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Dieser Band enthält folgende Science Fiction Romane: Eine fremde Erde (Alfred Bekker) Die Stimme von Palos (John U. Giesy) Lennox und der Zielort Kratersee (Lloyd Cooper) Der Mars-Astronaut John Bradford und seine Crew gelangten durch ein Wurmloch in die Zukunft und finden eine veränderte Erde vor. Aliens haben die Macht übernommen, denen die irdischen Großmächte nichts entgegenzusetzen hatten. Ein Attentäter soll den Umsturz bringen.
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Science Fiction Dreierband 3032
Copyright
Galaxienwanderer – Eine fremde Erde
Die Stimme von Palos: Science Fiction Fantasy
Lennox und der Zielort Kratersee
Dieser Band enthält folgende Science Fiction Romane:
Eine fremde Erde (Alfred Bekker)
Die Stimme von Palos (John U. Giesy)
Lennox und der Zielort Kratersee (Lloyd Cooper)
Der Mars-Astronaut John Bradford und seine Crew gelangten durch ein Wurmloch in die Zukunft und finden eine veränderte Erde vor. Aliens haben die Macht übernommen, denen die irdischen Großmächte nichts entgegenzusetzen hatten.
Ein Attentäter soll den Umsturz bringen.
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
Alfred Bekker
© Roman by Author / COVER A.PANADERO
© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alles rund um Belletristik!
von Alfred Bekker
Der Umfang dieses Buchs entspricht 110 Taschenbuchseiten.
Der Mars-Astronaut John Bradford und seine Crew gelangten durch ein Wurmloch in die Zukunft und finden eine veränderte Erde vor. Aliens haben die Macht übernommen, denen die irdischen Großmächte nichts entgegenzusetzen hatten.
Ein Attentäter soll den Umsturz bringen.
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker
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© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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Vergangenheit …
Das Dach der Welt … der Sitz der Götter! Wie passend!, ging es Kaiser Zheng Hu durch den Kopf, während er durch die Front aus ultrahartem Panzerglas blickte. Von seiner am Gipfel des Qomolangma gelegenen Festung aus hatte man einen fantastischen Panorama-Blick über die schroffe Gebirgswelt des Himalaja. In über 7000 Metern Höhe lag der Herrschaftssitz des neo-chinesischen Kaisers. Ein perfekt an den Berg angepasstes, wahrhaft monumentales Bauwerk. Als Mount Everest war der Qomolangma einst in der dekadenten westlichen Welt bekannt gewesen. Der höchste Berg der Welt – früher ein Ziel für Extremsportler, später ein Ausflugsort für gutbetuchte Touristen und heute das Machtzentrum des neo-chinesischen Kaiserreichs. Alles, was die menschliche Architektur je geschaffen hatte, wurde durch diese Festung in den Schatten gestellt.
Der Festungskomplex war vollkommen autark. Er verfügte über ein eigenes Fusionskraftwerk und eine Sauerstoffversorgung, die in den Innenräumen stets dafür sorgte, das ein normaler Atmosphärendruck herrschte. In diesen Höhen konnten sich Menschen ansonsten nur für kurze Zeit im Freien aufhalten. Die dünne Atmosphäre sorgte normalerweise für Sauerstoffmangel im Gehirn. Geminderte geistige und körperliche Leistungsfähigkeit, Wahnvorstellungen und das Delirium waren die Folge. Wer immer auch es wagen sollte, diesen Ort einnehmen oder zerstören zu wollen, wird das nur mit einem für menschliche Maßstäbe unermesslich großen technischen Aufwand wagen können, dachte Zheng. Aber menschliche Maßstäbe sind wohl kaum noch das Maß der Dinge, seit die übermächtigen Fremden mit ihren Äskulap-Raumschiffen den Himmel verdunkelten …
Kaiser Zheng atmete tief durch.
Seine Züge blieben vollkommen regungslos. Wie eine Maske. Vielleicht war es der dünne Ziegenbart, der dieses Gesicht mit den dunklen ruhigen Augen älter wirken ließ, als es war. Vielleicht aber auch der zur Maske gefrorene Ausdruck von Überheblichkeit. Von mehr als einer Milliarde Menschen wurde Zheng verehrt wie ein Halbgott.
Die Tatsache, dass seit der sogenannten Schwarzen Flut so gut wie jegliche staatliche Autorität und Infrastruktur auf der ganzen Welt zusammengebrochen war, änderte daran nicht das Geringste.
Elf Minuten lang hatte diese Flut, von der niemand genau sagen konnte, was sie eigentlich gewesen war, für einen weltweiten Energieausfall gesorgt.
Für die hochtechnisierte und vollkommen energieabhängige Zivilisation des mittleren 21. Jahrhunderts war das einem globalen Super-GAU gleichgekommen.
Millionen waren bei Verkehrsunfällen und auf den Intensivstationen von Krankenhäusern ums Leben gekommen.
Flugzeuge waren wie gewaltige Geschosse in die dicht bebauten Flächen von Millionenstädten eingeschlagen.
Von mir erwartet zumindest der chinesische Teil der Menschheit Rettung und Hilfe, dachte er. Und wenn ich es geschickt anstelle, dann lässt sich diese größte Krise in der Geschichte der Menschheit sogar zum Vorteil meines Landes nutzen – und zu meinem eigenen. Das zeichnete seiner Auffassung nach einen geborenen Herrscher von anderen Menschen aus: Der Blick nach vorn, auch im Angesicht einer noch so bedrohlich erscheinenden Krise.
Zhengs Blick folgte einige Momente lang den Drohnen, die den Luftraum um die Qomolangma-Festung bewachten. Diese Drohnen waren mit dem militärischen Kommandozentrum der Festung online verbunden und mit modernsten Lenkwaffen ausgestattet.
Ein Sicherheitsnetz, das für jeden irdischen Angreifer nahezu undurchdringlich war.
Inwieweit das auch für die Fremden aus dem Weltraum zutraf, musste sich erst noch erweisen.
Zheng wandte leicht den Kopf. Aus den Augenwinkeln heraus hatte er bemerkt, dass eine weitere Person den Raum betreten hatte.
Wang, mein treuer Cousin!
Zheng hatte die meisten wichtigen Positionen im Machtgefüge des Kaiserreichs mit seinen Verwandten besetzt. Das bot zwar auch keine absolut sichere Vertrauensgrundlage, aber Zheng glaubte nun einmal an die Bande des Blutes. Die Familie war seit jeher das Fundament jeder menschlichen Kultur.
Eine tragfähige Grundlage für seine Macht!
Wang neigte leicht den Kopf.
Er wartete darauf angesprochen zu werden.
Von sich aus hätte er das nie gewagt.
„Was gibt es, Wang?“, fragte der Kaiser. Sein Kinn hob sich etwas, was den Ausdruck der Herablassung noch verstärkte. Die Pose des Herrschers und Halbgottes. Zheng war sich der Tatsache bewusst, dass es besonders gegenüber den Personen in seiner engsten Umgebung darauf ankam, niemals ein Zeichen von Schwäche zu zeigen.
Auch Familienbande waren schließlich keine Garantie dafür, dass nicht doch jemand aus seinem Clan einen günstigen Moment nutzen und Zheng vom Thron stürzen würde.
Im Augenblick allerdings war dies ziemlich unwahrscheinlich.
Die Ankunft des schier übermächtigen außerirdischen Gegners wirkte in gewisser Weise disziplinierend auf das, was vom Machtapparat des Kaisers noch übriggeblieben war.
„Ich habe wichtige Nachrichten, Majestät!“
Der Kaiser hob die dünnen Augenbrauen.
„Lass mich mit diesen Schreckensnachrichten zufrieden, Cousin. Ich weiß, dass mein Volk unvorstellbare Leiden durchlebt und überall auf der Welt das Chaos regiert!“
Gleich nach ihrer Ankunft hatten die Fremden dafür gesorgt, dass schlagartig jegliche Satellitenkommunikation unterbrochen wurde.
Tausende von Flugzeugen, die sich gerade in der Luft befunden hatten, waren abgestürzt.
Passagiermaschinen waren vollbesetzt mitten in Ballungszentren gerast, hatten sich in die Glasfassaden von Wolkenkratzern hineingerammt oder ganze Wohnviertel in brennende Feuerhöllen verwandelt.
Schon unter normalen Umständen wäre sowohl die zivile, als auch die militärische Infrastruktur mit dieser Lage vollkommen überfordert gewesen.
Aber gleichzeitig war durch einen totalen Energieausfall sämtliche Technik lahmgelegt.
Das galt für Krankenhäuser, die Verkehrsleitsysteme der Megalopolen und das Militär gleichermaßen.
Es gab niemanden, der in der Lage gewesen wäre, die verheerenden Brände in den Städten zu löschen oder sich ausreichend um die Verletzten zu kümmern. Zahllose Leichen sorgten dafür, dass überall akute Seuchengefahr bestand. Die Trinkwasserversorgung war für Milliarden Menschen zusammengebrochen.
Die zunächst nur spärlichen Meldungen, die im kaiserlichen Machtzentrum eintrafen, glichen einem einzigen apokalyptischen Horror-Szenario, wie man es ansonsten nur aus den Broschüren westlicher Sekten kannte, die auch in China für einige Zeit versucht hatten, Fuß zu fassen.
Bruchstückweise waren zunächst die Nachrichten in der Festung eingegangen.
Aber schon diese Bruchstücke gaben eine Ahnung des Grauens, das im Moment den Globus regierte.
Milliarden Menschen waren ohne medizinische Versorgung. Der Austausch von Waren aller Art war zusammengebrochen. Es existierte kein Transportwesen mehr, das den Namen verdient hätte.
Gleich im ersten Augenblick der sogenannten Schwarzen Flut hatten Abermillionen den Tod gefunden, und es sah so aus, als würden ihnen noch sehr viel mehr ins Verderben folgen.
„Ich überbringe zur Abwechslung eine gute Nachricht“, erklärte Wang. „Es ist unseren Spezialisten gelungen, über spezielle Kommunikationskanäle einen Kontakt zur amerikanischen Präsidentin herzustellen …“
Ein Ruck ging durch Zheng Hu.
„Das ist in der Tat die erste gute Nachricht seit Tagen!“, stieß er hervor. Seine Hände ballten sich unwillkürlich zu Fäusten.
„Leider ist der Kontakt wieder abgebrochen. Aber Major Lieh arbeitet daran.“
„Ich möchte zu gern wissen, wo Sarah Custer sich verkrochen hat!“
„Auf jeden Fall nicht im Weißen Haus. Die Informationen, die wir vom amerikanischen Kontinent bekommen, sind spärlich, aber sie laufen eigentlich darauf hinaus, dass die Regierung Washington verlassen hat.“
Zheng Hu lachte heiser auf.
„Das sieht diesen dekadenten Westlern ähnlich! Verkriechen sich wahrscheinlich in irgendwelchen unterirdischen Atombunkern, anstatt den Kampf zu suchen!“
„Wie auch immer – wir brauchen die Amerikaner als Verbündete“, gab Wang zu bedenken. „Allein dürfte keine irdische Nation auch nur den Hauch eine Chance gegen die Fremden haben.“
„Das werden wir sehen“, knurrte Zheng trotzig.
Er hatte keineswegs vor, sich geschlagen zu geben.
Mochte es auch Millionen Opfer kosten – Zheng war entschlossen, den Fremden Paroli zu bieten.
Mit allen Mitteln.
Mit etwas Glück könnte mir diese Katastrophe das einbringen, was ich unter anderen Umständen im Wettbewerb mit den Amerikanern so schnell nicht hätte erringen können, überlegte er. Die globale Vorherrschaft!
Einige Tage später …
Kaiser Zheng betrat den spartanisch eingerichteten Konferenzraum. In seinem Gefolge befand sich sein Cousin Wang, der Zheng unter anderem in allen Sicherheitsfragen beriet.
Etwa ein Dutzend hohe Offiziere saßen an einem langen Tisch und erwarteten ihren Oberbefehlshaber. Sie erhoben sich und nahmen Haltung an, bis Zheng sich gesetzt hatte. Durch ein leichtes Nicken signalisierte der Herrscher den Offizieren, dass es ihnen gestattet war, sich ebenfalls zu setzen.
Zheng übernahm sofort die Initiative.
„General Yu, wie ist der derzeitige Sicherheitsstatus der Qomolangma-Festung?“
„Wir sind in voller Alarmbereitschaft. Sämtliche Waffensysteme sind innerhalb von Augenblicken einsatzfähig. Sowohl atomar als konventionell bestückte Lenkwaffen können von den Abschuss-Silos unserer Festung aus beinahe jeden Punkt der Erde erreichen. Allerdings darf ich darauf hinweisen, dass seit der Zerstörung sämtlicher Erdsatelliten durch die Raumschiffe der Fremden eine Zieljustierung nicht mit gewohnter Präzision möglich ist.“
„Was ich wissen möchte ist: Wie schätzen Sie die Möglichkeiten ein, uns hier auf dem Qomolangma anzugreifen?“, hakte Zheng nach. Er hasste Geschwätz. Von seinen Soldaten verlangte er präzise Auskünfte. Für die Entscheidungen war hingegen er zuständig. Über die großen Linien der Strategie brauchten sie sich keine Gedanken zu machen. Das sah er als seine Aufgabe an.
„Ich denke, wenn das die Absicht der Fremden gewesen wäre, hätten sie es längst getan“, erklärte Yu. „Sie waren in der Lage, sämtliche Energiesysteme auf unserem Globus lahmzulegen, die Satelliten aus der Umlaufbahn zu schießen und aus Jupiter eine Art Schwarzes Loch zu machen.“
„Streng genommen wissen wir nicht, ob dafür wirklich die Fremden verantwortlich sind oder es sich um ein uns bisher unbekanntes Naturphänomen handelt, das sie ausgenutzt haben, um ihre Schiffe in unser Sonnensystem zu bringen“, warf Wang ein.
Yus Gesicht blieb eine unbewegliche Maske. „Auch wenn es Ihnen nicht gefällt, dass unsere Feinde über derart große Machtmittel verfügen! Wir müssen meiner Ansicht nach davon ausgehen, dass sie in der Lage wären, uns jederzeit im Handumdrehen auszuschalten.“
„Wie steht es mit unserer Kapazität für einen massiven atomaren Gegenschlag?“, erkundigte sich der Kaiser.
„Die wäre vorhanden“, antwortete Yu. „Auch wenn wir nur die Kontrolle über die Verteidigungssysteme in der Himalaya-Region zurückerlangen konnten, wäre es damit möglich, innerhalb weniger Minuten einen atomaren Angriff auf nahezu alle auf der Erde gelandeten Äskulap-Raumer erfolgen zu lassen.“
„Wie viele Schiffe sind es?“, fragte Zheng.
„Den Informationen nach, die wir in den letzten Tagen gesammelt haben, müssen es so um die siebzig sein.“
Einer der anderen anwesenden Offiziere meldete sich jetzt zu Wort.
Sein Name war Yu.
Er war der Chef des Geheimdienstes im Rang eines Vier- Sterne-Generals. Sein vollkommen haarloser Kopf wirkte wie ein Totenschädel.
Er war Anfang neunzig und eigentlich längst auf dem Altenteil. Aber Kaiser Zheng hatte ihn bei Antritt seiner Herrschaft reaktiviert. Yu war ein kalter, logischer Denker. Dabei allerdings vollkommen ohne Skrupel und seinem Land gegenüber absolut loyal, gleichgültig von wem es gerade beherrscht wurde.
„Ich kann vor den möglichen Folgen eines Atomschlags nur warnen“, sagte General Yu. „Was nützt uns ein wiederhergestelltes, befreites Reich, das dann die vorherrschende Macht auf einer völlig verstrahlten Erde wäre. Außerdem braucht uns nur eins dieser Äskulap-Schiffe zu entgehen, und wir müssten dann mit einem Gegenschlag der anderen Seite rechnen, der unser Ende bedeuten könnte.“
Zheng wirkte nachdenklich.
Er gab viel auf das Urteilsvermögen des des nur an Jahren greisen Generals, dessen Verstand mit einer Urteilsschärfe arbeitete, die manch Jüngeren vor Neid erblassen lassen konnte.
„Was wäre Ihre Alternative, General?“, fragte Zheng.
„Wir sollten uns alle Optionen offen halten, so lange wir nicht genau wissen, was letztlich die Absichten der Fremden sind. Ein Gegenschlag sollte in jedem Fall gut vorbereitet sein. Wir haben übrigens aktuelle Bilder des Äskulap-Schiffs, das in Peking gelandet ist, hereinbekommen.“
„Ich möchte sie sehen.“
„Sehr wohl.“
Mt Hilfe einer drahtlosen Fernbedienung aktivierte General Yu einen großflächigen Wandbildschirm.
„Einige meiner Leute sind vor Ort“, erklärte Yu. „Zwar hat noch keiner der Fremden das Schiff verlassen, aber trotzdem konnte eine interessante Veränderung beobachtet werden, Majestät. Sehen Sie selbst!“
Der Kaiser erhob sich.
Er starrte auf die Bildfläche.
Das gewaltige Schiff, das ursprünglich die Form eines Äskulapstabes gehabt hatte, bildete jetzt einen kathedralenartigen, mehr als 500 Meter hohen Turm, der an der breitesten Stelle ungefähr sechzig Meter maß. Eine Anzeige auf dem Schirm informierte über die Größenverhältnisse. Ein Turm, höher als die meisten Wolkenkratzer der Erde!, durchzuckte es Zheng. „Fast könnte man den Eindruck haben, dass sich das SCHIFF in ein BAUWERK verwandelt hat!“, stieß der Kaiser ungewohnt emotional hervor.
„Es könnte darauf hindeuten, dass die Fremden zu bleiben beabsichtigen“, gab General Yu zu bedenken.
Zheng nicke leicht. „Ja, das wäre ein möglicher Schluss!“ Er ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten und trat näher an die Bildfläche heran. „Aber warum zeigen sie sich nicht?“
„Warum sollten sie übermäßige Eile an den Tag legen?“, antwortete General Yu mit einer Gegenfrage. „Seien wir froh, dass sie uns bisher nicht angegriffen haben, das gibt uns Zeit dafür, über eventuelle Gegenmaßnahmen gründlich nachzudenken.“
Yu erhob sich ebenfalls. Er war ein kleiner drahtiger Mann, der auf Zheng immer recht zerbrechlich gewirkt hatte. Aber der Kaiser wusste nur zu gut, dass dieser Eindruck trog.
Zheng drehte sich zu ihm herum.
Ihm war die Nuance in den Worten des Generals nicht entgangen.
„Sie sprechen von eventuellen Gegenmaßnahmen?“, echote Zheng.
„Vielleicht haben die Fremden die Absicht, sich mit uns zu verständigen …“
„Niemals!“
„ … und uns bleibt möglicherweise keine andere Wahl, als darauf einzugehen!“
Zwei Stunden später befand sich Zheng zur Teezeremonie in seinen Privatgemächern.
Zheng war allein.
In Gedanken versunken genoss er den Panorama-Blick, den ihm die Fenster-Front bot.
In der Ferne sah er eine Staffel hochmoderner Tarnkappenbomber aus den Nebelschwaden auftauchen, die sich in den Hochtälern gebildet hatten.
Das Interkom summte. Er schaltete es über einen Infrarot-Sensor an seiner Uniformkombination frei. Der Kaiser reagierte unwirsch. „Was ist?“, fragte er.
„Hier spricht Wang. Es ist uns endlich gelungen, über einen geheimen Kanal Verbindung zum Oberkommando der amerikanischen Streitkräfte zu bekommen.“
„Ich möchte die Nachricht hier entgegennehmen.“
„Die Qualität des Signals ist nach wie vor instabil. Die Verbindung könnte ziemlich abrupt abbrechen.“
Der Kaiser aktivierte einen Wandbildschirm.
Das Gesicht eines grauhaarigen Mannes in der Uniform der US-Streitkräfte erschien dort.
„Hier spricht Colonel Thomas McKinley. Man sagte mir, dass Sie fließend Englisch sprechen, Majestät, sodass wir keine Kommunikationsprobleme haben dürften.“
„Zumindest nicht in diesem Sinn, Colonel“, erwiderte Zheng. „Wo ist die Präsidentin? Ich hätte gerne persönlich mit ihr gesprochen.“
„Das ist im Moment nicht möglich, Majestät. Aber sie lässt Ihnen ausrichten, dass wir an einer Kooperation mit Ihnen im Anbetracht der extraterrestrischen Invasion sehr interessiert sind.“
„Dann schlage ich vor, dass wir unsere Kontakte intensivieren, um geeignete Schritte für einen Gegenschlag zu überlegen.“
Ein mattes Lächeln glitt über McKinleys Gesicht. „Es scheint mir so, als ob die militärische Infrastruktur Ihres Landes durch die Invasion weniger hart getroffen wurde als die meiner eigenen Nation“, vermutete er.
„Wo ist die Präsidentin?“, beharrte Zheng.
„An einem sicheren Ort“, erklärte McKinley. „Wir müssen zunächst wieder soweit auf die Beine kommen, dass wir die notwendigsten Kommunikationskanäle wiederhergestellt haben. Außerdem …“
Die Stimme des Colonels wurde plötzlich durch ein Rauschen ersetzt.
Das Bild verwackelte und war wenige Augenblicke später verschwunden.
Während sich auf der Erde die Katastrophe anbahnte, hatten Zheng und Präsidentin Sarah Custer einige Male Kontakt miteinander gehabt.
Warum wurde diesmal ein relativ unbedeutender Lakai vorgeschickt, um mit mir zu sprechen?, fragte sich Zheng. Was auch immer auf der anderen Seite des Pazifik hinter den Kulissen eines zerfallenden und in Anarchie versinkenden Staates vor sich gehen mochte, so musste der Kontakt auf jeden Fall intensiviert werden.
Zheng erhob sich und aktivierte das festungsinterne Interkom.
„Wang?“
„Majestät, das Kommunikationssignal ist abgebrochen. Es wird durch Interferenzen so nachhaltig gestört, dass es zur Zeit unmöglich ist, den Kontakt wiederherzustellen.“
„Ich möchte Bescheid wissen, sobald es wieder möglich ist.“
„Jawohl.“
„Sagen Sie außerdem Yu Bescheid. Ich möchte, dass die Aufzeichnung dieser Nachricht auf alles untersucht sind, was den Spezialisten des Geheimdienstes dazu einfällt. Irgend etwas stimmt da nicht … Außerdem möchte ich alles wissen, was in unseren Datenspeicher über Oberst McKinley zu finden ist.“
„Jawohl, Majestät.“
Zheng schaltete das Interkom ab.
Auf der Bildfläche ließ er sich die neuesten eingegangenen Nachrichten anzeigen. Manche Radio- oder Fernsehsender strahlten sporadisch Programme ab. Teile des Datennetzes funktionierten inzwischen wieder. Die Nachrichten, die über diese Kanäle die Qomolangma-Festung erreichten, wurden immer apokalyptischer. In Shanghai herrschte ein erbarmungsloser Kampf um Nahrungsmittelreserven, Medikamente und Waffen. Ganze Stadtteile waren noch immer ohne Strom.
Tarnkappenjäger, die Shanghai im Tiefflug überquert hatten, hatten Bilder aufgezeichnet, die das Schlimmste ahnen ließen. Ständig gab es im Stadtgebiet Explosionen und Schießereien. Bewohner verschiedener Stadtviertel und Straßenzüge kämpften rücksichtslos um die knappen Ressourcen. Läden und Kaufhäuser wurden geplündert. Die Angehörigen von Armee, Polizei und Verwaltung hatten ihre Posten aufgegeben, um sich um die eigenen Familien und deren Überleben zu kümmern. Die wenigen noch intakten Einheiten der Sicherheitskräfte standen auf verlorenem Posten. Zudem waren sie ziemlich immobil. Ein Großteil der Einsatzfahrzeuge war am Tag der Schwarzen Flut durch Unfälle beschädigt worden oder saß in den Staus fest, die durch gigantische Serienunfälle verursacht worden waren. Die Straßen waren durch Blechlawinen verstopft, ein Großteil der Helikopter-Flotte von Polizei und Militär abgestürzt.
Auch wenn es ein quälender Anblick ist – es ist die Realität!, ging es Zheng bitter durch den Kopf, während er diese Bilder auf dem großen Wandschirm sah. In einem Seitenfenster wurden Zusatzinformationen angezeigt. Der Ort, die Zeit, die vermutete Anzahl von Toten und Verletzten … Shanghai, die Perle des Kaiserreichs, das wirtschaftliche Herz Asiens, war eine Hölle der Anarchie geworden. Jeder kämpfte gegen jeden.
Ähnliches galt auch für Hongkong, auch wenn das Bildmaterial, das von dort geliefert werden konnte, spärlicher war.
Viele der großen Wolkenkratzer standen seit Tagen in Flammen. Wie große, rauchende Fanale wirkten sie. Gigantische Brandfackeln, deren Rauchfahnen von den milden Pazifikwinden kilometerweit ins Landesinnere geweht wurden. Andere Bürotürme waren mit Passagierflugzeugen kollidiert und in sich zusammengestürzt wie ehedem das World Trade Center in New York.
Hunderttausende lagen allein in Hongkong unter Schuttbergen begraben. Aufgefangene Funkbotschaften sprachen von einem bestialischen Verwesungsgeruch, der über der Stadt hing. Unzählige Bürger waren zu Fuß auf der Flucht. Sie versuchten aus der Stadt herauszukommen. Erste Fälle von Typhus und Cholera waren aufgetreten. Aber wer unter diesen Bedingungen erkrankte, war so gut wie sicher dem Tod geweiht. Ein Gesundheitswesen existierte nicht mehr.
Auch aus Metropolen in Übersee kamen jetzt immer häufiger ähnliche Nachrichten. Manchmal waren sie schon mehrere Tage alt. Die Verhältnisse in London und Los Angeles waren denen in Shanghai oder Hongkong durchaus vergleichbar. In der Nähe der brasilianischen Stadt Recife war es zu einer Reaktorkatastrophe gekommen, nachdem ein Verkehrsflugzeug in die Außenhülle gestürzt und sie durchschlagen hatte. Der Ausbruch von Gamma-Strahlen war weltweit messbar.
In Washington brannte das weiße Haus.
Anhänger einer radikal-evangelikalen Sekte hatten das offenbar verlassene Gelände okkupiert und sandten nun über Kurzwelle ihre wirre Botschaft in den Äther. Danach waren die letzten Tage vor der Wiederkunft Christi gekommen. Die Schiffe der Fremden und die Schwarze Flut seien Vorboten des Strafgerichtes gewesen, das die Menschheit nun ihrer Sünden wegen über sich ergehen lassen müsse.
Aus Afrika gab es überhaupt keine Nachrichten.
Hatten sich anderswo immerhin hier und da Reste der alten Ordnung erhalten, so schien auf dem schwarzen Kontinent sämtliche Autorität und Infrastruktur zusammengebrochen zu sein.
Zheng stoppte schließlich den Strom der Katastrophenbilder. Die Lage wurde von Tag zu Tag schlimmer. Aber für Zheng stand ein anderer Gedanke im Vordergrund. Aus dem gegenwärtigen Chaos würde sich früher oder später eine neue Ordnung herausbilden. Daran bestand für ihn kein Zweifel.
Die Frage ist nur, wer diese neue Ordnung beherrscht, überlegte er. Die Fremden – oder die Menschheit unter meiner Führung? Vielleicht ist es unter diesem Gesichtspunkt gesehen gar nicht so gut, mit den Resten der amerikanischen Armee zu kooperieren …
Zheng gelangte zu dem Schluss, dass nach einem Sieg über die Fremden, die Menschheit zweifellos dem folgte, der sie befreit hatte. Wenn ich das schaffe, wird es für hundert Jahre niemanden geben, der es wagen würde, sich gegen mich oder meine Nachfolger zu stellen!, war er überzeugt.
Zhengs Finger glitten geschwind über ein virtuelles Terminal auf der Bildfläche.
Er ließ sich die aktuellen Bilder des verwandelten Äskulap-Schiffs in Peking zeigen.
Damit folgte er einem inneren Drang, den er nicht zu erklären vermochte. Einige kleinere Veränderungen bemerkte er an dem Raumschiff, das jetzt einen gewaltigen Turm darstellte. Offenbar war die Umwandlung noch nicht zu hundert Prozent abgeschlossen.
Zheng trat einen Schritt zurück.
Warum nicht nach Peking fliegen und sich das Ding mal aus der Nähe ansehen?
Aus diesem Gedanken wurde ein drängender Wunsch, der keinen Aufschub zu dulden schien. Mit einem deiner Jets könntest du innerhalb von Stunden dort sein und sogar pünktlich zur nächsten Lagebesprechung wieder in der Qomolangma-Festung weilen.
Mit einer fahrigen Geste wischte sich der Herrscher des neo-chinesischen Kaiserreichs über das Gesicht. Was war eigentlich in ihn gefahren? Hatte ihm der Schlafmangel der letzten Zeit so sehr zu schaffen gemacht, dass er bereits begann, sich wie ein Narr aufzuführen?
Ein Ruck durchlief ihn.
Wieder hing sein Blick an dem Turm.
Der Summton des Interkom riss ihn aus seinen Gedanken heraus.
„Was gibt es?“, fragte der Herrscher selbst für seine Verhältnisse ziemlich unwirsch.
„Hier General Yu. Ich habe Informationen über Oberst McKinley, den Sprecher der amerikanischen Präsidentin.“
„Und?“
„McKinleys Dienstverhältnis in der Army ruht seit einem Jahr. Seitdem ist er Mitglied eines sogenannten Thinktanks des amerikanischen Geheimdienstes NCIA, der die Präsidentin mit Memoranden zur inneren Sicherheit versorgt.“
„Wie steht er zu Präsidentin Custer?“
„Nach allem, was unser Nachrichtendienst über ihn zusammengetragen hat, hat er diesen Karrieresprung der Präsidentin zu verdanken und steht ihrer Administration daher sehr loyal gegenüber. Außerdem sind die politischen Vorstellungen nahezu deckungsgleich.“
„Einen Putsch halten Sie für ausgeschlossen?“
„Wir haben inzwischen das Signal des ersten, fehlgeschlagenen Kommunikationsversuchs decodiert. Es waren nur Bilddaten, keine akustischen Informationen. Aber die Bildsequenz zeigt eindeutig Präsidentin Custer. Ein Abgleich mit allen uns zur Verfügung stehenden telemetrischen Vergleichsdaten beweist das einwandfrei.“
„Dann können wir also davon ausgehen, dass McKinleys Angaben der Wahrheit entsprachen und die Präsidentin wohlauf ist.“
„Ja.“
Zheng atmete tief durch. „Trotzdem – inzwischen habe ich die Bilder des brennenden Weißen Hauses gesehen, das offenbar einfach sich selbst überlassen wurde. Ich weiß nicht, ob es wirklich lohnt, mit einer Administration aus Feiglingen zusammenzuarbeiten, der Präsidentin Custer offenbar vorzustehen scheint … Aber darüber werden wir ein anders Mal entscheiden.“
Nachdem der Kaiser das Interkom abgeschaltet hatte, veränderte er den Bildausschnitt auf dem Wandschirm. Während des Gesprächs mit General Yu hatte sein Blick die ganze Zeit über an dem monumentalen Turm der Fremden gehangen und sich daran geradezu festgesaugt.
Er veränderte den Bildausschnitt dahingehend, dass nun der Sockel des ehemaligen Äskulap-Raumers sichtbar wurde und stellte eine stärkere Vergrößerung ein.
Was er sah, ließ ihn unwillkürlich schlucken.
Tausende von Menschen umlagerten das Raumschiff.
Sie starrten es an wie eine antike Götterstatue.
Im Gegensatz zu den Verhältnissen, die ansonsten im Stadtgebiet von Peking herrschten, waren diese Menschen friedlich. Nirgends waren Anzeichen für Gewalt feststellbar.
Was hat das zu bedeuten?, durchfuhr es Zheng.
Zwei Wochen später …
Zheng starrte auf den großen Hauptschirm des Kommandozentrums seiner Qomolangma-Festung. Das Großbild war in ein halbes Dutzend Fenster zerteilt. Schrifteinblendungen zeigten Städtenamen an. Peking, New York, Berlin, London, Buenos Aires, Neu Delhi …
Auf all den Bildausschnitten waren nahezu identische Szenen zu sehen.
Gewaltige Ströme von Menschen pilgerten quer durch die halb-verwüsteten Stadtlandschaften auf die Standorte der ehemaligen Äskulap-Schiffe hin. In Anbetracht der ansonsten immer noch vorherrschenden Anarchie waren diese Bilder in mehrfacher Hinsicht erstaunlich. Schließlich liefen diese Pilgerzüge mit einer bemerkenswerten Ordnung und Disziplin ab. Zheng war unwillkürlich an Bilder von heiligen Städten der Moslems in Mekka erinnert. Nur dass die Prozessionen zu den Türmen sehr viel ruhiger abliefen. Es gab keinen religiös motivierten Gefühlsüberschwang.
„Es scheint sich unseren Informationen nach um ein weltweites Phänomen zu handeln“, erklärte General Yu. „Überall dasselbe Bild, die Menschen scheinen sich auf eine fast magische Weise von diesen gewaltigen Türmen angezogen zu fühlen.“
„Wie der Drang der Motten zum Licht“, murmelte der Kaiser.
In den letzten Tagen hatte er es vermieden, sich Bildmaterial anzusehen, das die Türme zeigte. Die seltsame Sehnsucht, die so viele Menschen weltweit befallen hatte, war offenbar auch in im virulent. Wenn auch offenbar in abgeschwächter Form. Eine Zeitlang hatte Zheng geglaubt, sich nur etwas einzubilden, aber jetzt war er sich nahezu sicher.
„Was mag es sein, was diese Anziehungskraft ausübt?“, erkundigte er sich an Yu gewandt. „Gibt es irgendwelche Hypothesen?“
„Nein, bislang keine.“
„Messergebnisse, die auf irgendeinen technischen Einfluss der Fremden hinweisen würden? Strahlungsemissionen, oder was weiß ich?“
„Nein, Majestät. Wir haben bislang keinerlei Erklärung für das Phänomen. Alles, was wir sagen können, ist, dass sich offenbar weltweit Millionen von Menschen auf den Weg zu den Türmen machen. Scheinbar aus eigenem Antrieb. Und offenbar gibt es sogar Personen, die in die Türme hineingelangten.“
„Machen Sie welche von denen ausfindig, damit wir sie verhören können!“, befahl Zheng.
„Das versuche ich bereits.“
In diesem Augenblick schrillte ein Alarmsignal.
„Ein Jäger aus Staffel 12 hat sich während des Patrouillenflugs aus dem Verband gelöst“, meldete einer der diensthabenden Offiziere im Rang eines Majors.
General Yu schaltete sich sofort ein.
„Technisches Versagen?“, fragte er.
„So gut wie ausgeschlossen.“
Eine schematische Kartendarstellung erschien in einem Teilfenster des Schirms. Die gegenwärtige Position der Staffel über der Provinz Sinkiang wurde ebenso angezeigt wie der sich entfernende Jäger.
„Identität des Piloten überprüfen, Datensätze nach Verdachtsmomenten im Hinblick auf Spionagetätigkeit oder Zugehörigkeit zu einer dem Kaiserhaus politisch feindlich gesonnenen Splittergruppierung durchgehen!“, befahl General Yu.
„Sie wissen, wie streng die Sicherheitsüberprüfungen sind, die Kampfpiloten der kaiserlichen Armee zu durchlaufen haben!“, erwiderte der Major.
„Offenbar ist trotzdem etwas übersehen worden“, murmelte General Yu. „Befehl an die Staffel: Verfolgung aufnehmen und den vom Kurs abweichenden Jäger abschießen, so lange noch die Möglichkeit besteht.“
„Er will nach Peking“, stieß Zheng plötzlich hervor.
Einer der diensthabenden Offiziere bestätigte dies.
Die Flugbahn des aus seiner Formation ausgebrochenen Jägers schien genau auf die Hauptstadt zu weisen.
„Vielleicht sollten wir den Mann nicht abschießen“, sagte der Kaiser plötzlich. Er wandte sich an General Yu. „Ich denke, dass er von demselben geheimnisvollen Drang beseelt wurde, wie die Abertausenden, die sich zur Zeit um die Türme scharen …“
„Das wäre eine Möglichkeit.“
„Dann lassen Sie ihn fliegen!“
„Majestät!“
„Tun Sie, was ich sage!“
„Majestät, es besteht auch die Möglichkeit, dass der Pilot – aus welchen Gründen auch immer – einen Angriff zu fliegen versucht.“
„Das ist absurd, General!“
„Es reicht, wenn die Fremden sein Flugmanöver so einschätzen! Einen wohl überlegten und gut vorbereiteten Gegenschlag können wir uns dann abschminken. Dazu wird es in dem Fall nämlich nicht mehr kommen!“
Yu hatte Recht.
Widerstrebend musste Kaiser Zheng dies zugestehen.
„Also gut, General. Holen Sie diesen Vogel vom Himmel“, murmelte er grimmig. Was ist das für eine Macht, die die Menschen offenbar auch über Tausende von Kilometern hinweg zu beeinflussen vermag, sich auf den Weg zu einem dieser Türme zu machen, ging es ihm dabei schaudernd durch den Kopf.
Auf dem Schirm wurden Live-Bilder der Bordkameras gezeigt, die bei den Verfolger-Jägern installiert waren.
Die vom Kurs abgekommene Maschine verweigerte jegliche Kommunikation.
Der Befehl des Staffelführers, eine Kurskorrektur durchzuführen, wurde ignoriert.
Schließlich nahmen die Verfolger sie ins Visier und eröffneten das Feuer.
Der Richtung Peking dahinjagende Jäger zerplatzte mit einer grellen Lichterscheinung und der Staffelkommandant meldete die Ausführung des Auftrags an die Qomolangma-Zentrale.
„Jetzt werden wir niemals erfahren, was diesen Piloten zu seiner Handlung bewegt hat“, meinte der Kaiser lapidar.
Eine weitere Woche später kam erstmals wieder zu einem Kontakt mit der untergetauchten amerikanischen Führung. Die Verbindung war diesmal – von ein paar unvermeidlichen Bildverzerrungen abgesehen – einwandfrei.
Kaiser Zheng hatte seinerseits keinerlei Verbindung zu Sarah Custer und ihrer Administration gesucht. Mochte die Präsidentin sich in einem geheimen Unterschlupf so lange verstecken wie sie wollte. Als Bundesgenossin hatte Zheng sie längst abgeschrieben. Er war inzwischen entschlossen, allein gegen die Aliens vorzugehen. Wenn er schon alles auf eine Karte setzte, dann sollte es seine Karte sein.
Auf dem Hauptschirm der Kommandozentrale erschien auch diesmal nicht das Gesicht der Präsidentin.
Stattdessen begrüßte ihn das kalte Lächeln eines Mannes, den der Kaiser von einer früheren Begegnung her kannte: Ronald Brandenburg, seines Zeichens Chef des Geheimdienstes NCIA.
„Seien Sie gegrüßt, Majestät“, sagte Brandenburg, der den Ausdruck der Verblüffung bei seinem Gegenüber regelrecht zu genießen schien.
„Wie geht es der Präsidentin?“, erkundigte sich Zheng.
„Sarah Custer ist ihres Amtes enthoben“, erklärte Brandenburg. „Sie befindet sich in Gewahrsam. Ich habe jetzt die Kontrolle über die Streitkräfte der Vereinigten Staaten von Amerika …“
„… oder was von dieser Armee übrig geblieben ist“, erwiderte Zheng nicht ohne eine gewisse Herablassung im Tonfall.
„Nun, in diesem Punkt geht es Ihnen wohl ähnlich. Aber seien Sie versichert, dass es noch sehr gut funktionierende Truppenteile gibt. Wir befinden uns in einem Stadium der Reorganisation und denken, dass ein gemeinsames Vorgehen gegen die Fremden sinnvoll wäre.“
„Danke, ich habe kein Interesse daran.“
„Aber …“
„Mir scheint, dass Sie zur Zeit nicht allzu viel in einen derartigen Pakt einbringen könnten“, erklärte Zheng kalt. „Ich brauche Verbündete – keine Bande elender Feiglinge, die sich in irgendeinem unterirdischen Atombunker verkriecht und wahrscheinlich nach dem Sturz der Präsidentin erst einmal eine Weile damit beschäftigt sein wird, ihre Diadochenkämpfe untereinander auszutragen.“
„Majestät, ich …“
„Ich persönlich wünsche Ihnen dabei viel Glück!“
„Sie irren sich, Majestät! Ich habe wertvolle Informationen für Sie, die Sie in Ihre Überlegungen einbeziehen sollten. Andernfalls laufen Sie Gefahr, dass der Alleingang, den Sie jetzt offenbar planen, ein jämmerlicher Reinfall wird.“
Zheng lächelte dünn.
„Sagen Sie bloß, das würde Sie in irgendeiner Weise bekümmern, Brandenburg!“
„Die gesamte Menschheit hätte darunter zu leiden. Also auch wir. Ich glaube nicht, dass uns die Fremden mehrere Chancen lassen, um gegen sie vorzugehen!“
„Was Sie nicht sagen …“
„Zheng … Bei allem Respekt! Aber war unsere Zusammenarbeit in der Vergangenheit den wirklich so schlecht, dass Sie mir jetzt die kalte Schulter zeigen müssten?“
Eine Pause entstand.
Wang war an den Kaiser herangetreten. Er sprach ihn auf Mandarin an, so dass Brandenburg davon nichts verstehen konnte. „Warum hören wir uns nicht an, was er für Informationen zu bieten hat?“
„Er würde das Blaue vom Himmel lügen, so verzweifelt scheint mir seine Situation zu sein“, erwiderte Zheng kühl. „Aber wenn du meinst, werter Cousin, dann werde ich mir anhören, was er zu sagen hat.“
Brandenburg fuhr inzwischen fort.
„Ich finde, wir waren beim CAESAR-Projekt ein gutes Team – und wir könnten es wieder werden.“
Während der Vorbereitungen zur geheimgehaltenen 2. Marsmission waren sich Zheng und Brandenburg sogar persönlich begegnet. Ohne chinesische Unterstützung wäre es für die Amerikaner nicht möglich gewesen, die CAESAR I auf der dunklen Seite des Mondes zusammenzubauen und anschließend auf die Reise zu schicken, ohne dass die Weltöffentlichkeit davon erfuhr.
Ein leises Lächeln bildete sich um die dünnen Lippen des Kaisers. Die Unterstützung der 2. Mars-Mission war ein nachrichtendienstliches Meisterstück gewesen. Vermutlich ahnten die Amerikaner bis heute nicht, wie intensiv die Chinesische Seite bei diesem Unternehmen Industriespionage betrieb.
So gelangte das Kaiserreich nicht nur in den Besitz von Weltraumtechnologie, sondern bekam auch Kenntnis vom streng geheimen Gen-Android-Programm der Vereinigten Staaten. Für Zheng war das Anlass genug gewesen, ein eigenes chinesisches Klon-Programm zu starten, in das er immense Geldmittel umgeleitet hatte.
Zheng atmete tief durch.
„Also gut, Brandenburg. Um der Alten Zeiten willen, oder wie hätten Sie gerne, dass ich es formuliere? Sagen Sie mir, was Sie angeblich an wertvollen Informationen auf Lager haben! Dann werde ich mir die Sache vielleicht durch den Kopf gehen lassen.“
„Es geht um die Schiffe der Fremden. Wie Sie sicher auch bemerkt haben werden, haben sich die Raumschiffe in Türme verwandelt …“
„Ich hoffe, Sie haben noch etwas mehr auf Lager, Brandenburg. Ansonsten verschwenden Sie nur meine Zeit.“
„Millionen von Menschen pilgern zu diesen Türmen, als ob es sich um Heiligtümer handeln würde …“
„Ist mir ebenfalls bekannt.“
„… und die Aliens lassen sie sogar hinein. Haben Sie bereits Befragungen unter Personen durchgeführt, die im Inneren der Türme waren, Majestät?“
Jetzt will er den Spieß umdrehen und mich ködern!, erkannte Zheng sofort. Sein Gesicht blieb eine Maske aus Arroganz und zur Schau gestellter Desinteresse.
„Fahren Sie fort, Brandenburg. Die Zeit, die ich bereit bin, Ihnen um unserer früheren guten Zusammenarbeit willen zur Verfügung zu stellen, ist begrenzt.“
Brandenburg ließ sich nicht beirren. Er kannte die Eigenarten seines Gegenübers immerhin gut genug, um zu erkennen, dass er dessen Interesse längst geweckt hatte.
Zheng hing an Brandenburgs Haken.
„Unseren Informationen nach landeten auf der Erde 75 Äskulap-Schiffe. Aus jedem dieser Schiffe wurde ein Turm, der das Zentrum einer Art Pilgerbewegung ist. Wir haben versucht, 75 Agenten in diese Türme einzuschleusen. Jeder dieser Agenten trug eine Mini-Atombombe am Körper, die im Inneren der Schiffe gezündet werden sollte.“
„Kein schlechter Plan“, musste Zheng zugestehen. „Aber ich entnehme Ihren Worten, dass dabei etwas nicht geklappt hat!“
„Wenn es zu einer Detonation gekommen wäre, hätten Sie das registriert. Wir wissen offen gestanden nicht, was passiert ist und warum die Bomben nicht gezündet wurden. Möglicherweise wurden sie von den Fremden geortet. Tatsache ist jedenfalls, dass keiner der Männer und Frauen, die wir als Agenten auf diese Mission schickten, zurückgekehrt sind. Wir gehen davon aus, dass sie tot sind.“
Zheng wirkte plötzlich nachdenklich. Er hatte bereits ähnliche Pläne erwogen, wie sie der NCIA-Chef offenbar schon versucht hatte, in die Tat um zu setzen. Warum nicht aus den Fehlern der anderen Seite lernen?, ging es ihm durch den Kopf.
„Wir haben eine Hypothese, die das Versagen unseres Plans ebenso erklären würde.“
„Und die wäre?“
„Die Fremden können die Gedanken derer lesen, die sich ihrem Schiff nähern. Auch die geheimsten Regungen. Wir haben zahllose Verhörprotokolle von Personen ausgewertet, die sich bereits an Bord der Schiffe befunden haben. Ich will da jetzt nicht in die Einzelheiten gehen, aber viele dieser Beobachtungen lassen sich ebenfalls in diese Richtung interpretieren.“
„Sie meinen, wir haben es mit einer Rasse von Telepathen zu tun?“, fragte Zheng skeptisch.
„Ja, ich finde, dieser Schluss liegt nahe. Wir sollten weitere Informationen austauschen und unsere nächsten Schritte gegen die Fremden koordinieren.“
„Mr. Brandenburg, Sie hatten mir wertvolle Informationen versprochen und mich dadurch verleitet, Ihnen mehr von meiner kostbaren Zeit und Aufmerksamkeit zu schenken, als Ihnen zusteht. Aber was ich bislang bekommen habe, sind nichts als Vermutungen und wertlose Hypothesen.“ Zheng lachte höhnisch auf. „Sie haben doch wohl nicht im Ernst geglaubt, dass dieses wertlose Gewäsch gewissermaßen als Einlage für eine zukünftige Zusammenarbeit betrachtet werden kann!“
Zheng kicherte in sich hinein und zupfte dabei an seinem Ziegenbart. „Sie müssen noch viel lernen, bevor Sie in die doch etwas größeren Fußstapfen Ihrer Vorgängerin treten können, Brandenburg. Ich bezweifle allerdings, dass das Schicksal Ihnen angesichts der gegenwärtigen Lage Zeit genug dazu geben wird …“
„Majestät …“
„Leben Sie wohl, Brandenburg!“
Der Kaiser wandte sich an General Yu. „Lassen Sie den Kontakt abbrechen. Wir verschwenden hier nur unsere Zeit!“
Das verdutzte Gesicht des düpierten NCIA-Chefs verblasste auf dem Hauptschirm.
Kaltes Neonlicht.
Ein langer, kahler Korridor.
Kaiser Zheng erreichte zusammen mit General Yu und zwei schwer bewaffneten Leibwächtern die Sicherheitsschleuse zu einem besonderen Trakt innerhalb der Festung. Dieser Bereich war buchstäblich in den Qomolangma hineingebaut worden. Jeder Quadratmeter Raum kostete hier Millionen, weil er unter Extrembedingungen aus dem Felds herausgehauen werden musste.
Der Kaiser legte seine Hand auf einen Scanner. Ein weiterer elektronischer Abtaster zeichnete unterdessen sein Irismuster auf. Selbst er, der Herr des Chinesischen Kaiserreichs, konnte an diesen Ort nur gelangen, wenn die Elektronik der Sicherheitsschleuse dazu ihr Okay gab.
Die Schleusentür öffnete sich, nachdem sowohl der Kaiser als auch General Yu die Prozedur über sich hatten ergehen lassen.
Die Wächter blieben vor der Tür stehen.
Stattdessen wurden der Kaiser und sein General im Innenbereich von zwei anderen Bodyguards in Empfang genommen. Sie trugen blaue Overalls und MPs. Darüber hinaus waren sie mit Elektroschockern ausgerüstet.
Die beiden Bewaffneten begleiteten Zheng und Yu den Korridor entlang. Hinter ihnen schloss sich die Schleusentür automatisch.
Sie gelangten in einen Raum, in dem mehrere Personen in weißen Kitteln um einen Bildschirm herumstanden. Bis zum Eintreten des Kaisers hatten die Männer und Frauen in Weiß heftig miteinander diskutiert. Jetzt verstummten ihre Gespräche abrupt.
Alle Augen waren auf den Herrscher gerichtet.
Zheng wandte sich an einen Mann mit dunklen Haaren und dicker Brille.
„Wie weit sind Sie, Professor Kuan?“, erkundigte er sich.
Kuan war der Leiter des chinesischen Klon-Programms.
Ein genialer Biochemiker, der 2032 den Nobelpreis für Chemie gewonnen hatte. Ironischerweise hatte er seine gesamte Ausbildung in den USA absolviert und dort lange Zeit sogar einen Lehrstuhl inne gehabt. Zheng hatte ihn zurück ins Kaiserreich geholt. Hier hatte er alles bekommen, was sich ein Mann wie er nur wünschen konnte. Geld war in dieser Beziehung keine Frage. Männer wie Kuan strebten nicht in erster Linie nach Reichtum, sondern nach optimalen Arbeitsbedingungen. Und die hatte der Biochemiker und Gentechnik-Experte hier gefunden. Sein Etat war nahezu unbegrenzt. Wen immer er in seiner Forschungscrew haben wollte, bekam er.
Kuan deutete eine Verbeugung an.
Er zeigte auf den Bildschirm.
„Sehen Sie selbst! Soldier One hat gerade seine Fähigkeit unter Beweis gestellt, im Infrarot-Bereich und mit Restlichtverstärkung zu sehen.“
Auf dem Bildschirm war ein drahtiger, muskulöser Mann in Kampfhose und T-Shirt zu sehen. Er grinste in die Kamera, bleckte dabei die Zähne ein Raubtier.
Soldier One – die englische Arbeitsbezeichnung für den ersten chinesischen Klon-Kämpfer sprach zwar nicht gerade für eine lupenreine patriotische Einstellung Professor Kuans, aber einer derartigen Kapazität musste man das eine oder andere durchgehen lassen. Diese Bezeichnung war wohl dem langen US-Aufenthalt des Biochemikers geschuldet.
„Soldier One stand in einem völlig abgedunkelten Raum einem Soldaten gegenüber, dessen Datenanzug er mit einem Laserpointer treffen musste.“
„Und?“, fragte der Kaiser.
„Treffer beim ersten Versuch.“
„Eigentlich wurde Soldier One nicht dazu entwickelt, Nachtsichtgeräte einzusparen!“
„Soldier Ones Fähigkeiten gehen über die Restlichtverstärkung eines Nachtsichtgerätes hinaus! Er ist in der Lage, seinen Gegner auch bei völliger Dunkelheit anhand der Wärmeemissionen zu orten!“ Die Begeisterung war dem Wissenschaftler anzumerken. Für einen Asiaten zeigte er seine Gefühle ziemlich offen durch Gestik und Mimik. Eine Unsitte, die er offenbar auch aus Amerika mitgebracht hat, überlegte Zheng.
„Was ist mit der Fähigkeit zur Selbstzündung?“, fragte der Kaiser und stoppte damit Professor Kuan in seinem Redefluss.
Kuan schluckte.
Die Fähigkeiten von Soldier One gingen weit über diejenigen der sogenannten Gen-Androids des US-Klonprogramms hinaus. Soldier One stellte eine Art lebender Bombe dar. Er besaß die Fähigkeit der Selbstzündung. Mit Hilfe eines implantierten Mechanismus war er auf Befehl in der Lage, die Zellsubstanz seines Körpers zur Spaltung anzuregen und Energien freizusetzen, die mit einer Atombombe vergleichbar waren.
„Sie wissen, dass die Selbstzündung erst im Einsatz getestet werden kann“, sagte Kuan. „In einem Einsatz, den dieser Klon nicht überleben wird. Und solange nur einziger Prototyp existiert …“
„Sie könnten aber testen, inwiefern Soldier One in der Lage ist, die Spaltung der Zellsubstanz anzuregen.“
„Der Prozess müsste gestoppt werden, bevor die Zellen soweit angeregt sind, dass der Point ofno Return überschritten ist!“, erkannte Kuan.
„Wie schön, dass Sie für dieses Problem gleich eine Lösung parat haben“, erwiderte der Kaiser und quittierte den anglophilen Einwurf seines Gegenübers mit einer deutlichen Spur Süffisanz.
„Eine solche Vorgehensweise ist nicht ohne Risiko! Im schlimmsten Fall fliegt uns die Qomolangma-Festung um die Ohren, Majestät!“
„Darauf lasse ich es ankommen. Ich muss sicher sein, dass der Mechanismus wirklich funktioniert und Soldier One in der Lage ist, ihn absolut zu kontrollieren.“
„Dafür müssten wir ein entsprechendes Programm in seinem Gehirn fixieren, das von seinem Bewusstsein völlig unabhängig ist. Schließlich darf sich der Klon über seine Bedeutung als lebende Bombe nicht im Klaren sein.“
„Sehr richtig“, stellte der Kaiser fest. „Dieser Punkt war vermutlich der Fehler, den Brandenburg und seine Leute gemacht haben. „Sind die künstlichen Erinnerungen bereits erfolgreich implementiert?“
„Nein. Im Moment ist der Klon noch in einem unbewussten Zustand. Sein Gehirn gleicht bislang einer zu neunzig Prozent unbespielten Festplatte. Er verfügt über Kampfreflexe und lernt seinen Körper zu kontrollieren. Basiswissen ist über einen implantierten Chip abrufbar. Im Moment tut er alles, was man ihm sagt.“
Der Kaiser lächelte.
„Wie ein Hypnotisierter!“
Kuan hob die Augenbrauen.
„Der Vergleich stimmt zumindest in der Hinsicht, dass er sich an nichts von dem erinnern wird, was mit ihm zurzeit geschieht.“
„Lassen Sie ihn so schnell wie möglich erwachen, Kuan. Wir brauchen diese lebende Bombe so schnell wie möglich …“
Kuan atmete hörbar aus. „Das ist noch ein ganzes Stück Arbeit.“
„Sie haben nicht mehr als zwei Wochen, Professor. Dann muss dieser Klon einsatzfähig sein.“
„Wie bitte?“
„Besser, Sie werden schneller fertig.“
Gegenwart …
211 nach der Ankunft …
Er sieht dem Kaiser zum Verwechseln ähnlich!, ging es John Bradford durch den Kopf, als er den Rebellenführer von der Seite ansah. Zheng Gao, Nachfahre des einzigen Kaisers, den das neo-chinesische Reich hervorgebracht hatte. Er stand am Fenster, blickte hinaus auf das sogenannte Ghetto, die strahlenverseuchte Zone auf dem Boden des ehemaligen Peking. Bradford fühlte beim Anblick des Rebellenführers unwillkürlich an die Fernsehbilder des chinesischen Kaisers erinnert. Aber das war in einem anderen Zeitalter!, rief er sich ins Gedächtnis.
Sie befanden sich im fünften Stock eines quaderförmigen Gebäudes, das den Rebellen offenbar als Hauptquartier und Unterschlupf diente.
„Ich bestehe darauf, dass Sie mich und Josephine jetzt endlich über das aufklären, was in den vergangenen zwei Jahrhunderten geschehen ist. Seit der Ankunft, wenn Sie es so ausdrücken wollen …“
Zheng Gao drehte sich herum. Er hob die dünnen Augenbrauen.
„So, Sie bestehen darauf?“, echote er.
„Sie haben genetische Tests an meiner Begleiterin und mir durchgeführt. Die Ergebnisse werden Ihnen sagen, dass ich Ihnen die Wahrheit gesagt habe!“
Der Rebellenführer bedachte den 28-jährigen durchtrainierten Mann mit einem nachdenklichen Blick. Misstrauen las John Bradford in den Augen seines Gegenübers. Nichts anderes als Misstrauen und Furcht. In gewisser Weise konnte Bradford Zheng Gao sogar verstehen. Die Rebellenorganisation war natürlich in ständiger Gefahr entdeckt und infiltriert zu werden. Aber bei allem Verständnis, das Bradford für die Vorsicht des Rebellenführers aufbringen konnte, so wollte er doch jetzt endlich wissen, woran er war. Und dies galt nicht nur für die jetzige Situation auf der Erde und die Geschichte ihrer Entstehung, sondern mindestens ebenso für die Ziele der Rebellen. Auch in dieser Hinsicht wollte Bradford nicht länger im Unklaren gelassen sein.
Zhengs Blick wanderte von Bradford zu Josephine, die relativ teilnahmslos das Gespräch verfolgte. Sie hatte in einem Schalensitz Platz genommen und die Beine übereinander geschlagen. Ihr Blick wirkte abwesend.
Ein Ruck ging durch Zheng Gao, als er sich wieder Bradford zuwandte.
„Was Sie sagen, ist richtig. Anhand der Gentests können wir bestätigen, dass Sie tatsächlich aus der Zeit der Ankunft stammen müssen. Und auch die anderen Untersuchungen sprechen dafür …“
„Vielleicht wäre in Anbetracht dieser Tatsache ein kleiner Vertrauensvorschuss angemessen“, meinte Bradford. „Was ist zum Beispiel das Ziel Ihrer Organisation? Und wie kam es zu der offenbar beherrschenden Rolle, die die Menschen in der Galaxis spielen?“
„Sie sind ein ungeduldiger Mann, Bradford.“
„Nein, ich finde ganz im Gegenteil, dass ich mich schon lange genug zurückgehalten habe. Anhand Ihrer Untersuchungsergebnisse können Sie sehen, dass von uns keine Gefahr ausgeht.“
„Sie sollen alles erfahren, Bradford. Aber ich glaube nicht, dass jetzt schon der richtige Zeitpunkt dafür gekommen ist …“
„Und wie lange gedenken Sie, uns noch hinzuhalten?“
„Ich persönlich habe großes Verständnis für Ihre Ungeduld, Bradford.“
„Davon merke ich im Moment aber nicht sonderlich viel!“
Der Rebellenführer trat einen Schritt auf Bradford zu. Ein mildes Lächeln umspielte seine Lippen. „Sie kommen nach einem Sprung von zweihundert Jahren in eine völlig veränderte Welt. Niemand, den sie kannten, existiert noch. Die Verhältnisse haben sich gegenüber der Epoche, aus der Sie stammen, so grundlegend geändert, wie es bei keinem Umbruch, den es zuvor in der menschlichen Geschichte gegeben hat, der Fall war. Aber Sie müssen auch mich verstehen, Bradford. Ich muss an die Sicherheit meiner Leute denken. Die andere Seite ist uns haushoch überlegen, während unsere Mittel sehr beschränkt sind. Mit großer Mühe haben wir uns hier im Ghetto eine Operationsbasis geschaffen, die wir nicht gefährden dürfen. Um keinen Preis. Auch, wenn Ihnen unsere Vorsicht vielleicht übertrieben erscheinen mag – für uns gibt es wahrscheinlich nur diese eine Chance. Eine Zweite bekommen wir nicht.“
Zheng Gao machte eine Pause. John Bradford bemerkte, dass sich die Hände des Rebellenführers zu Fäusten geballt hatten. Einen Augenblick lang presste er die Lippen fest aufeinander, dann erst entspannte sich sein Gesichtsausdruck wieder. Schließlich fuhr er fort: „Nicht mehr lange, und unsere Organisation will ihren Operationsbereich auf den gesamten Planeten ausdehnen und die Türme der Fremden angreifen, die vor über zwei Jahrhunderten auf der Erde landeten. Dafür lebe ich, dafür kämpfe ich, und dafür bin ich auch bereit zu sterben. Und ich werde alles tun, um diese Mission nicht zu gefährden.“
Josephine erhob sich plötzlich aus ihrem Schalensitz.
Bradford war etwas irritiert.
Schon eine ganze Weile war die Klon-Matrix eigenartig verschlossen und sprach nur das Nötigste.
Sie wandte sich an Zheng Gao.
„Ich möchte noch einmal in den Raum mit den Stase-Behältern, die aus der Nevada-Wüste geborgen wurden“, erklärte sie plötzlich.
Zheng Gao zog die Augenbrauen zusammen. Eine tiefe Furche entstand mitten auf seiner Stirn.
„Weshalb?“
„Sagen wir, es hat emotionale Gründe.“
„Wie soll ich das verstehen?“
„Als ich den Körper von Ronald Brandenburg im Stase-Behälter sah …“ Sie schluckte. Ihre Stimme hatte einen belegten Klang bekommen. „Ich war eine Weile seine Geliebte und dachte eigentlich, dass ich damit abgeschlossen hätte, aber …“ Josephine sprach nicht weiter. Sie hob den Kopf und sah Zheng Gao direkt in die Augen. „Ich bin in Ihren Augen vielleicht ein prähistorischer Gen-Android, aber das sollte niemand mit einem Roboter verwechseln!“
„Das tut in unserer Zeit auch niemand.“
„Ich bin auch eine Frau mit Emotionen.“
John Bradford musterte Josephine, studierte den Blick ihrer grünen Augen. Statt Brauen hatte sie verschnörkelte Tattoos. Sie strich sich das violett-schwarze Haar mit einer Geste zurück, die ihre Weiblichkeit unterstrich.
Es ist ein Vorwand!, erkannte John Bradford. Er glaubte sie inzwischen gut genug zu kennen, um das einschätzen zu können. Die Frage ist nur, was sie vorhat …
Zheng Gao überlegte kurz, dann nickte er. „Gut, gehen Sie.“
„Danke.“
„Ein paar meiner Leute werden Sie natürlich begleiten.“
„Ich habe nichts dagegen einzuwenden.“
Als Josephine von drei Bewaffneten abgeholt wurde, war der Streit zwischen John Bradford und dem Rebellenführer wieder aufgeflammt.
Josephine hörte die Stimmen der beiden noch einen Augenblick, bis sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte. Zwei der Männer nahmen sie in die Mitte, der Dritte ging voran. An ihren Gürteln waren pistolenähnliche Waffen an Magnethalterungen befestigt. Josephine vermochte nicht zu sagen, was diese Waffen verschossen. Die Waffentechnik hatte sich in den letzten zwei Jahrhunderten zweifellos weiter entwickelt.
„Zheng Gao scheint ja ziemlich große Angst vor mir zu haben, wenn er meint, dass eine so starke Bewachung vonnöten ist, um mich in Schach zu halten“, sagte Josephine scherzhaft, während sie den Korridor entlanggingen.
„Zheng Gao geht gerne auf Nummer sicher“, meinte einer der Männer. Er ging links von ihr und war der Größte der drei.
„Was sind das für Waffen, die Sie tragen?“, erkundigte sich Josephine. „Ich habe solche Dinger bislang noch nie gesehen …“
„Glaube ich Ihnen gerne. Es sind Laserstrahler. Kann man als Handfeuerwaffe und notfalls auch als Schneidwerkzeug benutzen. Sind aber nicht mehr der neueste Stand der Militärtechnik.“
„Und die internen High-Tech-Komponenten halten das Strahlenniveau des Ghettos aus?“, erkundigte sich Josephine.
Der Mann lachte rau.
„Haben wir fast alles ausgebaut. Die ganze Elektronik. Das Ding ist ein ganz primitiver Strahler. Man betätigt den Auslöser und feuert. Kein Schnickschnack. Weder Zielerfassung noch Intensitätsdosierung und dergleichen.“
„Verstehe …“
„Für uns immer noch gut genug“, meinte der andere. „Tödlich sind sie jedenfalls …“
Er grinste Josephine an.
Sie erwiderte dies mit einem Lächeln.
Das Blitzen in ihren Augen passte nicht dazu.
Sie erreichten schließlich den abgeschiedenen, unterirdischen Raum, in dem sich die Stase-Behälter befanden. Den Angaben von Zheng Gao und seinen Rebellen nach waren die Stase-Tanks in einem geheimen, in der Wüste von Nevada gelegenen US-Stützpunkt gefunden und zu Kaiser Zheng gebracht worden. Die Körper von drei Männern und zwei Frauen lagen in den Tanks, deren Aufweckmechanismus nie aktiviert worden war. Die ehemalige US-Präsidentin Sarah Custer war ebenso unter den Schläfern wie ihr persönlicher Berater Sid Palmer und der wissenschaftliche Leiter des Telepathenprojekts der US-Regierung Professor Dr. Xander Hays.
Und nicht zu vergessen Ronald Brandenburg, durchzuckte es Josephine. Ihn hier vorzufinden, in einem mehr als zwei Jahrhunderte alten Stase-Behälter, hatte eine ganze Palette von Emotionen in ihr ausgelöst. Emotionen, die sie teilweise noch nicht einzuordnen wusste.
Josephine blieb zwischen den Tanks stehen.
Ihr Blick fiel dabei auf den fünften Tank. Zwar war er wie alle anderen Tanks vollkommen intakt geblieben, aber in seinem Inneren befand sich eine mumifizierte Frauenleiche, die Josephine bei ihrer ersten Begegnung erkannt hatte.
Es handelte sich um eine Klon-Kopie ihrer selbst.
Ein Gen-Android-Abbild.
Das Telepathenmädchen Josephine …
Etwas ruckartig wandte sie den Blick ab.
Ihr stand nicht der Sinn danach, in ein totes Gesicht zu sehen, dass letztlich ihr eigenes war.
„Lassen Sie sich durch unsere Anwesenheit nicht stören“, sagte einer der Bewacher. Er lehnte sich gegen den Stase-Tank, in dem sich Ronald Brandenburg befand. Josephine trat an ihn heran.
„Keine Sorge – das werde ich auch nicht.“ Josephine blickte zur Deckenbeleuchtung. „Habt ihr eigentlich keine Angst, dass die Energie mal ausfällt und der Inhalt der Tanks zum Teufel geht?“
Der Bewaffnete schüttelte den Kopf. „Es gibt ein Notaggregat, das sich nach 10 Sekunden Energieausfall automatisch aktiviert.“
„Verstehe …“
Josephines rechte Hand berührte leicht Brandenburgs Stase-Tank. Eine Staubschicht hatte sich gebildet.
Ronald …
Josephines Gesicht veränderte sich kaum merklich.
Ein Ausdruck von Härte kennzeichnete plötzlich ihre Züge. Der Bewacher bemerkte es zu spät.
Ein blitzschneller, mit äußerster Präzision durchgeführter Schlag gegen die Schläfe schaltete den Bewacher augenblicklich aus.
Er rutschte zu Boden.
Josephine riss ihm den Strahler von der Magnethalterung seines Gürtels. Die beiden anderen Bewacher befanden sich in einer Entfernung von jeweils mehreren Metern. Sie griffen reflexartig zu den Strahlern.
Josephine warf sich zu Boden, während ein grellroter Strahl dicht über sie hinweg zischte und sich irgendwo in die Wand hinein brannte. Josephine wusste, dass sie nicht beide Gegner auf einmal ausschalten konnte.
Sie rollte sich am Boden ab, riss den Strahler in ihrer Faust hoch und drückte ab.
Der Strahl traf die Deckenbeleuchtung.
Die Gen-Android-Matrix ließ den hochkonzentrierten Laserstrahl an der Decke entlang streifen. Innerhalb von Sekunden wurde es stockdunkel.
Die beiden noch kampffähigen Wächter konnten buchstäblich nicht mehr die Hand vor Augen sehen.
Für Josephine jedoch galt das nicht.
Sie schaltete ihre Augen auf Infrarotlicht um.
Die beiden Bewacher waren durch ihre Wärmeabstrahlungen für sie deutlich sichtbar. Zumindest in Umrissen. Den Strahler wollte Josephine nicht noch einmal einsetzen. Zu groß erschien ihr die Gefahr, etwas an den Tanks zu beschädigen. Schließlich war sie im präzisen Umgang mit dieser Waffe nicht geschult.
Mit lautlosen, katzenhaften Bewegungen näherte sie sich dem ersten der Männer, der hilflos mit seinem Strahler in der Dunkelheit herumfuchtelte.
Mit einem wuchtigen Schlag sorgte sie dafür, dass er bewusstlos in sich zusammenklappte.
Dann wirbelte sie herum, schnellte vor und näherte sich dem Letzten der Drei.
Bis auf einen halben Meter war sie an ihn herangekommen, als das Notaggregat angeschaltet wurde. Eine schwache Behelfsbeleuchtung flackerte auf.
Der Bewaffnete wirbelte herum, riss den Strahler hoch.
Josephine ließ ihm keine Chance.
Sie rammte ihm den Strahler vor den Solarplexus. Ihre Faust erwischte ihn einen Sekundenbruchteil später an der Schläfe.
Schwer fiel der Wächter zu Boden und blieb dort in eigenartig verrenkter Stellung liegen. Der Strahler rutschte ihm aus der Hand.
Josephine atmete tief durch. Ihre Züge wirkten angespannt. Sie hatte ihre Augen längst auf Normalsicht umgeschaltet.
Jetzt trat sie an den Stase-Tank von Ronald Brandenburg. Ihre Finger glitten über ein kleines Terminal, das in die Außenhaut des Tanks integriert war. Ich frage mich, wie du zweihundert Jahre Tiefschlaf überstanden hast, Ronald, ging es ihr durch den Kopf.
Meine Kinder … Ich kann nicht bei ihnen sein und ihnen den gewohnten Schutz geben!
Dieser Gedanke durchzuckte Otlej, den Pflanzenhüter, wie ein quälend greller Blitz. Er stand am Fenster, blickte hinaus auf das sogenannte Getz, das die Größe einer Stadt von etwa 500 000 Einwohnern hatte. Am Horizont hörte die Stadtlandschaft auf. Dort begann die mit außerirdischen Pflanzen aller Art bewachsene Zone, die das Ghetto wie ein breiter Gürtel umgab. Ich müsste dringend zurück. Ein Gedanke, der ihn bereits beherrschte, seit ihn die Leute von Zheng Gao zusammen mit John Bradford, Josephine und dem Klon-Mädchen Naea hier her gebracht hatten. Ins Hauptquartier einer Rebellenorganisation. Als ein Gefangener, war ihm klar. Da sollte ich mir nichts vormachen. Ich bin nicht frei, zu gehen … Zurück zu meinen grünen Kindern …
Innerhalb eines gewissen Bereichs war es ihm und Naea gestattet, sich frei zu bewegen.
Aber falls es ihm einfallen sollte, das HQ einfach zu verlassen, so war er sich sicher, dass Zheng Gao und seine Leute ihn daran gewaltsam hindern würden. Schon um ihrer eigenen Sicherheit willen.
„Denkst du an deine Kinder?“, fragte Naea. Sie befand sich ebenfalls in dem eher spärlich eingerichteten Aufenthaltsraum. Sie hatte ihn eine ganze Weile beobachtet.
Otlej drehte sich zu der Zehnjährigen um.
Ein mattes Lächeln glitt über sein Gesicht.
„Ja.“
„Hörst du ihre Stimmen?“
„Nur schwach.“
„Macht dich das traurig?“
„Ja.“
Er hatte ihr bereits von seinen Kindern erzählt. Ein Begriff, mit dem er die Pflanzen bezeichnete, um die er sich als Pflanzenhüter zu kümmern gehabt hatte, und mit denen er in mentalem Kontakt stand.
Naea hatte einiges in der Schule über die Aufgaben von Pflanzenhütern erfahren. Aber natürlich war ihr niemals einer begegnet, was auch kein Wunder war. Schließlich lebten Pflanzenhüter normalerweise zurückgezogen in den Naturreservaten, die einen Großteil der Erdoberfläche einnahmen.
Otlej allerdings hatte ein ganz besonderes Reservat zu betreuen. Auch davon hatte er Naea inzwischen erzählt. Die pflanzlichen Ungeheuer, die rings um die Ghetto-Zone herum wuchsen, bildeten einen tödlichen Ring, den keiner der Ghettobewohner aus eigener Kraft zu durchdringen vermochte. Es sei denn, er wollte Gefahr laufen, von fleischfressender Flora zumeist außerirdischer Herkunft bei lebendigem Leib verdaut zu werden.
„Wenn man es genau nimmt, dann bist du eine Art Wächter für die Ghetto-Zone“, stellte Naea nach einer längeren Pause des Schweigens fest.
Otlej hob die Augenbrauen.
„Nein, ich bin nur ein Hüter meiner Kinder.“
„Immerhin hütest du deine sogenannten Kinder – anders als die Eltern mancher Menschen!“, stieß Naea hervor. Im Tonfall des Mädchens klang eine deutliche Spur Bitterkeit mit, die auch dem Pflanzenhüter nicht entging.
„Was meinst du damit?“, fragte er. „Ist es nicht die Pflicht von Eltern, ihre Kinder zu beschützen und sich um sie zu kümmern, so gut sie können?“
„Ja, das dachte ich auch immer …“ Naea schluckte. In ihren Augen glitzerte es feucht. Sie wischte sich kurz über die Augen. „Ich kann es noch immer nicht fassen“, stieß sie dann hervor.
„Was kannst du nicht fassen, Naea?“
„Meine Eltern haben nicht einmal den Versuch unternommen, meine Abschiebung ins Ghetto zu verhindern, Otlej! Es schien ihnen gleichgültig zu sein. Ja, fast könnte man im Rückblick vermuten …“
Naea brach ab.
„Was?“, hakte der Pflanzenhüter nach.
Es schien dem Mädchen schwer zu fallen, über diesen Punkt zu reden. „Sie schienen meine Abschiebung richtig zu finden.“
„Es fällt mir schwer, das zu verstehen“, gestand Otlej.
„Und mir erst.“ Sie ballte die linke Hand zur Faust und klopfte sich damit gegen die Stirn. „Es ist ein vollkommen absurdes System, findest du nicht?“
„Ich habe keine entschiedene Meinung dazu“, bekannte der Pflanzenhüter.
„Ich aber!“, brauste Naea auf. „Das ist doch Wahnsinn! Die Menschen in Metrops loggen sich in die Bewusstseine von Wesen auf anderen Planeten ein, manipulieren deren Leben, als ob es sich um ein Spiel handelt.“
„Aber das ist es nicht?“
„Natürlich nicht!“ Sie seufzte und schüttelte anschließend entschieden den Kopf. „Und ich, die ich es gewagt habe, hinter die Kulissen zu schauen, werde an einen Ort wie diesen verbannt! Eine strahlenverseuchte Zone, umgeben von einem Urwald aus Mörderpflanzen! Das ist doch …“ Sie schüttelte sich. „Ich habe keine Worte dafür. Und wenn es nach mir ginge, dann würde ich die Herrschaft der Alien-Master über die Erde sofort beenden. Ich finde, sie haben kein Recht zu dem, was sie mir und all den anderen Menschen im Ghetto angetan haben!“
Der Pflanzenhüter war sichtlich überrascht.
„Niemand wäre mächtig genug, um die Herrschaft der Alien-Master zu beenden“, stellte er fest. Es gefiel ihm nicht, was das Mädchen gesagt hatte. Sein festgefügtes Weltbild wurde dadurch aus dem Gleichgewicht gebracht.
„Wer weiß“, meine Naea. „Die Leute, bei denen wir sind, scheinen daran zu arbeiten …“
„Woran?“
„An einen Umsturz natürlich.“ Sie ging auf ihn zu, musterte ihn mit gerunzelter Stirn. „Sag bloß, du bist mit deinem Leben, so wie es war, immer zufrieden gewesen.“
„Ja, das bin ich“, erklärte Otlej. „Ich war immer glücklich. Mit meinen Kindern …“
Naea verdrehte die Augen.
Manchmalist er schon etwas einfältig, dachte sie. Aber das kommt vielleicht daher, weil er so lange Zeit nichts anderes gesehen hat, als seinen Mörderwald. Seine KINDER, wie er sagt. Aber eigentlich ist er ganz nett.
Immerhin hatte sie einen Gesprächspartner, der ihr zuhörte. Der ihre Argumente wirklich ernst nahm. Und das war mehr, als sie je gehabt hatte.
„Ich denke, wir sind Ihre natürlichen Verbündeten, Zheng Gao“, sagte John Bradford. „Unser Wissen über die Vergangenheit kann Ihnen vielleicht von großem Nutzen sein. Vertrauen Sie uns, dann …“
Bradford kam nicht mehr dazu, seinen Satz zu beenden. Alarmsirenen schrillten.
Ein kahlköpfiger Chinese betrat den Raum.
„Einige Stase-Kammern sind leer!“, rief er.
Der Rebellenführer war fassungslos.
„Das darf doch nicht wahr sein!“
„Drei unserer Männer wurden zusammengeschlagen …“
Zheng Gao ballte die Hände unwillkürlich zu Fäusten.
Tiefe Furchen bildeten sich auf seiner Stirn
Er hob den Kopf und sah Bradford mit einer Leichenbittermiene an.
„Und Sie reden von Vertrauen?“, höhnte er. „Gut, dass ich darauf nicht eingegangen bin.“
„Was ist genau geschehen?“, verlangte Bradford zu wissen, obwohl er es längst ahnte. Josephine …
„Folgen Sie mir in den Raum, in dem sich die Stase-Kammern befinden. Dann wird sich zeigen, wem Ihre Loyalität wirklich gehört!“
„Ich verstehe nicht!“
„Das werden Sie früh genug!“
„Was immer dort geschehen sein mag, ich habe nichts damit zu tun!“
„Wollen Sie vielleicht auch noch so dreist sein und das ebenfalls von Ihrer Begleiterin behaupten?“
Bradford folgte Zheng Gao in den Korridor. Bewaffnete begleiteten sie mit dem Strahler im Anschlag. Sie nahmen Bradford in die Mitte. Er hatte beinahe das Gefühl, wie ein Gefangener abgeführt zu werden.
Wenig später erreichten sie den Raum mit den Stase-Tanks.
Der Raum war bereits voll von bewaffneten Rebellen und Sanitätern, die sich um Verletzte kümmerten.
Bradford sah sich um und registrierte sofort, das einige der Behälter geöffnet waren. Lediglich die Tanks von Sarah Custer und der mumifizierten Telepathin waren noch unversehrt.
Ein Mann in grauem Overall gab Anweisungen an mehrere Rebellen. Er schien Arzt zu sein. Drei bewaffnete Männer, die Josephine offenbar hierher begleitet hatten, waren schwer zugerichtet worden. Mühsam fanden sie nach und nach wieder ins Bewusstsein zurück.
„Ich hoffe, Sie haben eine Erklärung dafür, Bradford!“, rief der Rebellenführer ziemlich außer sich. „Es ist nicht zu fassen – soeben versuchen sie noch, mich nach allen Regeln der Kunst auszuhorchen, und gleichzeitig schlägt Ihre Begleiterin meine Leute nieder, vergreift sich an den Stase-Tanks und setzt den Aufweckmechanismus in Gang …“
Einer der Rebellen wandte sich an Zheng Gao.
Das entband Bradford immerhin von der Notwendigkeit, sofort zu antworten.
„Brandenburg, Palmer und Hays sind verschwunden“, meldete der Rebell.
„Nicht zu vergessen diese Josephine!“, murmelte der Anführer der Rebellen mit düsterem Unterton. Der Blick seiner dunklen Augen schien John Bradford geradezu zu durchbohren. „Was ist, hat es Ihnen die Sprache verschlagen?“
„Ich habe keine Erklärung für Josephines Verhalten“, gestand Bradford, der mehr als nur verwirrt war. Was mochte die Gen-Android-Matrix nur vorhaben? Eigentlich gibt es da doch nur eine mögliche Erklärung, auch wenn sie dir nicht gefällt!, durchzuckte es Bradford. Brandenburg! Vielleicht hat sie mir die ganze Zeit nur etwas vorgemacht und stand ihm doch erheblich näher, als sie mir weiszumachen versuchte …
Der Gedanke gefiel Bradford nicht, aber andererseits schienen die Tatsachen eindeutig für diese Variante zu sprechen.
Erneut wandte sich einer der Bewaffneten an seinen Anführer. Offenbar gab es Aufzeichnungen einer Überwachungskamera.
Zheng Gao und John Bradford folgten dem Bewaffneten zu einem Bildschirm über den wenig später eine Bildsequenz flimmerte, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ.
Die Kaltschnäuzigkeit, mit der Josephine vorgegangen war, überraschte Bradford.
Er sah, wie sie den ersten Wächter ausschaltete, anschließend für absolute Dunkelheit sorgte und die zehn Sekunden bis zur Aktivierung des Notaggregats dazu nutzte, die beiden anderen Bewacher auszuschalten.
Was den letzten noch kampffähigen Rebellen anging, so wäre die Sache um ein Haar schief gegangen. Die Zeit bis zur Aktivierung des Notaggregats war einfach etwas zu knapp bemessen gewesen. Selbst für eine – gemessen an menschlichen Maßstäben – nahezu perfekte Klonkriegerin wie Josephine.
„Es scheint, als sei ich verraten worden“, sagte Bradford düster. In seinem Hirn hämmerte unaufhörlich ein einziger Gedanke: Warum? Er konnte es nicht verstehen. Warum hatte die hochintelligente Josephine ihre Lage durch diese Einzelaktion so mutwillig erschwert.
Jetzt wird es fast unmöglich sein, das Vertrauen des Rebellenführers zu gewinnen, überlegte Bradford.
Er selbst wäre vielleicht an Zhengs Stelle ebenso verfahren.
Der Rebellenführer wandte sich an einen seiner Leute. „Wir müssen verhindern, dass Josephine und die Schläfer das Hauptquartier verlassen.“
„Vielleicht haben sie das schon“, gab der Mann zur Auskunft.
„Es müssen sämtliche Kräfte darauf konzentriert werden, sie wieder einzufangen.“
„Jawohl.“
„Wenn sie erst einmal im Dschungel der Ghetto-Zone untergetaucht sind, dann wird es für uns sehr schwer, sie noch in die Hände zu bekommen! Schließlich haben wir keine Riesenarmee zur Verfügung, die sämtliche Ethno-Viertel durchkämmen und auf den Kopf stellen könnte.“
„Mal davon abgesehen, dass Ihre Organisation dann wohl auch Gefahr liefe, entdeckt zu werden, nicht wahr?“, mischte sich Bradford ein.
Im Gesicht des Rebellenführers zuckte unruhig ein Muskel unterhalb des linken Auges. „Ich möchte zu gerne wissen, welche Rolle Sie und Ihre Begleiter in diesem falschen Spiel wirklich spielen.“
„Vielleicht könnte ich Ihnen helfen, Josephine zu finden.“
„Sie werden verstehen, dass ich mich nach den jüngsten Ereignissen ungern auf Sie verlasse, Bradford.“
„Niemand kennt sie so gut wie ich“, sagte Bradford.
Ein Satz, der ein gedankliches Echo in seinem Kopf nach sich zog.
Niemand außer Ronald Brandenburg.
„Sie müssen das Gebäude schon verlassen haben“, meldete der Rebell seinem Anführer. „Wir haben alles auf den Kopf gestellt.“
„Zu dumm, dass in der Zone der Großteil an High-Tech-Geräten nicht funktioniert“, knurrte Zheng Gao. „Sonst könnte man sie einfach orten. Aber so wird die Suche nach ihnen wohl der berühmten Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen gleichen.“
Der Rebellenführer fuhr sich mit einer fahrigen Geste über das Gesicht.
John Bradford saß etwas abseits in einem Schalensessel.
Sie befanden sich in einem Raum, der so etwas wie der Kommandoraum der Rebellen zu sein schien.
Eine Frau mit gelocktem blondem Haar betrat den Raum.
Ihre Gesichtszüge waren allerdings eindeutig asiatisch.
„Sie haben eines der alten Hovercars gestohlen“, meldete sie.
Zheng Gao wirbelte herum.
„Welchen?“
„Den K345.“
„Das war unglücklicherweise der Hovercar, der am zuverlässigsten funktioniert.“ Er wandte sich an Bradford. „Leider funktionieren Antischwerkraftgleiter nur in wenigen Bezirken des Ghettos, in denen die Strahlung offenbar geringer ist. Ansonsten sind wir auf einfache Technik angewiesen …“
„Sie können das Ghetto mit diesem Hovercar nicht verlassen, nehme ich an“, sage Bradford.
„Unmöglich. Die Fahrzeuge sind sehr unzuverlässig und taugen nur dazu, weitere Strecken innerhalb der Ghetto-Zone zurückzulegen.“ Er wandte sich an die Frau. „Ich möchte, dass unsere Leute sich über das Zonengebiet verteilen und umhören. Ein K345 wird sicher auffallen! Zumal er von Leuten benutzt wird, die sich mit den Eigenheiten dieses Museumsstücks nicht auskennen.“
„In Ordnung“, nickte die junge Frau.
„Ich möchte, dass Einsatzgruppen von jeweils drei bis vier Leuten eingeteilt werden und sich systematisch jedes Zonenviertel vornehmen!“
„Jawohl.“
Sie nickte, drehte sich um und verließ den Raum.
„Ich würde Ihnen gerne helfen“, wiederholte Bradford an den Rebellenführer gerichtet.
„Sie hätten mir helfen können, indem Sie Ihre Begleiterin davon abgehalten hätten, die Schläfer zu wecken!“, erwiderte Zheng Gao unwirsch.
„Das ist unfair“, erwiderte Bradford.
„Ach, ja?“
„Ich hatte wirklich nicht die geringste Ahnung von den Absichten meiner Begleiterin.“
„Sie wirken bislang nicht sehr überzeugend auf mich.“
„Zweifellos besteht eine sehr enge Bindung zwischen Brandenburg und Josephine. Eine Bindung, die weit über die Tatsache hinausgeht, dass Josephine Brandenburgs Geliebte war.“
„Was meinen Sie damit, Bradford?“
John Bradford zuckte die Achseln. „Ich kann es nicht erklären. Aber inzwischen habe ich Josephine gut genug kennengelernt, um das deutlich spüren zu können. Ich denke, dass sie mir einiges verschwiegen hat …“
Die Blicke der beiden Männer begegneten sich. Bradford fühlte sich scheußlich. Insgeheim hoffte er, dass es doch einen guten Grund für Josephines Handlungsweise gab. Einen Grund, den auch er – Bradford – billigen konnte. Aber so sehr er sich auch das Hirn über diese Frage zermarterte, er fand einfach kein Indiz, das in diese Richtung wies. Habe ich mich wirklich so in ihr täuschen können?