Seeluftflüstern - Nele Hansen - E-Book
SONDERANGEBOT

Seeluftflüstern E-Book

Nele Hansen

0,0
5,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Zwischen Kaffeeduft, Kuchenliebe und Ostseewind wartet die große Liebe
Der neue romantische Ostsee-Roman von Nele Hansen

Endlich kann Michelle sich ihren großen Traum vom eigenen kleinen Café erfüllen. Im HerzCafé können ihre Gäste zur Ruhe kommen und den schönen Ausblick auf die Ostsee genießen. Es gibt nur ein Problem – das liebe Geld. Als wäre das nicht schon genug, kommen dazu auch nocht Schwierigkeiten mit den Lieferanten, der Bank und dem Finanzamt. Als Michelles kreativste Konditorin zu ihrem größten Konkurrenten wechselt, bricht eine Welt für sie zusammen und das Café scheint kurz vor dem Aus. Michelles einziger Lichtblick ist ihr frisch eingestellter Praktikant Philipp. Zwischen den beiden knistert es heftig, doch Philipp hat ein Geheimnis, das er unter allen Umständen vor Michelle verbergen will … Gibt es trotzdem eine Chance für ihre Liebe?

Erste Leserstimmen
„die Liebesgeschichte um Michelle und Philipp hat mich sehr berührt
„der Roman hat mich sehr fasziniert und mein Herz geöffnet“
„ein sanfter Roman mit Meeresrauschen, der einen aus dem Alltag flüchten lässt“
„Beim Lesen dieses Liebesromans kommt definitiv Küstenfeeling auf.“

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 528

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses E-Book

Endlich kann Michelle sich ihren großen Traum vom eigenen kleinen Café erfüllen. Im HerzCafé können ihre Gäste zur Ruhe kommen und den schönen Ausblick auf die Ostsee genießen. Es gibt nur ein Problem – das liebe Geld. Als wäre das nicht schon genug, kommen dazu auch noch Schwierigkeiten mit den Lieferanten, der Bank und dem Finanzamt. Als Michelles kreativste Konditorin zu ihrem größten Konkurrenten wechselt, bricht eine Welt für sie zusammen und das Café scheint kurz vor dem Aus. Michelles einziger Lichtblick ist ihr frisch eingestellter Praktikant Philipp. Zwischen den beiden knistert es heftig, doch Philipp hat ein Geheimnis, das er unter allen Umständen vor Michelle verbergen will … Gibt es trotzdem eine Chance für ihre Liebe?

Impressum

Erstausgabe August 2021

Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96817-947-6 Taschenbuch-ISBN: 978-3-96817-952-0

Covergestaltung: ArtC.ore-Design / Wildly & Slow Photography unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Oliver Hoffmann, © Yinkor, © kovop, © Resul Muslu, © stock_studio, © Dmytro Falkowskyi Lektorat: Stephanie Schilling

E-Book-Version 28.05.2024, 11:40:25.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Unser gesamtes Verlagsprogramm findest du hier

Website

Folge uns, um immer als Erste:r informiert zu sein

Newsletter

Facebook

Instagram

TikTok

YouTube

Seeluftflüstern

Prolog

Einmal Leben bitte

Michelle liebte diese Tage.

Nicht nur, dass die Sonne hoch am Himmel stand und der angenehme Geruch vom Meer in der Luft lag, salzig wie verführerisch. Auch hatten sich mehr als ein Dutzend Menschen auf den Weg gemacht, um hierher, in das „HerzCafé“ zu kommen, ein Stück Kuchen zu genießen und einen Kaffee oder eine kühlende Cola zu trinken.

In ihr Café.

Dorthin, wo Michelle all ihr Herzblut, all ihre Hingabe, all ihre noch so kleinen Ersparnisse gesteckt hatte.

An einen Ort, den sie so sehr liebte, dass sie die Probleme, die ein Café mit sich brachte, gerne einmal vergaß. Sie wollte nicht an unbezahlte Rechnungen, an Termine beim Steuerberater oder mit der Bank denken. Sie wollte nur hier hinter ihrem Tresen stehen und, wie heute Morgen, einer der älteren, freundlich lächelnden Damen ins Gesicht schauen und ihnen auf die Frage, ob der Kuchen denn selbst gemacht war, antworten: „Wir backen hier alles frisch. Keine vorgebackenen Rohlinge, keine von der Industrie hergestellten Produkte. Die Torte da unter der Kuchenglocke hat unsere Ive heute Morgen fertig zubereitet.

Möchten Sie einmal probieren? Die in die Sahnefüllung eingelassenen Kirschen sind vom Hof Hansen, während die zarten Schokolade selbst angerührt und geraspelt sind. Der Boden ist feinster Biskuit und die drei unterschiedlichen Sahneschichten haben den Geschmack Vanille, Schokolade, und einen Hauch, das liebe ich am meisten, Erdbeere. Sie werden es lieben …“

Ein Lächeln ist das schönste Geschenk, sagte ihr Vater einmal und der Gedanke daran ließ Michelles Herz auch jetzt noch höherschlagen. Sie sah, dass die Dame bei der Aufzählung der einzelnen Zutaten Appetit auf ein Tortenstück bekam. Und sie wusste, als diese nickte, dass ihre Entscheidung gefallen war.

„Dazu hätte ich gerne auch einen frischen Kaffee“, meinte die Dame, die in ihrem sommerlichen Outfit jugendlich frisch aussah.

Nicht so wie die gerade an einem der hinteren Tische des Cafés stehende Ingrid. Ingrid war wild blondiert, trug eine enge, kurze Hose und fragte ein junges Pärchen, das unentschlossen an einem der Tische nahe der Terrasse saßen, was sie denn für sie tun könne.

Michelle, die sah, wie Ingrid einige kleine Notizen auf ihren Bestellzettel schrieb, musste schmunzeln, als sich ihre dienstälteste Angestellte zu ihr herumdrehte.

Ebenso wie die Dame, die vor Michelle stand und ihr dabei zusah, wie sie die Kuchenglocke öffnete und das schon angeschnittene Stück aus der Torte hob, lächelte auch Ingrid. Nur mit dem Unterschied, dass es etwas Frivoles, etwas Unanständiges in sich trug. So, als habe sie eine anzügliche Entdeckung gemacht, die ihr vor Leidenschaft immer laut schlagendes Herz mit noch mehr Freude erfüllte.

„Da hinten“, meinte Ingrid, als sie zurückkam, ihren Bestellzettel auf die Theke legte und ignorierte, dass Michelle, nachdem die Torte auf dem weiß schimmernden Teller platziert worden war, sich zu der Kaffeemaschine herumdrehte, um der Dame einzugießen. „Neben dem Pärchen, das ich grade bedient habe, da sitzen zwei junge Herren, die dir gefallen sollten.“

„Ingrid“, mahnte Michelle und versuchte den erneuten Versuch ihrer Freundin abzuwehren, sie auf irgendeine Art und Weise zu verkuppeln.

„Diesmal habe ich recht, mit dem, was ich sage.“

„Ich schicke Jana zu den beiden Herren“, mahnte Michelle ihre Freundin mit der Kuppelei aufzuhören. Mindestens einmal am Tag versuchte Ingrid, sie mit ihren Gästen zu verkuppeln.

„Was haben Sie denn gegen die beiden Herren?“, wollte die ältere Dame an der Theke wissen. „Die haben bestimmt nichts dagegen, von einer so hübschen Frau, wie Sie eine sind, angesprochen zu werden.“

„Hör dir das an“, lächelte Ingrid, die eine Cola Light aus dem Kühlschrank nahm und nach einer braunen Flasche Holsten griff, um diese dann mit einer routinierten Handbewegung zu öffnen. „Das sag ich auch immer. Dass sie hübsch ist. Intelligent. Nett. Freundlich. Lustig. Nur die Männer …“

„Ihr klingt wie eine dieser Datingseiten“, schüttelte Michelle den Kopf, winkte dann ab und fragte die ältere Dame. „Darf es noch etwas sein?“

„Nur die Rechnung!“

„Sie bezahlen, wenn Sie gehen! Ingrid bringt Ihnen gleich Ihren Kaffee und den Kuchen“, strahlte Michelle.

Nachdem die Dame sich einen Platz auf der vor dem Café liegenden Terrasse gesucht und sich hingesetzt hatte, schloss sie kurz die Augen und genoss sichtlich das auf sie wirkende Ambiente. Nicht nur, dass das von Michelle geführte Café an einer Steilküste, die den Namen nicht wirklich verdient hatte, lag, es gewährte auch einen Blick hinaus, auf die oft unruhig an ihnen vorbeiziehende Ostsee.

Hoch stand die Sonne an einem wolkenlosen Himmel. In der Ferne sah man die Surfer, die Schwimmer, einige auf dem Wasser dümpelnde Schiffe. Alles war in eine friedliche, ruhige Atmosphäre gebettet, sodass man für einen kurzen Augenblick ernsthaft annehmen konnte, dass es keinerlei Probleme auf diesem Fleckchen Erde gab.

***

Ein Café lebte. Es atmete. Es strömte etwas aus, das Michelle liebte. Einen Hauch des Lebens, der Geschichten zu erzählen verstand. Geschichten, die sie auszumalen versuchte, während sie aus ihrem kleinen Büro hinaus aufs offene Meer schaute. Geschichten von Hoffnungen, von Anfängen, von einer ersten, einer sie immer zum Lächeln bringenden Liebe.

Michelle war immer die erste, die kam und die letzte, die ging. Nicht, weil sie ihren Angestellten misstraute. Ganz und gar nicht. Sie genoss morgens die sie durchströmende, die sie entspannende Ruhe eines beginnenden Tages. Jeden Morgen freute sie sich, wenn sie sah, wie ihre Mitarbeiterinnen ausgelassen und fröhlich ins Café schlenderten. Sie war die Erste, weil sie nichts schöner fand, als zu hören, wie Jana und Ive ein „Morgen“, oder ein fröhliches „Hey“ von sich gaben, wenn sie eintraten. Oder eine der studentischen Aushilfen, die hinter der kleinen Bar standen, Eis aus der Kühlung nahmen oder an lauschig lauen Abenden Cocktails mischten und sie zu den Kunden brachten, die draußen auf der Terrasse saßen und den Anblick genossen, der sich ihnen bot, während die Sonne rötlich schimmernd in der rauen, weiten Ostsee versank.

Gerade jetzt, wo sie auf dem durchgesessenen Stuhl in ihrem Büro saß, welches langsam aus dem dämmrigen Licht des noch im Dunkel liegenden Morgens gerissen wurde, ließ ihr einen angenehmen Schauer der Begeisterung über den Rücken rieseln. Sie sah, wie die kleine Sitzgarnitur, vor der sie einen Tisch gestellt hatte, auf dem eine Vase mit Blumen stand, ins Sonnenlicht getaucht wurde. Ebenso wanderten die Strahlen zu ihrem unordentlichen, unorganisierten und doch so heiß und innig geliebten Schreibtisch. Auf dem eingeschalteten Monitor blinkten die eingehenden E-Mails der Händler und Kunden auf. Selbst die nach einem Update schreiende Homepage machte sie ebenso wenig nervös wie die Tatsache, dass ihr Bankberater ihr geschrieben hatte und um einen Termin bat, um eine mögliche Konsolidierung ihres Kontos vorzunehmen. Nein, all das ignorierte sie und genoss einfach das Hier und Jetzt, den Moment, ihr Café.

Sie konnte das Weiß des Bodens sehen und die von ihrem Bruder Benny und ihr bemalten, in einem leichten Rosa gehaltenen Wände, auf denen die schattenhaften Konturen fröhlicher, am Meer entlang spazierender Menschen abgebildet waren.

Kreisrunde, weiße Tische, auf denen Blumengestecke standen, zierten ebenso das Innere ihres Ladens wie die mit hohen Rückenlehnen versehenen, schwungvoll gravierten Stühle.

Es kam ihr so vor, als könnte sie dem Herzschlag ihres Cafés lauschen. Erst ganz leise und zögerlich, so, als traue sich der beginnende Tag nicht, sich ganz zu zeigen, um dann mit voller Wucht über sie hereinzubrechen, sodass sie gar nicht merkte, wie die Minuten zu Stunden wurden und die Stunden schließlich den Abend einläuteten …

… den sie ebenfalls niemals verpassen wollte …

Wenn alles wieder ruhig wurde, das Café sich langsam leerte und der Himmel in ein besinnliches Rot getaucht wurde, konnte sie vom Trubel und der Hektik des Tagesgeschäfts ablassen.

Sie war dann ganz still und ließ ihre Blicke über die leeren Teller schweifen und betrachtete die fast aufgegessenen Kuchen und Tortenstückchen in der Verkaufsvitrine. Alles in allem waren es schöne Tage und Michelle genoss jeden einzelnen davon.

***

Michelle, die immer noch an ihrem Schreibtisch saß, sah, wie Ive und Jana hinter der Theke standen, jeder damit beschäftigt, etwas abzuwaschen oder zu wischen, in ein freundschaftliches Gespräch vertieft.

Während Michelle das Gespräch mit ihrem Bankberater hatte verschieben können und ihr der Blick aufs Konto anfänglich den Spaß am Arbeiten verhagelt hatte, besserte sich ihre Stimmung im Laufe des Tages.

Sie hatte heute einen Auftrag zur Ausrichtung einer Goldenen Hochzeit einstreichen können, ihr war es nach einem längeren Gespräch gelungen, einen Deal abzuschließen, der viel Arbeit, aber auch hoffentlich die langersehnte Entspannung auf ihrem Konto versprach.

Ein Deal, den sie – nicht ganz ohne Stolz –, niemals im Leben für möglich gehalten hatte, als sie vor vier Jahren das „HerzCafé“ eröffnete.

Eine Hochzeit würde gefeiert werden. In ihrem Café. Hier, an diesen Platz. Eine Hochzeit, begleitet von der Zeitung und Internetauftritten.

Sie lächelte zufrieden und schüttelte erheitert den Kopf, als sie sah, wie Jana laut lachend, ganz wie es ihre Art war, auf der Stelle hüpfte und Ive dabei umarmte.

Ive, die immer ein wenig steifer und zurückhaltender war, ließ den Freudenausbruch ihrer Kollegin über sich ergehen.

Bisher war ihr kleines Café am Rande der Steilküste bei Staberhuk auf Fehmarn, ihr Ein und Alles gewesen.

In den letzten Jahren hatte sie all ihre Energie in das Café gesteckt. Sie fühlte sich wohl, wenn die selbstgebackenen Torten in die Verkaufsvitrine gestellt wurden und die ersten gefüllten Eisbecher ein genießerisches Zungenschnalzen ihrer Kunden hervorrief. Als sie ihr Café damals eröffnete, war es für sie wie das Erwachen aus einem langen Schlaf gewesen, sie fühlte sich endlich lebendig.

Doch manchmal wünschte sie sich, zu ihren Angestellten zu gehören, ohne die ganzen Sorgen, die die Selbstständigkeit und das Führen eines Cafés mit sich brachten. Sie wollte nach Feierabend – den sie als Inhaberin aber nie hatte – mit ihnen zusammen hinaus in den wärmenden Sonnenuntergang treten und das Rauschen des am Strand auslaufenden Meeres hören und genießerisch den Geruch nach Salz und Tang einatmen. Sie wollte sich davontragen lassen von der Melodie des an ihr vorbeiströmenden Wassers und hinauf in den blauen, beinahe wolkenlosen Himmel schauen und den Möwen dabei zusehen, wie sie kreisend ihre Bahnen zogen.

Michelle blinzelte verwundert, als sie sich mit dem Zeigefingernagel gegen die Schneidezähne klopfte und feststellte, dass sie Jana und Ive immer noch beobachtete. Plötzlich sah sie Jana lebendig.

Sie wusste nicht, wie sie ihre Empfindung beschreiben sollte. Aber in dem Augenblick, als sie sah, wie Jana vor Freude auf der Stelle sprang, kam es ihr vor, als würde die kleine, leicht untersetzte Frau sich wie ein Blütenkelch öffnen. Sie, die immer so zurückhaltend in den Besprechungen war. Die ihre Anmerkungen nur zögerlich hervorbrachte und immer einen liebevollen Schubs brauchte, damit sie den Kollegen ihre Ideen einer besseren Tagesorganisation oder einer schöner gestalteten Speisekarte vortragen konnte.

Aber jetzt, als sie vor Ive auf und ab hüpfte, offenbarte sie das erste Mal ihr echtes, ihr lebendiges, ihr vor Freude überschäumendes Gesicht.

Michelle lächelte. Sie hatte sich immer gewünscht, dass Jana sich so zeigte; dass sie einmal fröhlich war und ohne Hemmungen ihr Leben anging.

Ganz im Gegensatz zu Ive.

Die sonst so kecke, kleine, hübsche Frau, deren Klappe ebenso groß war wie ihr Talent, Kunden zufrieden zu machen, trat jetzt von einem Bein aufs andere und löste hastig die Umarmung.

Ive, die immer etwas Rigoroses an sich hatte, zog sich plötzlich zurück. Sie berührte Jana an der Schulter, sagte etwas zu ihr, von dem sich ihre Kollegin nicht beeindrucken ließ. Sie sprang weiterhin auf der Stelle und warf ihren Kopf von der linken auf die rechte Seite, sodass ihre blonden Locken nur so flogen.

Ive, wie immer in einer engen, ihre schlanke Figur betonenden, dunklen Hose und braunen Bluse gekleidet, machte einen Schritt zurück und richtete dabei ihre Haare.

Sie lächelte noch immer, wirkte aber verkrampft, so, als wüsste sie nicht, wie sie sich verhalten sollte.

Michelle, die solche Wesenszüge bei ihrer besten Konditorin nicht kannte, erhob sich von ihrem Platz, winkte Ive freundschaftlich zu und forderte sie auf, zu ihr zu kommen. Währenddessen schob sich eine andere ihr ebenso ans Herz gewachsene, aber auch an ihren Nerven zerrende Gestalt in ihr Blickfeld.

Ingrid Kohl!

Das Faktotum des Cafés.

Der gute, grell geschminkte, mit rauchiger Stimme sprechende Geist des „HerzCafés“.

Ingrid war eine kleine, rundliche, von einem Wust an Gesichtsfalten befallene Frau, die Michelle unentwegt Kindchen, Liebling und mein Schatz nannte. Die mit ihrer ansteckenden, guten Laune dazu beitrug, dass die Stimmung im Café nicht kippte und die es wie keine andere verstand, Michelle aufzubauen, wenn diese dachte, am Boden zu sein und nicht mehr aufstehen zu können.

Jetzt, wo Michelle Ive eine Freundin sein wollte, betrat Ingrid das Büro und rief, mit ihrer typischen krächzenden Stimme: „Kindchen, das ist gerade mit einem Eilkurier gekommen“ und warf Michelle einen mütterlichen Blick, über den Rand ihrer schweren Brille, zu.

„Was ist das?“

Sie schaute auf den gelben Umschlag in Ingrids Hand.

„Keine Ahnung“, meinte Ingrid, deren geblümte Bluse ihre enorme Oberweite ebenso wenig kaschieren konnte wie die grellrote Haarfärbung das eigentliche Grau ihrer Haare. „Klingt aber nicht gut. Stammt vom Finanzamt.“

„Oh nein“, rief Michelle, nahm den ihr entgegengehaltenen Brief mit zitternden Händen entgegen, und hatte plötzlich das Gefühl, als läge ein Stein in ihrem Magen.

„Das bedeutet Ärger, oder?“, platzte es aus Ingrid heraus, deren schwerer Parfümgeruch Michelle in die Nase stieg. „Habe ich mir schon gedacht. Sind immer die blödesten Briefe, die man per Kurier zugestellt bekommt.“

„Ich … ich … ich habe die Steuern doch bezahlt“, murmelte Michelle mehr zu sich als zu Ingrid. „Alles andere auch. Ich habe die Abrechnungen doch gemacht. Wir haben keine Gläubiger.“ Ingrid verließ das Büro und Michelle öffnete den Brief. „Steuerliche Nachforderungen“, murmelte sie und fühlte sich plötzlich verloren.

„Ich muss mal kurz stören“, sagte Ive und riss Michelle aus ihrer Schockstarre.

„Wie?“

„Komme ich ungelegen?“

Michelle, der es unangenehm war, wenn einer ihrer Mitarbeiter bemerkte, wie es innerlich in ihr aussah, strich sich eine schwarze, ins Gesicht gefallene Haarlocke hinters Ohr, räusperte sich und versuchte teilnahmslos zu klingen, als sie sagte: „Du kommst nie ungelegen. Was ist denn los?“

Ive lächelte verkrampft. Michelle sah, dass Ive innerlich mit sich kämpfte. Dass sie ernsthaft versuchte, die richtigen Worte zu finden, um ihr Anliegen so taktvoll wie möglich vorzubringen.

„Es geht um die Goldene Hochzeit in zwei Wochen. Um die bestellten Torten und so“, sagte sie plötzlich. „Ich … ich kann sie nicht backen. Ich … ich …“

„Was?“ Michelle starrte ihre beste Mitarbeiterin entsetzt an.

„Ich kündige!“

***

„Wie bitte?“

„So … es ist raus“, sagte sie steif, die Finger gespreizt, die Knie durchgedrückt. Sie blickte die mit offenem Mund dastehende Michelle an, und machte dann einen hicksenden Laut. Als sie sich auf die Zehenspitzen stellte, um ihre Spannung loszuwerden, plapperte sie aufgeregt los, ohne Michelle die Möglichkeit zu geben, etwas zu erwidern. „Ich kündige und mache von meinem Recht Gebrauch, zum Ende des Monats das Café bei einem passenden Angebot verlassen zu dürfen. Paragraf 11 unseres Arbeitsvertrages, Absatz 3.“

„Du kannst nicht kündigen. Du bist meine beste Konditorin!“

Michelle, die ihre in Unordnung geratenden Gedanken wieder in Reih und Glied bringen wollte, fragte: „Willst du dich nicht doch setzen?“

„Nein.“

„Auch gut“, seufzte Michelle. „Wie … also … nun … ja, warum willst du kündigen?“

„Ich habe ein besseres Angebot bekommen.“

„Von wem?“

Ive senkte den Blick, als wäre es etwas Verwerfliches und gestand Michelle leise: „Lord-Konditoreien und Hotelmanagement.“

„Lord-Konditoreien und Hotelmanagement!“

Michelles Augen weiteten sich vor Schreck und Ekel. Als sie hörte, dass die Lord- Konditoreien und Hotelmanagement eine ihrer Angestellten angesprochen und abgeworben hatte, hatte sie das Gefühl, als würde sich der Boden unter ihr öffnen und sie unendlich tief in einen Abgrund stürzen, auf dessen Boden ein See aus reinem Hass auf sie wartete.

„Ich will mir die Chance nicht entgehen lassen“, gestand ihr Ive und riss Michelle aus ihren Gedanken. „Ich weiß, was du alles für mich getan hast.“

Michelle winkte frustriert ab.

Was war es jetzt noch von Bedeutung, dass sie einer abgebrannten und händeringend nach Arbeit suchenden, jungen Studentin die Chance geboten hatte, erste Erfahrungen als Konditorin zu sammeln?

Ive war unsicher gewesen. Hatte nicht gewusst, wie sie das Leben angehen sollte. Ihr war alles schwergefallen. Erst hier im Café, bei der Zusammenarbeit mit den anderen Kollegen, war sie zu der Konditorin geworden, die sie heute war.

Sie hatte ihr eine Chance gegeben, nur um jetzt zu erfahren, sie an Frank Lord zu verlieren. Das glich einem gezielten Schlag in den Magen.

Michelle rang sich zu einem Lächeln durch, obwohl ihr bewusst war, dass sie aussah, als wolle sie zubeißen.

Als sie sich sagen hörte: „Ich kann dich nicht gehen lassen“, wusste sie, dass sie es nicht tat, weil sie es konnte, sondern weil sie es musste.

„Es steht so in meinem Vertrag“, hielt Ive ihr entgegen.

„Ich weiß.“

„Es tut mir so leid“, gestand sie und schüttelte ihr braunes Haar. „Aber das ist eine Gelegenheit, die ich mir nicht entgehen lassen kann. Versteh mich bitte. Es gibt bei Lord unendlich viele Aufstiegschancen. Wettbewerbe. Eine eigene Kreation. Hier hingegen …“, sie schaute schuldbewusst zu Michelle, „… habe ich nur noch dich vor mir.“

„Ich verstehe …“

„Bitte sei mir nicht böse“, bat Ive.

„Bin ich nicht.“

„Ganz ehrlich?“

Michelle nickte, und versuchte ihren Blick wieder auf das zu richten, was nun vor ihr lag. Auch wenn ihre Gedanken innerlich rasten und ihr die letzte Antwort nur schwer über die Lippen gekommen war, suchte sie händeringend nach einem Ausweg aus dem Dilemma. Vertraglich, das wusste sie, konnte sie Ive nicht halten.

Deshalb fragte sie, mit der Hoffnung an Ives Ehrgefühl appellieren zu können: „Was ist mit der Hochzeit? Mit Annabell und Hauke?“

Ein kurzes Gefühl einer in ihr aufsteigenden Ohnmacht schien nach ihr zu greifen. Sie spürte, wie ihr die Knie weich wurden, wie sich im Magen ein dumpfer Druck ausbreitete, der bis hinauf in den Kopf wanderte und sie glauben ließ, ihr ganzer Körper würde taub werden.

„Die, die … Torten für das Event … die Hochzeit … also für Annabell und Hauke“, sie stotterte, blinzelte, wusste nicht, wie sie ihre ins Chaos gestürzten Gedanken beruhigen sollte. Nach einem kurzen Augenblick räusperte sie sich und fragte: „Die … die backst du doch noch zu Ende, oder?“

Sie hörte ihre Stimme, die plötzlich so leise und zögerlich klang, dass sie sich an jene Zeiten zurückerinnerte, als sie noch in der Lehre war. Als sie nicht wusste, wer sie einmal sein würde und vor allem, wer sie einmal sein wollte.

Was du auch heute noch nicht weißt, dachte sie und fand, dass ihre Stimme nach der ihres Vaters klang. So bezeichnend ehrlich, so geradeheraus, dass es ihr unangenehm war, auch nur einen Augenblick daran zu denken, ihr alter Herr könnte ihr sagen, wer sie NICHT war.

Sie schaute fassungslos zu Ive, die auf der Unterlippe kaute, mit ihren manikürten Fingern spielte und der man, ohne dass sie etwas sagte, ansehen konnte, dass sie ihre Arbeit nicht beenden würde. Dass sie etwas Besseres, etwas Wichtigeres zu erledigen hatte.

„Ich werde mit den beiden sprechen. Versprochen“, schob sie nach, den Blick gesenkt, nicht dazu in der Lage, ihrer Chefin in die Augen zu schauen.

„Heißt das …?“

„Ich werde die geplanten Festlichkeiten nicht so beenden, wie wir es besprochen haben“, murmelte Ive. „Ich … ich … werde gehen.“

„Wie kann das sein? Wir haben doch erst vorletzte Woche die Abläufe geplant, warum hast du mir nicht da schon etwas gesagt, dann hätte ich mir einen Plan B überlegen können.“, Michelle spürte, dass sie sauer wurde. „Als wir uns abgesprochen haben, wusste ich ja noch nicht, was noch alles kommen würde“, gab Ive kleinlaut zu.

„Du wusstest es nicht?“

Ive schüttelte den Kopf.

„Ich habe das Angebot erst vorgestern bekommen“, gestand sie.

„Vorgestern?“ Michelle riss die Augen auf. Sie konnte nicht glauben, was sie da hörte.

Ive nickte. „Sie haben mich nach Feierabend im Wicken angesprochen.“

„Sie?“

„Zwei Herren, ja“, bestätigte Ive. „Sie waren so zwanglos und nett“, schob sie hinterher, als würde die Erklärung alles besser machen. Als ob das irgendetwas wieder ins Lot rücken würde.

„Und du hast einfach ‚ja‘ gesagt?“

„Nachdem ich gestern Vormittag bei ihnen in der Zentrale war und sie mir Küche, Personal und Perspektiven aufgezeigt haben und ich dort mit einem supernetten Chefkonditor und dem Geschäftsleiter gesprochen habe –“

„Gestern Vormittag? Als du die Einkäufe machen wolltest?“

„Die ich erledigt habe!“

„Das hättest du mir sagen müssen“, quietschte Michelle und merkte, dass sie immer hilfloser und ungehaltener wurde.

„Das Angebot ist zu gut, um groß darüber nachzudenken“, gestand Ive und quälte sich zusehends, das Gespräch mit Michelle weiterzuführen.

Diese seufzte leise, während sie sich überlegte, wie es mit Ive weitergehen sollte.

Sollte sie sie hier weiterarbeiten lassen oder sie sofort freistellen?

„Weiterarbeiten lassen“, murmelte Michelle und schaute auf, als sie hörte, wie Ive fragte, was sie eben gesagt hatte. „Äh“, machte Michelle, strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. „Ich würde es gerne sehen, wenn du weiter arbeiten würdest …“

Ive nickte: „Keinen Streit.“

Michelle schüttelte den Kopf. „Keinen Streit.“

***

„Kann ich dir was bringen, Kind? Was zu trinken oder ein Taschentuch?“

„Eine Pistole“, murmelte Michelle, während sie versuchte, den in Beamtendeutsch verfassten Brief noch einmal zu lesen, ohne dass ihr die Buchstaben vor den Augen verschwammen. Sie hatte gewusst, in dem Moment, als Ingrid ihr den Brief brachte, dass er nichts Gutes bedeutete.

Dass er sie aber so hart treffen würde, hätte sie niemals für möglich gehalten.

„So schlimm?“, wollte Ingrid wissen.

„Die meinen, wir haben unsere Unterlagen nicht fristgerecht eingereicht und falsche Abrechnungen gemacht“, murmelte sie. „Ich soll die letzten vier Jahre offenlegen. Hier steht eine Strafsumme, die ich bezahlen muss, wenn ich die Unterlagen nicht fristgerecht einreiche und die mich fertig macht. Die kann ich nicht bezahlen. Niemals.“

„Kann dir nicht jemand helfen? Jemand, der sich professionell mit so etwas auskennt?“

Michelle lächelte, als Ingrid ihr eine Tasse Tee hinüberschob, dessen Duft ihr verriet, dass es sich um Erdbeere, gesüßt mit einem Klecks Honig handelte. So wie sie ihn am liebsten trank.

„Liebling“, sagte Ingrid. „Es gibt für alle Probleme eine Lösung. Schlaf eine Nacht drüber und dann werden wir morgen gemeinsam überlegen, wie wir das in Schieflage geratene Schiff wieder aufrichten, was meinst du? Dein Steuerberater wird dir sicher helfen.“

Michelle erwiderte nichts.

Sie versuchte noch immer zu verstehen, was der Text genau bedeutete und was sie falsch gemacht hatte.

Ihr erster Impuls war gewesen, nach dem Telefon zu greifen, die auf dem Briefkopf angegebene Nummer zu wählen und den ersten Menschen, der ranging, anzubrüllen. Doch als der Schock sich legte, merkte sie, dass es ihr gar nichts bringen würde, irgendjemanden anzuschreien. Das wäre fast so, als würde man in der Wüste von Nevada die Hitze dafür bestrafen, dass man einen Sonnenbrand erlitten hatte.

Was sie in den Händen hielt, hatte sie selbst verschuldet.

Sie hatte auf ein oder zwei Schreiben nicht reagiert. Hatte andere Dinge priorisiert und die Aufforderungen der Behörde dann schlicht und einfach vergessen.

„Kindchen?“, holte Ingrid sie aus ihren Gedanken zurück. „Du musst mal nach Hause gehen. Einmal den Kopf ausschalten, und nicht immer nur grübeln. Hab einmal Spaß. It is a Problem. Not more.“

Michelle schaute Ingrid irritiert an. Diese winkte ab: „Nicht so wichtig. Nur ein Sprichwort, das ich mal von jemandem gelernt habe. Natürlich weiß ich, dass es ungeschickt aussieht, wenn man feiern geht, während man Probleme lösen muss. Andererseits kann es helfen, mal auf andere Gedanken zu kommen und um neue Perspektiven einzunehmen.“

„Du meinst nach einer durchzechten Nacht eine Kloschüssel aus der Nähe zu betrachten?“

„Oder ein Stuhlbein zu umklammern und den Boden aus nächster Nähe zu inspizieren. Genau das meine ich, meine Maus.“ Sie strich Michelle liebevoll über die Wange.

„Und wovon soll ich mir Spaß leisten?“, fragte diese bitter.

„Hast du dir wieder kein Gehalt gezahlt?“

„Benny“, flüsterte sie.

„Du hast die Heimkosten für ihn bezahlt?“

Michelle nickte. „Ja, das habe ich. Das muss ich. Das bin ich ihm schuldig!“

Michelle seufzte, winkte ab und wünschte sich, ganz weit weg zu sein.

So wie damals, als wir am Meer waren, dachte sie und erinnerte sich nur zu gerne daran, wie sie damals mit ihrer Mutter, ihrem Vater und ihrem Bruder hinaus gefahren waren. Wie sie sich auf Amrum für zwei Wochen ein Ferienhaus gemietet und nichts anderes getan hatten, als die Seele baumeln zu lassen.

Sie wollte nichts mehr hören und sehen. Sie wollte nur noch in Erinnerungen schwelgen und sich vorstellen, wie sie damals mit Benny zusammen am Strand entlanggeschlendert war. Er, unbeholfen wie er war, hatte sich an ihre Hand geklammert und unentwegt auf die auf den Strand zulaufenden Wellen gezeigt: „Wasser, Michelle. Wasser!“

„Ja, Benny, Wasser“, hatte sie entnervt geantwortet und ihre Eltern dafür verflucht, dass sie den „Babysitter“ spielen musste.

Obwohl, wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie gern Bennys Babysitter gewesen war. Sie hatte es gemocht, die Welt durch seine besonderen Augen zu sehen und zu begreifen, wie leicht alles sein konnte, wenn man nur die richtige Perspektive eingenommen hatte.

„Geht es ihm denn gut?“

„Wem?“

Michelle hob den Kopf und begriff erst jetzt, dass Ingrid noch immer vor ihr stand, sie mit ihrem mütterlichen, ihren alles durchdringenden Blick betrachtete und ganz genau wusste, was in ihrem Kopf vor sich ging.

„Benny!“

„Oh“, schmunzelte Michelle. „Ja, es geht ihm gut. Es gibt einen neuen Pfleger, weißt du …“

„Ist er nett?“

Michelle verdrehte die Augen. „Ingrid.“

„Sieht er gut aus?“

Michelle schmunzelte und sagte: „Ja, er sieht gut aus.“

„Hat er einen Namen?“

„Hat er!“

„Kennst du ihn?“

„Natürlich kenne ich ihn.“

„Habt ihr denn schon mehr gesprochen als über Piratenschätze und mit Dämonen bedruckte T-Shirts?“

„Ingrid, für so etwas habe ich keine Zeit. Das weißt du.“

„Ich frag ja nur“, wehrte Ingrid ab, während sie um den Tisch herumkam und Michelle eine Haarlocke hinters Ohr strich. „Wer weiß, vielleicht ist er ja der eine, der …“

„Nicht schon wieder.“

„Kindchen, du bist einsam.“

„Bin ich nicht“, wehrte Michelle schwach ab, in ihren Schreibtischstuhl zurückgesunken, den Blick in die weite Leere gerichtet. Sie fühle eine plötzliche Sehnsucht nach ihrem kleinen Café in sich aufsteigen. Eine Sehnsucht, die sie fortbrachte von Zahlen, von Abrechnungen, von E-Mails und lästigen Briefen der Behörden. Sie wollte hinausgehen, in ihren kleinen Verkaufsladen, mit den Kunden klönen, ihre Schnacks hören und daran teilhaben, wie sie sich eine Gabel mit Kuchen, Torte oder eine Rumkugel in den Mund schoben und genießerisch seufzend ausstießen: „Ist das lecker.“

„Wann bist du das letzte Mal ausgegangen, Kind?“, wollte Ingrid wissen, die Michelle mütterlich anlächelte, und sie betrachtete, als sehe sie sie zum allerersten Mal.

„Ach, Ingrid!“ Michelle war nicht nur genervt, weil ihr die Frage unangenehm war, sondern auch deshalb, weil sie die Blicke nicht ertragen konnte, die ihr die alte Freundin zuwarf.

„Du weichst mir aus, Süße“, meinte Ingrid. „Du läufst vor dir selbst weg. Geh aus dir heraus. Nur ein einziges Mal. Das hier, so schön es auch ist, ist nicht alles im Leben.“

Michelle lächelte.

„Bitte keine Geschichten von früher. Ich kenne sie alle“, lachte sie und versuchte dabei so wertefrei wie möglich zu klingen.

„Diese Geschichte kennst du aber noch nicht“, meinte Ingrid und hob mahnend den Zeigefinger, als Michelle ansetzen wollte zu sagen, dass sie gar keine Geschichten hören wollte. „Die dreht sich um Danny und mich.“

„Um Danny?“

„Er war ein wunderbarer Mann. Konnte Cha-Cha-Cha tanzen, Kindchen, da fliegen dir die Stützstrümpfe weg. Oh, er war so elegant, so freundlich, so gutaussehend. Mit ihm wüsste ich heute noch ganz genau das anzufangen, was ich damals mit ihm angefangen habe.“

„Ingrid!“

„Hör mir zu, hör mir zu“, verlangte Ingrid, die die Hand gehoben hatte und Michelle einen tadelnden Blick zuwarf. „Es geht hier nicht nur um Leidenschaft. Nicht um wilde Küsse und ein kleines Tête-à-Tête am Badestrand, wo wir fast von den Ordnungshütern entdeckt worden wären. Nein, hier geht es um das, was du mal erleben sollst.“

„Mich Hals über Kopf verlieben?“

„Wer spricht denn von Verlieben, Kindchen?“, wollte Ingrid kopfschüttelnd wissen. „Davon habe ich nichts gesagt.“

„Wilde Küsse… Leidenschaft“, erinnerte Michelle die alte Freundin.

„Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun? Kindchen, sei doch nicht so naiv. Danny war nie der Mann fürs Leben. Nicht der Kerl, an den man sich binden wollte. Was weiß ich, was für Flausen der im Kopf hatte, als er mich kennengelernt hat. Der war nicht zu halten. Nein, das, was er mir gegeben hat, war das Gefühl, lebendig zu sein.

Einmal auf Wolken schweben, weißt du? Am Abend dasitzen und sich danach sehnen, wie seine Hände an den Innenseiten deiner Oberschenkel entlanggleiten. Das Kribbeln im Bauch spüren und das Wissen, dass es nur ein, zwei, vielleicht drei Wochen andauern wird. Dass man danach wieder frei ist.

Verführt werden. Selbst verführen. Leben, mein Kind, einfach nur leben!“

Kapitel 1

Das Unglück nimmt seinen Lauf

„Ive hat sich krankgemeldet“, hörte Michelle Ingrid aus der Ferne rufen, während sie den Telefonhörer ans Ohr presste und versuchte, Annabell zu beruhigen. Die wollte wissen, wann sie die Dekoration der Terrasse aussuchen und die Sitzordnung für ihre Hochzeit im „HerzCafé“ bestimmen konnte. „Außerdem steht Richard auf dem Parkplatz und wartet darauf, dass du seine Lieferung entgegennimmst.“

„Ich habe auch nur zwei Arme“, stöhnte Michelle, die sich ganz, ganz weit wegwünschte.

„Was haben denn Arme mit der ganzen Sache zu tun?“, wollte Annabell zähneknirschend wissen.

„Das war nicht an dich gerichtet.“

„Redest du etwa mit jemand anderem?“

„Soll ich die E-Mails beantworten, die gerade hereingekommen sind, oder willst du das machen?“, fragte Ingrid weiter, die mittlerweile im Türrahmen des Büros stand und Michelle auffordernd anschaute.

Die hob den Finger und bat ihre Freundin, kurz zu warten.

„Annabell, ich verspreche es dir“, sagte Michelle beschwichtigend. „Alles wird zu deiner Zufriedenheit verlaufen. Im Moment ist es etwas schwer für mich, alles unter einen Hut zu bekommen! Es ist so viel los“

„Wir haben das Preisausschreiben gewonnen“, hielt Annabell ihr entgegen und ließ Michelle die Luft gepresst ausstoßen.

Natürlich! Das Preisausschreiben. Eine Idee, die Ive gehabt hatte, nachdem sie einen Artikel im Fehmarnsches Tagesblatt gelesen hatte, der dazu aufrief, sich als Café oder kleine Lokalität darum zu bewerben, eine maßgenschneiderte Traumhochzeit auszurichten.

„Das ist die Chance, besser auf uns aufmerksam zu machen“, hatte Ive gemeint und Jana gleich auf ihrer Seite gehabt.

„Das stimmt. So kommen wir in die Presse und können uns vermarkten. Große Bekanntheit, mehr Kundschaft“, waren Janas Worte gewesen, die mit ihren Worten den Stein in Michelle ins Rollen gebracht hatte.

Einen Stein, der unaufhaltsam Richtung Tal der Zeitung gekullert war und schließlich dazu geführt hatte, dass die zuständige Redakteurin nach ihrem Besuch, dem Interview und einem auf Michelles organisierten Schlemmen mit Eis, Torte, Kuchen und belegten Broten entschied, dass das „HerzCafé“ an dem Ausschreiben zur Ausrichtung der Hochzeit teilnehmen durfte.

„Eure Gäste werden hier mit einem Sektempfang, Torten, Kuchen, belegten Schnittchen und Eis verwöhnt. Die Hauptgänge –“, sie hielt den Hörer vom Ohr, als sie Annabell schluchzen hörte. „Musst du mit dem Küchenchef des Restaurants absprechen, das ebenfalls an dem Ausschreiben teilgenommen hat. Darauf habe ich keinen Einfluss. Ich stelle nur die Lokalität und die Süßspeisen.“ Michelle machte eine Pause, hörte das Klagen Annabells und nickte, als sie antwortet: „Das verspreche ich dir. Alles wird super laufen. Gib mir bitte noch zwei Tage, bis ich das Chaos hier beseitigt habe.“

„Die Hochzeit ist in zehn Wochen!“

„Ich weiß. Bis dahin haben wir auch alles geregelt und eine Essensabfolge sowie die zu verzehrenden Kuchen erarbeitet“, versprach Michelle. „In meinem Terminkalender steht, dass du dich am Mittwoch, den 16. mit Ive treffen und erste Geschmacksproben abgleichen wolltest.“

„Heute ist der 16.!“

Verdammter Mist, schoss es ihr durch den Kopf.

„Ich schicke sofort jemanden los“, versprach Michelle, winkte Ingrid zu sich und klemmte sich den Telefonhörer zwischen Schulter und Ohr.

„Was gibt es?“

„Jana“, formte sie lautlos und zeigte auf das Telefon, „soll den Termin wahrnehmen.“

„Sie soll was?“, fragte Ingrid, die die vor ihrer Brust hängende Brille auf die Nase setzte und ihre Chefin verständnislos anschaute.

„Zu dem Termin gehen!“

„Wie soll das gehen?“, fragte Ingrid. „Sie und ich sind allein im Café“

„Sie muss“, zischte Michelle.

„Wir haben Gäste …“

„Bitte. Schick sie!“

„Ich rufe eine der Aushilfen an, ob sie kurz einspringen können“, meinte Ingrid, zog die Tür wieder zu und rief einem, vor dem Tresen wartenden Kunden zu. „Ich bin sofort bei Ihnen, Herzchen, und nehme Ihre Bestellung auf. Wollen Sie einen Cookie essen, während Sie warten? Geht aufs Haus!“

„Ich weiß gar nicht, warum ich mich auf die Sache eingelassen habe“, jammerte Annabell auf der anderen Seite des Telefons, während Michelle tief ausatmete, froh darüber, dass Ingrid sich von nichts und niemanden aus der Ruhe bringe ließ. „Hätte ich das alles gewusst, hätte ich die Hochzeit ganz allein geplant und alles ohne euch in die Wege geleitet.“

„Ich verspreche dir“, sagte Michelle, während sie tief Luft holte, „Alles wird so, wie es im Preisausschreiben angekündigt worden ist.“

Im Stillen dachte sie: Wenn die Sache hier in die Hose geht, bin ich geliefert. An diese PR-Aktion habe ich alles gehängt. Jede gottverdammte Minute, die ich für diese Hochzeit geopfert habe, darf nicht umsonst gewesen sein. Wird das ein Reinfall, kann ich das Licht hier für immer ausmachen. Dann bleibt mir nichts mehr, außer der Angst.

„Was gibt es noch?“, wollte Michelle von Ingrid wissen, die mit Michelles Handy in der Hand wieder ins Büro kam.

„Benny ist dran. Er möchte mit dir reden.“ Sie reichte ihr das Handy und eilte zurück zu den Kunden.

„Kein Problem. Auch das mache ich gerne“, erwiderte Michelle seufzend und schloss die Augen. Alles wird gut. Alles wird prima. Alles ist genau so, wie du es immer haben wolltest …

***

„Benny“, begrüßte sie ihren Bruder lachend durchs Telefon, sichtlich darum bemüht, die innere Unruhe, die sich in ihr ausgebreitet hatte, niederzukämpfen. Sie lächelte, obwohl sie wusste, dass ihr Bruder es nicht sehen konnte. Michelle atmete geräuschvoll ein, als sie die Stimme ihres Bruders hörte und sich vorstellte, dass allein durch den Klang ihrer Stimme das auf ihren Lippen liegende Lächeln transportiert wurde.

Benny mag es, wenn ich lächele, dachte sie. Er sagt immer, ich bin die schönste Frau, die er kennt.

„Ich musste lange warten“, beschwerte Benny sich, und sie konnte ihn regelrecht am Stationstelefon stehen sehen, die linke Hand am Ohrläppchen, dieses massierend.

„Es ist leider gerade viel zu tun, Baby. Was hast du denn auf dem Herzen?“

„Ich wollte deine Stimme hören“, sagte er ihr und schien sich zu schämen. „Ich mag deine Stimme so gern.“

„Ich mag deine Stimme auch sehr gern“, gab sie zurück und kämpfte mit dem schlechten Gewissen, als ihr einfiel, dass sie die letzten vier Tage nicht bei Benny im Heim gewesen war.

„Hast du mich noch lieb?“

„Von hier bis zum Mond!“

„Ich liebe dich bis zur Sonne“, rief Benny daraufhin und fügte – wie immer – hinzu: „Wie ein Sonnenstrahl so heiß.“

„Oha“, machte sie. „Dann kann ich dich ja nie mehr lieben als du mich.“

„Nein, das kannst du nicht“, freute er sich und lachte glucksend. „Duuuuhuuu?“

„Ja, Benny?“

„Ich vermisse dich.“

„Ich dich auch“, lächelte sie. „Ganz doll sogar. Noch doller als du mich!“

„Das geht gar nicht“, freute er sich. „Ich vermisse dich wie ich Mama und Papa vermisse. Wann besuchen sie mich wieder?“

Michelle seufzte, als sie die naive Frage ihres Bruders hörte.

Sie hatte sich solange den Kopf darüber zerbrochen, dass sie sich nicht mehr anders zu helfen wusste, als den Pfleger Rafael anzusprechen, der seit gut acht Wochen für Bennys Gruppe zuständig war. Der hatte ihr einen Rat gegeben, auf seine charmante, seine ehrliche und offene Art und Weise: „Konfrontiere ihn. Anders geht es nicht. Irgendwann wird er es akzeptieren!“

So einleuchtend ihr die Worte auch vorgekommen waren, so schwer war es, sie in die Tat umzusetzen. Bisher hatte sie immer versucht, alles von Benny fernzuhalten. Egal ob es damals in der Schule gewesen war, wenn er sie abgeholt, und unweigerlich den Spott der gesunden Kinder auf sich zog, oder wie jetzt, wenn sie krampfhaft darum bemüht war, ihn nicht traurig zu machen.

Und auch jetzt, wo seine Stimme noch immer in ihrem Kopf widerhallte, fragte sie sich, wie sie am besten reagieren konnte, um Bennys dunklen Vorahnungen mit ein wenig Licht entgegenzutreten.

Dass etwas nicht stimmte, wusste er.

Was es genau war, war Benny nicht möglich, zu erkunden.

Etwas in ihr scheute sich davor, Benny zu erzählen, was vor drei Jahren wirklich geschehen war. Es tat ihr in der Seele weh, auch nur darüber nachzudenken, ihrem Bruder die grausame Wahrheit zu sagen. Eine Wahrheit, die den sowieso schon labilen Zustand Bennys nur noch mehr verschlechtern würde.

Ihn so traurig zu sehen, konnte sie nicht ertragen.

Benny musste glücklich sein.

Er hatte immer in allem etwas Gutes gesehen. Natürlich wusste sie, wie albern ihre Angst war, ihrem Bruder zu sagen, dass ihre Eltern gestorben waren. Aber etwas ganz tief in ihr drin, wollte nicht, dass er seine Fröhlichkeit verlor. Denn auch ihr war bei dieser Nachricht damals ein Stück Fröhlichkeit für immer abhandengekommen. Das wollte sie nicht auch Benny zumuten. Er sollte sich freuen, wenn er malen durfte. Er sollte glücklich sein, wenn einer der Pfleger mit ihm und seinen heiß geliebten Autos spielte und er dabei seine mit Dämonen bedruckten T-Shirts trug. Er sollte über das ganze Gesicht strahlen, wenn Michelle durch die Tür des Pflegeheims getreten kam, einen Luftballon in der Hand, in der anderen Kuchen und Gebäck, das sie zusammen essen würden.

All das, da war sie sich sicher, würde ihm abhandenkommen, wenn sie ihm sagte, dass ihre Eltern nicht mehr lebten.

Was, wenn es nicht so ist?, fragte sie sich dann, nur um sich die Frage kurz darauf selbst zu beantworten. Ich erinnere mich an Weinachten. Erinnere mich daran, wie misstrauisch er Mama und Papa gegenüber gewesen ist, als sie hereingekommen sind und ihm gesagt haben, dass der Besuch am Nordpol wunderschön gewesen war.

Wie verstohlen er versucht hat, herauszufinden, ob unsere Eltern die Geschenke gekauft oder vom Weihnachtsmann bekommen haben!

Selbst dem Weihnachtsmann am Heiligen Abend hat er nicht über den Weg getraut. Er hat das Geschenk in die Hand genommen, hat es inspiziert und gefragt, ob es teuer gewesen war.

Eine enorme Leistung für jemanden, dessen IQ nur bei 68 liegen soll.

Michelle schluckte, während ihr die Gedanken durch den Kopf hämmerten, wie Faustschläge, die sie wieder und wieder mitten ins Gesicht trafen.

„Sie kommen bald“, sagte sie schließlich. „Sie vergessen uns nicht. Das haben sie nie.“

„Ich weiß“, antwortete Benny und schwieg dann. Nur sein Atem war zu hören. Schwer und seufzend, so, als müsse er sich konzentrieren, überhaupt zu atmen.

„Hast du heute noch was Tolles vor?“

„Nein.“

„Gar nichts?“, fragte sie, während sie einen Schmollmund machte und hoffte, dass er ihre Fröhlichkeit, die sie ihm vorzuspielen versuchte, aus ihren Worten heraushören konnte. „Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Ich meine, hey, du bist doch der größte Abenteurer auf der ganzen Welt. Der beste Pirat der sieben Weltmeere.“

Benny kicherte. „Das bin ich!“

„Und als der hast du nichts vor? Gar nichts? Gibt es denn keinen Schatz, den du heben musst? Kein Schiff, das erobert werden will? Hallo?! Ich meine, wenigstens eine kleine Jungfrau in Nöten muss doch wohl gerettet werden.“

„Du hast Jungfrau gesagt“, kicherte er und machte einen brummenden Laut.

„War das etwa unanständig von mir?“

„Das klingt fast wie … na … du weißt schon“, sagte er peinlich berührt und ließ Michelle die Sonne in ihrem Herzen aufgehen. Sie fühlte sich erleichtert und es kam ihr so vor, als fiele eine unendliche Last von ihren Schultern, die ihr bis eben noch so unendlich schwer erschienen waren.

Jetzt aber, wo sie mit ihrem Bruder telefonierte und das Gefühl hatte, als wären sie beide wieder Kinder und nichts anderes zählte, als Abenteuer zu erleben, fühlte sie sich frei.

„Das habe ich aber nicht gesagt.“

„Manchmal sagen Menschen Sachen, die sie gar nicht so meinen.“

Michelle lachte.

„Auslachen zählt nicht. Auslachen ist gemein. Mama sagt immer, man darf nicht über mich lachen. Keiner!“

„Ich würde niemals über dich lachen! Das weißt du doch.“

„Tanzen meine Schatten noch?“, Michelle lachte und war froh darüber, dass Benny sprunghaft, wie er nun einmal war, das Thema wechselte: „Natürlich.“

„Miteinander?“

„Ich würde die beiden niemals trennen“, sagte sie mit einer, ihm alles hoch und heilig versprechenden Stimme. „Die haben sich doch lieb.“

„So wie ich dich.“

„Und ich dich.“

„Dann können wir ja die Schatten sein“, kicherte Benny und Michelle konnte es sich vorstellen, wie er dastand, die Hand vor den Mund gehoben, die Schultern nach vorne gebeugt, die Augen zusammengekniffen, um die Mundwinkel herum, den Schalk eines kleinen Jungen. „Ich bin der große Schatten.“

„Und ich der kleine Dicke?“, wollte sie spaßeshalber wissen.

„Nur dein Popo!“

„Du, noch so ein Spruch und ich muss dich ganz doll durchkitzeln!“

Sie lächelte, während sie einen Blick hinaus aus dem Fenster warf, hin zur Steilküste, und sie an der einen, nur wenige Meter ins Meer ragenden Landzunge, das auf ihr in der Ferne stehende Haus erblickte. Heute, wo die Sicht klar war, die Sonne hoch am Himmel stand und sich, schillernd und glitzernd, auf den die Gischt vor sich hertragenden Wellen brach, konnte sie sogar den, das Haus umschließenden Zaun erkennen.

Es war ihr, während sie Benny kichern hörte und sie die Ferne des Meeres erahnen konnte, als würden all ihre eben noch durch den Kopf kreisenden Ängste und Befürchtungen für einen kurzen Augenblick ihre Kraft und ihren Schrecken verlieren. Als würde es eine Minute der inneren Ruhe geben, die sie sich so sehr wünschte und hoffte, sie irgendwann einmal selbst erleben zu dürfen.

Dazu kamen ihr die Erinnerungen, wie sie Benny das Café das erste Mal zeigte. Ein kleines, immer renovierungsbedürftiges Haus, das sie von dem Erbe ihrer Eltern hatte bezahlen können.

Das einzige hier, das komplett mir gehört. Die einzige Sicherheit, die ich habe.

Michelle sah, wie Benny damals dastand, wie er, mit halb offen stehendem Mund, sein Staunen nicht verbergen könnend, hineingetreten war, in den rund angelegten Servierraum. Mit zitternd erhobenem Finger hatte er die noch frisch weiß gestrichenen Wände angestarrt und gemeint: „Da musst du drauf malen.“

„Draufmalen? Was meinst du damit?“, hatte sie gefragt.

„Menschen, die sich lieb haben“, hatte er erwidert und sie gedrückt.

Und dadurch war die Idee entstanden, die Wände mit liebevoll gestalteten, schattenhaft umrissenen Menschen zu verzieren, die aussahen, als würden sie hier lesen, reden, essen, trinken und, so wie Benny es wollte, miteinander tanzen.

Was zu einer neuen Idee bei Michelle geführt hatte.

Sie erinnerte sich noch daran, wie sie mit Jana und Ingrid zusammen die Schablonen angefertigt hatte, um die Schattenmenschen an die Wand malen zu können. Wie Benny sie besucht hatte, mit den Pinseln spielte und es nicht abwarten konnte, seine Kunstwerke auf die Wand bringen zu können.

„Und das da ist dein Popo“, hatte er damals lachend gesagt, als er die Tänzer akribisch, einem wahren Künstler gleich, ausgemalt und fertigstellt hatte.

„Du bist ein Schlingel“, war ihre Erwiderung gewesen, während sie Benny mit ihrem Pinsel einen Strich durchs Gesicht zog, was er mit einem erschrockenen Quicken honorierte und dann, als er sich mit dem Handrücken über die Nase fuhr, lapidar meinte, er wollte gerne einen Schluck Cola trinken.

Die Idee, die ihr gekommen war, ließ sie nicht mehr los.

Tanzen, waberte es ihr unentwegt durch den Kopf, dicht gefolgt von, Lachen. Lauschige Musik, die bei einem lauen, vom Meer herüberkommenden Lüftchen in der Luft lag. Lampions, die sich im Wind wiegten. Menschen, die den Abend genossen.

Und so war ihr Einfall zu einem Plan geworden, den sie in die Tat umsetzen wollte.

Ihre Terrasse so umgestalten, dass man dort jederzeit kleine Festlichkeiten, Feiern und Geburtstage feiern konnte.

„Wann besuchst du mich denn?“, fragte Benny unverhofft und riss sie damit aus ihren Gedanken und ließ das eben entstandene Gefühl der Leichtigkeit wieder verschwinden.

„Bald“, erwiderte sie und bekam ein schlechtes Gewissen, woraufhin sie schnell hinzufügte: „Spätestens Übermorgen.“

„Ist das lange?“

„Noch zwei Mal schlafen.“

„Ich will nicht noch zwei Mal schlafen“, lallte Benny. „Kommst du jetzt gleich?“

„Jetzt habe ich leider keine Zeit.“

„Nur ganz kurz. Fünf Minuten? Ich will mit dir kuscheln.“

„Das will ich doch auch mit dir“, sagte sie mit einem selten schweren Herz in der Brust, das drohte, ihr in die Hose zu rutschen.

„Dann kommst du gleich?“

Sie seufzte. „Benny. Ich habe wirklich zu tun.“

„Bringst du dann auch etwas zu Naschen mit? Mir wurden meine Naschis weggenommen.“

„Hat da jemand wieder heimlich Bonbons stibitzt?“, wollte sie spielerisch zornig wissen und wusste, dass Benny auf ihre „Jetzt werde ich aber gleich böse“-Stimme immer gleich reagierte. Er kicherte. Und so wie er es tat, konnte sie ihn da wieder am Telefon stehen sehen. Die linke Hand an die Wange gelegt, den Kopf verschämt auf der Schulter liegen, während er nervös einen Fuß vor den anderen setzte.

„Ja“, gestand er ihr.

„Sollst du das?“

„Nein“, sagte er schuldbewusst und fragte dann gleich wieder. „Mama und Papa sagst du das aber nicht?“

„Niemals. Bleibt unser Geheimnis. Großes Indianerehrenwort!“

„Dann sehen wir uns gleich“, sagte Benny und machte einen glucksenden Laut, um dann das Telefon aufzulegen, ohne sich zu verabschieden.

Michelle schüttelte den Kopf.

Könnte sie Benny jemals böse sein?

Kapitel 2

Bewerbungsmail

„Sie sind mit der Mailbox von –“, ein schlechter Einspieler ertönte. „Ive Helliger“, um dann wieder zur mechanischen Tonbandstimme zurückzukehren, „verbunden. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Signalton!“

„Ich bin es. Michelle. Schon wieder“, sprach sie genervt auf die Mailbox ihrer ehemaligen Mitarbeiterin, und wünschte sich nur einmal in ihrem Leben explodieren zu können. Nur einmal impulsiv und ihren tief in ihr schlummernden Gefühlen nachgeben zu können, um Ive auf die Mailbox zu brüllen. Nur einmal schreien, dass Ive sich melden und wenn sie sie schon im Stich ließ, wenigstens nicht auch noch ihr zukünftiges Geschäft versauen sollte. Sie wollte nur einmal sagen, was ihr auf der Zunge lag.

Dann aber, als sie sich nichts sehnlicher wünschte, als einmal nicht Michelle Franke zu sein, hörte sie sich sagen: „Du, es wäre toll, wenn du dich noch einmal bei mir melden könntest. Du hast deine Idee zur Menüabfolge und die dazu gehörigen Notizen für die Hochzeit von Annabell und Hauke nicht ins Kästchen gelegt. Ich würde mich gerne an deiner Abfolge orientieren, um mir ein wenig Arbeit zu sparen, nachdem du den Abend nicht mehr ausrichten wirst. Wäre lieb, wenn du dich noch einmal bei mir melden könntest. Liebe Grüße. Hoffe, du wirst schnell wieder gesund!“

In dem Moment, wo sie ihr letztes Wort gesprochen hatte, hörte sie das erneute „Ist es denn wahr?“ einer Kundin durch ihre leicht angelehnte Bürotür.

Seit gut zwei Tagen redeten sich die Kunden, die hierherkamen, die Köpfe heiß. Immer wieder beugten sie sich verschwörerisch vor, fragten mit leiser Stimme, ob Ive denn noch wiederkommen würde, oder ob sie ernsthaft in Erwägung zog, Richtung Kiel aufzubrechen.

Jana, Ingrid und sie selbst, immer freundlich lächelnd darum bemüht, das Gesicht zu wahren, meinten dann: „Ive sucht gerade neue Perspektiven.“

„Und ihre Torten?“, wollten die Kunden dann wissen.

„Die backen wir weiter.“

„Werden sie denn auch genauso gut schmecken?“

„Noch besser“, meinte Ingrid dann immer, der man anhören konnte, dass sie noch immer enttäuscht darüber war, dass Ive dem Café einfach den Rücken gekehrt hatte. „Sie werden keinen Unterschied schmecken.“

„Na, ich weiß ja nicht“, hatte eine Kundin zweifelnd gesagt und Michelle rutschte das Herz in die Hose. „Ive hatte eine ganz besondere Art, uns kulinarisch zu verwöhnen.“

„Wir verstehen ja alle unser Handwerk“, war Michelles hastig klingende Antwort gewesen. „Und einen Gaumenschmaus backen, das haben wir alle im Blut!“

Ihr war nur zu bewusst, dass das alles hier, was sie tat, auf äußerst schmalen Brettern gebaut worden war. Eine blöde Geschmackszusammenstellung bei den Cookies oder Torten, die den Kunden nicht schmeckten und sie konnte ihr Café schließen und zu Grabe tragen.

Natürlich wusste sie, dass Jana ebenso gut backen und dekorieren konnte; sie selbst war auch nicht schlecht.

Ive aber war …

… etwas Besonders gewesen.

Allein die Tatsache, dass so viel an einer Mitarbeiterin hing, ließ sie Magenschmerzen bekommen. Aus dem Grund hatte sie einen versöhnlichen Ton angeschlagen und versichert, dass nach Ives Ausscheiden eine Option gegeben war, die Hochzeit zu retten und die Kunden zu beruhigen, dass alles genauso weiterlaufen würde wie bisher.

Wie immer die Option auch aussehen würde.

Michelle hatte sich in den letzten beiden Tagen unentwegt mit Dingen beschäftigt, die sich um nichts anderes drehten als den Herzschlag – das heißt, das Konto – der das Café am Laufen hielt. Sie musste nur an das bescheuerte Gespräch mit dem Liefergehilfen denken, der heute Morgen dagewesen war, als sie mit Annabell gesprochen hatte.

„Sie haben die letzten beiden Getränkelieferungen noch nicht bezahlt“, hatte der schlanke, immer schüchtern wirkende Mann gesagt, dessen Gesicht von einem dunklen Bart eingerahmt gewesen war. „Sollten sie nicht bezahlen, war das vorläufig die letzte Lieferung! Soll ich so ausrichten“, schob er hinterher, die Hand hinter dem Kopf, während er die Lippen schief aufeinanderpresste, um dann die Hand zu heben, an Michelle vorbei zu schauen und an Jana gewendet zu sagen: „Hi!“

„Hallo“, sagte Jana, den Kopf gesenkt, ein verspieltes, beschämtes Lächeln auf den Lippen.

„Dir geht es hoffentlich gut?“

„Sehr.“

„Schön.“

„Dir auch?“

Er nickte und sagte schnell, während seine Stimme sich beinahe überschlug: „Ich habe gestern deine Idee umgesetzt, mein Toast in der Pfanne anzubraten, es mit Salz und Pfeffer zu bestreuen und in einer leichten Panade aus Chili, Petersilie und Rosmarin zu wenden.“

Jana hob den Kopf. Ihre Augen leuchteten: „Und?“

„Es war voll lecker. Der Emmentaler hat die Sache abgerundet.“

„Das freut mich zu hören. Das nächste Mal kannst du auch frische Radieschen drauflegen oder wenn du es saftiger magst, eine Gurke. Und wenn du es deftig magst, dann Büffelmozzarella. Das schmeckt richtig gut.“

„Klingt lecker.“

„Finde ich auch.“

Das hastig geführte Gespräch schlief wieder ein. Michelle stand da, einen verwirrten Blick zwischen den beiden hin und her werfend und fragte sich, von was sie hier gerade Zeuge gerade geworden war.

Erst als der Lieferant ein „Äh“ von sich gab und seinen Blick wieder auf Michelle richtete, schien es, als würde die Realität zurückkehren.

„Möchtest du was trinken …?“

„Richard!“

„Richard“, lächelte Michelle. „Ne Cola oder so?“

„Nein, nein, nichts. Ich muss weiter. Mein Terminplan ist randvoll“, sagte er, streckte die Brust raus und hatte die letzten Worte so laut gesprochen, dass Jana sie auf jeden Fall hören musste. „Und überweisen Sie bitte. Mein Chef … Nun ja, der ist etwas fuchsig, wenn es ums Geld geht.“

„Ich weiß“, hatte sie kleinlaut gesagt, während sie den Empfang der Getränkelieferung quittierte. „Ich versuche, bis zum Ende der Woche zu überweisen.“

„Sag ich ihm“, nickte Richard, nahm seine Schirmmütze vom Kopf, wippte von den Zehenspitzen auf die Fersen und klang ganz belegt, als er sagte. „Wir … wir äh“, um dann abzubrechen. Er setzte die Mütze wieder auf, winkte Michelle hastig zu und war aus dem Café verschwunden.

Michelle drehte sich langsam zu Jana herum.

Sie lächelte.

Janas Ohren glühten.

„Was war das denn?“, wollte sie wissen. „Kleine Tipps, um ein überbackenes Toast schmackhafter zu machen?“

„Wir kamen neulich so ins Gespräch“, sagte Jana schnell, rührte hastig in der Schüssel und tat alles dafür, um Michelle nicht ins Gesicht gucken zu müssen.

„Was für ein Gespräch?“, ließ Michelle nicht locker.

„Über dies und das eben.“

Michelle setzte an, eine weitere Frage zu stellen und freute sich darüber, die Schamesröte in Janas Gesicht aufsteigen zu sehen. Nicht, weil sie sie verspotten und aufziehen wollte, sondern, weil sie sich für Jana freute, jemanden gefunden zu haben, der ihr das Gefühl von Verliebtheit gab, mit allem was dazugehörte: Rotwerden, peinliches Stammeln, verlegene Blicke. „Ich muss jetzt echt schnell Cookies nachbacken. Ingrid verschenkt zu viele!“, erwiderte Jana hastig.

„Schon gut, Süße“, lächelte Michelle und flüsterte ihr im Vorbeigehen zu: „Genieße es, so lange du nur kannst.“

***

Liebe Frau Café-Besitzerin,

las Michelle verwirrt die gerade auf ihrem Handy eingegangene E-Mail, während sie parallel dazu versuchte, beim Finanzamt jemanden zu erreichen.

Ich habe heute via Mundpropaganda zu hören bekommen, dass Ive Helliger bei Ihnen aufhört und sich neuen Tätigkeiten in der großen, weiten Welt der Konditoren zuwenden will.

So traurig das auch ist, weil ich ihre Backwaren immer gerne gegessen habe, so kann dies auch eine neue Chance sein.

In einem alten, chinesischen Sprichwort heißt es: „Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen.“

Seien Sie doch die Windmühle und machen das, was Sie am besten können – Menschen mit ihrer Freundlichkeit, ihrer Zielstrebigkeit und guten, leckeren Torten, Kuchen und Kaffees verwöhnen.

Ich freue mich auf jeden Fall wieder auf einen Kaffee bei Ihnen. Und wer weiß, vielleicht kann ich ja auch der Wind sein, der alles verändert. Erfahrungen beim Servieren und beim Backen habe ich schon gesammelt. Ich würde mich freuen, wenn Sie sich nur kurz einmal bei mir melden könnten. Auch wenn es nichts mit einer Anstellung werden sollte – Sie kennenzulernen, würde mir auch sehr gefallen.

Ihr

Philipp.

Verwirrt über diese Art von Bewerbungsschreiben, hatte Michelle für einen kurzen Augenblick alles um sich herum vergessen. Die elektronische Ansage, die ihr mitteilte, dass aufgrund eines hohen Krankenstandes zurzeit niemand zu erreichen war, entging ihr ebenso, wie die Ankunft einer kleinen Rentnergruppe, die freundlich fragte, ob sie Kaffee und Kuchen auf der Terrasse zu sich nehmen konnten.

Sie tippte mit dem Daumen auf den Button „Antworten“ und verfasste die erste E-Mail seit mehreren Tagen, die auf eine gute Nachricht antwortete,

Lieber Philipp,

vielen Dank für Ihre Bewerbung. Gerne können wir uns treffen, um zu schauen, ob eine Einstellung in Frage käme. Ich kann Ihnen aber leider nichts versprechen, da es mehrere Bewerber auf die offene Stelle gibt.

Herzliche Grüße

Michelle

Es gibt mehrere Bewerber auf die offene Stelle, dachte sie schmunzelnd und fügte in Gedanken hinzu. Genau eine weitere.

Obwohl sie nicht wusste, warum sie Philipp gegenüber so ehrlich und offen war, spürte sie, dass es ihr guttat, die E-Mail zu schreiben. Noch besser ging es ihr, als sie den gerade verfassten Text noch einmal Korrektur las. Sie löschte einige Schreib- und Tippfehler und schob noch einen erklärenden Satz hinterher, dass sie sich auch freuen würde, wenn sie Philipp kennenlernen dürfte. Als sie ihren Entwurf nochmal durchlas, musste sie das erste Mal offen und herzhaft lächeln.

Sie schickte die E-Mail fort und lauschte in sich herein.

Es fühlte sich gut an, die eigenen Gedanken einmal nicht um Probleme kreisen zu lassen.

Seine Idee, Neues zu entdecken und Möglichkeiten in dem Umbruch, den Ives Kündigung mit sich brachte, zu sehen, gefielen ihr.

Sie nickte sich zu, hob den Kopf und wunderte sich über den von den Rentnern verursachten Tumult da draußen.

Ingrid lachte und sagte zu einem adrett aussehenden, grauhaarigen Mann: „Sie könnten Nummer zwei werden“, und ließ mit dieser Bemerkung Michelle die Haare zu Berge stehen.

Sie legte das Telefon auf die Gabel, ließ ihr Handy in die Hosentasche gleiten und rief: „Ingrid, ich glaube die Herrschaften möchten bestellen“, und sah, dass Jana über eine Schüssel gebeugt stand, und mit der Hand Sahne steift schlug, noch immer verschmitzt lächelte, während sie meinte: „Vor Ingrid müssen Sie sich in Acht nehmen. Die frisst sie mit Haut und Haar.“

„Jetzt wird es interessant“, sagte der Mann und meinte dann, als Ingrid sich herumdrehte, „Sowas mochte ich schon immer.“

„Wenn Sie jetzt auch noch tanzen können, würde ich Ihnen meine Nummer geben“, entgegnete Ingrid.

„Dafür nehme ich noch einmal Tanzstunden“, lächelte er und Michelle stand mit offenem Mund da.

Flirtete man so?

Ging es so einfach?

Das „Pling“ in ihrer Hose ließ ihr Erstaunen in den Hintergrund treten. Sie griff in die Tasche und fragte, bevor sie sah, dass sie eine E-Mail bekommen hatte: „Soll ich …?“

„Wir machen das schon“, lächelte Jana. „Kümmere du dich mal um die Organisation der Hochzeit und deine E-Mails.“

„Okay.“

Ingrid, lässig Kaugummi kauend, schaute zu der kleinen, untersetzten Frau, die plötzlich zu dem hochgewachsenen, weißbärtigen Mann getreten war, der eben noch meinte: „Hier bekommt man mehr, als einen gut schmeckenden Kaffee.“

„Walter“, schlug die rundliche Frau ihm spaßeshalber gegen den Oberarm. „Du sollst nicht immer so ein loses Mundwerk haben. Wenn deine Ida das noch hören würde, wie du hier redest.“

„Dann würde sie mir recht geben und mich für meinen guten Geschmack loben, den ich noch immer habe.“

Michelle nahm die Hand vors Gesicht, lachte leise und sah, dass Philipp kurz und knapp geantwortet hatte.

Wann soll ich denn zum Vorstellungsgespräch kommen? Wenn das überhaupt nötig ist, da es bestimmt keinen Besseren als mich geben wird.

Seine lapidar formulierte Frage und die freche Art ließen Michelle schmunzeln.

Die Tatsache, dass sie vor ihrem Handy saß und sich krampfhaft eine flapsige und ebenso dahingerotzte Antwort ausdenken wollte, ließ sie kichern.

Sie bekommen das Vorstellungsgespräch nur, wenn es einen selbstgebackenen Kuchen und einen selbst gebrühten Kaffee Ihrerseits als Bestechung gibt.

Sie sandte die Nachricht ab und konnte kaum glauben, was sie da eben gerade getan hatte.

Es war gar nicht ihre Art, solch unprofessionelle Antworten zu versenden, schließlich ging es hier ums Geschäft. Aber irgendetwas an dieser Konversation gab ihr ein Gefühl der Freiheit und der Spontaneität. Ein Gefühl, das sie schon lange nicht mehr hatte.

Nur um kurz darauf wieder in die Wirklichkeit zurückgerissen zu werden.

Brutal und unnachgiebig.

Sie schluckte, als sie ihr Handy hob und die im Display aufleuchtende Nummer erkannte.

Ive Helliger rief zurück …

***

Ich frage mich ehrlich, kam ihr der Gedanke, nachdem das Gespräch beendet worden war, wie ich auch nur einen Augenblick daran hatte denken können, einen Abend mit Ive und Jana ins Wicken zu gehen.

Wie dumm muss ich gewesen sein?

Wie verblendet?

Michelle hatte es noch nie sonderlich gemocht, wenn man Dinge, die man gesagt, getan oder gedacht hatte, später revidierte und sich deshalb selbst einen Narren nannte. Sie war immer der festen Überzeugung gewesen, dass man aus Dingen, an die man eben dachte, die man sagte oder fühlte, lernen konnte und sich dadurch besser kennenlernte.

Jetzt aber, nachdem sie wutschnaubend aufgelegt hatte, war das Gefühl so wirklich, so echt, dass sie am liebsten geschrien hätte.

„Jetzt nicht“, meinte sie, als Ingrid die Tür zu ihrem Büro öffnete und schob hinterher. „Bitte.“

„Da ist ein …“, ließ Ingrid sich nicht abwimmeln.

„Später. Nicht jetzt“, schnaubte Michelle und stieß sich von ihrem Schreibtisch ab. Sie ballte die Faust und schimpfte: „Blöde Ive. Bescheuerte Ive.“

„Alles gut bei dir, mein Kind?“, wollte Ingrid wissen.

„Nichts ist gut“, rief Michelle und zeigte anklagend auf das vor ihr auf dem Schreibtisch liegende Handy. „Ive hat mir gerade gesagt, dass sie keinen Fuß mehr ins Café setzten wird.“

„Oh …“