Seekunstmord - Julian Biberger - E-Book

Seekunstmord E-Book

Julian Biberger

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Beschreibung

Fulminant, facettenreich, faszinierend: der Bodensee von seiner dunkelsten Seite! Kommissar Marc Steingruber hat seinen letzten Fall noch nicht verdaut, da erschüttert eine Reihe aufwendig inszenierter Morde die Region. Dann tauchen an den Kunstwerken rund um den See Porzellanfiguren in Form eines Wolfs auf. Gemeinsam mit seiner neuen Kollegin Aaliyah sucht Marc fieberhaft nach Hinweisen auf den Täter, der ihnen immer einen Schritt voraus zu sein scheint. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt – an dessen Ende eine grauenvolle Wahrheit steht.

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Julian Biberger, Jahrgang 1989, lebt in Meckenbeuren am Bodensee, schrieb als freier Journalist in den Bereichen Sport und Kultur und begleitete den Rapper Kay One in der PR-Beratung. In seiner Freizeit ist er als passionierter Läufer auf den bodenseenahen Strecken, als enthusiastischer Eisbader auch in der kältesten Jahreszeit im See und als begeisterter Wildlife-Fotograf in der Natur anzutreffen.

Die Protagonisten und die Handlung dieses Kriminalromans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig. Mit Inhabern öffentlicher und geistlicher Ämter sind zu keiner Zeit reale Personen gemeint. Einige Ereignisse sind an historische Begebenheiten sowie an reale Geschehnisse angelehnt. Mancherlei Örtlichkeit ist des atmosphärischen Lokalkolorits wegen adaptiert. Dieses Buch hat keinerlei Anspruch auf einen Tatsachenbericht. Die Ortskundigen mögen dem Autor daher einige Freiheiten in den beschriebenen Örtlichkeiten nachsehen.

© 2024 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Westend61/Markus Keller

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

Lektorat: Hilla Czinczoll

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-166-9

Bodensee Krimi

Originalausgabe

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Für Mama und Papa,

Schwester und Schwager,

Oma und Opa,

Sandra.

Und ich dacht’: es kann der Knabe mit der schönen, lichten Gabe wahrlich nicht der Böse sein.

Johann Wolfgang von Goethe, »Der Schatzgräber«

Ein Kunstwerk ist ein Traum von Mord, der durch eine Tat verwirklicht wird.

Jean-Paul Sartre, »Saint Genet – Comédien et martyr«

Das Verbrechen wird verherrlicht, weil es eine der schönen Künste ist, weil es nur das Werk von Ausnahmenaturen sein kann, weil es die Monstrosität der Starken und Mächtigen enthüllt, weil auch noch die Ruchlosigkeit ein Privileg ist.

Michel Foucault

10.August 1862

Lieber Freund und Bruder Amandus Wendelin zu Mehrerau!

Wozu treibt sie die Herzen der Sterblichen denn nicht, Gier nach Gold, die Fluchwürdige! Lehrte uns nicht dereinst der Herr Jesus Christus, unsere Schätze nicht auf Erden zu horten? Wo Motten, Rost und der Zahn der Zeit an ihnen nagen? Lehrte er uns nicht, vielmehr guten Herzens nach Höherem zu streben und uns Schätze im Himmel anzuhäufen? Das Göttliche offenbart sich nicht im Materiellen.

Die Kunst sei davon unberührt. Einzig sie vermag es, im Bilde die Frömmigkeit naturgemäß zu verewigen. Das, mein treuwürdiger Bruder Amandus Wendelin, hat uns das Konzil von Nicaea anno 787 gelehrt. Die Gier dagegen ist unstillbar. Und sie ist die Wurzel alles Bösen.

Im Antlitz des Augustvollmondes, mein geliebter Bruder Amandus Wendelin, hat heute Nacht auf dem Pferdekopf in der Triskele, an der der Boden liegt, die Kunst Wurzeln über die Goldsucht geschlagen. Der Eberling hatte mich gestern bestellt. Zu Ehren des Wiegenfestes sollte ich tief im Pferdeschlund eine Heimat pflanzen. Dort, wo der Rosskopf einen prächtigen Ausblick über den schimmernden Wasserteppich gewährt. Da bin ich beim Graben auf ein Ding gestoßen. Ein unheilvoller Schatz. Gold. Der Midas-Fluch tief in die Erde geflüstert. Le roi a tête de cheval.

Ach, mein lieber Bruder Amandus Wendelin. Die Kegel, derer neun, aus lauter lötigem Gold und die Kugel von getriebenem Silber, die Wrangel einstmals dem Biggl von Lochau für den Verrat versprochen hatte – ein Hochverrat an den Kunstschätzen in der Klausenschanze zu Bregenz zugunsten der Schweden. Die uneinnehmbare Stadt mausekahl geplündert. Nicht weniger als vier Millionen Gulden im Werte. Die beste Habe und die Kostbarkeiten des Adels und der reichen Abteien Oberschwabens. Selbst das meisterhafte Mobiliar der werten Grafen von Hohenembs, Waldburg-Zeil und Königseck. Verschleppt mit dem übrigen kunstedlen Beutegut auf mehreren hundert Wagen. Und kurz darauf war auch Euer ehrwürdiges Kloster von den Schweden restlos marodiert.

Der Judasschatz, der dem Biggl von Lochau gottlob nie vergönnt sein mochte, schlummert nun unter den Wurzeln der Kunst. Dort, wo flüssiges Gold auf das eingeschnitzte Fundament tropft und die geformte Frau den Weg weist. Wo der Wuchs schon bald Ding halten soll über den frevelhaften Kunstverrat. Wo die beweglichen Stecknadeln in der wichtigen Stunde die offensichtliche Stelle kundtun. Möge der Kunstverräter ewig als Klushund sein Dasein fristen. Ihm haust die Rotglut in den tellergroßen Augen. Und er ist des Todes, mein geschätzter Bruder Amandus Wendelin. Die Überlegenheit der Kunst kommt einem gefräßigen Wolf mit Fangzähnen gleich. Kunst über Gold. Möge der unheilvolle Schatz dort ewig im Verborgenen ruhen, auf dass er nie und nimmer Zwietracht säe. Dieses güldene Verlangen speit Gift und Galle. Der Tod kommt zu denen, die sich selbst weibisch belügen. Das, mein werter Bruder Amandus Wendelin, ist der wahre Fluch der unstillbaren Gier.

Seit nunmehr fünfzehn Jahren schenkst Du meinen in Schrift gehüllten Sorgen hinter dem Gemäuer zu Mehrerau Dein wachsames Gehör, mein teurer Freund. Dieser Brief wird aber niemals die Feste des Pferdekopfs verlassen.

Ich wünsche, dass es Dir immer wohlergehe im Herrn.

Xantl Moosbrugger

Betreff: Treffen in der Bussardhütte in Kreuzlingen

Von: [email protected]

Datum: 16.07.2016, 19:33

An: [email protected]; [email protected]

Ahoi Balthasar, ahoi Claudius,

wisst ihr noch, wie die Verwandten und Bekannten uns nur müde belächelt haben, als wir unseren Jahresurlaub auf den Seychellen verbracht und zuletzt Mahé mit unseren Metalldetektoren akribisch durchkämmt haben? Ostern für Ostern. Pfingsten für Pfingsten. Sommer für Sommer. Herbst für Herbst. Winter für Winter. Für Narren haben sie uns gehalten! Und Narren, mis amigos, waren wir fürwahr! Völlig wirr gepolt. So falsch gewickelt, dass wir uns auf der fieberhaften Suche nach dem goldenen Kreuz von Goa so über alle Maßen zerstritten haben. Wie die hinterletzten Kesselflicker waren wir drauf und dran, uns gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Es hat dazu nicht viel gefehlt! Wie Goethe wohl gesprochen hat: »Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles!« Der Fluch des Goldes ist der Wolfsfraß.

Es ist an der Zeit, dass wir uns wieder die Hände reichen und uns versöhnen. Wir sind geborene Schatzjäger. Und genau so einer ruft uns. Der große Schatz aus dem Sumpf hinter dem Felsen am Bregenzer Schlossberg!

Aber der Reihe nach. Vor zwei Wochen durchforsteten Rosalinde und ich bei unserem gemeinsamen Sonntagsbrunch auf der Mainau den Katalog für die diesjährige Kunstversteigerung auf der Insel. Ach, mes amis, in heller Aufregung habe ich meinen Teller voll Bündnerfleisch und Rindercarpaccio zu Boden gestoßen! Aber ihr, meine Freunde der Kunst, seht mir diesen unschicklichen Fauxpas nach. Schließlich entdeckt man nicht alle Tage das letzte Schaffenswerk des großen Xantl Moosbrugger so schnöde zwischen die belanglosen Pappdeckel eines Auktionskatalogs gedruckt. Ein Kunstwerk von solch verführerischer Anmut.

Xantl Moosbrugger! Ein ganz großer Maître unserer Bildhauerkunst. Einst dem Hofgärtner Eberling nach der Fertigstellung des Rosengartens abtrünnig geworden, kehrte er nach eherner Verschollenheit für seinen Lebensabend auf die Insel Mainau zurück. Einzig um diese eine letzte Skulptur in formvollendeter Anmut aus dem schwarzen Alabaster zu gebären, ja förmlich aus seiner Kunstader herauszubluten: einen stolzen Bussard auf einem weißen Marmorsockel. Von unverschämt seltener Schönheit. Noch vor den ersten Scharmützeln des Zweiten Weltkriegs war die Skulptur übergangsweise in das schwedische Königshaus überführt worden.

Heute also sind wir in den frühen Morgenstunden zur Insel Mainau aufgebrochen. Wie bei jeder Kunstauktion nach guter Künstler Sitte – ein Ausritt in meinem metallisch hellblauen Rolls-Royce Silver Wraith Cabriolet. Ein echter 1948er. Mein Glücksbringer. Und wie Rosalinde mit ihrem im Fahrtwind flatternden Sonnenhut und ihrer Cat-Eye-Sonnenbrille so neben mir auf dem Beifahrersitz saß, wusste ich: Das wird unser Tag!

Frohen Mutes haben wir uns im Schloss Mainau im Weißen Saal eingefunden. So einige historische Kunstwerke und Möbel aus den Speichern des ehemaligen Deutschordenschlosses sind heute über den Auktionstisch gegangen. Darunter auch das Aktionsstück mit der Katalognummer 43. Hier kam meine Prima Diva ins Spiel. Sie hat das Argusauge für den wahren Wert eines Kunstobjektes, auch wenn Odins Schöpfung, die Kunst, durch kein Geld der Welt aufzuwiegen ist. Sie hat also unser Auktionsschild ohne viel Federlesen in die Höhe emporschnellen und die fünfzig Riesen mit einem Paukenschlag in den Saal marschieren lassen. Eine unbestechlich schallende Zahl. Anschließend hat der Auktionshammer dreimal klopfend seinen Dienst vollrichtet.

Eigentlich ein Tag für Könige und Damen. Nach einem solch genialen Schachzug. Aber ihr hört es bereits heraus: Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Grand malheur! Nicht die Dame ist gefallen. Sondern der Bussard aus ihren damischen Händen! Rosalinde war beim Heraushieven der Alabasterskulptur aus dem Kofferraum dermaßen ungeschickt, dass die Schwingen des Bussards doch glatt ihren täppischen Fingern entglitten sind! Polternd und scheppernd ist die in ihrer Einmaligkeit erstrahlende Skulptur auf den Asphalt gekracht. Der Bussard ist natürlich unverzüglich vom Sockel heruntergebrochen. Sein rechter Flügel wurde auch in Mitleidenschaft gezogen. Ihr wisst genauso gut wie ich, dass ein solcher Grad der Beschädigung für ein Kunstwerk das ultimative Desaster ist.

Doch unser apokalyptischer Schaden sollte es nicht sein! Heureka! Rosalindes Missgeschick hat unter den Fängen einen schmalen Spalt im Sockel der Skulptur freigelegt. In der Aushöhlung habe ich ein vergilbtes Briefdokument entdeckt. Aus der Feder keines Geringeren als Xantl Moosbrugger selbst! Euch ist doch sicherlich die Klushund-Saga geläufig. Neun Kegel aus lauter lötigem Gold. Obendrein eine Spielkugel, nicht minder unschätzbar in ihrem Wert, aus getriebenem Silber. Vielleicht kommen wir nun ja doch noch zu unserem heiß ersehnten Schatz.

Aber alles zu seiner Zeit. Findet euch bitte heute in zwei Wochen um zwanzig Uhr in der Bussardhütte in Kreuzlingen ein! Wo lassen sich vortrefflicher die Köpfe zusammenstecken als in einem solch namensträchtigen Häuschen? Nomen est omen! Wir wandeln auf des Bussards Spuren. Ich habe sie angemietet. Und ja, ich habe der Raffke eingetrichtert, die Bassenhütte endlich ganz in unserem Sinne umzutaufen. Sogar neue Visitenkarten hat unsere Vermieterin zwecks der Umbenennung drucken lassen!

Wir drei sind auf den Seychellen an unserer eigenen Zerstrittenheit zerschellt. Aber das goldene Kegelspiel aus der Bregenzer Klause krallen wir uns. Davon mehr vor Ort. Erzählt keinem Uneingeweihten auch nur ein Sterbenswörtchen! Und erwähnt Rosalinde gegenüber bloß nicht ihr Künstlerpech. Ihr wisst ja, wie divenhaft sie sein kann.

Näheres dann in zwei Wochen! Bitte seid pünktlich, meine Herren! Großes wartet auf uns! Der gute Sir Francis Drake war weise. Jedes große Unterfangen hat einen Anfang, doch wahrer Ruhm gebührt jenen, die den Mut haben, eine Sache gänzlich zu Ende zu führen. »Der Russe« und ich informieren den Bregenzer Kunstkurator. Gebt ihr bitte der Straßenstreunerin und der Raffke Bescheid.

Gemeißelte Grüße

Hanjo von Dargatz-Gierer

Bildhauer aus Liebe zur Kunst.

Eine Leidenschaft, die Leiden schafft.

1

Mittwoch, 20.Juli 2016, Salem, gegen 20:30Uhr

»Rudi. ›Das Geheimnis der Kunst liegt darin, dass man nicht sucht, sondern findet.‹ Picasso.« »Der Russe« nagte einen Wolfsbissen von seiner krossen Pizza Tartufata aux Escargots. Mit dem Königshappen einer unter einem gehobelten Trüffel und geschmolzenen Käsefäden ruhenden gehäuteten Weinbergschnecke. Dermaßen gierschlundig, dass ihm der Büffelmozzarella mitsamt der Crème fraîche und dem Schneckenschwanz aus den Mundwinkeln quoll.

Der Russe erhob sein Glas mit dem goldgelben Inhalt. »Sa sdorówje, mein Jophiel. Mein Erzengel der Kunst. Auf deine Gesundheit.« Er spülte den Bissen mit dem sizilianischen Zitronenwein nach. Anschließend prostete er dem Kunstkurator zu.

»Rudi, ich muss dich am Sonntag in der Bussardhütte in Kreuzlingen an meiner Seite wissen. Du musst die Echtheit der Dokumente mit deinem gewichtigen Wort verbriefen. Wir sind die Abkömmlinge Midas’. Kinder des Golds. Die anderen, die sind hundsgewöhnlich. Du warst damals bloß fehlgeleitet.«

Der Russe wusste, dass das nicht stimmte. Rudi Duttke hatte den Hochverrat damals sogar angezettelt. Er war der Oberklushund. Allerdings brauchte er ihn noch.

»Aber Hanjo, du und ich … Wir drei sind mehr als das. Die Seychellen haben uns zusammengeschweißt. Die Watschen und Schellen, die uns der Verrat der treulosen Hundebande eingebrockt hat. Er hat uns zu drei reißenden Wölfen gemacht. Uns lechzt es. Aber nicht nach dem rollenden Rubel. Sondern nach der Allmacht der alltagstauglichen Art Sacré. Kann ich auf dich zählen? Dieses Mal?«

Rudi Duttke, der Kunstkurator, rührte mit dem goldenen Dessertlöffel gedankenverloren in der Zitronenmousse. Er war bereits beim Nachtisch angekommen, wohingegen der Russe noch an seiner Pizza kaute. Das war kein gutes Zeichen. Dissonanz schwang unter der schiffsförmigen Pendelleuchte, die den Mahagonitisch beleuchtete. Dem Duttke hatte bereits die Steinpilzbruschetta beim gemeinsamen Frühstück am Morgen nicht so recht gemundet. Skeptisch knabberte er an seinem Löffelbiskuit.

Durch das leuchtende Gelb seines erhobenen halb vollen Glases hindurch sah der Russe, wie Rudi Duttke seine Stirn in Runzeln des Zweifels legte. Dabei sah er dem begnadeten wie geadelten Schauspieler Ben Kingsley bis zum äußersten Verblüffen ähnlich, und mit seiner Bowlingkugelglatze, dem getrimmten Kinnbart und den mit Lidstrich pharaonisch umrandeten Augen konnte er doch glatt Imhoteps Double sein.

Ein unterkühlt lang gezogenes »Naaahhhh!« suchte sich zwischen der Biskuitbröselwolke in dessen Mund seinen eisigen Weg heraus und geradewegs vorbei am Weinglas. »Nah! Uf gärkoa Fall! Oms Verrecka nid! Dei Bsuch war an Schniedargang. Ganz umasuscht. Du bisch an ghöriga Lump, bisch du! Scho all gsin! So an Scheißdreäck, d’ Leut z’ bschießa! So a Schmua! Eura dreckiga Schuah zieh i mir nemma a!«

Diese Worte hallten dem Russen wider wie die Glocken von Sankt Petersburg. Gegen Duttke hatte er allemal noch ein Ass im Ärmel. Oder besser gesagt in der Truhe gegenüber der Heimsauna in seinem Loft in Meersburg. Meistens. Heute hatte er das Ass im Kofferraum dabei. Er wusste, wie eifrig diesem mürrischen Sturbock das Faschingsherz in der närrischen Brust schlug.

»Rudi, verbrief uns unser Kegelspiel aus Gold und Silber für mein außergewöhnliches Kunstprojekt als antik und echt, und du erhältst das eurige zurück. Ehrenwort! Die Spieluhr ist zwar nur aus Kirschholz, und die kleinen Kegelchen sind lackvergoldet, aber ich weiß doch, wie sehr du dir die Insignien eurer Stadtsaga auf euren Zunftwagen zurücksehnst. Damit du wieder das Vorarlberger Volkslied ›Rita, rita Rössle‹ erklingen hörst. Das vermisst du doch sehnlichst, oder?«

»Du hosch des!«, entfuhr es Duttke ungläubig.

Der Russe hatte den Steinmetz Balthasar das teuerste Hab und Gut der »Bregenzer Klushunde« beim großen Narrentreff in Lindau aus deren Truhensänfte entwenden lassen. Und er hatte nicht wie eigentlich nach alter Väter Sitte üblich die Möglichkeit eines Gegenklaus eingeräumt, obwohl die Allensbacher am gumpigen Donnerstag statutengemäß von den Bregenzern einen zünftigen Braten geliefert bekommen hatten. Dem Russen war das als Außenstehendem herzlich einerlei, um nicht zu sagen schnurzpiepegal, gewesen.

»Und deine Abtrünnigkeit damals … Schwamm drüber! Ich bin nicht nachtragend«, schob der Russe mit größtmöglicher Versöhnlichkeit hinterher.

»Muoss denn ersch noma äppar schterba? Domols wär’s fascht passiert! Es isch doch wirkle woar, od’r! Russ’, du bisch an Lugipatsch! Du lugebeutliger Süoßlarschnitz! Mogla isch fürs Karma schleacht. Ureacht fiondt do Kneacht! Dia Kunscht muss an saubra Huud bhalta. Weil: ›Dia Kunscht isch unantaschtbar, dia Kunscht isch heilig.‹ Döblin. Wenn’s mei Bürgschaft wändsch, muoscht bleächa! An goldner Kegl muoss scho rübrwachsa. Besser zwoa.«

Da wurde doch der Hund in der Pfanne verrückt! Der Russe fiel vom Glauben ab. Diesem verlogenen Sauhund war gar nicht an der Unantastbarkeit der Kunst gelegen. Wie damals auch schon nicht. Er wollte nur einen unverschämten Beutehappen für den geforderten Bürgschaftsdienst. Duttke hatte schon immer seine ganze Freizeit, von den Suchaktionen auf den Seychellen abgesehen, der Jagd nach dem goldenen Kegelspiel von Bregenz gewidmet. So wie der Bildhauer Hanjo und der Russe die ihrige der Suche nach dem goldenen Kreuz von Goa. Und Duttke fiel ihm zum zweiten Mal in den Rücken. Das erste Mal war unverzeihlich. Das zweite todeswürdig.

Der Russe war ein Oligarchensohn. In seiner Jungspundzeit hatte er als KGB-Agent in Dresden nach dem Mauerfall die letzten Atemzüge des Sowjetgeheimdiensts am eigenen Leib miterlebt. Sein umtriebiger Spürsinn war ihm nach dem Zerfall der UdSSR geblieben. Er hatte eines Abends im »Grünen Gewölbe« gestanden, und da war es um ihn geschehen gewesen. Die unbändige Leidenschaft für die großen Kunstschätze dieser Welt, die schon immer in seinen Gliedern gelauert hatte, war wiederbeseelt worden. Stärker als je zuvor. Ihrer habhaft zu werden – am liebsten hätte er damals in Dresden die Kunst aus den Fesseln der Gewölbemauern gesprengt. Eines Tages, hatte er damals bei sich gedacht, eines Tages würden die hübschen Klunker in seinem Wohnzimmer funkeln.

Seit dem Tod seiner Eltern hatte er auf dem beträchtlichen Vermögen aus einem üppigen Ölvorkommen gehockt. Doch aus Reichtum an Blüten und Talern hatte er sich noch nie etwas gemacht. Das war mehr Schein als Sein. Deshalb hatte er den Riesenbrocken von Goldmünze aus dem Berliner Bode-Museum ja auch für sein mörderisches Kunstprojekt, die Versinnbildlichung der unstillbaren Gier, eingeschmolzen. Und für die Expeditionen auf die Seychellen hatte er damals nahezu seine gesamte finanzielle Schlagkraft von seinen Bankkonten abgeschmolzen.

Bei ihrem letzten, als Tauchausflug getarnten Trip auf die Seychellen zur Bucht von Beau Vallon an der Nordwestküste der Insel Mahé vor etwas mehr als dreieinhalb Monaten hatten sich der Bildhauer und der Russe von dem undankbaren Schatzsuchertrupp aber wahrhaftig Schellen eingefangen. Ein besonders gehässiges Ei hatten sie ihnen da zu Ostern ins Nest gelegt. Die geldgeilen Hyänen hatten sich im Streit verloren und die Suche um den größten Weltenschatz aller Zeiten einfach verraten.

Schwupps, war die große Seifenblase zerplatzt. Ausgeträumt. Dabei hatte sich der Russe dem goldenen Kreuz von Goa so nahe gefühlt.

Er hatte im Nationalarchiv in Saint Denis bei Paris über Jahre hinweg immer wieder historische Dokumente gesichtet und bücherweise jahrhundertealte Schriftzeugnisse gewälzt. Sie waren in der Bucht von Beau Vallon auf der richtigen Spur gewesen. Das wusste er. Aber die Hundebande hatte mit dem Verrat an der Kunst seinen Lebenstraum erlöschen lassen. Und gleichzeitig einen neuen Traum in ihm geschürt. Den nach einem eigens von ihm geschaffenen Kunstwerk. Einem tödlichen. Kunst war eine Lüge, um die Wirklichkeit zu entlarven. Ein Traum von Mord, der durch die Tat in die Wirklichkeit entführt wurde. Sagte Sartre.

Duttke spielte nicht mit. Jetzt hatte auch er vollends sein wahres Gesicht gezeigt. Er war ein Hund im Wolfspelz. Wie die anderen Verräter. Ihn würde er als Erstes in die Pfanne hauen. Damit wäre der Russe mit dem Bildhauer allein in der sumpfigen Wolfssteppe. Der Heißhungrige und der Gefräßige. Hungrig nach den Kostbarkeiten der Kunst. Gefräßig nach den Schätzen der Schaffenskraft, nicht nach Zaster. Auf dass sich einer von beiden aus den sumpfigen Untiefen erheben würde. Fenris entfesseln. Duttke hatte recht gehabt. Es musste jemand sterben. Hier. Heute. Jetzt.

»Etot volk sdelan iz farfora. Du, Duttke, bist ein Wolf aus Porzellan. Ein hundsmiserabler Wolf. Dann ist es besiegelt. Wenn die Kugel rollt und die Kegel fallen, dann zieht Donner auf.« Die flache Linke des Russen schnellte so vehement auf den Mahagonitisch, dass der Stein im Siegelring an seinem Daumen splitterte.

Er funkelte den wie ein geschlagener Köter zusammengezuckten Kunstkurator ohne das leiseste Wimpernzucken an. Ohne auch nur die kleinste Miene zu verziehen. »Ich dagegen … ich bin ein hungriger Wolf.« Er schob sich selbst einen großen Happen Schneckenpizza in den Mund und dem Kunstkurator den Mimosa-Cocktail zu, nachdem der ihm nun so unschmackhaft reinen Wein eingeschenkt hatte.

Rudi Duttke nippte mit fatalem Leichtsinn an seinem Cocktail aus Champagner, Melisse, Orangennektar und einem Schuss gekühltem Zitronensaft. Die Sepsis der Skepsis überkam ihn dabei nicht. Argwohn brütete zu langsam in ihm. Argwohn darüber, weshalb der Russe ihnen jetzt schon den Mimosa im Sektglas kredenzte, obwohl beide noch halb volle Weingläser vor sich stehen hatten. Etwas an den ästhetisch den Glasrand schmückenden Minzblättern verlieh dem Drink einen widerlich bitteren Beigeschmack. Und die braunen Pulverkrümel auf den krausen Blättern hatte er im ersten Augenblick noch leichtsinnig als würzigen Zimt abgetan.

Eine Dreiviertelstunde war vergangen, seit Rudi Duttke sich das gallige Gesöff ohne Sinn und Verstand hinter die Binde gekippt hatte. Dem Russen war nicht zu trauen. Er war seit jeher ein Schlitzohr, das vergeblich seinesgleichen suchte.

Eine gefühlte Ewigkeit hatte sich der Bregenzer Kunstkurator mit ihm ein hitziges Wortgefecht darüber geliefert, dass der Russe in ihm eben nicht jenes ebenbürtige Schlitzohr fand. Das Ende des missgestimmten Liedes war gewesen, dass der Russe beleidigt den Esstisch verlassen hatte. Rudi Duttkes Wahrnehmungsvermögen wurde urplötzlich zu einem umrauchten Sud. Seine Realität verschwamm auf einen Schlag zu einem verzerrten Flackersog.

Der Russe kehrte in das Esszimmer zurück. Der Lichtschein der Pendelleuchte warf seinen Schatten und den des Kunstkurators auf den papierbespannten Raumteiler vor dem Esstisch. Der war mit Limonen verziert. Rudi Duttke hatte ihn vom Russen geschenkt bekommen. Das war nach der Farce auf den Seychellen schon die reinste Bestechung gewesen, denn er hatte ihm und dem Bildhauer dafür im Gegenzug Rede und Antwort zum goldenen Kegelspiel von Bregenz gestanden.

Wie in einem schaurigen Schattentheater machte der verdächtig spitzohrige Umriss des Russen auf dem ausgeleuchteten Raumteiler mit dem teuflisch-dämonisch gehörnten Wolfskopf böse Miene zum nicht minder bitterbösen Spiel. Rudi Duttke war speiübel, ihm knisterten gehörig die durchrauschten Sinne. Er blickte auf. Ihm gegenüber saß nicht der Russe. Da saß ein furchteinflößendes Raubtier. Die verkniffenen Augen glühten zitrusgelb. Der infernale Fellkopf schwarz wie das Nichts. Rauchschwaden umhüllten ihn, so als sei er geradewegs der Hölle entstiegen. Die Langschnauze schreckenerregend. Der Fenriswolf. Ihm rasselten die Ketten, aus denen er sich herausgesprengt hatte.

Mechanisch klimpernd ertönte die Melodie von »Hoppe, hoppe, Reiter«. Die Spieluhr. Der Russe musste sie von irgendwo hergeholt und auf den Tisch gestellt haben. Duttke schwirrten die Sinne. Er sah in seinem Wahn den abscheulichen Fenris vor sich. Die Wolfsfratze verzerrt, als flimmere sie gerade in einem Kasperletheater über einen hundsalten Röhrenfernseher. Die Schweißperlen kletterten wie aufgescheuchte Maulwürfe aus den Löchern von Duttkes Nasenporen, ehe sie auf die Zitronenmousse tropften. Er schwitzte, als säße er wie so oft zuvor mit dem Russen in der Seesauna der Therme Meersburg. Bei einem zischenden Limetten-Minze-»Aufgüss«, den der kleine Franzose immer so wohltuend mit den Mentholkristallen aufbereitete. Er klammerte sich krampfhaft am Tischrand fest. Die Stimme des Russen knackste ihm metallisch durchs Gehör.

»Ein hungriger Wolf muss einen harten Kampf führen. Und den Wolf aus Porzellan …« Der Russe ergriff das bis dato noch unangetastet vor ihm verweilende Sektglas und ließ es in seiner großen linken Pranke zerbersten. Klirrend bröckelten die Scherben des zersprungenen Kelchs in seine Schale mit der Zitronenmousse. Der abgebrochene Glasstiel gleich hinterher. Und das limonengelbe Halbvoll durchmengte sich mit dem Blut, das aus seinen Fingern quoll, ehe es ihm vom Daumen über den goldfarbenen Siegelring und von dort am Handgelenk den Arm hinabfloss. »… werde ich brechen.«

Seine Pranken packten den Duttke an der Gurgel. Zogen ihn über den Tisch zu ihm her. Die Finger des Russen drückten zu. Sie pressten unerbittlich wie eine Schraubzwinge.

Duttkes Pupillen traten aus dem Augenweiß hervor. Wurden immer größer. Wie zwei Puckscheiben, die einem beim Warmschießen der Spieler auf der vereisten Eishockeyfläche schon einmal entgegengeflogen kommen. Als quetsche er einem Antistress-Spielzeugtier die Glupscher heraus.

Der Russe knetete Duttkes Kehlkopf zwischen den klobigen Boxerfingern seiner Linken. Sie pressten ihm die Luft aus der Gurgel wie Zahnpastareste aus der Tube. Nun flogen die beiden übergroßen Puckscheiben nicht mehr über das Weiß der Eishockeyfläche. Sie schwammen im blutroten Gespinst geplatzter Äderchen. Der an der Schnauze demolierte lapislazulisteinerne Fenriswolf aus dem Siegelring des Russen küsste ihn seitlich links am Kehlkopf.

Die Hände des Kunstkurators mühten sich im Übereifer der Panik vergebens ab, die Gabel auf der Mahagonitischplatte zu greifen zu bekommen. Ein in seiner Gänze mehr als sinnbefreites Unterfangen. Die Rechte des Russen griff nach der extrascharf geschliffenen Pizza-Axt auf dem Steinofen neben dem Esstisch. Die, die er Rudi Duttke heute eigentlich als Bestechungspräsent mitgebracht hatte. Jetzt hatte sie Plan B zu erfüllen. Mit seiner starken Linken zog er den sturen Kunstkurator so schroff an der Kehle über den Tisch, dass dessen Kahlkopf mit dem Gesicht voraus in der Zitronenmousse des Russen landete.

»Arrrghhh!« Gejapst drang der Schmerzensschrei aus der schaumigen Creme. Erdrutschartig zog die Klaue des Russen den Duttke jetzt wieder aus der fruchtigen Dessertmasse.

Nun flog ihm aus Duttkes linkem Auge nicht mehr bloß eine die bernsteinfarbene Iris wie bei einer Sonnenfinsternis völlig vereinnahmende Puckscheibe entgegen. Nein. Stattdessen steckte nun auch der abgebrochene Stiel des Sektglases inmitten der geweiteten linken Pupille. Wie der Pfeil nach einem Königsschuss im Schwarzen der Zielscheibe.

Die Kunst war der provokante Stachel im Fleische der Gesellschaft. Und Kunst lag ja bekanntlich im Auge des Betrachters. Der gläserne Stachel in Duttkes Augenfleisch war deren hell kreischender Ausdruck.

Die Blutschliere aus dem so lädierten Glupscher schlängelte sich eng wie bei einem Bachata-Tanz um den gesplitterten Sektglasstiel. Weitere Splitter hatten sich in Stirn, Wangen und Kinn verbissen. Der Biss in eine Zitrone schien wie der Sprung in kaltes Wasser. In diesem Fall war das kühle Nass ein Scherbenmeer.

Der Russe begutachtete mit infamem Blick den wolfskopfförmigen Bluterguss unter Duttkes linkem Wangenknochen. Dem Abdruck fehlte die Schnauze. Ein Wolf ohne Schnauze, das war ein Hund mit eingezogenem Schwanz. »Ein Hund, der mit den Wölfen geht, wird erschlagen!«

»Do stigt mir an biettrböuos Köter uuf. D’r Klushond schreckli wie a Kalb grouoß. Bigott, d’ Gier triibt zetr mordio zum Fluoch. D’ Kunscht sompfi tüüf z’ Grab glupft. Schwarza Zottel söndwüoscht vrrupft. Fröößi Ougo wie füürrouot Tällar druuf«, presste Duttke völlig wirr sein Sprüchlein über den bitterbösen Klushund mit dem hässlich zerpflückten Schwarzfell und den feuerroten tellergroßen Augen aus seiner gewürgten Kehle hervor. An der klebte das Blut aus den Fingern des Russen. So als habe sich der Fenris in seiner Gurgel verbissen.

Der Kunstkurator begutachtete seine zittrigen Unterarme. Die waren mit einem Mal mit streifenförmigen, peitschenhiebähnlichen Rötungen überzogen. Als habe man ihm die gegeißelt. Was sollte bloß dieser faule Zauber? Die Spieluhr klimperte währenddessen noch immer die Kinderliedmelodie vor sich hin.

»Rita, rita Rössle. Z’ Breaganz stoht a Schlössle. Wenn das Hackebeil fällt, zieht’s auf dem Schädel ein Gässle«, murmelte der Russe vor sich hin. Nun schwang dessen Rechte durch. Mit ihr der eigentümliche Pizzaschneider mit seinem bumerangförmigen Griff aus seicht gebranntem Eschenholz. Der Axtarm gab auf dem Shojipapier des Raumteilers den in die Bresche springenden Schattenkrieger ab, als er bedrohlich nach vorn gesunken kam.

Sie schlug ein. Die halbkreisförmige Klinge mit den altnordischen Runen auf der Edelstahlschneide. Mit voller Wucht wurde das Hackebeil dem Duttke oberhalb der linken Augenbraue auf die Stirn geschmettert, und es spaltete ihm den Schädel.

Verblüffend, diese Ähnlichkeit. Selbst die furchentiefen Stirnfalten waren dem Duttke wie dem großartigen Ben Kingsley eingemeißelt. Jetzt sprudelte aus dem Spalt in Haut, Gewebe und Stirnlappen fröhlich eine Blutfontäne wie aus einem Lavabrunnen hervor und färbte die Stirnriefen rötlich ein. Der Russe ließ den Axtgriff los und den mausetoten Duttke zurück in seinen Stuhl sacken. Das Blut strömte ihm aus dem Schädel und ergoss sich wie eine Beerensoße über die beinahe noch unangerührte Zitronenmousse des Kunstkurators.

Der Russe griff nach seinem angenagten Pizzastück und kratzte mit den Zähnen noch eine gehäutete Weinbergschnecke vom Belag. Er bestaunte den leblosen Sack einer verräterischen menschlichen Hülle ihm gegenüber am Mahagonitisch. Das war sie. Die Kunst. Seine hungrigen Augen fixierten die Axt in Duttkes Stirn. Er würde den Wolf aus Porzellan ganz brechen.

Dann ergriff seine Rechte wieder den Pizzazerteiler und wuchtete ihn aus Duttkes gespaltener Stirn, wobei ein satter Blutschwall gegen das Bespannpapier des Raumteilers befördert wurde. Wie die Farbschlenker, die der Pinsel bei der Spritzkunst auf die Leinwände schleuderte. Einzelne rote Sprenkler tanzten aus der Reihe und bogen in Richtung der Spieluhr ab, wo sie auf den gold lackierten Holzkegelchen und der Glasmurmel, die die Kegelkugel darstellte, kleben blieben.

***

Sonntag, 24.Juli 2016, Radolfzell, gegen 21Uhr

Der Bodensee wirkte aus luftiger Höhe betrachtet so mystisch, als habe der Herrgott ihn eines Silvesterabends versehentlich mit Blei hingegossen. So sagte man. Wild und verwegen.

Der Russe liebte es abgöttisch, die blaue Stunde mit seinem anhänglichen wie schmiegsamen Papillon-Hund Wassili auf einer der Bänke zwischen den mächtigen camouflagefarbenen Stämmen der Platanenallee auf der Hafenmole in Radolfzell zu verbringen. Vierzig Minuten der Glückseligkeit. Vierzig Minuten, in denen Tag und Nacht aufeinandertrafen und im Schmelztiegel über der Aachmündung in der nordwestlichen Bucht des Zeller Sees eine orangewarme Naht zwischen die kühle Bläue von Himmel und See zogen. Als habe eine Nadel hinter den Hügeln lückenlos ihre feurigen Stiche gesetzt.

Die Magie der blauen Stunde. Der letzte Sonnenhauch lag über der Halbinsel Höri am Horizont hinter dem Galgenberg bei Bohlingen mit seiner blattförmigen Aussichtsplattform und den Höhenzügen der Hegauberge. Sie hatten die letzten Sonnenstrahlen des Glühballs nahezu vervespert. Davor taten sich die schwarzen Umrisse der Pappelallee entlang der Autostraße durch das Radolfzeller Aachried auf. Wie die spitzen aneinandergereihten Zacken in einem Wolfsgebiss sahen sie aus. Weiter westlich war der Sonne die Puste ausgegangen. Dort, wo sich die Vulkankegel vom Hohentwiel und vom Hohenstoffel auftaten, war sie schon nahezu ganz versunken.

Vom Firmament senkte sich noch scheu die Nachtschwärze herab. Eine tiefe Mystik wohnte der blauen Stunde inne. Wie gemächlich im Wind wehende Seidentücher prangten die Wolkenformationen auf dem sandgelben Streifen am Horizont. Eine von ihnen wirkte wie ein geschwungenes, dann aber jäh im Himmelszement erstarrtes Lasso. Im Untersee spiegelte sich unterhalb der schwarzen Hügelsilhouette die Melange aus warmen Orangetönen und geheimniskaltem Azur wider. Ein Sandwichschmelz aus aprikosenfarbener Sandwärme eingebettet in tiefblau eingefärbte Nachtnuancen.

Entlang der Seepromenade vollführten die Laternen im nachtumwanderten Wasser des Bodensees wie golden schimmernde Mikadostäbchen derweil ihr ganz eigenes Lichterspiel. Dazu gesellten sich am Yachthafen der grüne und der rote Glitterpfad der beiden Molenfeuer.

War einem dann noch das Glück zugeneigt, wie heute, konnte man die vorzügliche Kunst in Form von artistisch aufgestapelten Steintürmchen von Sepp Bögle an der Mole bestaunen. Sie war dem Russen heilig wie jede Form der Kunst. Solange sie bloß nicht »El Niño« verdeckte. Was sie beinahe tat, wenn dieser denn auch nur im Ansatz aus dem Wasser hervorlugen würde. Das tat er erfreulicherweise nicht. Denn heute sollte vor Radolfzell noch ein ganz anderes Spektakel über die Wasserbühne des Zeller Sees gehen und bei den Strandflaneuren und Promenadenbummlern einen gottsallmächtigen Schauder provozieren. Besonders der gläserne Stachel im Auge des Verrats. Herausstechende Werke provozierten eben gern.

So auch der bronzene Jungmann, der in Kauerstellung im Bodensee ausharrte und jedweder Laune der Natur tapfer trotzte. »El Niño« polarisierte, wie es nur die allerprächtigsten Kunstwerke zu tun pflegten. Die fabelhafte Skulptur war aufgrund ihrer Hockstellung auf so mancher Schmähzunge als die »kackende Statue vom Bodensee« und als »Seescheißer« verspottet worden. Der eine oder andere Kritiker mochte deren einzige und wahre Kunst darin sehen, als ein solches Gebilde für den Urheber ein üppiges Salär eingefahren zu haben. Wieder andere monierten den Vogeldreck auf der Bronzeskulptur. Und einige ärgerten sich über das außergewöhnliche Kunstwerk sogar grün und blau wie das Bodenseewasser. So sehr, dass sie die vermeintliche Unkunst am liebsten aus dem Wasserbett, bestehend aus einer Betongussplatte und einem darauf aufzementierten Sockel, reißen wollten.

Doch der Bildhauer Ubbo Enninga genoss den allerhöchsten Respekt des Russen. Kunst über Geld. Der Werktitel »El Niño« versprühte geradewegs grenzenlose Schlichtheit. Die nackte Authentizität in bronzener Person. So lebensecht, dass schon mehrfach die Polizei von Radolfzell hatte ausrücken müssen. Denn der Bronzebursche trat so täuschend echt aus der Wasseroberfläche, dass Uferschwärmer die Kindsstatue gelegentlich für einen lebensmüden Nackedei hielten. Ein Kunstwerk sollte ein zur Tat verwirklichter Traum eines Mordes sein. Und eine Bronzeskulptur, die den Strandgängern den Tagtraum eines selbstmordgefährdeten Seegängers vorzugaukeln vermochte, war unbestritten die Speerspitze der allerhöchsten Kunst.

»El Niño« war so herrlich alltagstauglich. So ordinär originär. Die Kalk- und Sandablagerungen auf seiner Bronzehaut ließen ihn aus der Ferne regelrecht mit den Ufersteinen verschmelzen. An seinen muskulösen Oberarmen zeigten sich die Zeichen der Zeit. Dunkelbraun angewitterte Bänderungen an den Schweißnähten, an denen die separat gegossenen Arme angefügt worden sein mochten. Wie die Maori-Tätowierungen eines Ureinwohners Neuseelands. Die passten ja ganz vortrefflich zu Duttkes auftätowierten Tribal-Armbändern auf dessen Oberarmen.

Die kahlköpfige Bronzeskulptur diente den Radolfzellern als inoffizieller Wasserstandszeiger. Gelebte und erlebte Kunst. In alltäglicher Anwendung. Nutzbringend und sinnstiftend. Stand »El Niño« auf dem Land, dann hieß das Niedrigwasserstand. So pflegte man zu sagen. Führte der Bodensee in den Wintermonaten oder in Dürreperioden einen tiefen Pegel, saß der Ärmste mit seinem bronzenen Allerwertesten im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Trockenen. Mit steigendem Wasserpegel schwebte die kindsköpfige Statue dann im Frühjahr zunächst mit ihren Fußsohlen geradezu über der Wasseroberfläche. Als würde der splitternackt Hockende mit den ausgestreckten Handflächen im Stile eines leibhaftigen Magiers bereits sehnsüchtig den Geist des Sommers aus dem Untersee heraufbeschwören. Der unbekleidete Knabe stellte sich mit Leib und Seele den unberechenbaren Launen der Natur. Und war ihnen ganzjährig ausgesetzt. Schneedecke in strengen Wintern, Brustklatscher bei starkem Wellengang, nagender Zahn der Zeit. Und von oben, da regnete es Möwendreck.

Als stehende Welle hatte der Künstler die Skulptur erdacht. Das pazifische Wetterphänomen ungewöhnlicher Meeresströmungen war hier namensgebend gewesen. »El Niño«. Das Kind. Enfant terrible. Das schrecklich böse Kind. Zumindest wurde das Wetterphänomen »El Niño« gelegentlich als das »böse Kind« verschrien.

Das gleichnamige Kunstwerk hier am Radolfzeller Mole-Ufer sollte kosmische Energie bündeln, das Bewusstsein für das Mächtespiel von Sonne und Mond schärfen und deren Wechselwirkungen mit der Erde als Spielball in Einklang bringen. Es war ein absoluter Blickfang. An kalten Wintertagen hatte man schon so manches Mal einen gehäkelten Eierwärmer an der Bronzestatue oder aber eine Badekappe auf dem Kahlkopf bestaunen können.

Der Kindskopf von »El Niño« lugte in seiner nachtschwarzen Silhouette noch nicht wieder aus dem Wasser hervor. An seiner statt trieb immer noch der wasserballgroße orangene Ballon auf der Wasseroberfläche. Im Sommer wurde die Hockestatue mehr und mehr vom Bodensee verspeist. Der Bodenseewolf verschlang das Kunstwerk. Im Moment hatte er es ganz verschluckt. Der Pegelstand lag weiterhin knapp über vier Meter. Erst unterhalb dieser magischen Marke würde die Bronzeglatze überhaupt wieder die Chance haben, wie eine kleine Insel aus dem Bodensee herauslinsen zu können. In ein paar wenigen Tagen würde sich die Blässhuhnmama wieder auf die Schulter der Statue stellen und auf ihren Kopf einpicken können. Aus Argwohn darüber, dass das Hochwasser das mit dem Gatten auf den Handrücken der Skulptur mühevoll aus braunen Algenfäden geformte Nest so jäh hinfortgespült hatte.

Das Wasser schwappte schon in leichten Wogen Richtung Ufer. Die herannahenden Sturmwehen bauschten den Bodensee auf. Gleich würde er auftauchen, der andere Kahlkopf. Direkt neben der ballonförmigen Markierungsboje. Neben ihr. Nicht unter ihr. Und noch mal deutlich naturgetreuer als der gute »El Niño«. Lebensecht. Todecht.

Rudi Duttke. Salemer Urgestein und Kurator am Kunsthaus Bregenz. Obendrein passionierter Hobbyhistoriker, der im Vorarlberger Landesarchiv durch seine ehrenamtliche Tätigkeit wahre Wohltaten vollbracht hatte. Er hatte seit ewig und drei Jahren einmal jährlich die »Salemer Schlossseekunst« als Gala im Naturerlebnispark ausgerichtet. Ein Saubeutel vor dem Kunstherrn.

Er war ein störrischer Kunstjudas gewesen. Etliche Male hatte er in ihrer Einzigartigkeit formidable Skulpturen aus dem Hause »HanjoBalt« an der Burgruine Schopflen an die Antiquitätenmafia anstatt an ehrhafte Leute verschachert. Dadurch hatte er die Frömmigkeit der mit Geld nicht aufwiegbaren Werke beschissen und seine Taschen mit Silberlingen gefüllt. Verrat an der Kunst. Sein Rückgrat ihrem altruistischen Antlitz gegenüber war fragil wie Porzellan gewesen. Der Russe hatte es wie ein Glaskinn zerschmettert. Seine Wolfskralle hatte dem Kunstkurator den Blutadler auf den Rücken geritzt. Genauer gesagt war es erst der Glockendegen aus dem tiefen Dschungel Ecuadors, dann die Pizza-Axt gewesen. Jetzt hockte Rudi Duttke in der gleichen Hockstellung wie »El Niño« im Bodensee. Dem ebenso raffgierigen Phantasiewesen Gollum aus »Der Herr der Ringe« nicht unähnlich. Im Gegensatz zu diesem zierte keine knubbelig exponierte Wirbelsäule den gebeugten Rücken des toten Kunstkurators, sondern ein klaffender Riss, aus dem die Rippenbogen wie Flügel abstanden. Lebendig oder tot – davonfliegen konnte dieser judasgleiche Jophiel, dieser gefallene Erzengel der Kunst, so oder so nicht mehr. Dafür sorgte die Last des Verrats an seinen Füßen und Händen. In Form von Beton. Froschhocke im Adamskostüm. Das Kinn auf einem aus dem Betongrab herausragenden Stecken abgestützt.

Überhaupt hatte die ausgebröckelte Zerklüftung auf dem bronzenen Rücken von »El Niño«, die wohl künstlerisch die Wirbelsäule andeuten sollte, ihn erst auf die Idee mit dem »Blutadler« gebracht. Er hatte den einbetonierten Kunstverräter einige Zentimeter höher positioniert als die unschuldig kindliche Statue. Und direkt vor ihm ein leuchtstarkes Tauchlicht. Der Bildhauer war ihm dabei zur Hand gegangen. Sie hatten den Einbetonierten an der vorgesehenen Stelle über Bord des supertragfähigen Schlauchboots gehen lassen und beim Absinken richtig in Position gebracht. Ein abenteuerliches Unterfangen in Tauchermontur. Gleich würde die Show beginnen. Die Hand des Russen wanderte zur Fernbedienung in seiner Hosentasche.

Heute herrschte ein böiger Südwestwind in der Radolfzeller Bucht. Der bauschte die Wellen zur Mole hin mächtig auf. Der nächste Schwapp war schon im Anmarsch. Der Bodenseewolf, er regte sich. Ein besonders eifriger Wellenkamm scherte über die beiden noch unter der Wasseroberfläche verborgenen Kahlköpfe und ließ den orangenen Bojenball über »El Niño« ordentlich kippeln. Und dann folgte das Wellental. Es verschlang für einen kurzen Augenblick gefräßig das Wasser über dem betonfüßigen Kunstkurator.

Spotlight on. Der Russe drückte in seiner Hosentasche den Knopf. Ein greller Lichtkegel endete in einem kreisrunden Leuchtfleck auf die Wasseroberfläche, als läge dort die Sonne höchstpersönlich vor der Hafenmole im Bodensee. Ein Strahl schoss aus dem rundlichen Lichtgrell in die Höhe der sich wie in blauem Gold schlierig kräuselnden Tinte der herabsinkenden Nachtschwärze.

Sein Kläffer Wassili jaulte wehmütig auf. Er konnte es wohl nicht verputzen, dass sein Herrchen eine Maske der Allensbacher Schlösslespudel am Fuße von Duttkes Leiche im Bodensee versenkt hatte. Sozusagen als Grabbeigabe. Sie dem Duttke über das Gesicht zu stülpen, dafür hatte er den toten Kunstkurator doch viel zu kunstvoll zugerichtet. Trotz der Wasserliebe war es dem Vierbeiner wohl ein Graus gewesen, einen anderen Pudel so hilflos baden gehen zu sehen. Auch wenn es sich bei dem Artgenossen um eine Holzschnitzerei handelte.

Der Russe hatte sich einmal nach einem Narrensprung in Konstanz durch diesen Pete-Doherty-Verschnitt Rufus Vetten einen Schwung Pudelmasken aus dem Allensbacher Zunftheim stibitzen lassen. Die schauerliche handgeschnitzte Maske mit den feuerroten Augen und dem wuchtigen Fell erinnerte vollkommen an den Klushund.

Für die Dauer eines Flügelschlags legte das Wellental Rudi Duttkes Kopf bis fast zur Nasenspitze frei. Die aus dem Wasser hervorstechende obere Gesichtshälfte wurde direkt vom Unterwasserstrahler angeleuchtet. Die zorroartige schwarze Augenmaske hing ihm triefend nass über dem Riechkolben. Durch die Augenschlitze starrten aufgequollene, blutunterlaufene Augen hervor. Umrandet von blauen Blutergüssen zur blauen Stunde. Und in dem linken Glupscher steckte noch immer der abgebrochene Sektglasstiel. Ein schrecklicher Anblick. Wassili bellte angriffslustig. Gut so. Er erkannte den Sauhund wohl wieder. Er war im Auto dabei gewesen, als der Russe ihn in der Nacht im See versenkt und präpariert hatte. Ganz offensichtlich konnte Wassili Kunstverräter auch nicht sonderlich gut riechen.

Der abgemurkste Duttke gab herinnen im Bodensee schon ganz prima den »El Niño«. Die Bronzestatue hatte im kindlichen Oberstübchen einen rissigen Spalt am Haaransatz. Nämlichen wollte der Künstler dadurch wohl akzentuieren. Dort gab es eine tiefere Macke oberhalb des linken Auges am Scheitelansatz. Auf Duttkes Stirn klaffte an exakt derselben Stelle ebenfalls ein Riss. Dort war der untere Zacken der Pizza-Axt durch Haut und Schädeldecke hindurchgedrungen. Er hatte den Hieb mit seinem schwächeren Arm leicht verzogen, aber die Stelle passte.

Dabei war es nicht geblieben. Das Tumi, das rituelle Zeremonialmesser, hatte das Leck in Duttkes Trotzkopf weiter geöffnet. Mit der Pfeilspitze aus Obsidianstein hatte er den Sturschädel dann auch weiter hinten durchbohrt und gelöchert wie einen Schweizer Käse. Jetzt hatte der Duttke wahrhaftig Gold im Kopf. Und hätte der Bodensee das Gesicht des Kunstjudas nicht reingewaschen, so würden auch das seinige Schlieren zieren. Nicht die weißen, die bisweilen der Vogelkot bei »El Niño« hinterließ. Nein, rote. Besser das Haupt von Blut überzogen als die Goldgier an den Fersen. Seekunstmord. Immerhin hatte das Seewasser auch sein eigenes Fingerblut von Duttkes Kehle gespült und so die Spuren verwischt.

Selbst die Rillen und Riefen in der bronzenen Haut der Statue, die durch die Bearbeitung des Gipsmodells mit einer Raspel entstanden sein mussten, hatte der Russe nachempfunden. Er hatte dem Duttke dafür extra schon beim gemeinsamen Frühstück, im Falle, dass Plan B zum Einsatz kommen müsste, Shiitake-Pilze auf die Bruschetta gemogelt. Wohl wissend, dass sie bei dem Bregenzer Kunstkurator diese äußerst seltene, streifenförmige Dermatitis mit den peitschenhiebartigen Rötungen hervorrufen würden. Eine Leichtigkeit, denn den Koch in Duttkes hypermodernen Nobelküche, in der Komfort, Technologie und Schick rivalisierten, hatte er abgegeben.

Wie eine verunstaltete Unke, die blöderweise einem fiesen Tierquäler-Bully in die Hände gefallen war, linste der mausetote Kunstkurator mit seinem von Glassplittern gespickten Gesicht bis etwa zur Hälfte aus dem Wasserdunkel heraus. Nicht länger als einen kurzen Moment. Der im linken Auge steckende gläserne Stiel fing das zitrusgrelle Gelb und das feurige Orange der allerletzten versiegenden Sonnenstrahlen in der blauen Stunde ein. Durch ihn schimmerte die kaltwarme Mystik der orange-blauen Schmelznaht des Horizonts hindurch.

Gerade trat ein ummantelnder Wasservorhang am Stachel in Duttkes Auge seine Rückreise in den Bodensee an. Dieses Schauspiel erinnerte den Russen an das handgefertigte Unikat der Glasskulptur, die in seinem Wohnzimmer in Meersburg sein Plätzchen gefunden hatte. Ein orange-blau verschmolzener, gläserner Zapfen, der in einen Glaskringel eingeschlossen war. Entlang des Glasstachels schlängelten sich nun die Nachboten des Wasserschwapps. An der Spitze stauchte sich das Wasser zu wässrigen Klickerkugeln, die im Lichtspiel der blauen Stunde ein feurig-arktisches Farbspektakel in sich trugen und taub in den Bodensee rieselten. Wie die Königsmurmel mit ihrem geschwungenen Farbeinschluss im Kegelspiel auf der Spieluhr.

Im hellen Schein des LED-Strahlers wand sich das Rinnsal aus Wasser und Resten angetrockneten Blutes den abgebrochenen Glasstachel entlang. Der Todessaft kleckerte Tropfen für Tropfen eigenbrötlerisch wie ein Schakal im purpurroten Mantel in den wolfhaften Dunkelsee. Durch den gläsernen Kragen hindurch wurde Duttkes todwundes, blutunterlaufenes Auge um ein Vielfaches vergrößert. Das ließ den Zerschundenen wie den Klushund mit seinen tellerbreiten Glutaugen erscheinen.

Schon schnappte die nächste Welle zu und begrub den ramponierten Toten wieder unter sich. Ein Schrei konnte nicht mehr allzu lange auf sich warten lassen. Da war er schon. Vollhalsig und kehlig. Von der besseren Hälfte des Pärchens hinter ihm. Das sich so ausgelassen über die geniale Geschmacksexplosion der drei Bollen in ihren Eistüten aus dem Eiscafé »Lazzara« unterhalten hatte. Zitronen-Basilikum-Sorbet, Meerrettich mit Kirschsoße und Lakritz mit Zitronensoße. Ganz exquisite italienische Schaffenskunst. Die Zitrus-Entzückung konnte der Russe ja gut nachvollziehen. Aber die beiden Abendschwärmer waren aus der Schwelgerei gar nicht mehr herausgekommen.

Der markige Schrei der Dame, die mit außerordentlichem Bohei ihre Eistüte auf den schniekfeinen Lederschuh ihres Lackaffen von Partner hatte plumpsen lassen, war ein Zeichen höchster Anerkennung. Nicht der Rubel war die einzig wahre Währung der Kunst. Der Schreckensjubel, der Sturm der Empörung hob die mörderische Kunst des Russen im Bodensee in himmlische Sphären. Er war im Stakkato der nackten Panik aus der Gurgel der Dame geklettert und steckte nun wie ein Lauffeuer die entrüsteten Kehlen der Molenflanierer und Strandmüßiggänger in Brand. Wie die Samen von sturmgebeutelten Springkrautstauden poppten die entsetzten Japser entlang des Ufers aus ihnen hervor.

Vermutlich würde die Kripo schon recht bald das gute Meißner aufspüren. Er hatte vor, die beiden Porzellanwölfe vor dem Treffen in der Waldhütte an den Füßen der Skulptur der golden glänzenden »Ready Maid« vor dem Bregenzer Festspielhaus, unweit von Duttkes Homebase, abzustellen. Das bronzene Baumstammwesen stand dort in einer Wasserlache. Genährt vom Niederschlag. Verdunstetes Bodenseewasser. Ein waschechtes Seekunstwerk.

Michelangelo hatte seinen David aus dem Vollen gemeißelt. Aus gesundem Carrara-Stein. Ein Marmor-Virtuose vor dem Herrn. Nicht ein einzelner Riss hatte sein Schaffen stören dürfen. Auch er durfte sich keinen Fehltritt leisten. Nichts durfte dem Seekunstmord einen Abbruch tun.

»Tra cane e lupo«, pflegte man in Italien zur blauen Stunde zu sagen. Die Stunde zwischen Hund und Wolf. In ihrer Poesie lagen beide begraben. Zwischen Tag und Nacht. Zwischen Licht und Dunkelheit. Vergehen und Neubeginn. Verrat und Bewahren. Auch die Kunst lag dazwischen. Spielball zwischen Klushund, ihrem Verräter, und Fenriswolf, ihrem Behüter.

2

Samstag, 30.Juli 2016, Kreuzlingen, gegen 20Uhr

Kreuzlinger Nächte waren laut. Besonders bunt sollte es heute Nacht oberhalb der Stadt hergehen. Die kleine Holzblockhütte war fernab des urbanen Treibens abgelegen in den Kreuzlinger Wald eingespickt. Hinter der Schweizer Grenze stieg aus dem Stadtkern bald die Alpstraße hinauf. Bergauf vorbei am Zentralfriedhof. Es grüßten die letzten Häuser am äußeren Stadtrand. Über die Bahngleise ging es dann aus dem urbanen Flair hinaus in eine andere Welt. Eine grüne, unberührte Wildnis jenseits des künstlichen Stadtdschungels. Entlang der Ackerfelder und vorbei am Schützenhaus »Fohrenhözli« führte die Straße immer tiefer in die Einsamkeit der Natur. Hinter den Feldern lud linker Hand eine Landwirtschaftsstraße zu einem Abstecher ein in das von Bachschluchten, Feuchtwiesen und Flachmooren durchzogene Waldreservat der drei wie an einer Perlenkette aufgereihten Lengwiler Weiher. Die Einöde lockte aber nach rechts. Auf die Bodanstraße, bloß kurz nach rechts und dann gleich hinter dem Reifenhändler wieder nach links auf einen Landwirtschaftsweg. Die Bunkerstraße. Diese leitete die Getreidefelder entlang schnurstracks zu der Bussardhütte am Waldrand.

Hier draußen konnte der Mensch noch Mensch sein. Ganz im Einklang mit der einsamen Natur. Vor allem aber war man auf dieser kiesgeschotterten abgeschotteten Lichtung im Schutze des umringenden Waldes vollkommen ungestört. Die Bunkerstraße machte ihrem Namen alle Ehre. Das war für Hanjo von Dargatz-Gierer und seine Gattin Rosalinde in dieser Nacht von allerhöchster Bedeutung. In der Einsamkeit wurden Ideen geboren. So einen zündenden Geistesfunken brauchten sie heute, um ihre Fackeln der Erleuchtung zu entflammen.

Der Bildhauer und seine Holde hatten sich als Erste in der Blockhütte eingefunden. Das Rolls-Royce Silver Wraith Cabriolet hatten sie dieses Mal in der Garage gelassen. Stattdessen waren sie in Hanjos 916er Porsche von ihrem Kunstatelier in Salem aus hergeritten. Hanjo hatte sich von Rosalinde dafür bereits gehörige Schelte eingefangen. Der Oldtimer war ihrem Plan, möglichst unauffällig zu bleiben, nicht gerade förderlich. Immerhin war er auf der Straße so selten gesehen wie unter Briefmarkensammlern die Blaue Mauritius. Gerade einmal elf Prototypen waren seinerzeit vom 916er gebaut worden. Und dennoch war er purer Ausdruck seiner Gemütslage. Das helle Himmelblau vermittelte Hanjos Sehnsucht. Wie die Natur, die seit dem Frühling gegen die triste Blässe des Winterweißes rebelliert hatte und nun in sattesten Grüntönen frische Energie ausstrahlte. Aufbruch. Wie die Bussardskulptur. Mit ihren stolzen weit ausgebreiteten Flügeln. Bereit, sich hoch in die Lüfte zu erheben. Mit der gebrochenen Schwinge war sie allerhöchstens ein wenig angekratzt.

Das waren sie alle. Rosalinde und Hanjo. Balthasar und Claudius. Der Russe. Und auch die Vermieterin und die Straßenstreunerin. Die Schlappen ihrer ertraglosen Expeditionen auf die Seychellen hatten sie über die Jahre ein Stück weit gezeichnet. Der Lack des vormals ungebrochenen Pioniergeistes war abgeblättert. Durchzogen von der trügerischen Sepsis der Selbstzweifel. Heute war die Stunde der Wahrheit. Es galt, das Feuer der Leidenschaft unter den Schatzjägern wieder zu entfachen.

Um kurz vor sieben war Balthasar Kincsvadászat mit seiner roten Ape vor die Blockhütte getuckert. Es war jedoch nicht allein dieses Gefährt, das bei Hanjo und Rosalinde den Eindruck erweckte, ein leibhaftiger Pizzabäcker betrete die Bussardhütte. Die radikale Kahlschlagfrisur. Die zaghaften Kinnstoppeln, die nahtlos in einen Oberlippenbart und an den Wangen in einen Drei-Tage-Wuchs übergingen. Das Doppelkinn, das den Hals nur im Ansatz erahnen ließ. Das weiße Bäckershirt. Der kesselförmige Vorbau, den man gemeinhin Plauze schimpfte. Sie ragte aus Balthasars kastanienbrauner Cordhose hervor.

Dieses Masterbrain hatte vor wenigen Monaten, Anfang März, schon einmal einen goldenen Hundert-Kilo-Brummer aus gut bewachten Palisaden entschwinden lassen. Und er büßte dafür. Das Veilchen an seinem rechten Auge sprach Bände. Die Schläger hatten ihn scheints schon wieder in die Mangel genommen. Der Mittvierziger war knappe zehn Jahre jünger als Hanjo und Rosalinde mit ihren fünfundfünfzig und dreiundfünfzig Lenzen. Und dennoch wirkte der Steinmetz in Anbetracht derer erhabener Antlitze mit seinem Pizzabäcker-Look geradezu schäbig und heruntergekommen.

Hanjo hatte eine pompöse Haarpracht. Sie reichte ihm bis weit über die Schultern und war nach hinten tief zu einem Pferdeschwanz gebunden. Die Seitenpartien waren zu Korkenzieherlocken geformt und an den Ohren zu makellosen Koteletten gestutzt. Entlang der Wangenknochen gingen diese in einen akkurat zurechtgepflegten Backenbart über. Die Mundpartie zierte ein edelmütiger wachsgezwirbelter Schnauzer in nahtlosem Einklang mit einem adretten Ziegenbart. Hanjo von Dargatz-Gierer war von edlem Gemüt. Doch nicht nur das. Auch von blauem Blut. Seinen erlesenen Adel verkörperte er mit inbrünstigem Stolz. Nach innen vornehmlich durch seine snobistische Denke. So trug er seine stattliche, höckerförmige Adlernase gewiss ein paar Takte zu hoch. Nach außen stellte er seinen aristokratischen Quell, neben dem cremefarbenen Dandy-Look, seinem weißen Panamahut und dem Flanierstock aus Ebenholz mit marmoriertem Panthergriff, vor allem an seinen Fingern zur Schau. Gleich drei seiner linken Hand waren mit goldenen Siegelringen der Adelslinie der von Dargatz geziert. Die münzgroßen, rundlichen Gläser seiner Brille auf den fein ziselierten Wangen rundeten seine Erscheinung nahtlos ab. Adel ohne Fehl und Tadel.

Seine Gattin Rosalinde stand ihm da in nichts nach. Sie war jedoch von niederem Stand. Das kaschierte die toughe Businessfrau durch ihr Styling. Was ihr an Blau nicht durch die Adern floss, trug sie in Form von Eyeshadow auf ihren Augenlidern und als Strähnen in ihren Haaren. Die hatte sie heute aufwendig zu einer perfekt sitzenden Hochsteckfrisur à la Audrey Hepburn drapiert. Ihr waren die angeheiratete Noblesse wie auch die Denkwürdigkeit dieses Abends auf den Leib geschneidert. In Form eines äußerst körperbetonten dunkelgrünen Paillettenkleides.

Zwischenzeitlich war auch Trahira eingetroffen. Mit ihr Gudrun Raffke. Die dreiundfünfzigjährige Hüttenvermieterin hatte die Straßenstreunerin, die in Friedrichshafen den Zug genommen hatte, mit ihrem rostigen Opel Corsa mit einem kleinen Umweg in Konstanz aufgelesen.

Als Nächster im Bunde schneite Claudius Bouffier herein. Um Punkt acht schlitterte er das Kiesbett vor der Hütte auf seinem sündhaft teuren Feuerstuhl entlang. Genau vor dem Stubenfenster legte er eine waghalsige Kehrtwende hin. So war er. Immer wirbelte er Staub auf. Er liebte die Geschwindigkeit und war auf seinem heißen Ofen ganz in seinem Element.

»Ein Zauberer kommt nie zu spät. Ebenso wenig zu früh. Er trifft genau dann ein, wenn er es für richtig hält!«, ließ Claudius, seines Zeichens Springreiter, verlauten, als er mit großem Brimborium die Blockhütte betrat. In seiner pechrabenschwarzen Lederkombi und unter dem gleichsam nachtfarbenen Motorradhelm hatte der draufgängerische Dreiundvierziger jedoch wenig von der Aufmachung eines strahlenden Zauberers.

Dann schon eher Hanjo in seinem cremefarbenen Dandy-Anzug. Ihm war allerdings vielmehr daran gelegen, Goethe zu zitieren, als den Zauberstab zu schwingen. »Wohlan, meine Freunde! ›Denn wer den Schatz, das Schöne, heben will, bedarf der höchsten Kunst: Magie der Weisen.‹«

Auf den Russen konnten sie nicht warten.

Noch war die Kreuzlinger Nacht in der Bussardhütte an diesem lauen Samstagabend gar nicht laut. Allenfalls lang. Stramme vier Stunden waren seit der konspirativen Zusammenkunft ins Land gegangen. Und der Russe war noch immer nicht aufgekreuzt.

Die späte Stunde strapazierte bereits die Nerven von Balthasar und legte einen bleiernen Mantel um seine Augenlider. Es war nach Mitternacht. Längst hatte Rosalinde eine Petroleumlampe auf dem Tisch aufgestellt. Die kanadisch eingerichtete Holzhütte war stilecht, das musste man ihr lassen. Die überall auf der großen Platte des Eichenholztisches verstreuten Auszüge aus Historienschinken, gespickt mit regionaler Stadtgeschichte, und die große Bodenseekarte bildeten eine mannigfaltig gefächerte Laubdecke. In der Mitte der einfolierte historische Brief aus längst vergangenen Jahrhunderten. Die Dokumente waren im Verlauf des Abends mehr als ein Dutzend Mal reihum gegangen. Während des einen oder anderen Gläschens Cognac war debattiert, recherchiert, spekuliert und letztlich auch phantasiert worden. Und gezankt. Nach Herzenslust gezankt.

Dabei hatte sich die eingeschworene Truppe so voller Tatendrang an die Herkulesaufgabe begeben. Der gute Xantl Moosbrugger hatte ihnen mit seiner nie versandten Brieftirade an den Mönchsbruder Amandus Wendelin über die unstillbare Goldgier einen Bärendienst erwiesen. Das Basislager war damit zwar errichtet. Es war nun aber an ihnen gelegen, die felsigen Klippen bis hoch zur Gipfelspitze zu erklimmen und der Sache um diesen möglichen Goldschatz auf den Grund zu gehen. Nach dem Fiasko auf den Seychellen wäre dieser Goldsegen exakt der Regen, der den verdorrten Boden der Freundschaft aufspülen und ein unverhofftes Begraben des Kriegsbeils ermöglichen würde. Der Knackpunkt war, dem rätselhaften Wirrwarr eine sinnstiftende Bedeutung abzuringen.

Rosalinde griff nach einem Bleistift und setzte die frisch gespitzte Mine auf dem Blatt Papier vor sich an. »Alsdann, lasst uns den Gipfel besteigen!«

***

Eine gute Stunde später, die Uhr hatte bereits eins geschlagen, hatte die Gruppe mit vereinten Kräften einige halbwegs plausible Ansätze zu Papier gebracht. Rosalinde besserte nach einer mit Claudius ausgefochtenen, hitzigen Debatte noch eine Kleinigkeit aus, ehe sie den Bleistift beiseitelegte. Sie ließ ihren Blick über das Niedergeschriebene schweifen. Den ersten Aufstieg hatten sie gemeistert.

»›Der Pferdekopf in der Triskele. Ein Symbol? Ein Amulett?‹«, las Rosalinde die ersten, aus den Gedanken auf das Papier geschwitzten Überlegungen laut vor. Sie nickte Claudius beipflichtend zu. »›Zu Ehren des Wiegenfestes tief im Pferdeschlund eine Heimat pflanzen‹ … Deine ewige Besserwisserei zahlt sich wohl aus. Mit dem ›Pferdekopf‹ ist vermutlich wirklich ein Ort gemeint.«

Claudius bereiste für seine Springreitturniere die Welt. Insbesondere die Normandie hatte es ihm angetan. Es gab dort bei den französischen Nachbarn, übertrieben gesprochen, kaum ein größeres Dorf, das nicht mit einer Pferderennbahn aufwarten konnte. Zudem war im Westen Frankreichs in Saumur mit dem »Cadre Noir«, der »Schwarzen Garde«, eine der bekanntesten Reitschulen der Welt beheimatet. Und er selbst war Südfranzose. Halber. Die Eitelkeit hatte ihm also bereits in der Wiege gelegen, und ganz besonders die Diskussionsfreude hatte er im Blut.

»Aber was hat dieses ›Le roi a tête de cheval‹ für eine Bewandtnis?«, sann Rosalinde nach.

Wieder war Claudius nicht darum verlegen, Licht ins Dunkel zu bringen. »Der König hat einen Pferdekopf. Damit kann ja wohl nur der Midaskopf mit seinen Eselsohren gemeint sein. Die hat ihm Apollon, der Gott der Künste, der Sonne und des Lichts, verpasst. In mancher Darstellung hat der Midaskopf auch Pferdeohren. Das muss ein verstecktes Zeichen sein! Abkömmlinge Midas’. Leute, wir sind auf dem goldenen Weg! Ihr wisst, was das bedeutet … Gold im Kopf. Wie wir alle!«

»Ein Hoch auf die Baguetterupfer«, frotzelte Hanjo. »Auch wenn ich drei Kreuze mache, dass deine Eltern dich nicht Claude getauft haben!«

Das war doch schon mal etwas. Ein Ansatz. Sie hingen in der Steilwand und hatten nach einem vielversprechenden Felsvorsprung gegriffen. Nun galt es, mit der Picke nachzusetzen.

»›Die Triskele, an der der Boden liegt‹«, las Rosalinde den nächsten Satz vor. So kurz dieser war, so lang waren die vier ratlosen Gesichter der am Tisch Sitzenden und die der beiden auf der Couch Verweilenden. »Irgendwelche Ideen, was das wohl bedeuten mag?«

Hanjo trillerte mit Daumen und Zeigefinger an seinem gewachsten Bartzwirbel. Das tat er immer, wenn er überlegte.

Balthasar durchbrach das ratlose Schweigen. »Eine der bedeutendsten Darstellungen der keltischen Mythologie und Kultur. Sie ist ein Symbol in Form von drei radialsymmetrisch angeordneten, offenen Spiralen, die sich im Zentrum eines gedachten gleichschenkligen Dreiecks treffen.«

Hanjo warf seinem Steinmetz einen anerkennenden Blick zu. »Sag mal … Dafür, dass du immer wie so ein Pizzabäckerverschnitt daherschlappst, backst du wissenstechnisch keine kleinen Brötchen!«

Balthasar schob sein Sweatshirt ein wenig hoch und legte seinen linken Unterarm frei. Auf ihm waren die Worte »Blood« und »Honour« eintätowiert. Dazwischen ein dreihakiges Symbol. »Blut und Ehre. Ein Überbleibsel meiner ungarischen Heißblutzeiten. Die Triskele auf meinem Arm ist hakig. Nicht so schön geschnörkelt wie die keltische. Aber meine rechtsextreme Vergangenheit war eben auch schnörkellos …«

»Unter uns chillt ein verschissener Neonazi, den die Reue packt, und dann hat der Rätselsprachen-Heini auch noch ein Faible für keltischen Runen-Krimskrams. Wallah! Wie bitte bringt uns das weiter?«, stänkerte Trahira von der Couch herüber. Die zwanzigjährige Rüpeline pflegte einen unflätigen Sprachgebrauch.

Schon war das Gezanke wieder vom Zaun gebrochen. Dieses Mal zwischen der Halbstarken und Balthasar. Und Claudius lag sich mit Rosalinde darüber in den Haaren, ob die Triskele ihren Namensursprung wohl aus dem Griechischen oder dem Lateinischen hatte.

»Spiralen … Wirbel … Wellen … Wasser … Dreieck …«, stammelte Gudrun Raffke nachdenklich auf dem Sofa vor sich hin.

Lediglich Hanjo schenkte der Vermieterin Gehör. »Aber natürlich!«, verkündete er euphorisch. »Das ist es!« Er blickte Rosalinde tiefgründig in die Augen. »Die Triskele. Wellen. Wasser. Das Dreieck!«

Rosalinde und die Raffke strahlten ihn an. Sie verstanden. Von ihnen abgesehen blickte Hanjo allerdings in drei beträufelte Mienen.

»Mensch, Claudius, Balthasar! Erinnert ihr euch noch an unseren Tauchurlaub auf Sizilien? Wie wurde die Insel ursprünglich genannt?«

Claudius legte sein Siegerlächeln auf. »Ha! ›Trinacria‹! Aus dem Griechischen!«

Sein Grinsen triefte nur so vor Arroganz. Insgeheim hatte Rosalinde auf den selbstgefälligen Rittmeister ein lüsternes Auge geworfen. Vielleicht auch zwei.

Hanjo applaudierte ihm. »Ganz recht, mein Freund. Ganz recht! ›Trinacria‹.«

Trahira zählte mit ihrer jugendhaften Straßengaunerattitüde nicht gerade zum geduldigsten Schlag von Zeitgenossinnen. Sie sprang so angriffslustig von der durchgesessenen Couch auf, dass ihr die Kapuze ihres roten Hoodies in den Nacken flatterte. »Moruk! Trinak- … So ’n Kack! Was für ’ne Schnick-Schnack-Sülze verzapft der alte Zausel da eigentlich, hä?«

»Ty s uma soshla? Bist du bescheuert? Die dreibeinige Medusa auf der sizilianischen Flagge. Das Drei-Kap. Drei Länderspitzen. Drei Länderecken. Das versucht der Gentleman euch zu ›verzapfen‹. Du Kretin!«

Alle drehten sie sich um. Der Russe war eingetroffen. Niemand hatte dessen Lamborghini Aventador die kiesige Auffahrt vor der Waldhütte hinaufbrettern gehört. So sehr waren sie in die Entschlüsselung des streckenweise kryptisch gefassten Briefdokuments vertieft gewesen.

Der Russe hatte einen großen Abstecher von Radolfzell über Bregenz gemacht und in dieser Nacht nahezu den ganzen Bodensee umfahren. Es hatte ihn zurück nach Radolfzell gezogen. Duttkes Leichnam war längst geborgen, und das böse Kind streckte wieder seinen Kopf aus dem Zeller See. Anschließend hatte er an der »Ready Maid« in Bregenz die Porzellanwölfe platziert.

Hanjo bedachte Claudius mit einem anschuldigenden Blick. Der war immerhin als Letzter in der Blockhütte aufgeschlagen, und er musste es versäumt haben, die Eingangstür richtig ins Schloss zu legen. Wie unachtsam. Bei ihrem Vorhaben. Auch wenn es nur der Russe war, der hinzustieß.

»Wo hast du den Duttke gelassen?«, erkundigte sich Claudius nach dem Kunstkurator.

Der Russe blickte vielsagend zu Hanjo. Das war ja unglaublich. Diese Hundeviecher waren seit dem Seychellen-Desaster so mit sich selbst beschäftigt, dass sie angeblich noch nicht einmal von Duttkes grausiger Hinrichtung Wind bekommen hatten. Kein Sterbenswörtchen war darüber gefallen. Dabei hatte dieser Wind in den vergangenen Tagen ja nun wirklich durch alle Tageblätter und Radiosender geblasen. Aber es ließ diese gefühlskalten Kameradenhunde einfach unberührt. Fein, dieses falschlistige Spiel beherrschte er! »Der Duttke ist nicht länger einer von uns. Aber keine Sorge, wir werden nicht zu den glorreichen Sieben. Wir sind weiterhin die acht Abkömmlinge Midas’!«, antwortete er trocken.

Niemand getraute sich auch nur im Leisesten, das Fortbleiben des Kunstkurators tiefer gehend in Frage zu stellen. Geschweige denn, wer denn nun bitte schön der Achte im Bunde sein sollte. Oder aber: Niemand wollte darüber ein Wort verlieren.

»Udacha blagopriyatstvuyet khrabrym, meine Gefährten. Will heißen: Das Glück ist mit den Tüchtigen. Auch wir haben ein Dreiländereck. Und es beherbergt den Flecken unseres Begehrs. Dort, wo der Boden liegt. Bodman. ›Bodamo‹. Der Boden … Der See, an dem Bodman liegt. Wo also der Boden liegt …«

Allesamt sprangen sie nun von ihren Sitzen auf und fielen sich in die Arme. »Das Dreiländereck am Bodensee!«, tönte es aus all ihren Kehlen zugleich. Diese Erkenntnis beflügelte die neu eingeschworene Bande.

Claudius durchforstete den Papierstapel auf dem Tisch und kramte eine Kartierung des Bodensees hervor. Alle Augen starrten auf die Karte. Und alle wurden sie größer und größer. Der Reihe nach lösten sich die Augenpaare allmählich von der Karte, um einen zaghaft erkundenden Blick in die Runde zu wagen. Auf der Suche nach dem einen Zeichen, das bedeutete, dass die anderen das Gleiche dachten. Und das taten sie.

Hanjo war der Erste, der diesen Gedanken laut aussprach. »Der Pferdekopf in der Triskele. Das ist kein Symbol. Kein Kettenanhänger. Kein Wappen.« Sein Blick wanderte zurück auf die Kartierung des Bodensees und verharrte an einer ganz bestimmten Stelle mitten im Schwäbischen Meer. »Ungefähr siebenundvierzig Komma sieben Grad nördliche Breite und neun Komma zwei Grad östliche Länge – mit dem bloßen Auge abgelesen. Der Pferdekopf.« Dreimal tippte sein Zeigefinger an ebenjener Stelle wuchtig auf die Landkarte. »Das ist er! Das ist er! Das ist er!«

Es war dieser eine Moment. Ein magischer Moment in dieser lauwarmen Julinacht in dem abgelegenen Blockhaus unweit der Lengwiler Weiher in Kreuzlingen. Der Knackpunkt. Die Felswand war überwunden. Der Gipfel bezwungen.

»Liebling, sei doch so gut und hol mit Claudius und Balthasar den Armand de Brignac aus der Kühltruhe. Darauf muss angestoßen werden! Die ganz edle Cuvée aus den erlesenen Trauben der Weinberge der Champagne. Den Brut Gold. Und zwar die Midas-Flasche!« Hanjo war bewusst, dass mit der feinen Komposition aus Pinot Noir, Pinot Meunier und Chardonnay einige Riesen prickelnd ihre heiser gejubelten Kehlen hinunterperlen würden. Doch das war auch mehr als angemessen.

Claudius und Balthasar hatten gemeinsam mit Rosalinde im Handumdrehen die Riesenflasche in die Stube gehievt. Nun war Claudius drauf und dran, den Champagner routiniert zu entkorken. Durch seine unzähligen obersten Treppchenplätze bei seinen Turniersiegen im Springreiten war er im Korken-knallen-Lassen überaus geübt.

»Stoi!