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Die Landung war ein Fiasko gewesen und ihr Raumschiff, mit dem sie beinahe zwanzig Jahre lang unterwegs gewesen waren, vernichtet. Dennoch hatten die Überlebenden der größten und ehrgeizigsten Expedition der Menschheitsgeschichte sich auf dem fern der Erde gelegenen Planeten, den sie einfach nur die "Neue Welt" nannten, inzwischen notdürftig eingerichtet und Freundschaft mit den einheimischen Völkern geschlossen. Ihre dringlichste Aufgabe besteht nun darin, sich eine dauerhafte Existenzgrundlage zu schaffen. Vor allem aber müssen sie die Erde unbedingt vor einer schrecklichen Gefahr warnen: Von einem Überläufer eines der Menschheit technisch weit überlegenen Volkes wissen sie, dass dieses im Begriff steht, die Erde zu vernichten. Da keinerlei Funkkontakt besteht, bleibt ihnen jetzt nur noch eine letzte gefährliche Möglichkeit, das Unheil abzuwenden. Und so machen sich Seera und ihre Freunde erneut auf eine gefährliche Reise durch Zeit und Raum.
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Seitenzahl: 422
Veröffentlichungsjahr: 2017
Für Vici und Julius - ohne sie wäre doch alles nichts
Jan H. Witte
lm Wald der Sterne
© 2017 Jan H. Witte
Umschlagfoto: Vicky Buschmann
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback
978-3-7439-1811-5
Hardcover
978-3-7439-1812-2
e-Book
978-3-7439-1813-9
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Die USS Ronald Reagan pflügte in der Abenddämmerung des achten April 2016 mit einer gewaltigen Welle weißer Gischt vor ihrem Bug durch die seichte Dünung des Ostchinesischen Meeres. An Deck herrschte, wie an jedem Tag der vergangenen zwei Wochen, ein sehr reger Flugbetrieb. Flugzeuge starteten und landeten im Minutentakt und der Flugzeugträger unterstützte das Abheben, indem er mit hoher Geschwindigkeit gegen den aus Südwest wehenden schwachen Wind anfuhr.
Zwei Etagen unterhalb des Flugdecks wartete Leutnant Paul Dwyer in einem schmalen Korridor vor einer Tür mit der Aufschrift „Doctor“. Er sah heute blass aus und fühlte sich, obwohl er mit seinen achtundzwanzig Jahren eigentlich vor Vitalität nur so strotzen sollte, schon wieder seit zwei Tagen erschöpft und schlapp.
In der letzten Woche waren es ganze drei Tage gewesen, an denen er sich krank gefühlt hatte und in der Woche davor war es genauso gewesen. Das Krankheitsgefühl kam und ging und es gab immer wieder Tage, an denen er sich blendend fühlte, gefolgt von Tagen, an denen er am liebsten in seiner Koje geblieben wäre. Vor zwei Wochen hatte ihm der Fliegerarzt dann endgültig Startverbot erteilt, und das gerade jetzt, wo die Nordkoreaner erneut zwei Raketentests von U-Booten durchgeführt hatten und die Navy deshalb vor Ort unbedingt Flagge zeigen musste.
Paul blätterte gelangweilt in einer Fliegerzeitschrift herum und gähnte. Er war furchtbar müde, obwohl er gerade erst zehn Stunden am Stück geschlafen hatte.
Erstmals war ihm vor sechs Wochen bei einem Routineeinsatz schwindelig geworden. Magenverstimmung hatte er sich gesagt, nachdem er seine F-14, trotz einiger Schwierigkeiten bei der genauen Ausrichtung der Maschine im Landeanflug, doch noch sicher wieder zurück gebracht hatte. Am nächsten Tag war das Schwindelgefühl aber wieder aufgetreten und Paul hatte sich daraufhin, zwar widerwillig aber pflichtbewusst, beim Stabsarzt gemeldet. Der hatte verschiedene Untersuchungen vorgenommen aber letztlich keine Diagnose stellen können. Paul war es dann zunächst auch wieder besser gegangen, doch in der folgenden Woche war das Schwindelgefühl wieder aufgetreten und zudem hatte er erstmals im Leben Kopfschmerzen bekommen.
“Grippe”, hatte ihm der Doktor daraufhin zugerufen und ihn für drei Tage krankgeschrieben. Eine beständige Besserung war aber auch in den nächsten Wochen nicht eingetreten, die gesundheitlichen Probleme kamen immer wieder und wurden eher schlimmer. Erst vorhin in der Kantine war er eine Minute lang wie ein Betrunkener getorkelt, ehe das Schwindelgefühl wieder nachgelassen hatte. Und nun saß er also schon wieder im Sanitätsbereich.
Paul stand auf und bewegte den Kopf nach links und rechts, um zu testeten, ob ihm wieder schwindelig werden würde. Dann ging er probehalber einige Schritte hin und her. Alles war in Ordnung, nur die Kopfschmerzen waren erneut da. Er setzte sich wieder hin und nahm die Zeitschrift nochmals zur Hand.Paul war jetzt schon seit sechs Jahren bei der Navy und, soweit er sich erinnern konnte, niemals krank gewesen, abgesehen vielleicht von seinen Kindheitstagen. Das Fliegen war schon immer sein großer Traum gewesen und er hatte diesen Traum wahr gemacht. Nach Abschluss der High-School war er aus seiner kleinen Heimatstadt in Wisconsin zunächst auf ein nahegelegenes College und von dort zum Militär gegangen, wo er sich erfolgreich durch alle Auswahltests gequält hatte. Jetzt war er Teil einer Elitetruppe und fühlte sich auf seinem Flugzeugträger in seinem Jagdflugzeug F-14 am Ziel seiner Träume. Er konnte nun täglich das Abenteuer des Fliegens erleben, mit seinem Jet um turmhohe Wolken kreisen, über die spiegelglatte Oberfläche des Meeres fegen und Loopings am strahlend blauen Firmament drehen.
Und nun fühlte er sich plötzlich immer wieder krank, ohne dass er auch nur die kleinste Ahnung hätte, was ihm eigentlich fehlte. Der Arzt hatte in der letzten Woche schließlich weitere Untersuchungen angeordnet und ihm am Ende durch einen Kernspintomographen geschoben. Heute wollte er ihm das Ergebnis verkünden.
Paul warf die Zeitschrift wieder in die Ecke und stellte das in der Wartezone befindliche Radio ein. Der Soldatensender berichtete über die Spannungen mit Nord-Korea, ein Erdbeben in der Türkei und den erst gestern angeblich gelungenen Nachweis der „Dunklen Materie“ durch irgendein italienisches Physikerteam. Dann folgten die Sportnachrichten und gerade als die Football-Ergebnisse verkündet werden sollten, öffnete sich die Tür und ein Sanitäter rief Paul herein.
Nachdem er weitere zehn Minuten im Behandlungszimmer gewartet hatte, erschien der Stabsarzt, schüttelte ihm kurz die Hand, legte einige Unterlagen auf den Schreibtisch und setzte sich ihm gegenüber hin. Anders als bei ihren letzten Begegnungen lächelte er aber nicht und machte auch keine launigen Scherze. Stattdessen sah er ungewohnt angespannt aus. Kein gutes Zeichen, sagte sich Paul.
“Leutnant Dwyer, ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden, die Ergebnisse liegen jetzt vor und“, er stockte kurz, „und es sieht nicht sonderlich gut aus.”
Nicht „sonderlich gut“ war sicherlich ein Euphemismus, dachte sich Paul und er ahnte, dass seine Krankheit wohl keine verschleppte Grippe sondern schwerwiegenderer Natur sein musste.
Der Arzt nahm einige Bilder aus der auf dem Tisch liegenden Mappe. “Sehen sie, dass hier ist ein Querschnitt durch ihren Kopf.”
Paul beugte sich vor und sah eine Menge bunter Farbkleckse in den Umrissen eines Kopfes auf dem vor ihm liegenden Blatt.
Der Arzt nahm einen Kugelschreiber und deutete auf eine dunkelrot gefärbte Stelle im Zentrum des Bildes.
“Das hier ist das Problem”, sagte er und vermied es, Paul direkt anzuschauen.
“Es handelt sich dabei um einen äußerst aggressiven Tumor, ein sogenanntes Glioblastom, und dort wo es sich befindet, ist es unmöglich zu operieren, da es sich bereits zu stark mit dem Blutkreislauf und dem umliegenden Gewebe verbunden hat.”
“Und das bedeutet?”, fragte Paul. Er hatte bereits irgendwo von solchen aggressiven Hirntumoren namens Glioblastom gehört und ihm schwante recht deutlich, dass sein Befund noch weit mehr als nur schwerwiegend war. Er war sich sogar ziemlich sicher, dass der Doktor ihm sogleich sein Todesurteil verkündet würde.
Der Arzt lehnte sich zurück und sah Paul nun in die Augen, wobei er zunächst die Lippen zusammenpresste und dann langsam seinen Kopf schüttelte.
“Zehn, zwölf, vielleicht auch sechzehn Monate“, sagte er schließlich. „Es tut mir Leid, Paul, wir können letztlich nichts dagegen tun. Es ist einfach inoperabel. Ich werde sie nach Hause schicken. Dort wird man ihnen mit Chemotherapie und Bestrahlung noch etwas Zeit verschaffen können, aber mehr als ein Jahr wird es nach meiner Erfahrung nicht werden, eher noch weniger.”
„Guten Morgen, Camp Yellow!“, tönten die vor zwei Wochen aufgebauten Lautsprecher um Punkt sieben Uhr morgens über den mit Palmen gesäumten Strand und das dahinter liegende Lager hinweg. Einige tropische Vögel antworteten mit heiserem Gekrächze.
„Das Frühstück steht in zehn Minuten bereit und wird bis Null-Neunhundert ausgegeben. Der Wachwechsel erfolgt um Null-siebenhundertdreißig. Alle nicht für den Wachdienst eingeteilten Mannschaften finden sich um Null-Achthundert im Stabsgebäude zu einer außerplanmäßigen Dienstbesprechung ein. Ab Null-Neunhundert steht allen Bewohnern der neue Wäschereicontainer zur Verfügung, so dass jetzt jeder auch endlich seine Bekleidung vernünftig reinigen kann. Das Wetter wird heute trocken aber heiß und schwül werden. Die Temperaturen klettern auf bis zu zweiunddreißig Grad“, verkündete der Lagersprecher die wichtigsten Tagesinformationen.
„Dienstbesprechung?“, sagte Vici verschlafen und arbeitete sich aus ihrem Schlafsack heraus. „Was denn für eine Dienstbesprechung?“, gähnte sie und reckte sich.
„Ich habe keine Ahnung, aber das war so nicht vereinbart“, murmelte Seera von ihrem Feldbett.
„Ich hasse das Militär“, sagte La Tron. „Jetzt müssen wir uns mit dem Waschen und Frühstücken wieder abhetzen, nur um dann stundenlang irgendeinem Unsinn zu lauschen.“
Sie waren nun schon seit vier Wochen im Camp Yellow untergebracht und ihr Tagesrhythmus hatte sich mittlerweile etwas eingespielt. Sie flogen morgens und nachmittags je eine längere Suchpatrouille und ab und zu auch einen zweitägigen Langstreckeneinsatz.
Bis heute hatten sie allein auf dem Kontinent Atlantis schon knapp einhundert Überlebende der ARGO-Katastrophe eingesammelt und in das Camp geflogen. Dazu hatten sie etliche Container gefunden, die mehrere Vorratslager, Labormodule, eine Wäscherei und zwei komplette Fabrikationsautomaten enthielten.
Nur den Kontinent Gondwana hatte sie dagegen bislang aus Zeitmangel noch gar nicht abgesucht. Dort hofften sie aber in den nächsten Monaten ebenfalls noch viele weitere Überlebende anzutreffen.
Gerade erst gestern waren Seera, Vici und La Tron weit im Süden auf einer Langstreckenpatrouille unterwegs gewesen. Sie hatten auf einer kleinen Insel, mitten in einem herrlich klar schimmernden See, übernachtet, auf dem Rückflug eine Laboreinheit gefunden, diese sogleich an den Haken genommen und in das Camp transportiert.
Heute sollten sie zum Ausgleich für den zweitägigen Einsatz eigentlich einen freien Tag bekommen.
„Haben wir nach dem langen Dienst nicht einen Anspruch auf Freizeit?“, sagte Vici, die heute Vormittag unbedingt Ki Ma besuchen wollte. Auch Seera wäre lieber hinüber in das Lazarett zu Ak Nu gegangen, der, ebenso wie Ki Ma und viele andere Chron, ganz plötzlich erkrankt war.
Rani hatte ihnen erklärt, dass die Chron an diversen Krankheitserregern der Überlebenden der ARGO litten. Die Menschen hatten zwar daran gedacht, sich selbst gegen alle möglichen Krankheitserreger dieses Planeten zu impfen. Sie hatten aber nach der Kontaktaufnahme mit den Chron nicht daran gedacht, umgekehrt auch diese gegen die menschlichen Bakterien und Viren zu immunisieren. Die Krankheitsverläufe waren zwar bislang nicht wirklich bedrohlich gewesen, aber dennoch waren vor allem die jüngeren Chron inzwischen so krank und geschwächt, dass sie vorsichtshalber in das Lazarett eingeliefert worden waren. Der Bau ihres neuen Dorfes kam dadurch kaum noch voran. Allein Tu Ri war offensichtlich vollkommen immun gegen alle Krankheiten und arbeitete scheinbar überall gleichzeitig.
„Na, dann lass uns jetzt losschlappen, sonst gibt es nichts mehr zu beißen“, sagte Vici und stand auf. Sie zogen sich ihre tarnfarbenen Hosen und grünen Tops über, schnappten sich ihre Kulturtaschen und schlenderten aus ihrem Zelt über den sandigen Hauptweg zu dem aus einem Doppelcontainer bestehenden Waschhaus hinüber.
Pelikanähnliche Vögel flogen in Richtung des Strandes tief über sie hinweg und die Sonne namens Kepler 391j stand bereits ein gutes Stück weit über dem westlichen Horizont. Seera blieb mitten auf der Straße stehen, wandte ihr Gesicht der Sonne zu, schloss die Augen und spürte die angenehme Wärme auf ihren Wangen. Dazu drang das Zwitschern unzähliger Vögel an ihr Ohr und irgendwo in weiter Ferne war auch das leise Rauschen des Meeres zu vernehmen; es war einfach herrlich, hier in der bereits warmen Morgenluft zu stehen und für einen Moment inne zu halten.
„Los, komm jetzt, ich habe Hunger!“, rief La Tron, die am Eingang des Waschcontainers auf sie wartete.
Seera öffnete die Augen. „Und schon ist mein kleiner Moment völliger Entspanntheit vorüber“, sagte sie zu sich selbst und setzte sich wieder in Bewegung. „Ich komme ja schon, hetzt mich bloß nicht!“
„Wenn du weniger träumen würdest, könnten wir länger duschen und gemütlicher frühstücken“, erklärte La Tron, als sie unter der Dusche standen.
Die warmen Duschen funktionierten erst seit einer Woche und ihre Installation hatte die Lebensqualität im Camp sogleich um ein Vielfaches erhöht. Wenn sie heute auch endlich ihre Uniformen richtig waschen könnten, würde das ihr Wohlbefinden noch einmal erheblich steigern.
„Als wenn hier jemals etwas „gemütlich“ gewesen wäre!“, sagte Seera und warf La Tron ihr Handtuch an den Kopf.
Nach dem Frühstück setzten sich Vici, La Tron und Seera in der Stabsbaracke auf die hinterste der dort aufgestellten Bänke, da ohnehin noch alle Plätze frei waren.
„Seht ihr, wir hätten gar nicht hetzen müssen. Offenbar sind wir eher die Ersten als die Letzten.“
„Klugscheißer“, maulte La Tron, woraufhin Seera sie in die Seite knuffte.
Während die anderen Mannschaften erst nach und nach hereinschlenderten, sah Seera sich in aller Ruhe um. Was für ein Unterschied zu den Besprechungen an Bord der ARGO, dachte sie. Dort waren immer über einhundert Rekruten im mit Holographie-Projektoren perfekt ausgestatteten großen Hörsaal zusammen gekommen. Jetzt war nur noch ein kleiner Teil von ihnen, bestehend aus den Gruppen der Landestellen Gelb und Grün, in dieser Behelfsbaracke übrig, in der es noch nicht einmal eine einfache Schreibtafel gab.
Vorne am Podium saßen bereits Major van Buuren und, zu Seeras Überraschung, auch Korru, den sie seit ihrer Ankunft im Camp Yellow kaum noch zu Gesicht bekommen hatte. Dann sah sie aus dem Fenster, dass Colonel Togo mit Tu Ri heran geschlendert kam. Die beiden verabschiedeten sich erstaunlich langsam voneinander, bevor Colonel Togo dann das Gebäude betrat.
Als nach weiteren zehn Minuten endlich Ruhe eingetreten und Major van Buuren seine Namensliste abgehakt hatte, trat Colonel Togo an ein kleines Podest und bat um Aufmerksamkeit.
„Meine Damen und Herren, wir haben wie immer nur wenig Zeit, also fangen wir pünktlich an.“
Das war natürlich ein kleiner Seitenhieb auf die zuletzt angekommenen Mannschaften, denn die Uhr zeigte jetzt bereits zehn nach acht an.
„Ich darf mich zunächst dafür entschuldigen, dass wir sie, obwohl sie zum Teil eigentlich dienstfrei hätten, so kurzfristig zu diesem Meeting herbeordert haben.“
Sie schaute links und rechts in ihr Publikum und war offenbar froh, dass sie kein Murren hörte.
„Sie wissen, dass wir zurzeit und wohl auch für die nächsten Jahre noch alle Hände voll damit zu tun haben werden, Überlebende und Ausrüstungsgegenstände der ARGO zu bergen, um dann wenigstens in diesem Camp hier mit dem Aufbau einer richtigen Stadt zu beginnen. Als erstes müssen wir natürlich die Überlebenden retten, weil wir nicht wissen, wie lange sie an ihren Rettungskapseln ohne fremde Hilfe durchhalten werden. Das ist folglich unsere Hauptaufgabe und diese Aufgabe ist bereits mehr als schwierig zu erledigen, da dieser Planet ungeheuer groß ist und wir einfach viel zu wenige GRUNOs zur Verfügung haben, um zeitnah jeden Winkel dieser Neuen Welt abzusuchen.“
„Ist bereits bekannt“, sagte Vici halblaut neben Seera, ohne dass Colonel Togo, die diesen Einwurf in diesem kleinen Raum mit Sicherheit gehört hatte, sich davon irritieren ließ.
„Ist doch wahr, für diese Weisheiten hätten wir ja wohl nicht herkommen müssen“, flüsterte Vici.
„Sekundäre Priorität hat der Transport der restlichen Module in unser Lager sowie die zeitnahe Einrichtung der Stadt, also die planmäßige Verbindung der einzelnen Bauelemente“, fuhr Togo fort. „Außerdem müssen wir damit beginnen, uns selbst zu versorgen. Wir haben mithilfe unserer Agrarexperten bereits die ersten Versuchsfelder für den Ackerbau angelegt und müssen nun abwarten, ob unsere Saat aufgeht.“
„Wissen wir auch schon“, murmelte jetzt La Tron.
Mia Togo machte eine kurze Pause und ließ ihren Blick über ihre Mannschaft gleiten, die mäßig interessiert zuhörte. Die Luft war trotz der frühen Tageszeit schon warm und stickig und sie hatten in der Stabsbaracke bislang noch keine Klimaanlagen einbauen können. Egal, sagte sie sich, in einer Minute werden wohl alle hellwach sein.
„Neben diesen ihnen bereits bekannten Aufgaben macht uns aber noch eine weitere Tatsache, von der sie noch nichts wissen, erhebliche Sorgen.“
„Na, endlich kommt sie zur Sache“, sagte Vici.
„Wir haben mit unserem Gast, Korru, in den letzten Tagen eine Vielzahl von Gesprächen geführt. Er ist davon überzeugt, dass sein Volk, die Paru, in spätestens zehn Jahren, vielleicht auch noch früher, die Erde angreifen wird.“
Das hatte jetzt gesessen. Ein Raunen ging durch den Raum und alle Schüler – Colonel Togo nannte ihre Sicherungskräfte immer noch Schüler, da sie alle noch so jung waren – widmeten ihr jetzt komplett ihre Aufmerksamkeit.
Togo übertönte das Getuschel, in dem sie mit etwas kräftigerer Stimme unbeirrt fortfuhr.
„Die Paru wissen, dass wir von der Erde stammen und sie dulden keine fremden, Raumfahrt betreibenden Spezies neben sich. Sie können dank überlegener Antriebssysteme in recht kurzer Zeit zur Erde vordringen und diese mit dem Abschuss mehrerer tausend thermonuklearer Sprengköpfe buchstäblich pulverisieren.“
Diesmal ging eher ein Stöhnen anstelle eines Raunens durch den Saal.
„Die Erde hat bislang keinerlei Verteidigungssysteme, da dort niemand etwas vom Vorhandensein feindlich gesinnter Außerirdischer ahnt. Wir können die Erde mit den uns hier zur Verfügung stehenden Mittel auch nicht rechtzeitig warnen, da unsere Funksignale „nur“ mit Lichtgeschwindigkeit laufen und daher langsamer als die Raumschiffe der Paru unterwegs sind. Zudem müssen wir damit rechnen, dass die Paru auch uns hier demnächst noch einmal besuchen werden.“
Colonel Togo machte wieder eine Pause um den Schülern kurz Gelegenheit zu geben, auch diese Informationen zu verdauen.
„Ich weiß, diese Frucht vom Baum der Erkenntnis schmeckt jetzt bitter“ schob sie noch nach und hob die Hände, um die Schüler etwas zu besänftigen, „aber es gibt vielleicht doch noch eine vage Hoffnung hinsichtlich einer Möglichkeit, die Erde rechtzeitig zu warnen. Wir, das heißt, Major van Buuren, Korru und ich, haben vor drei Tagen ein Bergwerk besichtigt, das Korru auf dem Weg hierher aufgefallen war.“
Seera erinnerte sich, dass es ihr merkwürdig vorgekommen war, als sie die drei, ohne jede Begleitung und mit dem Major am Steuerknüppel des GRUNO, letztens hatte weg fliegen sehen.
„Korru hat den Verdacht, dass es sich bei diesem Bergwerk, das weder von den Einheimischen dieses Planeten, noch von den Paru stammt, vielleicht um eine Art Notrufsystem oder eventuell sogar um einen Zugang zu einer anderen Dimension handeln könne.“
Wieder raunten die Zuhörer.
„Um es gleich vorwegzunehmen“, fügte sie mit etwas lauterer Stimme in die deutlich hörbaren Ausrufe des Erstaunens der Schüler noch hinzu, „weder er noch wir wissen, was es damit genau auf sich hat. Es sind bislang nur Spekulationen, da noch niemand diese Anlage gesehen hat.“
Dann erzählte sie die Geschichte, die Korru ihr über die erste Begegnung der Paru mit einem solchen Gegenstand auf einem anderen Planeten mitgeteilt hatte.
„Wir haben also das Bergwerk besichtigt und einige Anzeichen in Form von Magnetanomalien für die Existenz einer verborgenen Anlage vorgefunden. Gestern haben wir dann beschlossen, der Sache nachzugehen, da sich so vielleicht die Möglichkeit bietet, die Erde doch noch rechtzeitig vor dem Angriff der Paru zu warnen.“
Damit beendete sie ihren Vortrag und Major van Buuren trat nun an das Pult.
„Wir vermuten, dass es sich um einen Stollen in einem Berg handelt und dass sich hinter dem Eingang, dessen Öffnungsmechanismus wir allerdings erst noch erforschen müssen, eventuell eine uns unbekannte und viel schnellere Funktechnologie befindet. Vielleicht findet sich dort aber auch ein von uns noch nicht verstandener Weltraumzugang oder ein uns in Bezug auf Geschwindigkeit weit überlegenes Raumschiff, das von uns genutzt werden könnte. Eventuell ist aber auch gar nichts dort. Kurz und gut: Wir haben beschlossen, ein Team mit der Erforschung und dem Betreten dieser Anlage zu beauftragen.“
Jetzt ergriff wieder Colonel Togo das Wort. „Korru hatte eigentlich vorgehabt, das Bergwerk selbst zu erforschen. Wir haben ihn aber mittlerweile davon überzeugt, dass es – für den Fall, dass die Mabriulata die Neue Welt doch noch einmal heimsuchen sollte – wichtiger wäre, ihn heile hier zu behalten, damit er uns in einem solchen Fall höchster Bedrohung mit seinem Fachwissen über die Paru beraten kann.“
Anschließend blickte Colonel Togo fragend in ihr Publikum und bedeutete damit, dass nunmehr Fragen gestellt werden durften.
„Das klingt ja irgendwie wenig überzeugend!“, meldete sich Jason als erster zu Wort. „Woher wollen wir denn wissen, dass es sich bei dieser gesuchten Anlage nicht nur um ein Grabmal oder ein Proviantlager handelt? Wie kommen sie darauf, dass hier ein Zugang zu einer anderen Dimension versteckt wurde?“
„Die Paru haben vor vielen Jahren dieselbe Überlegung angestellt und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich höchstwahrscheinlich um etwas anderes als ein Grabmal oder ein Depot handelt. Aber wenn sie andere nützliche Vorschläge haben, so bin ich ganz Ohr, Mansfield“, sagte Major van Buuren.
Da Jason nichts erwiderte, fuhr der Major fort.
„Ich weiß so wenig wie alle anderen hier, ob unser Vorschlag sich am Ende als Erfolg oder als Fiasko erweisen wird. Wir wissen halt nicht, was uns erwartet. Aber wir sollten keine Gelegenheit außer Acht lassen, um die drohende Katastrophe noch abzuwenden.“
Die Schüler tuschelten erneut aufgeregt miteinander.
Dann stand Vici auf und wartete, bis die anderen leise wurden.
„Also wenn ich das einmal zugespitzt formulieren darf, werden Korrus Freunde demnächst die Erde angreifen und entweder komplett zerstören oder zumindest alle Menschen versklaven. Und wir sind die einzigen, die die Erde vor einem solchen Angriff warnen können. Wir haben aber keine eigene Möglichkeit dazu. Die einzige kleine Hoffnung ist dieses Tor zur x-ten Dimension, von dem aber niemand weiß, ob es existiert und wie es funktioniert, wohin es führt und ob es nicht am Ende eine tödliche Falle für uns darstellt?“
„So in etwa ist es, ja, Suhren“, bestätigte Major van Buuren.
„Schön“, sagte Vici. „Dann bin ich dabei.“
„Danke, gut dass sie das zur Sprache bringen“, sagte Colonel Togo. „Der Major und ich haben die uns notwendig erscheinenden Fähigkeiten und erforderlichen Kriterien unserer Leute zusammengetragen und dann überlegt, welche Größe das Team haben sollte und wer als Teammitglied in Betracht zu ziehen ist. Erforderlich ist nach unserem Dafürhalten eine Gruppe von drei Leuten. Darunter sollten tunlichst zwei Mitglieder mit Flugerfahrung sein. Also ist der Kreis der möglichen Kandidaten bereits stark eingeschränkt.“
Togo ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, um registrieren zu können, ob die Anwesenden ihr bis hierhin zustimmten.
„Da Liwei Yang die mit Abstand meisten Flugstunden aufweist und die Geographie des Planeten am besten kennt, möchten wir ihn unbedingt für die Ausbildung weiterer Piloten und die fortgesetzte Bergung der Rettungskapseln und Versorgungsmodule hier behalten. Uribe Cartes, Lorenzo di Pietro und Jean-Loup Fontaine sind bislang Co-Piloten und werden zunächst weiter geschult. Wir beide“, und damit deutete Togo auf sich und den Major, „sind hier unabkömmlich. Folglich kommen für die Mission wohl nur die beiden Piloten des Transport-GRU-NO Gelb-3, Sewe Hu und Jo Tucker, sowie Seera Collins und Victoria Suhren, von der Landestelle Grün in Betracht. Da Suhren und Collins bereits bewiesen haben, dass sie sich auch unter schwierigsten Umständen durchzuschlagen verstehen, also mit der Lösung vertrackter Aufgaben die meiste Erfahrung besitzen, ist unsere Wahl auf sie gefallen.“
„Sage ich doch“, sagte Vici.
Seera sah sie und Colonel Togo mit hochgezogenen Augenbrauen überrascht an.
„Und wer soll dann der Dritte sein?“, hakte sie sofort nach.
„Jason Mansfield“, sagte der Major.
Das war ja irgendwie klar gewesen, dachte sich Seera bei dieser Antwort. Sie waren dem Major, den sie ja immerhin aus seiner Gefangenschaft befreit hatten, auf ihrer gemeinsamen Reise wohl als sich gut ergänzendes Team aufgefallen.
„Ich hoffe, ihr beide habt auch Lust, mit mir zu verreisen?“, fragte Vici in Seeras und Jasons Richtung gewandt.
„Ansonsten müssten wir nach anderen Freiwilligen suchen. Es ist unbedingt wichtig, diese Mission durchzuführen. Wenn es mithilfe dieser Anlage auch nur die kleinste Chance gibt, die Erde zu warnen, so müssen wir sie konsequent nutzen“, sagte Colonel Togo.
„Die Paru werden die Erde gnadenlos vernichten und sie werden auch uns hier jagen und umbringen, dass muss ihnen allen klar sein! Wir kämpfen also um nichts weniger, als um unser aller Überleben. Und damit meine ich nicht nur uns paar Überlebende der ARGO, sondern unsere gesamte Rasse von zwanzig Milliarden Menschen!“, fügte der Major noch hinzu, als Seera und Jason nicht sogleich begeistert aufsprangen.
„Hört ihr? Es winken uns schon wieder Ruhm und Ehre“, machte sich Vici über diese ihr etwas zu pathetisch klingen Worte lustig, was Major van Buuren aber offenbar überhörte.
Seera drehte den Kopf und suchte Jasons Blick. Er sah sie nachdenklich an und nickte schließlich.
Seera stand auf. „Also gut, dann machen wir es; ich hätte aber schon gerne noch gewusst, welche Sicherheitsmaßnahmen sie für uns zu treffen gedenken. Außerdem möchte ich wissen, ob wir selbst die abschließenden Planungsentscheidungen treffen dürfen.“
„Ich danke ihnen sehr“, sagte Colonel Togo erleichtert. „Unser Freund Korru wird ihnen dreien noch einmal selbst genau mitteilen, was er bislang über dieses Tor in Erfahrung gebracht hat. Das sind dann aber leider auch schon die einzigen Hilfestellungen, die wir ihnen geben können. Wie bereits gesagt, es ist ein Himmelfahrtskommando und niemand wird ihnen sagen können, was sie erwartet.“
Luigi Udine streckte sich auf seinem unbequemen Bürostuhl, schüttelte den Kopf und gähnte.
Er sah auf die Zeitanzeige der Kontrollgeräte. Es war bereits nach Mitternacht. Jetzt war also schon der sechste April 2016 angebrochen.
Dann legte er das Buch, das in seinem Schoß lag, auf den Schreibtisch und markierte die Seite, die er gerade dreimal gelesen, aber nicht wirklich verstanden hatte, mit einem Papierstreifen.
Luigi war zweiundzwanzig Jahre alt und studierte im sechsten Semester Jura an der alt-ehrwürdigen Universität von Bologna. In dieser Nacht aber saß er in gut eintausend Meter Tiefe in einem Labor im Gran-Sasso-Massiv in den italienischen Abruzzen. Alles was er hier zu tun hatte, war, die komplizierten Messanlagen des Labors während seiner achtstündigen Arbeitsschicht zu kontrollieren und im Störfall die erforderlichen Notmaßnahmen einzuleiten. Dazu war allerdings nicht viel Aufwand erforderlich, weshalb es sich bei dieser Überwachungstätigkeit um einen äußerst beliebten und gut bezahlten Studentenjob handelte.
In dem großen Raum hinter ihm befanden sich zwanzig riesige Apparaturen, in denen mehrere tausend Tonnen flüssiges Xenon in kabelummantelten Speichern lagerten. Das waren die Detektoren, mit deren Hilfe die seit Jahren postulierte, bislang aber niemals eindeutig festgestellte „Dunkle Materie“ nachgewiesen werden sollte.
Da Luigi hier bereits seit zwei Jahren in seinen Semesterferien immer wieder arbeitete, wusste er – obwohl er ansonsten nur wenig Interesse für Physik aufbrachte – inzwischen relativ gut über die Funktionsweise der Anlage Bescheid. Und so wusste er auch, dass bislang reinweg gar nichts passiert war. Die hier bereits seit über zwanzig Jahren betriebene Suche nach der Dunklen Materie war offensichtlich eine Sackgasse. Die Detektoren waren zwar alle paar Jahre vergrößert und verbessert worden, eindeutige Signale irgendwelcher Partikel der Dunklen Materie, die von den Forschern als WIMPs bezeichnet wurden, waren aber bislang trotz aller Bemühungen nicht zu finden gewesen. Da die Forschungsanlage tief im Inneren eines Berges stand, wurden sämtliche Radiowellen und alle Teilchen der „bekannten“ Materie von den Felsmassen um die Anlage herum abgeschirmt. Falls also ein kosmisches Teilchen mit einem der Xenon-Atome in den Detektoren kollidieren sollte, müsste es sich um die gesuchte Dunkle Materie handeln. Bislang hatte es aber eben noch nie eine solche Kollision gegeben.
Luigis Aufgabe bestand während der Nachtschicht lediglich darin, die Kühlung und Stromversorgung der Detektoren zu überwachen, ab und an Rundgänge zu machen, auf eventuell auslaufendes Xenon zu achten und für den unwahrscheinlichen Fall eines Signals sofort Alarm zu schlagen. Kurz gesagt hatte er also nichts zu tun, außer anwesend zu sein.
Die achtstündige Schicht eignete sich, da man hier von nichts und niemandem gestört wurde, bestens, um zu lernen. Aber jetzt hatte er sich bereits seit vier Stunden mit hochkomplexen Problemen des Sachenrechts, dem gut- und bösgläubigen Erwerb von Mobilien, beschäftigt, so dass es jetzt höchste Zeit für eine Pause war.
Er schaltete sein privates Notebook, dass er freundlicherweise über den Server der Forschungseinrichtung mit dem Internet verbinden konnte, an und studierte seine neuesten Meldungen. Auf Facebook sah er, dass seine Mitstudentin Amalia Visconte online war. Er schickte ihr eine Nachricht und zwei Minuten später war sie über Skyp auf seinem Bildschirm zu sehen.
„Hallo Amalia, so spät noch wach?“, begrüßte er sie mit einem Lächeln.
„Hi, Luigi, natürlich bin ich noch wach, ich komme gerade von der Arbeit und hier unten in Kalabrien machen wir doch ohnehin die Nacht zum Tag“, antwortete sie gut gelaunt.
„Du wolltest doch wissen, wie mein Ferienjob aussieht“, sagte Luigi.
„Klar! Schön dass du daran gedacht hast“, sagte Amalia, die ihn im letzten Monat auf einer Studentenfete in Bologna gebeten hatte, ihr doch einmal das Innere des Berges, in dem er in den Semesterferien arbeitete, zu zeigen.
„Jetzt kannst du dir die Sache einmal live ansehen.“ Er hob sein Laptop etwas in die Höhe, so dass die Kamera in Richtung der Detektoren zeigte.
„Josef und Maria!“, sagte Amalia. „Was sind denn das für gewaltige Apparaturen? Habt ihr da unten ein Kernkraftwerk am Laufen?“
Luigi erhob sich von seinem Stuhl und wanderte immer in Sichtweite des Laptops gemächlich zwischen den am nächsten stehenden gewaltigen, tonnenförmigen Detektoren umher. Währenddessen erklärte er Amalia, wozu das Experiment diente.
„Dunkle Materie“, flötete Luigi in Richtung der gewaltigen Zylinder. „Zeig dich doch! Amalia möchte dich gerne sehen.“
„Was genau soll das denn sein, diese Dunkle Materie?“, fragte sie schließlich, während Luigi wieder zum Tisch zurückkehrte.
„Ach, es ist nur eine Theorie, vielleicht gibt es so etwas wie die Dunkle Materie überhaupt nicht“, sagte er. „Also pass auf, die Wissenschaftler sind sich weitgehend darin einig, dass man bislang eigentlich nur fünf Prozent der Materie des Universums, die ja gleichzeitig als Energie angesehen werden kann, kennt. Diese fünf Prozent sind die „normalen“ Atome, aus denen du und ich, Planeten, Sterne und sogar Schwarze Löcher aufgebaut sind. Aufgrund von Beobachtungen der Eigenbewegung der Galaxien ist aber auch bewiesen, dass es wesentlich mehr Materie im Weltall geben muss“, erklärte er ihr.
„Aha“, sagte sie. „Und diese fehlende Menge sollst du in deinem Berg finden?“
„So in etwa“, lachte Luigi und stellte sein Laptop zurück auf den Schreibtisch.
„Los, erzähl weiter.“
„Diese fehlende Materie-Masse ist und bleibt bislang einfach unbekannt und unbekannt ist eben auch, wie diese unbekannte Materie beschaffen ist. Die meisten Wissenschaftler gehen jedenfalls davon aus, dass etwa fünfundzwanzig Prozent der Masse des Universums aus dieser „Dunklen Materie“ besteht.“
Luigi wusste auch zu berichten, dass schließlich neben dieser Dunklen Materie noch weitere siebzig Prozent Masse im Universum fehlten. Das war die sogenannte „Dunkle Energie“, die aus ungeklärten Gründen dafür sorgte, dass sich die Galaxien – die sich aufgrund ihres Gewichts gegenseitig anziehen sollten - immer weiter voneinander entfernten.
„So, und wie kommen die Physiker nun auf diese Annahme?“, fragte Amalia, während sie sich, wie Luigi sehen konnte, ein Glas Rotwein einschenkte und eine Dose mit Erdnüssen aufmachte.
Luigi packte sich seinerseits ein Sandwich aus und biss herzhaft hinein.
„Das hier ist jedenfalls die leckere sichtbare Materie“, sagte er und hielt das Sandwich in die Kamera, „aber Rotwein ist hier unten leider verboten, ich darf nur Tee mitnehmen.“
„Du Armer“, sagte Amalia und lachte.
„Also, die Forscher im Gran-Sasso haben mir genau erklärt, weshalb es die hier von ihnen gesuchte Dunkle Materie geben muss. Die vielen Millionen im Weltraum zu sehenden Spiral-Galaxien besitzen nämlich viel zu wenig „sichtbare“ Masse, um die in ihnen gebundenen Milliarden von Sternen beieinander zu halten“, erklärte Luigi und formte mit beiden Händen eine Kugel. Amalia nickte.
„Die berechnete Gravitationskraft der aus Sternen und Planeten - einschließlich aller denkbaren „Sternleichen“ - bestehenden bekannten Masse reicht nämlich nicht einmal ansatzweise aus, um die Sterne dauerhaft um die Mitte einer Galaxie rotieren zu lassen; sie hätten längst in alle Richtungen davon fliegen müssen. Da sie sich aber dennoch immer im Kreis um das Zentrum ihrer Galaxie drehen, muss es irgendeine Art von unbekannter Materie geben, die die Gravitationskraft in den Galaxien um das sechsfache verstärkt“, führte er weiter aus.
„Verstanden?“, fragte er vorsichtig.
Amalia nickte wieder. „Man hat also alle Sterne in einer Galaxie gezählt und ihr Gewicht berechnet und es ist einfach zu wenig. Alle Sterne der Galaxie müssten eigentlich auseinanderstieben“, sagte sie und nahm einen Schluck aus ihrem Glas, während Luigi den Rest seines Sandwiches aufaß. Er kaute rasch und schluckte einmal kräftig.
„Genau. Das Problem mit der Erforschung der Dunklen Materie besteht halt darin, dass man sie weder sehen noch sonst irgendwie erkennen kann. Also hat man sich verschiedene Experimente ersonnen, um denkbare Teilchen dieser Dunklen Materie dennoch sichtbar machen zu können. Dazu gehört unter anderem das hier tief im Gran-Sasso aufgebaute Xenon-Experiment. Falls die Dunkle Materie aus schwach interagierenden massiven Partikeln bestehen sollte, so müsste wenigstens ab und zu ein solches WIMP-Partikel mit den Xenon-Atomen in den Detektoren kollidieren und eine schwache Leuchtspur hinterlassen.“
„Und warum muss das tief unten im Berg stattfinden?“, fragte Amalia.
„Um Störungen durch normale bekannte Teilchen wie Protonen, Elektronen und Neutronen auszuschließen. Deshalb ist das Experiment in tausend Meter Tiefe aufgebaut worden, da der die hier unten lagernden Detektoren umgebende Berg sämtliche andere normale Strahlung absorbiert. Wenn hier in den Detektoren also überhaupt noch etwas ankommt, muss es etwas bislang Unbekanntes sein“, erklärte er ihr.
„Es sei denn, du machst da unten dein Handy an und strahlst Funkwellen aus.“
„Ja, das ist strengstens verboten, nur ein Laptop über Kabel ist erlaubt. Das Handy hätte hier aber auch keinen Empfang, da man kein Funknetz erreichen kann.“
„Und? Kommt denn nicht wenigstens ab und zu so ein fremdes Teilchen bei dir an?“, fragte Amalia.
„Nein, bislang ist noch nie etwas geschehen. Einer anderen Theorie zufolge gibt es nämlich die gesuchten WIMP-Partikel gar nicht, sondern die fehlende Masse in den Galaxien soll sich vielmehr aus Billionen lichtschwacher Sterne erklären, die man bislang allerdings trotz des Einsatzes modernster Teleskope ebenfalls nicht hat aufspüren können. Diese Meinung krankt nach Ansicht meiner Chefs hier allerdings an der Tatsache, dass solche Objekte wohl kaum in der benötigten gewaltigen Anzahl zu erwarten sind. Falls diese Theorie aber doch richtig sein sollte, würden die Detektoren hier unten niemals etwas messen können, da es dann schlicht keine Dunkle Materie gäbe.“
„Also weiß niemand nichts Genaues - aber du sollst vorsichtshalber Wache halten, ja?“, lachte Amalia.
„Ja, so ist es. Es gibt auch noch verschiedene weitere Überlegungen zur Natur der Dunklen Materie. Manche Forscher halten sie für noch unbekannte Neutrinos, andere wiederum postulieren sogenannte Majorana-Fermionen. Alles in allem ist aber einfach unklar, ob es überhaupt eine Dunkle Materie gibt und woraus sie – falls es sie gibt - bestehen soll.“
„Na ja, die Wissenschaft ist halt eine eigentümliche Sache. Ich danke jedenfalls für den Einblick und wünsche dir noch viel Spaß mit deinem Ferienjob. Ich arbeite hier übrigens nebenan in einer Pizzeria und dort gibt es einiges mehr zu tun als bei dir“, sagte Amalia.
„Das ist ja das Schöne an meinem Job, ich habe hier meine Ruhe“, erwiderte Luigi.
„Dafür bekommst du aber auch kein Trinkgeld.“
„Man kann halt nicht alles haben.“
„Mach‘s gut Luigi, ich treffe mich jetzt noch mit zwei Freundinnen in einer Bar. Ich hoffe, dass du noch eine ruhige Nacht haben wirst.“
„Worauf du dich verlassen kannst, bis bald“, sagte er und beendete das Gespräch.
Dann sah Luigi auf die Uhr. Es wurde Zeit für den Kontrollgang. Er wanderte also erneut um die Detektoren, bei denen aber nach wie vor keine Besonderheiten zu erkennen waren. Die Anlagen brummten still vor sich hin. Nach seinem Rundgang ließ er sich wieder an seinem Schreibtisch an der Steuerungswarte nieder. Alle Anzeigen waren wie immer im grünen Bereich. Die Anlage lief störungsfrei und hatte auch in dieser Nacht nicht das geringste Anzeichen Dunkler Materie erkennen können. Er dokumentierte die Kontrolle.
Dann schüttelte Luigi erneut den Kopf und lächelte vor sich hin. Da hatte man also viele Millionen Euro für den Aufbau einer Forschungsanlage ausgegeben, die etwas messen sollte, was es vielleicht gar nicht gab. Amalia lag ganz richtig, die Wissenschaft war manchmal schon eine sehr komische Angelegenheit.
Er nahm sein Buch wieder zur Hand und las weiter: Das Eigentum an einer beweglichen Sache ging dadurch von dem bisherigen auf einen neuen Eigentümer über, dass sich beide Parteien über den Eigentumsübergang einigten und die Sache von dem bisherigen Eigentümer an den Erwerber übergeben wurde. Eine weitere Möglichkeit bestand darin, ein sogenanntes Besitzkonstitut zu vermitteln, las Luigi gerade, als ihn irgendetwas störte.
Er hielt mit dem Lesen inne und horchte in die Stille. Luigi hätte nicht sagen können, was genau ihn störte aber irgendetwas war auf einmal anders als zuvor.
Und dann hörte er hinter sich plötzlich ein leises akustisches Warnsignal, das er hier unten noch nie zuvor vernommen hatte.
Schlagartig drehte er sich zu den Detektoren um und erkannte sofort, dass der dritte Detektor auf der rechten Seite blinkte. Man hatte Luigi bei seiner Einarbeitung beigebracht, dass bei einem Einschlag Dunkler Materie genau dieses Blinken zu sehen sein sollte. Offenbar hatte der Detektor also soeben tatsächlich erstmals eine Kollision eines WIMP-Teilchens mit einem der Trillionen Xenon-Atomen in seinem Inneren gemeldet. Die oben an der übergroßen Tonne angebrachte Signallampe blitzte jedenfalls unaufhörlich auf.
Luigi studierte augenblicklich die Monitoranzeigen der Überwachungs-Computer und sah erstaunt, wie der Detektor Nummer drei haufenweise irgendwelche ihm völlig unverständlichen Messwerte lieferte.
Noch während er verblüfft auf die Datenübertragung sah, ertönte erneut ein akustischer Alarm. Diesmal meldete Detektor Nummer sieben eine Kollision.Luigi stutzte noch einen Augenblick lang, dann griff er zum Notfall-Telefon, das ihn unmittelbar mit dem rund um die Uhr besetzten Forschungszentrum am CERN in der Schweiz verband. Noch während er darauf wartete, dass dort jemand ans Telefon ging, ertönte hinter ihm bereits ein weiteres Signal.
Endlich wurde das Telefon abgehoben.
„CERN, Experimental Physics Department, sie sprechen mit Dr. Delano, was kann ich für sie tun?“
„Ja, hallo, hier ist Luigi Udine vom Xenon-Experiment im Gran-Sasso. Ich habe hier die Nachtschicht und es laufen seit einigen Sekunden ganz plötzlich jede Menge Daten ein. Die Detektoren haben gleich mehrfach angeschlagen und ich soll sie über dieses Telefon informieren, wenn so etwas passiert.“
„Moment, ich verbinde sie weiter.“
Luigi hörte für etwa zwanzig Sekunden die Kleine Nachtmusik von Mozart, bevor sich ein anderer Mitarbeiter des CERN meldete.
„Hier ist Dr. Schneider. Erzählen sie mir nochmal, was bei ihnen gerade passiert sein soll.“
Luigi wiederholte seine Meldung.
„O.K., ich rufe gleich zurück“, sagte Dr. Schneider und legte auf.
Luigi starrte auf sein Telefon. Hinter ihm blinkten und piepsten die Detektoren unaufhörlich weiter. Erst jetzt bemerkte er, dass er furchtbar schwitzte. Er hielt sich zwei Finger an die Halsschlagader und stellte fest, dass sein Puls geradezu raste. Ihm war schwindelig und übel zugleich. Er atmete tief ein und aus, um sich zu beruhigen. Im selben Moment zuckte er aber unwillkürlich zusammen, als das Telefon klingelte.
Luigi hob ab und meldete sich mit zittriger Stimme.
„Schneider, CERN. Ich beglückwünsche sie. Ihre Daten sind inzwischen auch auf unseren Computern eingegangen und werden gerade verifiziert. Wenn ich das richtig sehe, werden sie schon morgen ein recht berühmter Mann sein.“
Ted Suhren schob seinen Kopf langsam durch das Gebüsch und schielte vorsichtig nach links und rechts. Der ganze Flusslauf war offenbar frei. An beiden Ufern standen zwar dicht an dicht Büsche und Bäume aber es gab offenbar nichts und niemand, das eine Bedrohung hätte darstellen können.
Sie hatten heute früh einen überwiegend mit Mischwald bestandenen breiten Bergrücken überquert. Gegen Mittag waren sie dann in das nächste Tal, über weitgehend nur mit hohem Gras bewachsene feuchte Wiesen, hinabgestiegen. Ab und an drohte der eine oder andere von ihnen im Morast kleinerer verdeckter Tümpel stecken zu bleiben, aber nach einiger Zeit hatten sie dann auch diese Wiesen hinter sich gebracht. Ganz unten im Tal mussten sie schließlich einen an den Ufern recht sumpfigen Bach überqueren, der ihren weiteren Marsch doch länger verzögert hatte, als Ted lieb gewesen wäre.
Die anschließende einstündige Mittagsrast hatte kaum genügt, um die Füße halbwegs zu trocknen, bevor sie dann einen weiteren kleinen Höhenrücken überquerten und nun bereits im nächsten Tal erneut an einem Wasserlauf standen, der ihren Weg kreuzte. Dieses Mal hatten sie es eher mit einem kleinen Fluss als mit einem Bächlein zu tun. Das Gewässer war wesentlich breiter als diejenigen, die sie in den letzten zwei Wochen Tag für Tag hinter sich gelassen hatten.
„Nein, der Fluss ist zu klein“, sagte Ted zu dem hinter ihm wartenden Mike Mansfield. „Er ist zu klein, um darauf vernünftig mit einem Floss fahren zu können. Außerdem sehen mir die Wiesen links und rechts schwer nach einem Überschwemmungsgebiet aus.“
Mike nickte. „Dann müssen wir ihn wohl überqueren und weiter suchen.“
„Vielleicht kommen wir heute noch bis auf den nächsten Höhenzug. Falls sich dahinter wieder kein großer Fluss findet, können wir ja weiter nach links schwenken und dem Verlauf des nächsten Tales parallel folgen. Auch dort wird es ja wieder einen Bach geben müssen, der entweder in das Meer oder eben in einen größeren Fluss mündet“, sagte Ted.
„Sieht ja nicht so furchtbar tief aus, vielleicht ein bis zwei Meter“, sagte Mike und hockte sich am Ufer nieder. „Allerdings wird es wohl nicht so leicht sein, hier schnell einen guten Übergang zu finden. Ein Meter Tiefe wäre wohl machbar, aber alles was darüber hinaus geht, wäre mir zu riskant. Vielleicht finden wir in der Nähe ja eine Furt, die den Übergang leichter macht.“
Von der weiter hinter ihnen haltenden Gruppe kamen jetzt zwei der größeren Kinder heran.
„Wir sollen fragen, ob es hier weitergeht oder nicht, sonst würden die anderen nämlich lieber gleich rasten“, sagte ein etwa vierzehnjähriger Junge.
„Ihr geht mal besser wieder zurück und holt uns Abdul oder Kofi her, damit sie uns Feuerschutz geben können. Wir wollen erst einmal auskundschaften, wo hier der beste Übergang ist“, antwortete Mike.
„Oder wollt ihr beiden für uns schnell testen, wie tief das Wasser hier ist?“, fragte Ted die beiden Kinder.
Der Junge sah zu dem neben ihm stehenden, etwa gleichaltrigen Mädchen. Das Mädchen blickte auf den Fluss und verzog leicht das Gesicht.
„Sieht ja nicht gerade einladend aus, aber meinetwegen können wir es gerne ausprobieren“, sagte sie dann nach kurzer Bedenkzeit.
Beide zogen ihre Stiefel und Hosen aus, stiegen vorsichtig durch hohes Böschungsgras in das Wasser und begannen dann tiefer in den Fluss hinein zu waten.
„Das ist saukalt“, sagte das Mädchen und watete nach rechts, der Strömung entgegen. Der Junge ging in die entgegengesetzte Richtung. Beiden reichte das Wasser, als sie die Mitte des etwa acht Meter breiten Flusses erreicht hatten, bis zum Bauchnabel. Die Strömung war offensichtlich nur mäßig stark, so dass sie recht gut vorankamen.
Während Mike mit dem Jungen ging, begleitete Ted das Mädchen. Er ging, immer auf ihrer Höhe bleibend, am Ufer entlang und sicherte sie mit seiner Pistole vor unliebsamen Überraschungen.
„Geh ganz vorsichtig, Conja, wir haben jede Menge Zeit“, rief Ted ihr zu, obwohl er wusste, dass sie eigentlich gar keine Zeit hatten. Wenn sie den Fluss in zwei bis drei Stunden hinter sich gelassen haben würden, mussten sie noch bis vor Einbruch der Nacht einen guten Lagerplatz finden, ein ausreichend großes Feuer aufschichten und ihre nassen Sachen trocknen.
Ted war mit Conja, Mike Mansfield und zwölf anderen Besatzungsmitgliedern der ARGO in einem Wald auf dem Kontinent Gondwana gelandet. Sie wussten, dass sie sich hier irgendwo im Süden der gemäßigten Zone der nördlichen Halbkugel des Planeten befanden. Ihre genaue Position war ihnen aber unbekannt.
Der Alarm auf der ARGO hatte ihn ebenso wie alle anderen vollkommen überrascht. Ted war Physiker und am Tage der Katastrophe hatte er dienstfrei gehabt. Maggy, seine Frau, war in ihrem Labor beschäftigt gewesen. Ted hatte sich daher mit Mike Mansfield in der Bar „Am Ende des Universums“ die Übertragung der Landung angesehen.
Vom Team der Landestelle Gelb waren damals gerade die ersten Bilder der Bordkamera eingelaufen und alles hatte hervorragend ausgesehen. Die Landefahrzeuge hatten eines nach dem anderen problemlos aufgesetzt, worauf Ted und Mike sich ein alkoholfreies Bier genehmigt hatten. Dann übertrugen die Kameras der GRUNOs das Aussteigen der Besatzungen und deren Bemühungen, eine erste Rundumsicherung aufzustellen.
Wenig später wurde dann die Landung ihrer eigenen Kinder in der Landestelle Grün übertragen. Auch hier ließ sich zunächst alles problemlos an. Der Landeanflug ging fast eine Viertelstunde lang routiniert vor sich, bis urplötzlich alles aus dem Ruder lief.
Dem Sprechfunkverkehr nach zu urteilen, bekam Seera Collins von einer Sekunde auf die andere in der letzten Phase ihrer Landung gravierende Probleme. Ted hatte die schrille Stimme seiner eigenen Tochter mit anhören müssen, wie sie Seera einige Warnungen zugerufen hatte. Dann war Seeras Stimme auf einmal nicht mehr zu vernehmen gewesen und die Übertragung ihrer Bordkamera war einfach abgebrochen. Und schließlich war Vici offenbar selbst in erhebliche Probleme geraten.
Ted und Mike, dessen Sohn an Bord von Seera Collins GRUNO mitflog, hatten der Übertragung mit wachsender Besorgnis zugehört. Plötzlich war dann auch Vicis Signal abgebrochen und die letzten Worte, die man von ihr vernehmen konnte, waren geradezu furchteinflößend gewesen. Worte wie „Aussteigen, Seera, sie hat euch gleich, ihr müsst aussteigen!“, „Oh mein Gott“ und „Verdammt, ich Idiot, da sind noch mehr und ich fliege geradewegs zu ihnen hin!“, hatten schrecklich geklungen.
Irgendetwas war bei der Landung furchtbar schief gelaufen und Ted und Mike hatten sich plötzlich erheblichste Sorgen um das Leben ihrer Kinder gemacht. Sie waren von der Übertragung so geschockt gewesen, dass ihnen zunächst die Worte fehlten.
Gerade als Ted endlich etwas zu Mike hatte sagen wollen, war aber urplötzlich auch noch der Hauptalarm der ARGO angeschlagen: „Achtung! Evakuierung! Die Schotts schließen in drei Minuten und fünfzig Sekunden. Bitte begeben sie sich sofort zu den Rettungskapseln“, tönte unmittelbar nach dem Alarmsignal eine freundliche Frauenstimme durch die Bar und das ganze Schiff.
„Scheiße, verdammt, was ist denn jetzt los?“, brüllte Ted. „Sind denn hier jetzt alle verrückt geworden? Das kann doch wohl alles gar nicht wahr sein!“
Vor Schreck hatte er sein restliches Bier umgekippt und sah sich nun fieberhaft nach dem Fluchtweg zur nächstgelegenen Rettungskapsel um.
Drei Minuten und vierzig Sekunden. Ted sah den Barkeeper davonrennen.
Es blieb keine Zeit, um Maggy oder irgendwelche persönlichen Sachen zu holen. Maggys Labor befand sich am anderen Ende des Schiffes und bis zu seiner Wohnung würde er es in weniger als fünf Minuten auch nicht schaffen. Wenn dieser Alarm ernst gemeint war, dann musste er jetzt sofort losrennen und eine Rettungskapsel suchen.
„Los Mike!“, rief er und zog Dr. Mansfield am Ärmel, da dieser noch keinerlei Anstalten sich in Bewegung zu setzen gemacht hatte. Er starrte stattdessen immer noch auf den jetzt das blinkende Wort „Alarm“ zeigenden Fernsehbildschirm, auf dem bis vor zwei Minuten noch die Bilder aus Seeras GRU-NO-Kamera übertragen worden waren.
„Mike!“, hatte Ted nochmals gebrüllt und ihn dann einfach mit sich in Richtung auf den Ausgang der Bar gerissen. Dadurch war Mike endlich aus seiner Schockstarre erwacht und ihm gefolgt. Die Lautsprecherstimme verkündete bei Verlassen der Bar gerade „Drei Minuten“.
Sie hatten den Hauptalarm seit Beginn ihrer Reise mindestens zweimal jedes Jahr geübt. Deshalb war Ted der Rettungsweg sowohl von seiner Wohnung wie von seinem Büro und Labor aus so vertraut, dass er ihn im Schlaf und völliger Finsternis gefunden hätte. Aber in der Bar hatte ihn bislang noch keine Alarmübung überrascht und er musste sich in diesem Teil des Raumschiffes erst orientieren.
„Da lang“, rief Ted und zeigte auf ein an der gegenüber liegenden Wand aufblinkendes Fluchtwegzeichen. Sie rannten über den Marktplatz in einen Seitenkorridor hinein, der sie hoffentlich binnen der noch verbleibenden kurzen Zeit zu einer Rettungskapsel führen würde. Vor ihnen liefen zwei Monteure in dieselbe Richtung wie sie.
„Achtung! Evakuierung! Die Schotts schließen in zwei Minuten und zehn Sekunden. Bitte begeben sie sich sofort zu den Rettungskapseln“, flötete die Frauenstimme gerade, als sie das Ende des Korridors erreichten und jetzt nach rechts auf einen der äußeren Laufgänge geleitet wurden.
Sie rannten um ihr Leben. Wenn die Schotts erst einmal geschlossen waren, gab es keine Hoffnung mehr, da sämtliche Rettungskapseln nur eine Sekunde nach Schließen der Schotts abgesprengt würden.
In den Alarmübungen hatten sie stets fast gemütlich den Weg zu den Rettungskapseln zurücklegen können, denn die Evakuierungszeit hatte immer mindestens fünfzehn Minuten betragen. Doch so viel Zeit blieb ihnen jetzt nicht einmal ansatzweise.
Sie rannten weitere fünfzig Meter geradeaus, bevor sie nach links in einen der Direktzugänge zu einer Rettungskapsel gelangten.
„Fünfzig Sekunden“, verkündete die Frauenstimme.
Nach weiteren zwanzig Metern langten sie an der Schleuse an. „Rettungskapsel Nr. 83“ stand in großen Lettern auf der noch weit offen stehenden Einstiegsluke. Sie sprangen hinein. Zwölf andere Menschen waren bereits hier und hantierten fieberhaft an den Ganzkörpergurten herum.
Ted wollte sich gerade setzen und festgurten, als er draußen vor der Luke einen Schrei hörte.
Dreißig Sekunden.
Ted überlegte kurz, ob es wohl klug sei, sich jetzt noch um das Schicksal anderer zu kümmern. Dann hechtete er wieder aus der Kapsel heraus. Nur etwa fünf Meter vor der Einstiegsluke kauerte ein etwa fünfzehnjähriges Mädchen keuchend auf dem Boden.
„Mum!“ schrie sie aus Leibeskräften und hatte ihren Blick auf das Ende des Zugangs-Korridors geheftet. Bis dorthin waren es gut zwanzig Meter.
„Du musst jetzt einsteigen“, sagte Ted freundlich zu dem Mädchen, das ihn aber vollkommen ignorierte.
„Mum!“ schrie sie erneut und wandte den Blick nicht vom Ende des Korridors ab.
Zwanzig Sekunden.
Selbst wenn die Mutter des Mädchens jetzt noch am Ende des Korridors erscheinen sollte: Niemand würde es in den wenigen verbleibenden Sekunden noch von dort bis zu der Kapsel schaffen.
„Jetzt! Einsteigen!“, brüllte Ted das Mädchen an.
Doch das Mädchen reagierte immer noch nicht. Sie schaute noch nicht einmal zu Ted hoch.
Zehn Sekunden.
Ted griff brutal zu und warf sich das Mädchen einfach über die Schulter. Dann sprintete er die fünf Meter zur Kapsel zurück und warf sich mitsamt seiner Last kopfüber hinein. „Absprengung!“ sagte die Frauenstimme.
Die Luke schloss und verriegelte sich und nur eine Sekunde später erfolgte die Absprengung. Gleichzeitig sprangen die Triebwerke der Rettungskapsel an und beschleunigten sofort auf Fluchtgeschwindigkeit. Die Wucht des Starts ließ Ted und das Mädchen rückwärts gegen die Innenseite der Einstiegsluke krachen.
Mike, der sich auf dem der Luke zunächst liegenden Platz bereits angeschnallt hatte, griff das Mädchen am Arm und zog sie zu sich heran. Mit gemeinsamen Kräften schafften sie es schließlich, erst das Mädchen und dann Ted auf den gegenüberliegenden Plätzen anzuschnallen.
Sobald er saß, blickte Ted aus dem über ihm liegenden Bullauge der Kapsel. Der Großteil der ARGO lag zwar außerhalb seines Blickwinkels, aber dafür konnte er erkennen, wie sich unzählige Rettungskapseln und Labormodule vom Schiff lösten und in den Weltraum glitten. Es war ein grandioses Schauspiel, wie hunderte von Flugkörpern gleichzeitig im glitzernden Sonnenlicht davonflogen. Dann sah Ted die Reflektion eines für Sekunden alles überstrahlenden hellen Blitzes und ihm war klar, dass es eine massive Explosion gegeben haben musste.
Er schloss für einen Moment die Augen, da ihm einfach zu viele Gedanken auf einmal durch den Kopf schossen.
Sie waren am Ende! Das wurde ihm jetzt gerade so richtig bewusst. Der Alarm war keine Übung gewesen. Eine Explosion musste die ARGO zerstört haben. Und so sieht es dann also aus, das Ende. Eben noch ist alles bestens und fünftausend Menschen feiern die erste Landung in der Geschichte Menschheit auf einem bewohnbaren Planeten - und dann bricht in wenigen Minuten die gesamte Welt zusammen. Sie hatten soeben ihre gesamte Basis verloren und einige wenige Überlebende würden nun mutterseelenallein auf einem fremden Planeten langsam zugrunde gehen!
Die Kapsel flog vollautomatisch eine gute Viertelstunde lang mit gleichbleibendem Kurs durch das All, weg von der Explosion und weg auch von allen anderen Rettungskapseln. Dann bemerkte Ted einige Bahnkorrekturmanöver, bevor die Kapsel zu bremsen begann und allmählich an Höhe verlor. Schließlich rasten sie der Planetenoberfläche entgegen.
Den Flugbahndaten nach zu urteilen, würden sie in mittlerer geografische Breite auf dem Kontinent Gondwana landen und das war dann auch schon alles an Informationen, was die Rettungskapsel ihnen verriet.
Die Landung war holprig verlaufen, sie waren zwischen dicht beieinander stehenden Bäumen herunter gekommen, so dass die zylinderförmige Kapsel am Ende fast hochkant zum Stehen kam. Conja, das Mädchen, das Ted im letzten Augenblick gerettet hatte, war als erste ausgestiegen. Ted hatte zunächst befürchtet, dass sie immer noch unter Schock stehen und einfach fortlaufen könnte. Nachdem er ihr nachgeklettert war, stellte er aber zu seiner Beruhigung fest, dass sie ganz methodisch anfing, den Fallschirm der Kapsel aus den gesplitterten Baumstümpfen rings um sie her zu befreien.
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