.“ Eine Zahl erschien auf dem Display des Trilithiumcomputers. „Es liegt auf unserem Kurs – am Ende der Passage, die uns aus dem Kalten Sund in das Nordmeer hinaus führt. Ziemlich genau achtundvierzig Seemeilen entfernt.“

„Wie viele Speerwürfe sind das?“, wollte Marrela wissen.

„Zehntausende.“

„Und wann erreichen wir das Ding?“

„Wenn wir in dieser Geschwindigkeit weiterfahren, nicht vor der Mitte des neuen Tages. Aber sobald es hell wird, können wir beschleunigen. Falls wir nicht in ein Eisschollenfeld geraten.“

4

Grau kroch die erste Morgendämmerung in die Höhle. Thul’anymo klammerte sich im Rückenfell eines der beiden Reenas fest und richtete sich auf. Eisklumpen hingen im Pelzsaum seiner Kapuze. Gefrorene Feuchtigkeit seiner Atemluft. Die Tiere, zwischen denen er geschlafen hatte, stießen meckernde Laute aus und schüttelten sich. Er stand auf und trat vor die Höhle.

Am Horizont ging die Schwärze der Nacht schon in bleiches Frühlicht über. Es war noch dunkel, aber Thul’anymo konnte die Hand vor seinen Augen erkennen. Sie steckte in einem dicken Pelzhandschuh. Auch die Konturen riesiger Treibeisblöcke sah er tief unter sich im Meer. Wie riesige schlafende Tiere kauerten sie sich an den Fuß des Gletschers. Den Wasserfall sah Thul’anymo nicht, aber er hörte ihn rauschen.

Er holte den Schlitten aus der Höhle – ein einfaches Holzgestell mit Reena-Haut bespannt und mit weit hochgebogenem Bug. Thul’anymo rollte Proviant, Werkzeug und Holz in sein Fell und band es auf den Schlitten. Den Speer befestigte er am Bugbogen, sodass die Spitze nach oben ragte. Er spannte die Reenas vor den Schlitten, hing sich Bogen und Köcher um die Schulter und trieb die Tiere an. Der Schlitten setzte sich in Bewegung und pflügte durch den Schnee.

Der zweite Tag seiner einsamen Fahrt begann. In langgezogenen Serpentinen führte der Pfad am Hang des schneebedeckten Vulkankegels entlang, zum Hauptkrater hinauf. Dorthin, wo Thul’anymo die Götterboten treffen wollte.

In Richtung des Sonnenaufgangs war der Himmel schon so fahl wie das Gesicht eines Sterbenden, als der Göttersprecher den Rand des kleineren Seitenkraters erreichte. Felsen und sogar spärliches gelbes Gras zeigten sich immer häufiger in der Schneedecke. Das Gestein war warm hier oben, wärmer als unten in der Ebene. Bald fand der alte Mann keinen durchgängigen Schneepfad mehr, über den er seinen Schlitten lenken konnte.

Thul’anymo stieg ab, band die Reenas los, packte sich das Fellbündel auf den Rücken und schulterte seinen Speer. Er kraulte die Tiere unter dem Kinn und flüsterte ihnen Beschwörungsformeln in die Ohren. Sie würden warten, bis er vom Gipfel zurückkehrte.

Dann stieg er über Geröll und erkaltete Lavabrocken zum Hauptkrater hinauf. Keinen Augenblick zweifelte er daran, eine Abordnung der Son’flais dort oben zu treffen, eine Abordnung der Götterboten. Thul’lan’aizir selbst hatte zu ihm gesprochen. Im Traum, vor vier Nächten. Steig zu mir auf den Hvuravellir, hatte die Stimme des Gottes gesagt, meine Boten erwarten dich dort.

Immer seltener traten die Fellstiefel Thul’anymos in Schnee. Über ihm schälte sich der Kraterrand aus der Dämmerung. Dampfwolken stiegen aus ihm in das dunkle Firmament der zurückweichenden Nacht.

5

Er hörte es, noch bevor er den Rand des Hauptkraters erreichte. Es klang, als würden viele Hände rasend schnell auf ein zum Trocknen ausgespanntes Fell schlagen. Oder als würden tausende Lederfetzen an Stangen gebunden im Sturm flattern. Thul’anymo blieb stehen und lauschte.

Es kam aus dem Krater, natürlich, woher sonst? Thul’anymo blickte hinauf zu dem Felsgrat etwa dreihundert Schritte über ihm. Kreisrund zog er sich um den Krater. Deutlich zeichnete sich inzwischen die Rauchwolke aus dem Vulkan gegen den düsteren Morgenhimmel ab.

Es schwoll an, das Geschwirr und Getrommel, brach sich im Inneren des Felskegels an den Steilwänden, erfüllte dann schlagartig den Himmel über dem Gipfel, und hallte von den Hängen wider.

Nur ihre Schatten sah der Göttersprecher zunächst. Zu einer kleinen dunklen Wolke zusammengeballt schälten sie sich aus dem Rauchpilz über dem Vulkan. Doch bald konnte Thul’anymo die einzelnen Körper unterscheiden: Langgestreckte Leiber, umgeben vom schwirrenden, nebelhaften Tanz ihrer Flügel.

Sie kamen zu siebt. Sie kamen meistens zu siebt. Dann jedenfalls, wenn Thul’lan’aizir sie aussandte, um mit seinem Diener Thul’anymo zu reden. Wenn es ernst wurde, schickte der Gott auch sieben mal sieben Son’flais aus. Und wenn sein Gegenspieler, der grausame Dämon Liob’hal’bakor zu einem neuen Vernichtungsschlag gegen Thul’anymos Volk ausholte, schickte Thul’lan’aizir sogar siebzig Boten in den Kampf. Aber das kam nicht oft vor. Nur einmal hatte der Göttersprecher das bisher erlebt.

Sechs von ihnen landeten etwa einen Speerwurf entfernt von Thul’anymo. Einer drehte eine Runde über ihm und setzte dann drei Schritte vor ihm auf.

Thul’anymo ließ Fellbündel und Speer fallen. Er nahm den Bogen von der Schulter und ging in die Knie. „Dein Diener Thul’anymo ist gekommen, wie du es geboten hast!“, rief er mit heiserer Stimme. „Hier bin ich, Thul’lan’aizir, hier bin ich und höre!“

Der Son’flai legte seine drei Flügelpaare zusammen und breitete sie über seinen von bräunlichen Schuppen bedeckten Körper. Er überragte den knienden Göttersprecher nur wenig, war also etwas niedriger als ein Reena. Doch sein dreigliedriger, spindelförmiger Körper wirkte wesentlich länger als der des Zugtieres.

Sechs Beine hatte der Son’flai. Dreigliedrige Beine, nicht viel kräftiger als der Schaft eines Kampfspeeres. Das körpernächste Glied ragte fast steil nach oben, die anderen beiden im spitzen Winkel nach unten zum Boden. Dort verdickten sie sich etwas und mündeten in eine dreizehige Kralle. Bei genauem Hinsehen konnte Thul’anymo erkennen, dass auch die Beine von unzähligen winzigen Schuppen überzogen waren.

Der riesige dreieckige Schädel des Son’flais – ebenfalls langgestreckt und voller brauner Schuppen – pendelte auf und ab, als wollte er nicken. Seine schwarzen Facettenaugen bedeckten fast die gesamten Schädelhälften. Eine feine Schuppenhaut überzog sie halb – milchig und von feuchtem Glanz.

An der unteren, spitzen Seite des Schädels zuckte etwas Zangenartiges – die Beißwerkzeuge des Son’flais. Und oberhalb der Augen ragte je ein Fühler aus dem Schädel, fast so lang wie ein Speer. Daumendick an der Stelle, wo sie aus den Schuppen traten, verjüngten sie sich mehr und mehr und endeten schließlich in fast haarfeinen Spitzen. Die wippten auf und ab, während der Son’flai seinen Schädel bewegte.

Das Wesen setzte sich ruckartig in Bewegung. Erde und Gestein knirschten unter seinen Fußkrallen. Vor dem Göttersprecher verharrte es wieder bewegungslos. Sein linker Fühler senkte sich langsam herab, bis er die Stirn des alten Mannes berührte.

Thul’anymo spürte ein Kribbeln an der Stelle, wo der Fühler gegen seine Stirnhaut drückte. Es verstärkte sich zu einem Summen. Wärme strömte in seinen Schädel.

„Sprich, barmherziger Gott!“ Thul’anymo neigte den Kopf und hob dabei die Handflächen gegen den Vulkankegel. Der Fühler des Son’flais wich nicht von seiner Stirn. „Sprich, Thul’lan’aizir – dein Diener lauscht deiner Stimme …“ Thul’anymo schloss die Augen. Und wartete. Nicht lange, und das Summen in seinem Schädel verwandelte sich in eine Stimme.

6

Wie glühende Asche lag der neue Morgen über dem östlichen Horizont. Das Meer darunter verwandelte sich in schäumendes Blut. Über der Farberuption der aufgehenden Sonne zerfaserte der Himmel in violette Fetzen, die mehr und mehr im dunklen Grau verschwammen.

Fanlur und Marrela standen an der Dachreling und beobachteten das Naturschauspiel. Nur wenige Atemzüge lang dauerte es. Dann sog das dunstige Einerlei des Winterhimmels die Farben aus Wasser und Wolken. Der neue Tag brach an.

Zurück auf der Kommandobrücke fuhr Fanlur die Maschine hoch. Die Twilight of the Gods gewann an Fahrt. Noch immer war der grüne Leuchtpunkt auf dem Radarschirm. 39,7 Seemeilen Entfernung, verriet das Display des T-Rechners.

Sie tranken Wasser und aßen geräucherten Fisch. Wulf, der Lupa knurrte unwillig. Doch der Hunger zwang ihn schließlich, die ungewohnte Nahrung herunter zu schlingen.

Immer wieder signalisierte die Navigationselektronik Küstennähe. Fanlur durchforstete den Rechner nach Seekarten. Er fand fast ausschließlich unbrauchbares Material – Karten aus der Zeit vor Alxanatan.

Damals, vor vielen hundert Jahren musste man ein Wasserfahrzeug durch unzählige Meeresengen steuern, um ein Land, das die Alten Dänemark nannten, zu umschiffen. Ein anderer Weg führte nicht aus dem Kalten Sund ins Nordmeer hinaus.

Die apokalyptische Katastrophe hatte dieses Land in unzählige kleine Inseln verwandelt. Keine einzige Karte fand Fanlur, die den Küstenverlauf nach Alxanatan dokumentierte. Wie auch? Selbst der ebenso geniale wie wahnsinnige Blythe würde wohl nie Gelegenheit gehabt haben, die inselreiche Passage vom Kalten Sund in das Nordmeer zu kartografieren. Nicht mal eine Skizze konnte Fanlur aus den Tiefen der Datenbank ausgraben. Also musste er sich auf das Navigationssystem der Twilight of the Gods verlassen. Und auf seine Augen.

Nach etwa vierzehn Seemeilen war Fanlur gezwungen, den Elektromotor zu drosseln: Eisschollen kamen in Sicht. Nicht einfach nur flache Scheiben, sondern Kegel, so hoch wie das Schiff selbst. Fanlur wagte es nicht, die Twilight of the Gods über sie hinweg schweben zu lassen.

Bald trieben sie backbords und steuerbords vorbei, manche nicht weiter als einen halben Speerwurf entfernt. Fanlur manövrierte das Boot auf einem Zickzack-Kurs durch das Schollenfeld. Die Stunden flogen dahin.

Gegen Mittag endlich lag das Treibeis hinter ihnen. Und die Inselgruppen zwischen Euree und dem Nordland ebenfalls. Das Nordmeer weitete sich bugwärts. Fanlur beschleunigte die Twilight of the Gods. Die Entfernung zu dem Objekt auf dem Radarschirm schrumpfte zusehends. Noch knapp drei Seemeilen betrug sie, als Fanlur sein Binokular an die Augen setzte und den Horizont absuchte. Er entdeckte eine Rauchfahne.

Wortlos reichte er Marrela das Gerät. „Was ist das?“, zischte sie. „Ein Nordmannschiff?“

„Ja.“ Fanlur beugte sich über die Tastatur des Navigations-Computers. Seine Finger hämmerten in die Tasten. Eine der alten Seekarten flimmerte auf dem Monitor. Fanlur dachte nicht daran, sich auf sie zu verlassen, doch sie bot wenigstens Anhaltspunkte zur Orientierung. Er prägte sich die Kurskoordinaten ein. Wieder bearbeitete er die Tastatur.

Marrela setzte das Glas ab. „Was tust du?“

„Ich ändere unseren Kurs.“

„Warum das?“ Eine steile Falte grub sich zwischen ihre Brauen.

„Um ihnen auszuweichen.“

Marrela fasste seinen Unterarm und zog seine Hand von der Tastatur weg. „Ausweichen? Ich will ihnen nicht ausweichen!“ Sie blickte sich um. An einem Wandhaken neben der Tür hingen zwei Gewehre: Marrelas Armbrustwaffe aus dem Bunker des Feuerrohrpriesters von Kalskroona und Fanlurs Laserbeamer. „Mit deinem Blitzrohr kannst du sie vernichten!“

„Willst du weiter ins Nordmeer hinaus und nach Meeraka, oder willst du Krieg führen?“ Fanlur musterte ihr hartes Gesicht. Hass spiegelte sich darin. Wie ein zerfetzter Schleier legte er sich über ihre Züge und verhüllte die Schönheit darin.

Fanlur mochte es nicht, wenn sich ihre Miene so verhärtete. Er mochte dieses faszinierende Frauengesicht, wenn es entspannt und heiter war. Vielleicht noch, wenn sich Trotz und Eigensinn in seinen Zügen spiegelten. Dann mochte er es sogar mehr, als er sich selbst eingestehen wollte.

„Hast du nicht mit eigenen Augen gesehen, was sie meinem Volk angetan haben?“, fauchte Marrela. „Hat dein Freund Honnes dir nicht berichtet, wie sie ihn gequält haben? Hast du noch immer nicht begriffen, dass sie grausam und blutgierig sind? Steuere das Boot auf sie zu! Ich will, dass du sie versenkst! Ich will es!“

„Rachedurst ist der Anfang der Grausamkeit“, sagte Fanlur leise. Er machte sich von ihr los und fuhr fort, die Kursänderung einzutippen.

Marrela schob sich zwischen ihn und die Instrumentenkonsole. Ihre Hände schlossen sich um seine Oberarme. „Jedes ihrer Schiffe auf den Meeren ist ein Schiff zu viel!“ Sie blickte zu ihm empor. Ihre braunen Augen loderten. Fanlur meinte einen grünen Schimmer in ihnen zu erkennen.

„Jeder ihrer Soldaten auf dieser Erde ist einer zu viel!“ Beschwörend klang ihre Stimme jetzt. „Greif das Schiff an!“ Er schwieg. Ihre Leidenschaft machte ihn sprachlos. Er fragte sich, ob sie genauso leidenschaftlich lieben konnte, wie sie hasste. „Bitte“, sagte sie mit plötzlich weicherer Stimme.

Er nickte langsam.

Nicht lange danach schwebte das Luftkissenboot über den Wogen des offenen Meeres. Küstenstreifen, Inseln und Treibeis verschwammen mit dem dunstigen Winterhimmel. Bald konnten sie den Nordmanndampfer mit bloßem Auge sehen.

Fanlur programmierte den Autopiloten so, dass die Twilight of the Gods in weniger als zwei Speerwürfen Entfernung steuerbords an dem Schiff vorbeigleiten würde. Er nahm sein Kaskaden-Laser-Gewehr vom Wandhaken, öffnete die Tür und trat auf das Bootsdach. Hinaus in den kalten Wind.

7

Das Gesicht auf die fellverhüllten Oberschenkel gepresst, auf der Stirn den Druck des Son’flai-Fühlers, in seinem Kopf die Stimme – so kauerte Thul’anymo auf dem steinigen Boden. Wie schon so oft zuvor.

Gut, dass du gekommen bist …

Es war nicht so, dass die summende Stimme in seinem Schädel deutlich voneinander unterscheidbare Worte formulierte. Thul’anymo spürte das Summen, spürte die Nähe einer unbeschreiblichen Erhabenheit und wusste, was sie ihm zu sagen hatte. Er wusste es einfach, ohne je erklären zu können, wie dieses Wissen zustande kam. Es war plötzlich da. Als hätte etwas, das größer und mächtiger als er selbst war, seine Gedanken in ihn hineingeworfen.

Es ist wieder einmal so weit: Der Geist der Finsternis, der Hasser der Izekos, der Vernichter allen Lebens, der nimmersatte Liob’hal’bakor will dein Volk auslöschen!

Thul’anymo erschauerte. Obwohl er längst ahnte, dass Thul’lan’aizir, dass sein Gott ihn vor einem neuen Angriff des Dämonen und seiner Handlanger warnen würde.

Aber fürchte dich nicht, mein treuer Diener – meine Kraft wird mit euch sein: Die Kraft des Lichts, die Kraft des Guten und Erhabenen. Geh und verkünde es deinem Volk!

Warm perlte es durch Thul’anymos Körper. Zuversicht und Dankbarkeit erfüllten ihn.

… sag den Izekos: Thul’lan’aizir der Barmherzige wird euch beschützen. Sag ihnen: Thul’lan’aizir, der Herr des Lichtes und des Lebens wird der Schutzwall um sie sein, an dem die Boten der Finsternis zerbrechen werden …

Der Atem des Götterpriester flog keuchend. Er zitterte vor Erregung. Ein euphorischer Rausch ergriff ihn.

… niemals wird der Zorn des abscheulichen Liob’hal’bakor das Volk der Izekos vernichten, sag ihnen das! Und sag ihnen, sie sollen drei mal sieben Männer und Frauen auswählen, die sich zum Kampf bereiten.

„Wann, o Erhabener Thul’lan’aizir, wann wird es geschehen?“ Weiter nichts als ein Krächzen kam über die blutleeren Lippen des Göttersprechers. Es war nicht nötig, dass er überhaupt etwas zu sagen versuchte. Sein Gott wusste auch so, was ihn bewegte. Doch seine Erregung verschaffte sich Luft und presste die Worte aus ihm heraus.

Noch vier Mal wird es Abend und Morgen. Wenn dann die Sonne aufgeht, versammle dein Volk in den Klippen an der Küste, wo der Fluss sich ins Meer ergießt. An der Stelle, von der aus man beides sehen kann: Meinen heiligen Vulkan und die Eiskuppel des scheußlichen Liob’hal’bakor. Dort sollen die Auserwählten am Strand warten.

Der Druck gegen seine Stirn ließ plötzlich nach. Das Summen in seinem Kopf verstummte. Thul’anymo richtete sich auf. Durch einen Tränenschleier sah er, wie der Son’flais ein Stück rückwärts lief und sich von ihm entfernte. Dann, als der Götterbote die Flügel ausbreitete, ertönte ein fast metallenes Zirpen und Schaben. Im nächsten Moment füllte sich die Luft erneut mit dem Getöse und Getrommel rasenden Flügelschlags.

Alle sieben Son’flais zugleich schwangen sich in den Himmel. Der Götterbote, dessen Fühler Thul’anymo berührt hatte, setzte sich an ihre Spitze. Sie flogen zum Kraterrand hinauf.

Aus tränenden Augen blickte der alte Göttersprecher ihnen nach. So lange, bis ihr Schwarm sich wieder zu einem dunklen Schatten vereinigte und in die Säule des Rauchpilzes eintauchte.

Schweiß stand auf Thul’anymos Stirn. Auch die Tücher unter seinem Fellmantel waren nass geschwitzt. Drei Mal versuchte er vergeblich aufzustehen. Jedes Mal gaben seine Knie nach. Der Rausch verflog nur langsam. Stille Freude blieb zurück.

Irgendwann stand er auf seinen zitternden Beinen und belud sich mit Fellbündel, Bogen und Speer. Seine Kniegelenke schienen aus weichgekochtem Walfleisch zu bestehen, als er den Abstieg zu seinem Schlitten und den wartenden Reenas wagte.

8

Der kastenartige Dampfer schaukelte im hohen Wellengang auf und ab. Nur eine spärliche Rauchfahne flatterte an einem seiner beiden Schornsteinrohre. Die Besatzung des Schiffes fühlte sich sicher, schien nicht an Flucht zu denken. Anders wusste Fanlur die langsame Fahrt des Dampfers nicht zu deuten.

Er kniete neben der Reling auf dem Bootsdach, legte seinen Laserbeamer auf den Mittelholm und visierte das große Ziel an. Wulf zog den Schwanz ein und floh winselnd auf die Kommandobrücke. Das Tier wusste, was geschah, wenn sein Herr zu der klobigen Waffe griff.

Marrela lehnte neben Fanlur über der Reling. Das Binokular an die Augen gepresst beobachtete sie den Nordmanndampfer. Der Wind peitschte Fanlur eine Strähne seines langen Grauhaars ins Gesicht. Er strich sie sich hinter die Ohren. Dann legte sich seine Hand wieder um die raue Oberfläche des Waffenkolbens. Die Kuppe seines Zeigefingers berührte den Knopf, mit man den feinen Ziellaserstrahl auslöste.

„Warte!“ Marrelas Hand berührte seine Schulter. Er blickte zu ihr auf. Ihre Haare flatterten im Wind. Weit über die Reling gebeugt spähte sie durch das Binokular. „Bei Wudan“, stöhnte sie. „Das sind … das sind keine Nordmänner!“ Sie reichte ihm das Glas. „Sieh selbst!“

Fanlur stand auf, hängte sich den Laserbeamer über die Schulter und setzte das Binokular an. Zum Greifen nah schien die geteerte Bordwand des Holzkastens. Und die Gestalten hinter der Reling – viele kleine Gestalten. Manche konnten kaum über die Reling schauen, so klein waren sie.

„Kinder!“, flüsterte Fanlur. Etwa dreißig Köpfe zählte er. „Kinder und Halbwüchsige!“ Im Geist sah er sich eine tödliche Laserkaskade auf das Nordmannschiff abfeuern. Die Vorstellung ließ ihn frösteln.

„Das sind Kinder meines Volkes!“, stöhnte Marrela. „Die Verschleppten!“ Sie begann wild mit den Armen zu rudern.

Fanlur stürmte auf die Kommandobrücke und steuerte die Twilight of the Gods steuerbords an das Nordmannschiff heran. Marrela und einige der Kinder verständigten sich in der Sprache der Dreizehn Inseln. Fanlur verstand kein Wort.

Wenig später hatten sie beide Schiffe miteinander vertäut und kletterten an Bord des Dampfers. Fünfzig Kinder umringten sie. Ausgehungerte, abgerissene Gestalten, schmutzig und stinkend. Das jüngste der Kinder hatte noch nicht einmal richtig sprechen gelernt. Das älteste – ein Mädchen namens Suljaana – war vierzehn Winter alt.

Marrela umarmte eines nach dem anderen, wieder und wieder. Sie hatte Tränen in den Augen, während sie mit der Kinderschar palaverte.

Von Zeit zu Zeit drehte sie sich nach Fanlur um. „Sie haben die Besatzung getötet.“ Unglaube stand in Marrelas Miene. „Stell dir das vor, Fanlur – bis auf einen haben sie alle getötet!“ Sie übersetzte ihm, was die Kinder ihr atemlos erzählten. Die dramatische Geschichte eines ungleichen Kampfes, den sie mit List und dem Mut der Verzweiflung für sich entschieden hatten.

Fanlur war sprachlos. Was ist das für ein Volk, das solche Menschen hervorbringt, fragte er sich. Er betrachtete das hohlwangige Gesicht eines hoch gewachsenen Mädchens – Suljaana. Sie hatte eine Schlüsselrolle bei dem Aufstand gespielt. Ihre müden und gleichzeitig stolzen Augen hielten seinem Blick stand. Oder der etwas kleinere Junge mit dem trotzig vorgeschobenen Unterkiefer und dem verfilzten rötlichen Langhaar – Borisaas, der Rädelsführer der Kinderschar.

Borisaas winkte sie hinter sich her. Sie folgten ihm über das Deck. An manchen Stellen entdeckte Fanlur Blutflecken. Vor sieben Fellbündeln zwischen den Deckaufbauten und einer Stiege ins Unterdeck blieben sie stehen. Bedrückendes Schweigen breitete sich plötzlich aus.

„Sieben von ihnen verloren ebenfalls ihr Leben“, sagte Marrela leise. „Die Leichen der Nordmänner haben sie über Bord geworfen.“

Borisaas ging weiter. Er führte sie hinab in den Maschinenraum. Die meisten anderen Kinder drängten sich hinter Fanlur und Marrela her die schmale Treppe hinunter. Borisaas stellte Marrela zwei Halbwüchsige vor. Sie bewachten einen Nordmann, der Kohlen in den Brennkessel schaufelte. Ein hässlicher einäugiger Bursche namens Turkaz. Mit einem kurzen Strick waren seine Knöchel aneinander gefesselt. Nur mit kleinen Trippelschritten konnte er sich bewegen. Ein weiteres Tau um seinen Hals führte hinauf zu einem der Dampfrohre, wo es mehrfach verknotet war. Fanlur begriff, dass er das einzige überlebende Besatzungsmitglied vor sich hatte.

Marrela beäugte den Gefangenen aus schmalen Augen. Wieder war diese Härte in ihrem Gesicht, wieder der grünliche Schimmer in ihren Augen. Der Hass sog das Blut aus ihrer Haut. Fanlur schauderte.

Plötzlich griff Marrela zu ihrem Hüftgurt und zog ein Messer heraus. Doch bevor sie sich auf Turkaz stürzen konnte, warf sich Borisaas zwischen sie und den Gefangenen. Er gestikulierte heftig dabei. Später erfuhr Fanlur, dass die Kinder Turkaz Schonung zugesagt hatten. Als Gegenleistung hatte er versprochen, den Dampfer zurück zu den Dreizehn Inseln zu steuern.

Sie verteilten Trockennahrung und frisches Trinkwasser unter den Kindern. Fanlur holte die Medizinkiste von der Twilight of the Gods. Er versorgte Wunden und verteilte Medikamente gegen Durchfall und Fieber.

In der Mitte der zweiten Tageshälfte zog sich von Osten her eine schwarze Wand über den Himmel. Von einem Atemzug zum anderen türmten die Wellen sich baumhoch auf und stürmten gegen die beiden Schiffe an. Ein Orkan brach los!

9

Wer berührt mich?