Selbst sein - Emil Angehrn - E-Book

Selbst sein E-Book

Emil Angehrn

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Beschreibung

In seinem neuen Essay über menschliche Existenz im Spannungsverhältnis zwischen Selbstfindung und Selbstverfehlung fragt Emil Angehrn: Wann sind wir in Wahrheit wir selbst? Wissen wir, wer wir sind und was wir eigentlich wollen? Können wir, sollen wir, wollen wir wahrhaftig sein? Wahrhaftigkeit scheint eine zwiespältige Idee. Auf der einen Seite gilt sie unstrittig als positive Wertvorstellung. Ehrlich zu sein mit anderen und mit uns selbst scheint ein Ideal, eine Pflicht, ja ein innerstes Bedürfnis zu sein. Wir wollen mit uns eins sein und offen mit unseren Nächsten, von denen wir ihrerseits Loyalität und Aufrichtigkeit erwarten. Wahrhaftig zu sein heißt, unverhüllt unserer selbst gewahr zu werden und authentisch zu leben. Auf der anderen Seite erweist sich Wahrhaftigkeit als fragile, problematische Leitidee. Wir sind unsicher, wieweit wir zur restlosen Klarheit über uns fähig und zur absoluten Offenheit gegenüber anderen bereit sind. Historische Analysen handeln von Lüge und Verdeckung als Mechanismen der sozialen Welt. Kulturkritische Diagnosen verkünden das Ende der Aufrichtigkeit. Auch wenn persönliche Integrität als existenzieller Wert hochgehalten wird, bleibt zu klären, was sie als Idee beinhaltet, ob sie als Norm gelten darf und wie sie im Leben der Einzelnen und der Gesellschaft zu verwirklichen ist. Wir sind uns nicht einfachhin zugänglich, sondern auch fremd. Wir sind nicht ohne Weiteres in der Lage, ›eigentlich‹ zu existieren.

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Emil Angehrn

Selbst sein

Zwischen Wahrhaftigkeit und Selbstverfehlung

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische

Daten sind im Internet über ‹https ://portal.dnb.de› abrufbar.

ISBN 978-3-7873-4667-7

ISBN eBook 978-3-7873-4668-4

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2024. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt

auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die

Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es

nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Konvertierung: Bookwire GmbH

www.meiner.de

Inhalt

1. Einleitung: Wahrhaftigkeit als Ideal?

2. Die Idee der Wahrhaftigkeit

2.1 Wahrhaftig gegen andere: Das Interesse an Wahrheit

2.2 Wahrhaftig mit sich selbst: Facetten der Eigentlichkeit

(a) Das Eigene und das Fremde: Das unvertretbare Selbst

(b) Selbsterschließung, Selbstausdruck, Selbsterschaffung

(c) Selbstsein und Identität

(d) Einheit mit sich, Wirklichsein, erfüllte Existenz

3. Unwahrhaftigkeit und Uneigentlichkeit

3.1 Unzugänglichkeit und Selbsttäuschung

3.2 Selbstfremdheit und Selbstverfehlung

3.3 Existenziale und pathologische Selbstverfehlung

4. Eigentlichkeit zwischen Selbst und Andersheit

4.1 Erschlossenheit und Selbstsein

4.2 Wahrhaftigkeit im Sein mit Anderen

(a) Der Anspruch des Anderen

(b) Die Gabe des Anderen

(c) Befreiung von Selbsttäuschung

5. Zwiespalt und Ambivalenz: Zwischen Wahrhaftigkeit und Unwahrhaftigkeit

6. Der Ausgang vom Negativen

6.1 Methodischer und ontologischer Negativismus

6.2 Dimensionen des Negativen

(a) Theoretische und praktische Negativität

(b) Kontingente und konstitutive Negativität

7. Vom Negativen zum Positiven: Wahrhaftigsein im Uneigentlichen

Anmerkungen

Bibliographie

Namenregister

1. Einleitung: Wahrhaftigkeit als Ideal?

(a) Vor mehr als vier Jahrzehnten verkündete ein markanter Buchtitel das »Ende der Aufrichtigkeit«.1 Der Titel der Abhandlung von Lionel Trilling stand für eine literaturgeschichtliche Diagnose, die sich zugleich im sozial- und kulturhistorischen Kontext situierte. Sein provozierender Charakter ergab sich aus dem frontalen Gegensatz sowohl zu einem traditionellen Moralverständnis wie zum existenzphilosophischen Ethos des Eigentlichen. Dass Menschen aufrichtig – ehrlich, wahrheitsliebend – sein sollen, dass sie ursprünglich sie selbst, authentisch sein wollen, war die scheinbar unumstößliche Wahrheit, gegen die sich die Parole vom Ende der Aufrichtigkeit in Front stellte. Sie hinterfragte ein weithin geltendes Vorurteil, das den Ideen der Wahrhaftigkeit, der Integrität und Eigentlichkeit eine eminente Stellung, in gewissem Sinn einen Sonderrang jenseits der partikularen Werte und Tugenden einräumte. Um ein gutes Leben zu führen, so die herrschende Vorstellung, gilt es nicht nur gerecht zu handeln und moralischen Regeln zu folgen, sondern in alledem mit sich eins, in sich authentisch, man selbst zu sein und aus sich heraus selbstbestimmt zu handeln. Angezeigt ist in solchen Umschreibungen ein Ideal, das für den Einzelnen offenkundig keine bloße Norm oder ein äußeres Sollen darstellt, sondern im Tiefsten mit seinem eigenen Wollen, seinem innersten Bedürfnis verbunden ist. Wahrhaftig ist, wer in Übereinstimmung mit sich, mit den anderen und der Welt lebt und sich als der zeigt und verwirklicht, der er selbst in Wahrheit ist.

Und doch ist Wahrhaftigkeit kein unkontroverses, in sich feststehendes Ideal. Dass zu einem gewissen Zeitpunkt von ihrem Ende die Rede sein konnte, ist nicht nur Reflex eines temporären Verfalls oder einer kulturellen Krise. Es ist auch Symptom einer fundamentalen Zwiespältigkeit, die im Ideal selbst, im Kern des Wahrhaftigseins auszumachen ist. Der in mannigfacher Weise artikulierte Vorbehalt gegen die Verabsolutierung der Aufrichtigkeit hat seine Spitze nicht nur in deren Relativierung als Leitidee oder im Hinweis auf ihre Labilität und stets unvollkommene Realisierung. Vielmehr weist er auf einen intrinsischen Zwiespalt, auf eine ambivalente Wertung, gegebenenfalls eine dezidierte Gegenwertung im Umgang mit dem Phänomen des Wahrhaftigen. Der Vorbehalt reicht vom Zweifel, ob es überhaupt möglich sei, konsequent zwischen aufrichtig und unaufrichtig zu unterscheiden, ja ob es uns gelingen könne, restlos aufrichtig zu sein – so ein von Nietzsche artikuliertes Bedenken –, über die These, dass eine bestimmte Weise des Unaufrichtig- und Uneigentlichseins zu unserer normalen, alltäglichen Lebensform gehört – so ein Grundgedanke von Heidegger und Sartre –, bis hin zur kritischen Verwerfung eines falschen Ideals in der postmodernen Aushöhlung ethischer Leitvorstellungen der Aufklärung oder in Adornos Polemik gegen den existenzphilosophischen ›Jargon‹ der Eigentlichkeit.2 Indessen ändern die vielfachen Vorbehalte nichts am hohen Ansehen des Wahrhaftigen. So einsichtig die Zweifel sein mögen, so grundlegend sind die Überzeugungen vom Wert persönlicher Integrität und Offenheit. Zwischen beidem herrscht ein Widerstreit, der nicht einfach nach der einen oder anderen Seite aufzulösen ist. Er ist und bleibt irritierend nicht nur für die begriffliche Reflexion, sondern ebenso als existentielle Herausforderung. Können wir, sollen wir, wollen wir schlechthin wahrhaftig sein? Ist Eigentlichkeit, Aufrichtigkeit ein uneingeschränktes Gebot, ein innerster Kern des Selbstseins, ein letzter Beweggrund unseres Wollens? Diesem Zwiespalt ist nachzugehen, seine Wurzel ist aufzuhellen, wenn wir uns über den Begriff, die ethische Geltung und den existentiellen Stellenwert der Wahrhaftigkeit verständigen wollen.

(b) Ergänzend zur ethisch-lebensweltlichen Zwiespältigkeit lassen sich zwei strukturelle Doppelseitigkeiten vermerken, die das Phänomen der Wahrhaftigkeit kennzeichnen. Wahrhaftigkeit steht zum einen sowohl für ein bestimmtes Verhalten zu anderen wie für ein bestimmtes Verhältnis zu sich selbst, und sie realisiert sich zum anderen als theoretische, kognitiv-expressive ebenso wie als praktische Haltung und Lebensform.

Nach naheliegendem Verständnis gilt Wahrhaftigkeit – Wahrheitsliebe, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit – in erster Linie als eine bestimmte Weise, sich zu anderen Menschen und zur Welt zu verhalten. Anderen nichts vorzumachen, niemanden zu täuschen, an wahrer Erkenntnis und offener Kommunikation interessiert zu sein macht den Grundzug eines aufrichtigen Verhaltens aus. Wer jemanden als ehrlichen Menschen bezeichnet, meint zuallererst die Art und Weise, wie er sich gegenüber anderen äußert, ihnen nichts vorenthält und in seinem Tun und Sprechen keine Täuschung provoziert. Lügen ist das direkte Gegenteil zu solchem Verhalten, doch auch die indirekten Modi des Verbergens und Verschweigens sind Weisen, sich unehrlich zu verhalten, unwahrhaftig zu sein. Auf der anderen Seite sind Dispositionen und Akte des Wahrhaftig- und Unwahrhaftigseins ebenso im Verhältnis zu uns selbst von Belang. Selbsttäuschung ist ein eigentümliches Phänomen, das sich einer konsistenten begrifflichen Beschreibung zu entziehen scheint und das doch im Alltag weit verbreitet, je nachdem im Leben von Menschen tief verwurzelt ist.3 Dass ich mich selbst belügen, mir selbst etwas vormachen kann, scheint paradox, ja unmöglich – da ich als Subjekt der Täuschung etwas kennen muss, das mir als Opfer der Täuschung verborgen ist – und ist gleichzeitig wie ein abgründiges Rätsel, das mir in bestimmten Situationen unhintergehbar anhaftet. Doch nicht nur in der Negativversion, auch in der affirmativen Form ist der Umgang mit Wahrhaftigkeit eine essentielle Gestalt des Selbstseins und Sich-zu-sich-Verhaltens. Ich bin mehr oder weniger ehrlich, authentisch, eigentlich mir selbst gegenüber, im Umgang mit meinen Wünschen und vielleicht verdrängten Einsichten, im eigensten Erleben und in der Führung meines Lebens. In welchem Verhältnis das Wahrhaftigsein im Selbstbezug und die Aufrichtigkeit gegenüber anderen zueinander stehen, wieweit vielleicht jede Form der Ehrlichkeit zuletzt in der Offenheit gegenüber sich selbst, im inneren Authentischsein gründet, gehört zu den Fragen, die der Aufhellung bedürfen. Wenn im kulturellen Diskurs und in der historischen Analyse der Umgang mit Verhüllungen, Intrigen, Aufrichtigkeitseffekten vorrangig im Feld der zwischenmenschlichen Beziehungen und der sozialen Welt zum Thema wird, so führt die existenzphilosophische Reflexion zum Fokus der reflexiven, selbstbezüglichen Wahrhaftigkeit zurück. Sie erscheint gewissermaßen als das tiefere, existentiell virulentere Problemfeld, das zuletzt auch für die Durchdringung der sozialen Dimension des Wahrhaftigen grundlegend ist.

Die andere Doppelung ist die des theoretischen und des praktischen Verhaltens. Aufrichtig, wahrhaftig sein heißt jemandem die Wahrheit sagen, aber auch ihm gegenüber loyal und offen handeln. Auch im Selbstbezug kommt beides ins Spiel. Auf der einen Seite geht es um die Selbsttransparenz im Erkennen und Sichäußern, um das Bemühen um Selbsterkenntnis und das Sichabarbeiten an den dunklen Zonen und verdeckten Bereichen des Selbst, an der verborgenen Herkunft und den verdrängten Wünschen und Phantasien. Und es geht andererseits darum, in seinem Tun und Erleben mit sich eins zu sein, zu sich selbst zu stehen und sich als die Person zu verwirklichen, die zu sein man sich vorgenommen hat und als die man sich erfährt. Weder die reine Selbsterkenntnis noch die volle Selbstverwirklichung stehen dem Subjekt umstandslos zur Verfügung. Der kognitive wie praktische Selbstvollzug ist mit der Endlichkeit des subjektiven Fürsichseins konfrontiert, mit internen wie externen Hindernissen des Fürsichwerdens und der Begrenztheit des eigenen Könnens und Wollens. Ich kann ebenso wenig einfach beschließen, authentisch und ›eigentlich‹ ich selbst zu sein, wie einen ungetrübten Blick auf mein Innerstes zu werfen und Einsicht in das Ganze meines Seins zu erlangen. Wahrhaftigkeit ist, wie es die antike Tugendlehre für die praktischen Verhaltensdispositionen – Tapferkeit, Großzügigkeit – unterstreicht, eine Sache des Erwerbs und der Einübung. Wer sich daran gewöhnt hat, vielleicht sich bewusst dazu motiviert und erzogen hat, ehrlich und offen zu sein, wird dies in der konkreten Situation, möglicherweise unter Druck oder in einer Krise bewähren können. Dies gilt für das Aufrichtig- und Authentischsein sich selbst wie anderen gegenüber. Wie sich dabei die theoretische und praktische Seite zueinander verhalten, bleibt vertiefend zu analysieren. Einerseits scheint die kognitive Selbsterfassung Voraussetzung des wahren Ausdrucks und des konsistenten Handelns. Anderseits scheint das emotionale und voluntative Mit-sich-Einssein, die existentielle Authentiziät, das entscheidende Moment, auf das es im Wahrhaftigsein ankommt und das auch die Grundlage für eine konsequente Verständigung über sich und eine an Wahrheit orientierte Kommunikation mit anderen bildet.

(c) Schon in der ersten Annäherung zeigt sich Wahrhaftigkeit als ein komplexes, mehrschichtiges, teils schillerndes Phänomen. Zumal nach drei Hinsichten hat eine Phänomenbeschreibung Differenzierungen vorzunehmen und ihrem Verhältnis nachzugehen. Das eine ist die Doppelung von Selbst- und Fremdverhältnis, die Verflechtung zwischen der Ehrlichkeit als zwischenmenschlicher Grundhaltung und als Bestimmung des Umgangs mit sich selbst, zwischen dem Wahrheitsinteresse als Grundlage des Erkennens und Mitteilens und der Offenheit sich selbst gegenüber. Das andere ist die Zweischichtigkeit von Erkennen und Handeln, zwischen dem Bemühen um transparente Einsicht und unverfälschten Ausdruck auf der einen Seite und der Echtheit im tätigen Lebensvollzug und sozialen Handeln auf der anderen. Beide Doppelungen überlagern sich und resultieren in vielschichtigen, komplexen Konstellationen. Als drittes steht Wahrhaftigkeit im dynamischen Gegensatz zu ihrem Anderen, zur Unehrlichkeit, Falschheit, Uneigentlichkeit. Dabei steht der Antagonismus von Wahrhaftigkeit und Unwahrhaftigkeit selbst im Zwielicht divergierender Wertungen, historisch variierender und lebensweltlich oszillierender Beschreibungen. Für eine sachhaltige Erörterung geht es darum, nicht einfach eine im Ganzen feststehende normative Geltung zu sanktionieren und das Phänomen der Wahrhaftigkeit in einseitiger Zuwendung zu seinen Äußerungen deskriptiv zu erschließen. Wahrhaftigkeit ist in ihrer Eigenart und Geltung in konstitutiver Spannung zu Erscheinungsformen des Uneigentlichen und Falschen zu vergegenwärtigen und zur Diskussion zu stellen.

(d) Um das vielschichtige Problem zu entfalten, lässt sich die folgende Analyse durch zwei Fokussierungen leiten. Sie stehen für ein leitendes Interesse der Untersuchung und setzen Gegenakzente gegen die normalerweise vorherrschende Explikation des Wahrhaftigen; zugleich stehen sie unter der heuristischen Annahme, dass sie einen Zugang zu dem eröffnen, was im Problem der Wahrhaftigkeit einen innersten Kern bildet und worum es dem Menschen im Umgang mit Wahrhaftigkeit letztlich geht.

Die eine Fokussierung liegt in der Zentrierung auf die reflexive, selbstbezügliche Wahrhaftigkeit. Im Mittelpunkt steht nicht die Wahrheitsorientierung des Erkennens und Kommunizierens, sondern das Interesse am Wahrsein des Subjekts für sich selbst. Zur Diskussion steht das authentische Selbst-Sein, die Eigentlichkeit der Existenz. In ihr liegt das Gravitationszentrum, von dem her auch der aufrichtig-offene Umgang mit anderen seinen Rückhalt gewinnt. Dieser kommt in der Entfaltung des Themenfeldes notwendig mit zur Sprache, doch bildet die innere Wahrhaftigkeit des Subjekts und der authentischen Lebensform im Ganzen den letzten Referenzpunkt.

Die andere Fokussierung geht auf die negative, defizitäre Seite des Unwahrhaftigen. Die wahre, eigentliche Existenz vollzieht sich in Auseinandersetzung mit ihrer inneren Labilität, in Gegenwehr zu Tendenzen des Verfallens und der Verfehlung. Wenn die Existenzphilosophie von der alltäglich-uneigentlichen Existenz als der ›zunächst und zumeist‹ vorherrschenden Lebensform ausgeht, so steht nicht einfach eine negative Lebensauffassung im Blick. Vielmehr geht es darum, sich über das Ziel und die Gestalt des gelingenden Lebens im Spiegel seines Scheiterns, im Ausgang vom Mangel und in Gegenwehr zum Misslingen zu verständigen. Es gehört zu den Merkmalen modernen Denkens, sich des Wahren in einem ›negativistischen‹ Zugang, ex negativo zu vergewissern. Die vielgestaltige Präsenz der Täuschung und Verzerrung in der historischen und kulturellen Realität ist das Medium einer indirekten Erschließung der Wahrheit des Menschseins.

In dieser zweifachen Fokussierung vergewissern wir uns der Wahrhaftigkeit als eines nicht nur theoretisch, sondern praktisch relevanten, existentiell virulenten Problems. Wahrhaftig zu sein versteht sich nicht von selbst. Ob und inwiefern wir überhaupt wahrhaftig sein können, ob wir wahrhaftig sein sollen, ja ob wir letztlich wahrhaftig sein wollen – all dies bedarf gleichermaßen der Aufklärung. Es ist mir nicht einfachhin klar, wieweit ich wirklich ich selbst sein und als ich selbst handeln kann, inwiefern ich wirklich ich selbst sein soll, ja ob ich wirklich ich selbst sein will. Es liegt nicht auf der Hand, worin ein aufrichtiges Handeln besteht, und es liegt nicht in unserer Verfügung, umstandslos wahrhaftig, eigentlich zu sein. Wir können uns nicht einfach dazu entscheiden, wir können es vielleicht nicht einmal ohne Weiteres wollen. Wieweit Wahrhaftigkeit die Wahrheit unseres Selbst ausmacht, steht in Frage. Dies ist das schillernde Phänomen, das aufzuklären ist.

(e) Seine Aufhellung soll in sieben Schritten geschehen. In einem ersten Hauptteil geht es darum, ein strukturelles und ideengeschichtliches Aperçu der Wahrhaftigkeit zu gewinnen. Zu verdeutlichen ist die positive Leitidee der Wahrhaftigkeit in ihrer logischen Bestimmung, ihrer ethischen Geltung und ihrer existentiellen Bedeutung (2.). Sodann ist der Begriff des Wahrhaftigen durch die negative Kontrastfolie des Unwahrhaftigen zu ergänzen, das sich in Formen des Falschen, des Unaufrichtigen und Uneigentlichen niederschlägt, die ihrerseits in ihrer normativen Valenz und ihrem lebensweltlichen Stellenwert zu erhellen sind (3.). Konkrete Gestalt gewinnt die begriffliche Bestimmung des Wahrhaftigen/Unwahrhaftigen im Horizont der beiden Doppelperspektiven von theoretischem und praktischem Verhalten, von Selbstbezug und Verhältnis zum Anderen; nicht zuletzt bildet das Verhältnis zum Anderen ein privilegiertes Gefäß zur Überwindung des Unwahrhaftigen (4).

Nach der begrifflichen Entfaltung ist das Phänomen der Wahrhaftigkeit in einem zweiten Hauptteil in seiner schillernden Geltung und existentiellen Stellung zu vergegenwärtigen. Generell geht es darum, das Spannungsverhältnis zwischen dem Wahrhaftigen und Unwahrhaftigen in beide Bestimmungen einzuzeichnen und das Problem der Wahrhaftigkeit in seiner polaren Gespanntheit, gegebenenfalls seinem inneren Zwiespalt und seiner Ambivalenz ernstzunehmen. In Frage steht die genuine Verflechtung von Negativität und Affirmativität im Umgang mit dem Wahren und Eigentlichen im menschlichen Sein (5.). Diese Verflechtung ist nach zwei Seiten zu vertiefen. Auf der einen Seite ist der Ausgang vom Negativen in der Beschreibung des Wahrhaftigen begrifflich zu verdeutlichen. Dabei ist die ›negativistische‹ Betrachtung unter den Konzepten eines methodischen und eines ontologischen Negativismus zu präzisieren, die sowohl in ihrer Differenz wie in ihrer Verflechtung zu klären sind (6.). Komplementär zum Ausgang vom Negativen interessiert der Ausblick auf das Positive: die Frage, wieweit jenseits der bloßen Kritik des Uneigentlichen (bzw. der heroischen Feier des Eigentlichen) die Figur eines wahrhaftigen Unwahrhaftigseins, eines unwahrhaftig Wahrhaftigen zu denken ist. Zu erkunden ist die Möglichkeit, wahrhaftig und eigentlich zu sein unter Bedingungen der Uneigentlichkeit und der Falschheit (7.).

2. Die Idee der Wahrhaftigkeit

Bevor wir einzelne Verwendungen und Wertungen des Wahrhaftigkeitsbegriffs zur Diskussion stellen, ist eine Bemerkung zum Wortfeld am Platz. Wir haben in der Einleitung ohne systematische Differenzierung unterschiedliche Begriffe verwendet und Themenfelder berührt – in der Annahme, dass sie irgendwie ein zusammenhängendes Thema umreißen und eine einheitliche Problemstellung anzeigen, auch wenn sie darin unterschiedliche Seiten hervorheben und differente Akzente setzen. Die begriffliche Streuung entspricht sowohl der Alltagssprache wie dem wissenschaftlichen Diskurs, welche verschiedene Termini zur Bezeichnung verwandter Phänomene ins Spiel bringen. Dazu zählen neben den Ideen der Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit die Termini Ehrlichkeit, Offenheit, bona fide, guten Glaubens, Vertrauen, Echtheit, Authentizität, Integrität, Eigentlichkeit u. a. m. Eine begriffs- und wortanalytische Sondierung könnte den Entsprechungen und Abweichungen im Vokabular anderer (zumal der an einem gemeinsamen Diskurs beteiligten europäischen) Sprachen nachgehen (z. B. französisch franchise, honnêteté, sincérité, bonne foi/mauvaise foi). Erhellend wäre ebenso, wieweit die semantischen und moralischen Konnotationen in den Gegenbegriffen, Verfallsformen und Defizitbeschreibungen diversifiziert werden, schärfer oder anders hervortreten.

Inhaltlich bekräftigt das Wortfeld die angedeutete Doppelausrichtung, welche einerseits auf die nach außen gerichtete, wahrheitsorientierte Erkenntnis und Mitteilung, anderseits auf das selbstbezügliche Aufrichtig- und Authentischsein des Subjekts geht. Desgleichen kommt darin die genannte Zweischichtigkeit von theoretischen und praktischen Einstellungen und Äußerungen zum Tragen. Bei alledem variieren die sprachlichen Referenzen in der Begriffsverwendung, die sich auf bestimmte Äußerungen und Akte, aber ebenso auf subjektive Eigenschaften und Dispositionen, schließlich auf die Person selbst und ihre Lebensform beziehen kann. Wir sprechen von einer aufrichtigen Äußerung, einem ehr