Was ist schon die Zeit - Nele Hansen - E-Book

Was ist schon die Zeit E-Book

Nele Hansen

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Beschreibung

Heilt die Zeit alle Wunden?

Es ist Jahrzehnte her seit Hannes und Vanja ein Paar waren. Doch selbst nach zwanzig Jahren kann er sie einfach nicht vergessen: ihr Lächeln, ihre liebevolle Art, ihren Körper. Als Hannes und Vanja sich wieder treffen, werden alte Wunden aufgerissen. Aber alles, was Hannes sich wünscht, ist Vanja. Wie können sie sich die letzten zwanzig Jahre verzeihen?

Über booksnacks

Kennst du das auch? Die Straßenbahn kommt mal wieder nicht, du stehst gerade an oder sitzt im Wartezimmer und langweilst dich? Wie toll wäre es, da etwas Kurzweiliges lesen zu können. booksnacks liefert dir die Lösung: Knackige Kurzgeschichten für unterwegs und zuhause!

booksnacks – Jede Woche eine neue Story!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 196

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Kurz vorab

Liebe Leserin, lieber Leser,

wie schön, dass du dich für diesen booksnack entschieden hast! Wir möchten dich auch gar nicht lange aufhalten, denn sicher hibbelst du der folgenden Kurzgeschichte schon voller Freude entgegen.

Vorab möchten wir aber ganz kurz die wichtigsten Merkmale einer Kurzgeschichte in Erinnerung rufen:

Der Name ist Programm: Alle Kurzgeschichten haben ein gemeinsames Hauptmerkmal. Sie sind kurz.Kurz und knapp sind auch die Handlung und die erzählte Zeit (Zeitsprünge sind eher selten).Ganz nach dem Motto »Einleitungen werden total überbewertet« fallen Kurzgeschichten meist sofort mit der Tür ins Haus.Das zweite Motto lautet »Wer braucht schon ein Happy End?« Also bereite dich auf einen offenen Schluss und/oder eine Pointe am Ende der Geschichte vor. Das Geheimnis dahinter: Kurzgeschichten sollen dich zum Nachdenken anregen.Versuch deine Neugier zu zügeln, denn auch für die Beschreibung der Charaktere und Handlungsorte gilt »in der Kürze liegt die Würze«.Die Aussage des Textes ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Hier bist DU gefragt, um zwischen den Zeilen zu lesen und deine persönliche Botschaft aus der Geschichte zu ziehen.

Jetzt bist du gewappnet für unseren literarischen Snack. Und findest du nicht auch, dass man diesen gleich noch mehr genießen kann, wenn man weiß was drin ist?

Viel Spaß beim Booksnacken wünscht dir

Dein booksnack-Team

Über dieses E-Book

Es ist Jahrzehnte her seit Hannes und Vanja ein Paar waren. Doch selbst nach zwanzig Jahren kann er sie einfach nicht vergessen: ihr Lächeln, ihre liebevolle Art, ihren Körper. Als Hannes und Vanja sich wieder treffen, werden alte Wunden aufgerissen. Aber alles, was Hannes sich wünscht, ist Vanja. Wie können sie sich die letzten zwanzig Jahre verzeihen?

Impressum

Erstausgabe April 2021

Copyright © 2022 booksnacks, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96817-633-8 Hörbuch-ISBN: 978-3-96817-790-8

Covergestaltung: dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH unter Verwendung eines Motivs von shutterstock.com: © artjazz Korrektorat: Daniela Pusch

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Was ist schon die Zeit

Jetzt auch als Hörbuch verfügbar!

Was ist schon die Zeit
Nele Hansen
ISBN: 978-3-96817-790-8

Heilt die Zeit alle Wunden?

Das Hörbuch wird gesprochen von Anja Kalischke-Bäuerle.
Mehr Infos hier

Es traf Hannes wie ein Blitz!

Im ersten Moment hatte er gemeint, sich getäuscht zu haben. Er hatte nur kurz von dem vor ihm liegenden Heftroman aufgesehen. Nur ein klitzekleiner Moment, der genügte, ihm den Schweiß auf die Stirn schießen zu lassen. Er hatte sich gar nichts dabei gedacht, als er den Kopf gehoben hatte, um die an ihm vorbeiströmenden Menschenmassen mit seinen Blicken zu verfolgen. Er fragte sich ernsthaft, wie er jemals in die Situation geraten konnte, in der er jetzt gerade steckte. 

Während der Gedanke hinter seiner Stirn entlangzog und er das Selbstmitleid in sich aufsteigen spürte, verflüchtigte sich der unscharfe, abwesende Blick und ließ ihn zusammenzucken.

Als er das labbrige Heftchen sinken ließ, das er nur gekauft hatte, weil er sich damit an schöne Zeiten erinnern wollte, als es für ihn nur die Sorge gab, das Erscheinungsdatum des neusten Professor Zamorras zu verpassen, wusste er, dass seine Erinnerungen ihm keinen Streich gespielt hatten. Dass er wirklich hier saß und sie sich aus der Masse schälte, als würde sich diese vor ihr teilen, damit er ihr Gesicht erkennen konnte. Ein Gesicht, das sich in den letzten zwanzig Jahren deutlich verändert und doch alles von einst behalten hatte.

Hannes schluckte hart. Sein Hals wurde trocken und seine Zunge klebte ihm plötzlich am Gaumen. Er spürte den unangenehmen, den harten Druck im Magen, als ihm Hunderte und Aberhunderte von Gedanken durch den Kopf schossen und er versuchte, sie zu ordnen.

Was ihm bildhaft vor Augen trat, während in ihm eine Flut an Erinnerungen emporstieg, war der Augenblick, wo er ihr zum letzten Mal begegnet war. Es war nicht hier gewesen, nicht in der frisch sanierten und nun noch steriler und herzloser wirkenden Einkaufspassage innerhalb des Marktkaufcenters. Und doch in der unmittelbaren Nähe. Damals hatte er an der Kreuzung gestanden, gegenüber dem Center. An der Ampel, die in Richtung Videothek führte. Da war er ihr, aufgeregt und voll innerer Traurigkeit, entgegengetreten, weil er gewusst hatte, dass er ihr wehtun würde.

Hannes wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. 

Aufstehen?

Zu ihr gehen?

Oder sitzen bleiben, in dem Heft blättern und hoffen, dass die schönen Momente seines Lebens ihn erfüllten, während die grausame Realität fernblieb? 

Das Merkwürdige daran war nur, dass er gar nicht wusste, was besser war. Seine ihm eben noch zusetzende Realität, oder die weit in der Vergangenheit liegende Erinnerung.

Hannes, der sich selbst immer als spontan betrachtet hatte – besonders seitdem er als Sechszehnjähriger über die Absperrung des Bille Bads geklettert war, um seinen Freunden zu beweisen, wie man am späten Abend umsonst ins Schwimmbad kam –, fühlte sich jetzt plötzlich uralt. Zu nichts in der Lage, als hier zu hocken und dabei zuzusehen, wie eine sichtlich übergewichtige Frau mit ihrem ebenso korpulenten Mann ihm die Sicht auf die Frau zu verdecken drohte, der er so weh getan hatte, dass es ihm heute noch einen heißen Stich ins Herz versetzte.

Wovor hast du Angst?, fragte er sich selbst, während er den Heftroman zwischen seinen Fingern einrollte. Verschwindet sie, ist sie nur eine weitere Narbe auf deiner Seele. Sprichst du sie an, kann sie dich so verletzen, wie du es damals mit ihr getan hast.

Beides negativ, mein Freund. Beides abgrundtief scheiße. 

Aber …

… wie er sie hasste! Wie er die Abers verabscheute, wie er sie am liebsten hinter sich gelassen und für immer vergessen hätte. Abers hatten ihn erst hierher, in diese beschissene Situation gebracht. Sie hatten ihn dazu angestiftet, über alles nachzudenken, was er sich einst aufgebaut und jetzt verloren hatte.

Hannes, der seine wirbelnden Gedanken krampfhaft unter Kontrolle zu bringen versuchte, erschauderte, als ihm das Aber mit solcher Macht ansprang, dass er meinte, in den Schwitzkasten eines Ringers geraten zu sein.

Es war kein böses Aber.

Keines, das versuchte, ihm Konflikte und Komplikationen wie einen Stock zwischen die Beine zu werfen.

Scheiße, Mann, dieses Aber ließ ihm den kalten Schweiß der Hoffnungslosigkeit ausbrechen, weil er dabei war, eine einmalige Chance wie Sand zwischen den Finger verrinnen zu lassen. 

Aber, hörte er seine Gedanken hinter der Stirn hämmern, wenn du sie ansprichst und sie dich anlächelt und sich freut, dich zu sehen, dann hast du alles richtig gemacht. Dann bist du von der Verliererstraße herunter und hast jemanden, mit dem du reden kannst.

Jemand Unbeteiligten.

Niemand, der auf dich herabblickt. Keiner, der dir in einem eingeschobenen Satz ein schlechtes Gewissen bereitet.

Keiner, der meint, du bist das Größte aller Arschlöcher, das es auf Gottes Erde gibt.

Unbeteiligt. Hannes, Mann, du hättest jemanden, der dich mit völlig anderen Augen sieht … 

Allein der letzte Satz, der durch seinen Kopf raste, ließ ihn ein seit Wochen nicht mehr erlebtes Hochgefühl der Freude verspüren. 

Vorurteilsfrei jemandem unter die Augen treten – was für ein Traum. 

Ob es die Aussicht auf ein wenig innere Ruhe war oder einfach nur die Hoffnung, ihr noch einmal zu begegnen, war Hannes nicht ganz klar. Dass ihn aber etwas antrieb und ihn aufstehen ließ, war nicht von der Hand zu weisen. 

Der zwischen seinen Händen zusammengerollte Roman wog plötzlich unendlich schwer.

Das aus dünnem Papier bestehende Heftchen tat ihm einerseits gut, andererseits machte es ihn angreifbar.

Gut tat es ihm, weil es seinen Fingern etwas zu tun gab. Immer dann, wenn er nervös wurde und nicht wusste, wie er sich verhalten sollte, rieb er seine Hände aneinander oder steckte sie in die Hosentaschen, um dort dann nach losen Fäden, vergessenen Münzen oder sonst etwas zu suchen.

Schlecht wurde ihm, weil er genau wusste, wie es aussah, wenn er mit einem Heftroman in der Hand herumlief. Menschen, die wahre, echte Literatur schätzten, rümpften die Nase, wenn er von seinem ehemaligen Hobby erzählte. Wenn er ihnen sagte, dass er gerne die Abenteuer der eindimensionalen Helden verfolgte und sich daran erfreuen konnte, wenn sie diese in der Hölle, auf fremden Planeten oder in dunklen Gemäuern erlebten.

Ihm war bewusst, wie haarsträubend und albern diese Geschichten waren. Dass es in den Romanen praktisch keinen substanziellen Nährwert gab – außer der Unterhaltung.

Und nicht zu vergessen das Mitfiebern mit den Protagonisten. Verdammt noch mal, als Zamorra damals in einer anderen Zeitachse der Erde gefangen wurde, weil er bei Eintritt in die Regenbogenblumen überlegte, wie die Welt wohl aussehen würde, wäre er böse.

Interessierte sie sich für Literatur? 

Konnte es sein, dass sie Heftchen ebenso abstoßend fand wie andere Menschen die echte, die richtige, die dicke Bücher lasen?

Hannes wusste es nicht.

Und jetzt, wo er sich von seinem Platz erhoben hatte und die Nervosität ihn glauben ließ, jede Haarspitze würde einzeln in die Höhe ragen, war es zu spät, den Roman wegzuwerfen. Weder war ein Mülleimer in der Nähe, noch konnte er ihn einfach auf den Tisch eines anderen Gastes werfen. 

Außerdem, und das war das Wichtigste, der Roman hielt seine Finger still.

„Äh“, machte er, als er sah, wie sie sich gerade von der Fleischtheke wegdrehte. „Vanja?“

Sie reagierte nicht.

„Vanja? Bist du das?“, sprach er nun lauter und war sich uneins, ob er nach ihrem Arm greifen sollte oder nicht. 

In der Sekunde, wo er meinte, sie habe ihn auch noch immer nicht gehört, erstarrte sie in ihrer Bewegung, drehte den Kopf und schaute ihn an. 

Erst schien es, als wüsste sie nicht, wer da vor ihr stand.

Wie auch?

Seit dem letzten Mal, als sie sich gesehen hatten, war viel Wasser die Elbe herabgeflossen. Das eine Mal danach zählte er nicht dazu: Er war aus der S-Bahn gestiegen, um seinen neuen Laptop nach Hause zu tragen. Und sie hatte, zu seiner Verwunderung, die Bahn betreten, die weiterfuhr, hinaus aufs Dorf. 

Da hatten sie sich nur kurz gegenübergestanden. Beide als wären sie gegen eine Wand gelaufen. 

Das Schüchterne „Du?“ klang aus ihrem Mund jetzt ebenso, wie damals.

Und wie damals auf dem Bahnhof nickte er nur und brachte ein kurzatmiges, heiseres „Hi“ hervor. 

Sie musterte ihn. Das sah er ganz genau. 

Wonach sie in seinem Gesicht suchte, auch das wusste er nicht – woher auch? Das Problem, das er dabei hatte, war: Er war sich sicher, dass sie seine grauen Haare inmitten all der dunklen ebenso bemerkte wie den ersten Ansatz eines entstehenden wölbenden Bauches über die Gürtelschnalle.

Außerdem, und das war es, was ihm am meisten zusetzte, musste sie sein schlecht gebügeltes Hemd bemerken, das er heute Morgen lustlos aus dem Schrank gezogen hatte. 

Und die Hose, vergiss die Hose nicht, jagte ihm seine Furcht die Scham ins Gehirn. Die sitzt beschissen, Alter. Sie ist dir zu eng geworden. Sie drückt deinen Bauch noch weiter vor. 

„Wie geht es dir?“, fragte sie unerwartet, schaute ihn an und lächelte …

***

Ein Lächeln, das er so noch nie gesehen hatte, wie er fand. Eine Mischung aus Freude und Schmerz, die ihre zarten Konturen noch zerbrechlicher wirken ließ. Ein dunkler Schatten lag in ihren Mundwinkeln, während in ihren Augen ein kurzer, aufblitzender Schimmer der Zufriedenheit erkennbar war.

Hannes, der nicht beschreiben konnte, was für Gefühle durch ihn rasten, während er so dastand und sich an ihrem weich geformten Gesicht nicht sattsehen konnte, versuchte es ebenfalls mit einem Lächeln. Er wollte all die Freude, die er in ihrem Gesicht entdeckte, zurückgeben. Doch ebenso wie bei ihr dominierte eine dunkle, sorgenvolle Schwärze sein Gemüt, so dass er sich ernsthaft fragte, ob er nicht vielleicht doch einen Fehler begangen hatte. Dass er eine falsche Entscheidung getroffen hatte, aufzustehen und zu ihr zu gehen. 

Erst als ihm bewusst wurde, dass sie ihn etwas gefragt hatte und der Klang ihrer Stimme wie ein weicher Glockenschlag in ihm widerhallte, verflüchtigten sich die Schatten. Auch wenn sie nicht ganz verschwanden, so rissen sie doch auf; ähnlich frühmorgendlichen Nebels, der im Herbst schwer über Felder und Wiesen lag und durch den die ersten Sonnenstrahlen eines neubeginnenden Tages schnitten.

„Gut“, antwortete er automatisch, so wie er in den letzten Tagen immer antwortete, wenn ihm jemand fragte, wie es ihm ging. 

„Das freut mich zu hören.“

„Und dir?“, wollte er pflichtbewusst wissen, um dann nachzusetzen: „Wusste gar nicht, dass du wieder in Bergedorf bist!“

„Bin ich auch nicht“, meinte sie, schüttelte den Kopf und lächelte verloren. „Ich hab’ hier nur gehalten, weil ich noch schnell was einkaufen musste. Eigentlich wäre ich über die Autobahn Richtung Innenstadt gefahren.“

Er nickte und lauschte seinen durchs Hirn rasenden Gedanken: Schicksal, Junge. Das ist Schicksal. Sie wollte gar nicht hierherkommen. Aber irgendetwas …

… oder irgendwer, verbesserte er sich und brachte sich damit selbst aus dem Konzept.

Eigentlich wollte er nicht, dass ihm das Herz bis zum Hals schlug. Doch die Furcht, die ihn ergriff, die Angst, die ihn schüttelte, dass sie nur hier eingekauft hatte, weil sie für ihren Mann heute Abend etwas Köstliches kochen wollte, um ihn danach zu verführen, ließ ihm heiß und kalt zugleich werden.

„Innenstadt?“, hörte er sich wie aus weiter Ferne fragen. „Äh …“

„Ich war beruflich unterwegs und hab mich erinnert, dass es hier ja das Marktkaufcenter gibt. Muss ja gleich zurück in die Redaktion und wäre heute Abend nicht mehr dazu gekommen“, erklärte sie ihm. 

Hannes nickte.

Auch wenn er keine Ahnung hatte, was sie damit meinte und worüber sie sprach, so begriff er doch, dass ihn nicht nur der Klang ihrer Stimme faszinierte. Allein wie ihre Lippen sich bewegten und die geraden, weißen Zähne kurz aufschimmerten, ließ ihn glauben, in seinem Magen explodiere eine Bombe an Gefühlen.

Es schauderte ihn, wenn er nur daran dachte, dass sie ihm hier und jetzt wieder entschwinden konnte. Dass sie sich mit einem einfachen „Ciao“ von ihm verabschiedete, sich umdrehte und durch die Drehtür nach draußen verschwand.

Krampfhaft versuchte er sich solch ein schreckliches und sein Herz entzweireißendes Szenario nicht vorzustellen. Vielmehr wollte er sich daran erfreuen, dass Vanja hier vor ihm stand. Dass sie sie ihm ein Lächeln schenkte und ihn fragte:

„Und was machst du so?“

Er zuckte nur mit den Schultern, um von dem sengenden Schmerz der Furcht abzulenken.

Sollte er ihr erzählen, was vorgefallen war?

Wie man ihn innerhalb seiner Familie nannte?

Was man ihm fast täglich via E-Mail, WhatsApp, Facebook-Messanger und anderen virtuellen Medien so alles an den Kopf warf?

Hier und jetzt sein Herz öffnen?

Hannes verneinte insgeheim und antwortete mit belegt klingender Stimme: „Krankenpfleger. Immer noch.“

„Dann hast du die Lehre in der Bank doch nicht angefangen?“

Hannes verharrte.

Sein „Äh“ klang ebenso verwundert, wie seine Augen weitaufgerissen waren. Nicht, dass ihn die Frage aus dem Konzept brachte. Nein, das tat sie ganz bestimmt nicht. Was ihn so verwunderte, war, dass sie noch immer wusste, dass er damals mit siebzehn Jahren zwei Optionen gehabt hatte.

Eine Ausbildung im Krankenhaus zu machen oder nach Lübeck umzuziehen, um dort in einer Filiale der Deutschen Bank zum Bankkaufmann ausgebildet zu werden. 

„Woher …?“

„War doch so, oder? Ich meine mich zu erinnern, dass du dich im Krankenhaus und bei einer Bank beworben hast!“

„Ja, ist so gewesen“, sagte er steif und hätte den Heftroman am liebsten weggeworfen, um seine schweißnassen Hände in der Hosentasche verschwinden lassen zu können. 

„Hatte gedacht, dass du eher in die Bank wechselst. Hätte eher zu dir gepasst!“

Da wäre ich im Nachhinein auch lieber gelandet, gab er zu, ohne es auszusprechen. Nur mit Grausen dachte er an die unangenehmen Arbeitszeiten im Krankenhaus zurück. Schon die Spät- und Nachtdienste machten ihn wahnsinnig. Die Spätdienste deshalb, weil er dann nur den Vormittag für sich hatte und bis zum späten Abend auf der Station herumlungerte. Die Nachtdienste deshalb, weil er noch nie eine Nachteule gewesen war. Spätestens um 1:00 Uhr war er so müde und abgeschlagen, dass die nächsten fünfeinhalb Stunden für ihn reine Tortur waren. 

Er kämpfte dann nicht nur mit der quälenden Müdigkeit, sondern auch mit einer immer miserabler werdenden Laune, die er jedoch unter keinen Umständen an den Patienten auslassen wollte. 

„War nicht böse gemeint“, riss Vanja ihn aus den Gedanken und erinnerte ihn somit daran, dass er noch immer dastand, starrte und nicht zu wissen schien, was er sagen, geschweige denn tun sollte. 

„Redaktion?“, fragte er deshalb und ärgerte sich darüber, dass er nur in abgebrochenen Sätzen sprach – wenn überhaupt. 

„Ja, ja“, nickte sie. „Bin jetzt beim Kreisblatt angestellt. Einfache Redakteurin, nichts Aufregendes. Aber es macht Spaß, und das ist die Hauptsache.“

„Journalistin also. Cool“, nickte Hannes anerkennend und fand in dem Moment, da er es sagte, dass das „cool“, völlig daneben klang.

Cool?

Zu einer Frau, die auf die Vierzig zuging?

Am liebsten hätte er sich eine Ohrfeige gegeben.

„Klingt spannender, als es ist“, winkte sie ab. „Ich interviewe Leute, die einen schönen Garten haben. Welche, die sich im Sportverein verliebt haben und traurig sind, dass dieser nun mangels Interesse geschlossen wird …“ Sie winkte erneut ab. „So Dinge halt. Geschichten, die die Welt nicht braucht, die mich aber ernähren!“

Hannes nickte. Er wusste, was sie meinte. Und das verrückte daran war, er konnte sich sogar vorstellen, wie sie zu dieser Überzeugung gelangt war. Dass sie einmal große Träume gehabt hatte und bei einer angesehenen Zeitung arbeiten würde. Dass sie Politikern auf den Zahn fühlte und nicht davor zurückschreckte, die illegalen Machenschaften internationaler Konzerne aufzudecken und die geldgierigen Manager zur Hölle zu schicken.

Nur war ihr das Leben in die Parade gefahren.

Ein Mann. Kinder. Alles hatte Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch genommen und Träume schneller zerplatzen lassen, als Seifenblasen, die auf eine Nadel trafen. 

„Du, ich muss auch weiter“, meinte sie, hob ihr zartes Handgelenk und zeigte ihm die silbern funkelnde Uhr, die so bezaubernd mit der Haut harmonierte. „Es war schön, dich wiedergesehen zu haben.“

„Hat mich auch gefreut“, entgegnete er heiser. 

„Vielleicht sieht man sich ja mal wieder“, sagte sie die Floskel auf und schien gar nicht daran interessiert zu sein, sich näher mit ihm zu beschäftigen. Sie lächelte zwar und musterte ihn mit ihren grünen, unergründlichen, alles genau analysierenden Augen, machte aber keinerlei Anstalten, ihr Handy zu zücken und zu sagen: „Hey, komm, gib mir mal deine Nummer. Können uns ja dann via Internet austauschen. Was meinst du?“

Nichts …

Sie schaute ihn nur an, lächelte und setzte gerade zum „Auf Wiedersehen“ an, als er meinte: 

„Wir können uns ja mal auf einen Kaffee treffen“, um dann sofort hinterher zu schieben, „falls du Kaffee magst. Meins ist das nämlich nicht.“

„Meins auch nicht“, lachte sie. „War es nie und wird es wohl nie sein.“

„Dann auf ‘ne Cola?“

Sie überlegte – eindeutig zu lange. Es sah nicht so aus, als würde sie ernsthaft daran interessiert sein, ihre Zeit mit ihm zu verbringen. 

In dem Moment, da er „Schon gut. Muss nicht“, sagte, klingelte ihr Handy, mit einem durch Mark und Bein gehenden Sound: der Opener der Cartoon Serie She-ra. Er erinnerte sich nicht daran, weil er das Intro der wirklich bescheuerten und dämlichen Cartoonserie so sehr mochte, sondern nur, weil sie beide damals immer leidenschaftlich gestritten hatten, wer denn der wahre Held war. He-man oder She-ra?

Er hatte – natürlich – zum stärksten Mann des Universums gehalten. Dem Helden seiner Kindheit. Den Mann, der durch die Kraft seines Zauberschwertes die Macht von Castle Grayskull beschwor und den Planeten Eternia vor den Angriffen des bösartigen Skeletors beschützte.

She-ra hingegen war …

… ein billiger Abklatsch. 

Sie war He-mans Zwillingsschwester und nicht mehr und nicht weniger als eine Schlägerbarbie. 

„Moment“, machte sie, hob die Hand und fingerte umständlich nach dem Handy in ihrer enganliegenden Jeans. 

Jetzt, da sie sich halb von ihm wegdrehte, um das immer lauter werdende Intro zu unterbrechen, bemerkte er, was für einen runden, sich unter dem Hosenstoff abzeichnenden Hintern sie hatte. Wie gut sie aussah und was für lange, schlanke Beine sie hatte.

Alles an ihr schien …

… perfekt.

Selbst die sich nur ansatzweise unter der weißen Bluse abzeichnenden Hüften gefielen ihm. Ihre Bewegungen waren geschmeidig weich und ihre Stimme, als sie an Telefon ging, hell wie der junge Morgen.

„Ja, ich bin unterwegs“, sagte sie hastig. „Hab’ nur einen kurzen Zwischenstopp eingelegt, um etwas einzukaufen. Ich bin so in dreißig Minuten in der Redaktion.“ Sie machte eine kurze Pause. „Fotos habe ich auch gemacht, ja. Ist doch nicht mein erster Tag!“

Dann unterbrach sie die Verbindung, um Hannes zu erklären: 

„Mein Chefredakteur. Er hat immer Angst, dass ich nicht rechtzeitig fertig werde. Dabei habe ich noch gute acht Stunden, bis der Artikel fertig sein muss!“ Sie lachte und winkte ab. „Wir hören uns. Auf jeden Fall. Ich muss los. Bis dann.“

Um ihn dann in der Einkaufspassage stehen zu lassen.

Ohne die Handynummer ausgetauscht zu haben. 

***

Sie hat sich nur eine kleine Portion Fleisch beim Schlachter gekauft, dachte er nicht zum ersten Mal. Keine Unmengen. Da ist nichts weiter. Nur sie. Keine Kinder. Kein Partner. Sie ist allein.

So tröstend der Gedanke auch war und so gut ihm diese Beobachtung auch tat, er begriff dennoch, dass Vanja ihm schon wieder durch die Lappen gegangen war. Ihm war das klar geworden, als sie sich umdrehte und Richtung Drehtür eilte, hinaus aus dem Center. Dorthin, wo sie dann im dichten Gedränge der Bergedorfer Innenstadt verschwinden würde. 

Eine kleine Portion Fleisch …

Hannes wusste, wie albern es war, dass er sich darüber Gedanken machte. Dass er in diese Begegnung irgendetwas hineininterpretierte, was gar nicht da war.

Nicht zum ersten Mal erwischte er sich dabei, wie er nach seinem Smartphone griff und darauf hoffte, ihm würde, sobald er das Display entriegelt hatte, eine neue SMS, WhatsApp oder E-Mail angezeigt werden. Irgendetwas, das ihm das angenehme, ihn mit Leben erfüllende Herzklopfen bescherte, das er immer dann hatte, wenn er eine Nachricht erhielt.

Weil sie von ihr sein konnte. 

So albern es auch klang – aber allein der Gedanke daran, dass sie beide sich wieder regelmäßig sehen und treffen könnten, erfüllte ihn mit solch einem Lebensmut, wie er ihn seit gut acht Wochen nicht mehr verspürt hatte.

Ihm war, als habe er etwas zurückgewonnen, das ihm abhandengekommen war. Im ersten Augenblick hatte er nicht einmal sagen können, was genau es gewesen war. Dann aber, in dem Augenblick, wo er mit dem Denken und Grübeln aufhören wollte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. 

Hoffnung!

So albern es auch klang – die Begegnung mit Vanja hatte ihm den Glauben zurückgegeben, der ihm verlorengegangen war.

Da waren die Beleidigungen und die Vorwürfe. Der dauerhafte Stress mit der Arbeit und die Zweifel an sich selbst.

Jetzt aber, da er Vanja gesehen und sich an ihr erfreut hatte, sich nicht hatte sattsehen können an ihrem blonden, lockigen Haar, der engen Jeans und der weißen, luftigen Bluse, die ihm doch mehr zeigte, als verbarg, hatte ihn das mit neuem Lebensmut erfüllt. 

Er schluckte bitter, als er an die kleinen, kreisrunden Brüste dachte, die er unter dem weißen Stoff erkannt hatte. Wie sie ihm verstohlen entgegenragten und er das in ihm brodelnde Verlangen verspürt hatte, sie noch einmal berühren zu dürfen.

So wie damals, als sie unten an der Bille gewesen waren, am alten Entensteg. Wo sie im dämmrigen Licht des vergehenden Tages gestanden hatten. Hand in Hand zur Brücke schauend, die sich über den Fluss spannte und sie beide so etwas wie eine Verbindung zwischen sich gespürt hatten.