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Positive Psychologie und Glücksforschung haben zu einer unüberschaubaren Fülle von Selbsthilfebüchern geführt, die Wohlbefinden und ein sinnerfülltes Leben versprechen. In diesem einzigartigen Band zeigt Inez De Florio-Hansen anhand zahlreicher Beispiele auf, was Sie bei der Auswahl von Ratgeberliteratur bedenken müssen und wie Sie von den Empfehlungen in Selbsthilfebüchern bestmöglich profitieren können. Die wissenschaftsbasierten Anregungen von Inez De Florio-Hansen ermöglichen es Ihnen, der Selbstverwirklichung und einem gelingenden Leben Schritt für Schritt näher zu kommen.
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Seitenzahl: 261
ibidem-Verlag, Stuttgart
Table of Contents
Vorwort
Teil I Zum Umgang mit Selbsthilfeliteratur
Einleitung: Lesen Sie los!
Kap. 1 Der Boom der Ratgeberliteratur
1. Grundlegende Begriffe
2. Die Rolle der Belletristik
3. Die Entwicklung der Ratgeberliteratur seit der Mitte des 20. Jahrhunderts
4. Ratgeber: ein wahres Umsatzvergnügen
5. Ein Klassiker der Selbsthilfeliteratur: Dale Carnegie
6. Schlussfolgerungen
Kap. 2 Möglichkeiten und Grenzen von Selbsthilfeliteratur
1. Wissenschaftsorientierte Ratgeberliteratur
2. Zwei populäre Ratgeberbücher im Vergleich
3. Was Selbsthilfeliteratur leisten kann und was nicht
4. Schlussfolgerungen
Kap. 3 Zur sinnvollen Nutzung von Selbsthilfeliteratur
1. Selbsthilfebücher oder nicht
2. Die passende Auswahl
3. Der Selbstverwirklichung näherkommen
4. Lernfortschritte evaluieren
5. Äußere Faktoren und soziale Einbindung berücksichtigen
Kap. 4 Positive Psychologie, Glücksforschung und ein sinnerfülltes Leben
1. Neuere Forschungsansätze
2. Die Positive Psychologie und ihre Wirkungen
3. Glück und Glücksforschung
4. Vom glücklichen zum sinnerfüllten Leben
Teil II Persönlichkeitsentfaltung auf wissenschaftlicher Grundlage
Kap. 5 Umgang mit der Zeit
1. Zeitmanagement, Selbstmanagement und Lebensgestaltung
2. Noch einmal: zwei populäre Ratgeberbücher im Vergleich
3. Der richtige Zeitpunkt und die angemessene Dauer
4. Tagesrhythmus, innere Uhr und Leistungsfähigkeit
5. Der Wert von Phasen der Erholung
Kap. 6 Denken und Intuition
1. Zur Verbindung von Denken und Intuition
2. Drei populäre Ratgeberbücher im Vergleich
3. Das Denken optimieren
Kap. 7 Kreativität und Innovation
1. Aspekte und Phasen der Kreativität
2. Und wieder: zwei populäre Ratgeberbücher im Vergleich
3. Altes neu denken und Neues denken
Kap. 8 Motivation, Selbstdisziplin und Ausdauer
1. Motivation und Volition
2. Selbstdisziplin und Ausdauer
3. Zwei bekannte Ratgeberbücher im Vergleich
4. Handlungsbereitschaft und Umsetzungskompetenz fördern
5. Selbstdisziplin und Ausdauer steigern
Kap. 9 Empathie, Respekt und Achtsamkeit
1. Empathie und emotionale Kompetenz
2. Ein Ratgeberbuch zu Fragen der Empathie und mehr
3. Empathie und emotionale Kompetenz messen
4. Empathie und emotionale Kompetenz steigern
5. Respekt und Achtsamkeit praktizieren
Impressum
ibidem-Verlag
Das vorliegende Buch setzt sich in verständlicher und fachlich kompetenter Weise mit einem bemerkenswerten medialen Phänomen auseinander, nämlich der stetig wachsenden Ratgeberliteratur in Sachen Lebenshilfe. In Anlehnung an die inzwischen übliche Diktion nennt die Autorin dieses Phänomen „Bibliotherapie“, womit sie den Glauben meint, schon das Lesen eines Buches könne das eigene private oder berufliche Leben verbessern bzw. einen bestehenden Leidensdruck deutlich vermindern. Ihrer Ansicht nach ist dieses Wachstum u. a. darauf zurückzuführen, dass sich ratsuchende Leser oft mehrere Ratgeberbücher hintereinander kaufen, weil sie feststellen, dass die Lektüre eines Buches ihnen wenig oder nichts bringt, und sie enttäuscht zum nächsten Buch greifen. Unterstützt wird der Eindruck weitgehender Wirkungslosigkeit auch durch die Tatsache, dass diese Bücher zwar oft hervorragende Bewertungen erhalten, aber so gut wie niemand von einem Erfolg der Lektüre berichtet.
Die Gründe für die eklatante Wirkungslosigkeit der Bibliotherapie sind vielfältig. Zum ersten beruhen die modernen Lebenshilfe-Ratgeber meist auf ziemlich simplen Vorstellungen darüber, wie man bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten verbessern kann (etwa zugunsten eines professionelleren Auftretens, einer besseren Verhandlungstaktik, einer erfolgreicheren Entscheidungsstrategie) oder wie man in seinem sozialen und privaten Leben langfristig zufriedener oder gar glücklicher werden kann. Das alles soll noch möglichst rasch und mit möglichst wenig Aufwand erreicht werden. Nur wenige Ratgeber geben ehrlicherweise zu, dass der in Aussicht gestellte Erfolg sich erst aufgrund eines gehörigen Durchhaltevermögen einstellen wird – aber das verkauft sich eben nicht gut.
Belege für die jeweils versprochene Wirkung, wie sie in der psychotherapeutischen Wirksamkeitsforschung üblich sind, existieren nicht, wie die Autorin zu Recht moniert. Die Wirksamkeit wird einfach behauptet oder durch Publikationen von „Autoritäten“ scheinbar belegt, die ihrerseits keinerlei wissenschaftlich tragfähigen Belege anführen, sondern sich meist selber zitieren. Alles andere wäre auch sehr verwunderlich, denn die Erkenntnisse der psychologischen und neurowissenschaftlichen Persönlichkeitsforschung lauten, dass es generell schwer ist, erwachsene Menschen in ihrem Fühlen, Denken und Handeln zu ändern – also in dem, was man „Persönlichkeit“ nennt. Unsere Persönlichkeit wird nämlich zum beträchtlichen Teil sehr früh festgelegt, und zwar vorgeburtlich durch Gene und epigenetische (d.h. die Wirkung einzelner Gene kontrollierende) Faktoren und durch Einflüsse über Körper und Gehirn der Mutter, sowie durch früh-nachgeburtliche Umwelteinflüsse, besonders im Rahmen der Bindungserfahrung. Bereits nach den ersten 3 bis 4 Jahren, also noch im Vorschulalter, werden bestimmte Grundzüge der späteren Persönlichkeit sichtbar. Das Ausmaß der generellen Veränderbarkeit nimmt danach bereits ab, und es vollzieht sich zunehmend eine Selbststabilisierung der Persönlichkeit. Deshalb kann man aufgrund derjenigen Persönlichkeit, die ein junger Mensch im Alter von 14 Jahren besitzt, relativ gute Voraussagen über diejenige Persönlichkeit machen, die er oder sie mit 40 haben wird. Anders ausgedrückt: mit zunehmendem Alter und zunehmender Selbststabilisierung wird es im Durchschnitt immer schwieriger, Menschen in ihrer Persönlichkeit zu verändern. Entsprechend müssen die Maßnahmen zur Veränderung immer spezifischer, intensiver sein und länger andauern, um wirksam zu sein. Coaching und Psychotherapie können ein Lied davon singen!
Freilich gibt es erhebliche individuelle Unterschiede in der Veränderbarkeit, die als solche auch einen Kernbestandteil der Persönlichkeit darstellt, d.h. die einen (die „Stabilen“) finden schon früh „ihren“ Lebensstil, den sie auch dann lange beibehalten, und sind Veränderungen eher abgeneigt, die anderen (die „Dynamiker“) bleiben bis ins mittlere Erwachsenenalter vergleichsweise flexibel und offen für Erfahrungen, aber auch bei ihnen nimmt diese Flexibilität und Offenheit zum Alter hin ab. Eine lebenslang gleichbleibende Plastizität, wie sie in der Ratgeberliteratur häufig behauptet wird, ist eine reine Wunschvorstellung.
Ein weiterer bedeutsamer Fehler der Lebenshilfe-Bücher besteht darin, dass die allermeisten Veränderungskonzepte am Selbstbild des Lesers ansetzen, also an der Art, wie sich der Leser sieht („Ist-Zustand“) und wie er gern sein möchte („Soll-Zustand“). Mit Recht weist die Autorin darauf hin, dass unser Selbstbild nur wenig mit dem zu tun hat, was professionelle Diagnostiker über uns herausfinden. Die größte Täuschung – so sagt man – ist die Selbsttäuschung: wir sehen uns meist so, wie unsere unbewussten Persönlichkeitsanteile und unsere soziale Umwelt es verlangen. Die oft grandiose Selbsttäuschung vieler Menschen beruht darauf, dass die bewussten Etagen unserer Persönlichkeit, auf denen Verstand und Einsicht angesiedelt sind, keine verlässliche Erkenntnis der Geschehnisse auf den unbewussten Etagen erlangen können, seien es tiefsitzende Motive, frühkindliche prägende Erfahrungen oder grundlegende Konflikte. Unsere bewusste Ebene reimt sich auch ohne unser Zutun aus den namenlosen Antrieben aus dem Unbewussten ein in der Regel geschöntes Bild von uns selbst zusammen. Menschen – so der namhafte amerikanische Psychologe Daniel Kahneman – tendieren ganz allgemein dazu, sich positiver zu sehen, als es aus Expertensicht angemessen wäre. Diese Tendenz zur Schönfärberei wird leider durch viele Lebenshilfe-Bücher noch verstärkt, wenn es dort heißt: „du schaffst alles, vorausgesetzt du willst es wirklich!“.
Dieser Vorwurf muss auch der populären „Positiven Psychologie“ gemacht werden, die in der seriösen Persönlichkeitsforschung allerdings keinen besonders guten Ruf genießt. Auch hier sind die belastbaren Wirksamkeitsnachweise sehr dünn. Selbstverständlich muss man im Rahmen von Veränderungsmaßnahmen positive Botschaften verkünden, Ressourcen aktivieren und stets ermutigen, aber das geht nur, wenn zugleich eine kritische Bestandsaufnahme stattfindet, d.h. wenn klar festgestellt wird, was nicht gut läuft, welche „dysfunktionalen“ Denk-, Gefühls- und Verhaltensweisen vorliegen usw. Es reicht allein nicht, Ressourcen zu entdecken, sondern Verwundungen müssen gelindert werden!
Unsere Grunderkenntnis lautet: Erstens ist es über alle individuellen Unterschiede hinweg schwer, erwachsene Menschen in ihrem Fühlen, Denken und Handeln zu ändern, und umso schwerer, je tiefer in die Persönlichkeit die Veränderung eingreifen soll. Auch die bewährtesten und wissenschaftlich fundierten Interventionen folgen hinsichtlich ihrer langfristigen Wirkung dem „Drittelgesetz“, d.h. bei einem Drittel der Klienten bzw. Patienten zeigt sich eine langanhalte positive Wirkung, bei einem weiteren Drittel ist die Wirkung nur kurzfristig bzw. oberflächlich und besteht meist in einer Befindlichkeitsänderung ohne gleichzeitige Verhaltensänderung, und beim dritten Drittel zeigt sich keinerlei Wirkung. Dies ist vornehmlich dem Umstand geschuldet, dass es keine Intervention gibt, die bei allen Menschen gleich gut wirkt (gleichgültig was die einzelnen Coaching- oder Psychotherapie-„Schulen“ von ihren Methoden behaupten).
Zweitens zeigt diese Wirksamkeitsforschung, dass es indes einen universellen Wirkfaktor (und den wichtigsten überhaupt) gibt, nämlich das „Arbeitsbündnis“ bzw. die „therapeutische Allianz“, d.h. das Vertrauen und die Wertschätzung zwischen Coach und Klient bzw. Therapeut und Patient und den Glauben an eine bestimmte Methode – mag sie in den Augen von Wissenschaftlern noch so zweifelhaft sein. Dies erklärt auch den Erfolg von Behandlungsweisen wie Akupunktur und Homöopathie, die als spezifische Behandlungsmethoden gar nicht wirken können.
Folgt man überdies dem Prinzip der Selbsttherapie, wie sie von der Lebenshilfe-Literatur propagiert wird, so unterliegt deren Wirksamkeit nicht nur dem Nachteil der trügerischen Selbsterkenntnis, sondern auch dem Fehlen des gerade als wirksamsten Faktor genannten „Arbeitsbündnisses“. Das bedeutet, dass der Wunsch, sich zu optimieren bzw. zu einem zufriedeneren und weniger konfliktreichen Leben zu finden, am ehesten mithilfe einer externen Unterstützung zu verwirklichen ist, also im Rahmen eines Coaching oder einer Psychotherapie, obgleich auch hier ein gehöriger Realismus angebracht ist. Wie die Autorin betont, ist eine Selbsttherapie ist ungleich schwieriger, denn es fehlt das externe Korrektiv und ebenso die Unterstützung von außen.
Das bedeutet jedoch nicht, dass Selbsttherapie generell aussichtslos ist. Zum einen gelingt sie dann am ehesten, wenn die bestehenden Probleme nicht „zu tief“ wurzeln, d. h. wenn sie nicht mit frühkindlich-unbewussten Erfahrungen zusammenhängen (von vorgeburtlichen Einflüssen ganz zu schweigen), wenn genügend Ressourcen vorhanden sind, auf die man zurück greifen kann, und wenn – wie die Autorin darstellt - ein hohes Maß an Fähigkeit zur kritischen Selbstdiagnose, eine klare Zielsetzung, Geduld mit sich selbst und ein großes Durchhaltevermögen vorhanden ist. Ob aber diese für eine Selbsttherapie notwendigen Bedingungen vorhanden sind, liegt leider nicht in der Hand bzw. im Willen des Betroffenen. Wie schon die Philosophen David Hume und Arthur Schopenhauer sagten: man kann zwar wollen, aber man kann den Willen nicht wollen! Mit anderen Worten: eine Selbsttherapie muss auf einen geeigneten Boden fallen, sonst bleibt sie wirkungslos.
Das Gesamtfazit der Autorin lautet: Während viele Ratgeberbücher von wissenschaftlich zweifelhaften Ideen ausgehen und wirkungslos sind, finden sich in einigen Ratgebern durchaus diskussionswürdige Ansätze. Es ist also in jedem Fall ein kritischer Umgang mit der Selbsthilfeliteratur angesagt!
Prof. Dr. Dr. Gerhard Roth im Juli 2019
Bei der Lektüre dieses Buches werden sich einige von ihnen fragen: Warum schreibt sie nicht einfach, was wir machen sollen? Das hat gute Gründe. Versprechungen nach dem Motto: Tun Sie dieses oder jenes, und schon sind Sie glücklich! Führen zu nichts. Wenn das Leben so einfach wäre.
Mit meinem Vorgehen verbinde ich eine Reihe von Absichten:
Selbstverwirklichung ist in Maßen möglich, aber es bedarf dazu der Ausbildung eines entsprechenden Bewusstseins.
Selbst wenn Sie die nötige Willenskraft und Ausdauer aufbringen, werden sich Ihre Fortschritte in Grenzen halten.
Deshalb sollten Sie sich vor übertriebenen Erwartungen hüten.
Schenken Sie anderslautenden Versprechungen keinen Glauben.
Da wir nur auf 15-20 % unseres Denkens, Fühlens und Verhaltens Einfluss haben, sind Verbesserungen in Teilbereichen unserer Persönlichkeit bereits ein großer Fortschritt. Das sollten Sie sich stets vor Augen halten. Einige von Ihnen werden jetzt fragen: Warum lasse ich es dann nicht gleich ganz? Allein das zutiefst menschliche Streben nach Entfaltung der Persönlichkeit verschafft Zufriedenheit und Wohlbefinden.
Geben die sogenannten Antiratgeber denn nicht die Parole aus: Mach dich locker, denn du bist gut so, wie du bist? Ohne Zweifel ist es wichtig, dass jeder Mensch sich im Wesentlichen akzeptiert: Das bin ich, und das ist gut so! Das heißt aber nicht, dass es keine Bereiche gibt, in denen jeder von uns etwas verbessern und so der Entfaltung der eigenen Persönlichkeit näherkommen kann.
Es gilt, das eigene Denken, Fühlen und Verhalten auf verschiedene Aspekte zu richten. Dabei können mit Bedacht ausgewählte Ratgeberbücher helfen:
Selbstverwirklichung erfolgt – so belegen es wissenschaftliche Untersuchungen – in kleinen Schritten.
Es gilt, nach und nach verschiedene Ansätze kennenzulernen, um die für die eigene Person geeigneten Strategien ausfindig zu machen.
Ratschläge und Empfehlungen, gleichgültig von wem sie stammen, sind kritisch mit Blick auf die eigene Persönlichkeit zu prüfen, bevor man ihnen folgt.
Misserfolge sind kein Grund zum Verzagen, sondern ein Ansporn, es nach und nach besser zu machen.
Selbstverwirklichung gelingt am ehesten im Verbund mit dem näheren und weiteren Umfeld.
Ich wünsche Ihnen größeres Wohlbefinden und ein sinnerfülltes Leben!
Wenn Sie Fragen, Anliegen oder Probleme haben, besuchen Sie bitte meine Website: www.deflorio.de
Auf der Startseite rechts finden Sie einen Link Wege zu einem sinnerfüllten Leben mit Vorschlägen und Empfehlungen.
„Oh je, schon wieder ein Glücksbuch“ denken die einen, die Selbsthilfeliteratur für reine Geschäftemacherei halten. Andere hingegen sehen sich veranlasst, den neuesten Ratgeber ihrer Lieblingsautorin oder ihres Lieblingsautors möglichst bald zu lesen.
Bevor wir uns damit beschäftigen, wie es zur Flut der Ratgeberliteratur gekommen ist, ist eine kurze Klärung des Begriffs sinnvoll, denn nur wer weiß, was gemeint ist, kann von den Büchern profitieren und deren industrielle Vermarktung angemessen einschätzen. Statt Ratgeberliteratur wird üblicherweise der Begriff Selbsthilfeliteratur verwendet. Dieser Terminus geht auf das englische Self-Help Books zurück. Bereits 1859 hat Samuel Smiles ein Buch mit dem Titel Self-Help veröffentlicht. Der Begriff ist aber eigentlich irreführend. Was heißt hier Selbsthilfe? Wenn man zu einem Buch greift, das einem die Lösung (fast) aller Probleme verspricht1, hilft man sich nicht selbst, sondern erwartet Beistand von der Autorin oder dem Autor. Statt einen Coach oder einen Therapeuten zu Rate zu ziehen, vertraut man sich der sogenannten Bibliotherapie (bibliotherapy) an, einer Therapie mit Hilfe von Büchern. Dagegen ist nichts einzuwenden, vorausgesetzt man ist sich stets der Tatsache bewusst, dass Selbsthilfe nur von einem selbst ausgehen kann. Ob man von Selbstverwirklichung oder gar Selbstoptimierung spricht – sie liegt immer in der alleinigen Verantwortung des Individuums (vgl. Kap. 2 und Kap. 3)
„Sagen Sie“, fragte ich meine Bekannte Bettina F., „lesen Sie manchmal Ratgeberbücher?“
„Nein, für gewöhnlich nicht.“
„Und warum nicht?“
„Das ist mir einfach zu direkt. Es lässt mir zu wenig Spielraum für die Eigeninitiative. Ich halte mich eher an die Literatur im weitesten Sinne.“
„Was meinen Sie damit? An Romane?“
„Ja, aber auch an die Lebensweisheiten bekannter Philosophen. Voltaire soll gesagt haben: ‚Wir sind verantwortlich für das, was wir tun, aber auch für das, was wir nicht tun.‘ Eigentlich eine Binsenweisheit. Der Ausspruch hilft mir aber irgendwie, wenn ich wieder einmal zögere, das in die Tat umzusetzen, was ich eigentlich richtig und wichtig finde.“
„Ach so … Sinnsprüche …“
„Nicht nur. Auch Romane. In jüngster Zeit habe ich den Roman Überleben von Frederika Amalia Finkelstein gelesen2. Die Autorin setzt sich mit den Erfahrungen von Ava, einer jungen Frau in Paris, nach dem Anschlag auf das Konzerthaus Bataclan auseinander. Es gelingt Ava nicht, zu dem Attentat Abstand zu gewinnen, obgleich sie in keiner Weise direkt davon betroffen ist. Sie versinkt immer tiefer in eine pessimistische Sicht auf die Welt, die ihr nur noch von Terrorismus und anderen negativen Erscheinungen geprägt zu sein scheint.“
„Und inwieweit hilft Ihnen das? Das verstehe ich nicht so recht …“
„Es ist keineswegs immer so, dass es die positiven Aussagen sind, die mich weiterbringen. Ich kann die Weltsicht der Hauptgestalt zwar verstehen, aber je mehr ich beim Lesen darüber erfahre, umso mehr überwiegt bei mir der Optimismus.“
„Das heißt, Sie relativieren die Erfahrungen und Erkenntnisse von Ava und gelangen so zu einer eher positiven Einschätzung.“
„Ja, so in etwa …“
Mit ihrer Haltung, sich auf schöngeistige Literatur, vor allem Romane, Dramen oder Gedichte, zu stützen, wenn es um Selbsthilfe geht, steht meine Bekannte keineswegs allein da. Das sieht man auch an den zahlreichen gängigen Lebensweisheiten, die bekannten Schriftstellern zugeschrieben werden. Seit Jahrhunderten und selbstverständlich auch heute noch, üben fiktionale Werke, also solche die überwiegend auf der Einbildungskraft der Autoren beruhen, einen großen Einfluss auf die Leserschaft aus. Vielleicht haben Sie sich schon einmal überlegt, inwieweit das Verhalten der Hauptfigur eines Romans oder eines Theaterstücks Ihnen als Vorbild dienen könnte oder sogar gedient hat. Ist es Ihnen noch nie passiert, dass Sie bei der Lektüre eines literarischen Werkes gedacht haben, so wie die Hauptfigur würde ich mich auf keinen Fall verhalten? Auch Ablehnung kann Selbsthilfe bedeuten.
In jedem Fall prägen diese Werke – unabhängig davon, ob die Leser sich Rechenschaft darüber ablegen – deren Identität, Persönlichkeit und Selbstbild. Viele Werke der Belletristik werden zu Bestsellern, weil sie einem Bedürfnis der Leserschaft entgegenkommen. Sie regen zur Empathie mit den Hauptgestalten an, wirken sinnstiftend und stellen letztlich eine Selbsthilfe dar. Deshalb empfiehlt der British National Health Service neben wissenschaftsorientierten Ratgeberbüchern auch die Lektüre von Romanen, Gedichten und Biographien als Stimmungsaufheller3.
Die Selbsthilfeindustrie, die außer Büchern u. a. Vorträge, Seminare, DVDs und vor allem das Coaching anbietet, wäre nicht das, was sie ist, hätte sie den Einfluss von schöngeistiger Literatur nicht frühzeitig für ihre Zwecke genutzt. Bereits 1998 veröffentlichte ein britischer Autor, Alain de Botton, einen Ratgeber, in dem er aufzuzeigen versucht, wie der französische Schriftsteller Marcel Proust, der um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gelebt hat, zur Veränderung eines jeden Lebens beitragen kann: How Proust Can Change Your Life4. De Bottons Ratgeber ist der erste Band einer Reihe Wie X Ihr Leben verändern kann, die sich auf die Weisheiten und Werke berühmter Persönlichkeiten stützt.
Sicher haben Sie schon selbst erfahren, dass eine Hauptschwierigkeit in der Auswahl der passenden Selbsthilfebücher besteht. Daher ist es hilfreich, einige Besonderheiten zu berücksichtigen. Schöngeistige Literatur ist ein wichtiger Auslöser von Veränderungen in Einstellung und Verhalten. Deshalb bereiten die Autoren von Ratgeberliteratur, wie angedeutet, die Werke berühmter Schriftsteller auf, um deren Potential für die interessierte Leserschaft augenfälliger zu machen. Das haben wir im vorigen Abschnitt am Beispiel von Selbsthilfebüchern der Reihe Wie X Ihr Leben verändern kann erfahren.
Die Belletristik beeinflusst aber nicht nur den Inhalt von Ratgebern, sondern auch deren Form. Manche Selbsthilfebücher kommen als Roman daher. Das muss kein Nachteil sein. Der amerikanische Bestsellerautor John Strelecky hat seit der Jahrtausendwende eine Reihe von Ratgebern in Romanform veröffentlicht, die in zahlreiche Sprachen übersetzt sind. Das erste Buch Das Café am Rande der Welt – Eine Erzählung über den Sinn des Lebens ist aufgrund einer Lebenskrise des Autors entstanden5. Die folgenden Romane knüpfen – ganz nach der Manier der Ratgeberliteratur – an den Erfolg des ersten Buches an, z. B. Wiedersehen im Café am Rande der Welt. Eine inspirierende Reise zum eigenen Selbst6. Es ist leicht nachvollziehbar, warum Streleckys Bücher das Publikum besonders ansprechen. Viele suchen nämlich nicht nur nach Hinweisen, wie sie kleinere oder größere Probleme in ihrem Leben in den Griff bekommen können. Sie wünschen sich vor allem eine unterhaltsame Lektüre. Lesen wir nicht alle von Zeit zu Zeit Texte oder ganze Bücher, weil sie spannend geschrieben sind, obgleich deren Inhalt für uns nicht wirklich von Belang ist?
Seit Jahrzehnten gehen Sinnstiftung und Lebenshilfe nicht mehr vorrangig von der schöngeistigen Literatur aus. Schon immer hat es Werke gegeben, die sich mit dem Leben des Menschen in der Welt auseinandersetzen, ohne auf fiktive Schicksale zurückzugreifen. In diesem Zusammenhang werden häufig die Autoren der griechischen und der römischen Antike genannt, allen voran Aristoteles. Er ist bis heute höchst einflussreich, wenn es um die Philosophie des Glücks geht (vgl. Kap. 4). Aber auch Werke der römischen Antike erfahren nach wie vor besondere Aufmerksamkeit, z. B. Ciceros Schrift De finibus bonorum et malorum (dtsch. Vom höchsten Gut und vom größten Übel / Über die Ziele des menschlichen Handels)7 oder Ovids Ars amatoria (dtsch. Liebeskunst). Dass die antiken Philosophen keineswegs ausgedient haben, zeigt auch der Beitrag eines amerikanischen Bloggers, Bydean Bokhari, der aufgrund einer persönlichen Sinnkrise ca. 450 (!) Selbsthilfebücher gelesen hat. Aus dieser Lektüre kristallisiert er 15 wissenschaftsorientierte Titel heraus, die er für empfehlenswert hält. Darunter befinden sich interessanterweise die Meditationen des römischen Kaisers Marcus Aurelius aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert: Meditations: A New Translation8 (vgl. Kap. 4).
Inzwischen wird die fiktionale Literatur deutlich von nonfiction abgegrenzt. Unter fictionversteht man literarische Werke wie Romane und Dramen, die auf der Vorstellungskraft der Autorin oder des Autors beruhen. Selbstverständlich orientieren sich auch Schriftsteller fiktionaler Werke am wahren Leben. Sie betten die reale Welt bzw. das, was sie dafür halten, jedoch in eine ganz oder teilweise erfundene Geschichte ein. Mit nonfiction hingegen bezeichnet man Werke, in denen Autoren ihre Sachkenntnis darstellen. Das kann auch in Form erzählender Einschübe (literary oder creative nonficition) geschehen. Das Anliegen von Verfassern nicht-fiktionaler Literatur besteht aber in erster Linie darin, die Leserschaft mit einem Sachverhalt vertraut zu machen.
Nonfiction wiederum ist im Wesentlichen in zwei Bereiche unterteilt, nämlich die Fachliteratur und die Sachliteratur. Um genau zu sein, gibt es eigentlich eine Dreiteilung von nonfiction, und zwar in Fachbücher, Lehrbücher und Sachbücher. Die Autoren von Fachbüchern sind in der Regel Wissenschaftler oder sonstige Experten, die komplexe Erscheinungen anhand wissenschaftlicher Erkenntnisse für ein Fachpublikum darstellen und erläutern. Im Unterschied zum Fachbuch richtet sich das Sachbuch an eine breite Leserschaft. Die Autoren machen es sich zur Aufgabe, einem Publikum ohne entsprechendes Fachwissen Informationen und Sichtweisen zu den verschiedensten Themen näher zu bringen. Seit der Mitte des 20. Jahrhundert sind Wissenschaftler sowie andere Experten zunehmend bereit, neben ihren Fachpublikationen auch populärwissenschaftliche Bücher zu veröffentlichen. Das hat nicht nur marktstrategische Gründe, sondern ist auch auf einen Wandel in der Akzeptanz zurückzuführen. Äußerte man früher im Kollegenkreis sein Missfallen, wenn Fachwissenschaftler sich in die Niederungen der Praxis begaben, bleibt ihr oder ihm seit einigen Jahrzehnten die Anerkennung nicht länger versagt. Die Fähigkeit, sich für jedermann verständlich auszudrücken, gilt inzwischen längst als Qualitätsmerkmal.
Im Rahmen der Sachliteratur nehmen Ratgeber eine besondere Stellung ein. Über Informationen hinaus wollen diese Selbsthilfebücher bei der Bewältigung ganz unterschiedlicher Probleme Hilfestellung geben. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels definiert Ratgeberliteratur wie folgt: „Ratgeber bereiten handlungs- und nutzerorientierte Themen für den privaten Bereich auf. Ratgeber vermitteln möglichst praxisnah und konkret Informationen zu allen Bereichen des Lebens.“9
Obgleich der Begriff Sachbuch schon vor ca. einhundert Jahren in die Diskussion eingeführt wurde, kamen Sachbücher in größerer Zahl erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf den Markt. Der Trend ging von den USA aus. Aus verschiedenen Gründen, die viel mit US-amerikanischer Kultur und Mentalität zu tun haben, ist die Entwicklung dort zum Teil anders verlaufen als im deutschsprachigen Raum. Bei uns hat der Boom der Selbsthilfeliteratur, so wie wir sie heute kennen, erst in den 1990er Jahren eingesetzt. In Deutschland ist der Umsatz von Sachbüchern zudem stark von der Art des Einbands abhängig. Im Sektor der festgebundenen Bücher (Hardcover) machen Sachbücher ca. 80 % der Neuerscheinungen aus. Bei den Softcover-Büchern (Taschenbuch oder Paperback) hingegen dominiert die Belletristik mit 54 %; Sachbücher erreichen hier nur 14 %10. Dennoch machen auch heute Sachbücher einen großen Teil der Publikationen aus, und fast jeder Verlag hat sie in seinem Programm. Es gibt sie zu allen erdenklichen Themen und in vielen verschiedenen Stilen.
Wenn Sie ein paar Zahlen kennen, haben Sie in Zukunft möglicherweise weniger Scheu, einen Ratgeber, der sie nicht anspricht, zur Seite zu legen und es mit einem anderen Buch zu versuchen. Vielleicht veranlasst Sie die wachsende Flut der Selbsthilfeliteratur aber auch dazu, ganz auf diese Bücher zu verzichten. Zum einen zeigen die steigenden Verkaufszahlen, dass die meisten Ratgeber nicht den gewünschten Erfolg zeitigen. Sonst müsste die Zahl der Publikationen eigentlich zurückgehen. Das setzt natürlich voraus, dass die Autoren, die einen Bestseller gelandet haben, nicht auf den Zug aufspringen und weitere Bücher zur Lösung (fast) aller Probleme veröffentlichen. Die anhaltende Flut von Ratgeberliteratur beruht also zum einen auf der weitgehenden Wirkungslosigkeit der Bücher und zum anderen auf der Geschäftemacherei vieler selbsternannter Experten und Gurus.
Im Jahr 2008 verteilte sich der Umsatz aller verkauften Sachbücher in Deutschland auf folgende Bereiche:
19,0 % Kochbücher
18,0 % Hobby, Freizeit, Natur
16,0 % Nachschlagewerke
13,7 % Ratgeber
11,6 % Bücher zu Gesundheit
10,6 % esoterische Themen
11,1 % restliche Themen11
Da die Verkaufszahlen vor allem im stationären Buchhandel, also den Buchhandlungen, im Gegensatz zum Online-Handel leicht rückläufig sind, startete der Börsenverein des Deutschen Buchhandels im Jahre 2016 eine Werbekampagne mit dem Titel Ratgeber. Ein wahres Umsatzvergnügen. Durch diese Initiative sollten Buchhandlungen dabei unterstützt werden, mit ihren Verkaufsstrategien stärker auf die Ratgeberliteratur zu fokussieren. Als Begründungen führt der Börsenverein folgende Überlegungen an:
Warum Sie Ratgeber verkaufen sollen …
… weil Ratgeber trendy sind.
… weil Ratgeber erfreulich hochpreisig sind.
… weil Ratgeber einen attraktiven Durchschnittspreis haben: 13,95 Euro.
… weil Ratgeber-Kunden Wiederholungstäter sind.
… weil Ratgeber im Umsatz zulegen, während andere Warengruppen verlieren.12
Wie Sie obigen Ratschlägen entnehmen können, wird nirgends gesagt, dass diese Bücher für die Ratsuchenden eine Hilfe darstellen. Im Gegenteil: Es wird positiv hervorgehoben, dass die Mehrzahl mehrere Selbsthilfebücherkauft, ganz offensichtlich doch, weil sie nicht die erhoffte Lösung bringen. Mit anderen Worten: Dadurch dass die meisten Ratgeberbücher nicht die erwünschten positiven Veränderungen bei den Hilfesuchenden hervorrufen, steigert sich, wie oben ausgeführt, die Zahl der entsprechenden Veröffentlichungen von Jahr zu Jahr.
Das Statistische Bundesamt beziffert den Anteil der Selbsthilfeliteratur für das Jahr 2017 auf 14, 3 %13. Diese Angabe bedarf der Gegenüberstellung zu anderen Fakten und Zahlen, damit ein einigermaßen sachgerechter Eindruck entsteht. Anfang 2019 verzeichnet Amazon.de zum Thema ‚Glück‘ circa 40.000 Titel. Damit werden aber nur Glücksratgeber im engeren Sinn erfasst. Zusätzlich gibt es ca. 5000 Titel, die eine Steigerung des Wohlbefindens in Aussicht stellen. In den USA sind die Zahlen weit höher, obgleich es im Gegensatz zum deutschsprachigen Raum zahlreiche Bücher sowie Zeitschriften- und Blogeinträge gibt, die auf die Nutzlosigkeit von Selbsthilfeliteratur hinweisen14. So verzeichnet Amazon.com über 50.000 Self-Help Books oder How-to Books zum Thema Happiness. Hinzu kommen ca. 40.000 Titel, die zu Well-Being verhelfen sollen. Da verwundert es nicht, dass Kolyanne Russ, eine bekannte Bloggerin, 2017 eine von ihr erstellte Liste anpreist: 50 Best Self-Help Books Of All Time That Will Change Your Life15.
Dass die Zahlen in den USA doppelt so hoch sind wie bei uns, liegt nicht nur an der größeren Einwohnerzahl und der weiteren Verbreitung im englischsprachigen Raum. Es hat noch andere Gründe:
Ein eher äußerer Grund, warum Amerikaner zur Selbsthilfeliteratur greifen, besteht darin, dass sie eine Psychotherapie für gewöhnlich aus eigener Tasche bezahlen müssen. Anders als bei uns, besteht jedoch keine Scheu, einen Therapeuten in Anspruch zu nehmen; es gilt sogar als Statussymbol.
Der Boom hat in den USA viel früher eingesetzt als bei uns. Bereits in den 1960er Jahren erreichten Self-Help Books exorbitante Verkaufszahlen, während eine ähnliche Flut bei uns erst in den 1990er Jahren einsetzte. Vorher wurde in Deutschland eher der äußerlich sichtbare Stil betont mit Büchern wie Schöner wohnen, Diegute Ehe oder Das Einmaleins des guten Tons.
Eine beträchtliche Zahl der englischsprachigen Ratgeber, insbesondere der US-amerikanischen, ist religiös inspiriert. Man bedenke, dass es sogar Blogeinträge gibt, die Pfarrern und Geistlichen Selbsthilfe anbieten, damit sie ihren anstrengenden Aufgaben besser gerecht werden können. Diese religiöse Ausrichtung hat dazu geführt, dass die verschiedenen Glaubensgemeinschaften ihre eigenen Vorstellungen propagieren.
Der Hauptgrund liegt jedoch in der amerikanischen Mentalität. Man ist gehalten, unter allen Umständen positiv zu denken (think positive). Es geht also beileibe nicht nur um Selbstverwirklichung, obgleich es, wie wir im Verlauf meiner Ausführungen noch sehen werden, schon schwer genug ist, Veränderungen im Rahmen der Persönlichkeit zu bewerkstelligen. Vielmehr ist Selbstoptimierung (self-improvement) angesagt. Die Devise lautet: Jeder kann alles erreichen, wenn er es nur richtig angeht und durchhält. Dabei wird übersehen oder verschwiegen, dass Menschen höchst unterschiedlich sind und nicht zuletzt von ihren äußeren Umständen abhängen. Wer es nicht schafft, ist selbst schuld, also: Smile or die!16
Was können Sie mit diesen Ausführungen anfangen? Warum sind sie wichtig? In den meisten Fällen kann auch die gelungene Übersetzung eines US-amerikanischen Self-Help Books ins Deutsche nicht über gewisse kulturelle Unterschiede hinwegtäuschen. Das kann man an zwei neueren Bestsellern aus den USA sehen.
Da ist zum einen Grit – Die neue Formel zum Erfolg: Mit Begeisterung und Ausdauer ans Ziel von Angela Duckworth17. Auf der Grundlage wissenschaftlicher Untersuchungen vertritt die Autorin die These, dass der IQ, die Ausgangsbedingungen oder Talent keine große Bedeutung haben, sondern dass man sogar ausschließlich mit der nötigen Begeisterung und Ausdauer alle Ziele erreichen kann. Die Autorin ist also dem amerikanischen Selbstoptimierungstrend verpflichtet. Dabei muss man in Rechnung stellen, dass Duckworth, Psychologin und Neurowissenschaftlerin, ihre Untersuchungen zum Teil mit Angehörigen des amerikanischen Militärs und Spitzensportlern durchgeführt hat, wo die nötige Einstellung und das Durchhaltevermögen stärker ausgeprägt sind als bei anderen Berufsgruppen bzw. dem Rest der Bevölkerung. Dennoch lassen sich Ergebnisse und Empfehlungen der Forscherin zum Teil auch auf den deutschsprachigen Kontext übertragen. Wie man wünschenswertes Durchhaltevermögen auf- und ausbauen kann, sehen wir in Teil II (Kap. 8).
In eine ähnliche Richtung wie Duckworth weist die Publikation von Carol S. Dweck Selbstbild: Wie unser Denken Erfolge und Niederlagen bewirkt18. Die Wissenschaftlerin hat im Rahmen ihrer jahrzehntelangen Forschungen mit ganz unterschiedlichen Probanden gearbeitet. Ähnlich wie bei Duckworth besteht die teilweise Fehleinschätzung – vielleicht ist es auch nur eine Verkaufsstrategie – letztlich darin, dass Erfolg nicht auf verschiedene Faktoren zurückgeführt wird, sondern ausschließlich auf das Selbstbild, die eigene Denkweise. Menschen, die sich immer wieder einreden, dass sie auch ohne Begabung alles erreichen können, wenn sie nur in die richtige Richtung denken, werden – so Dweck– auch Erfolg haben. Diese Haltung ist stark an Vorstellungen der Positiven Psychologie orientiert (vgl. Kap. 4). Auch hier gilt, dass man mit der passenden Denkweise eine Menge, aber eben nicht alles erreichen kann. Wie Sie entsprechende positive Ergebnisse mit Hilfe ihres Selbstbilds bewerkstelligen können, erörtern wir in Teil II (Kap. 8).
Wie oben ausgeführt, begann die eigentliche Veröffentlichung und Verbreitung von Sachbüchern nach dem zweiten Weltkrieg, und der erste Boom war in den USA Ende der 1960er Jahre zu verzeichnen. Dennoch gab es schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Ratgeberliteratur. Die bekanntesten Lifestyle-Bücher aus dieser Zeit stammen von Dale Carnegie. Sie erfreuen sich bis heute ungebrochener Beliebtheit.
Carnegie, 1888 geboren, stammte aus bäuerlichen Verhältnissen; die Mutter betätigte sich als Predigerin. Als Geschäftsmann, genauer gesagt als Reisevertreter, war Carnegie nicht sonderlich erfolgreich. Sein Wunsch, Schauspieler zu werden, ging nicht in Erfüllung. Schließlich bezog er Quartier in einem Heim des Christlichen Vereins Junger Menschen (Young Menʼs Christian Association/YMCA) in New York und überredete den Manager, ihm den Unterricht in einem Kurs anzuvertrauen. Carnegie wählte das Thema: Sprechen in der Öffentlichkeit. Dabei ging es ihm in erster Linie um die Stärkung des Selbstvertrauens. Diese Veranstaltung entwickelte sich in kurzer Zeit zu einem vielbesuchten Seminar, dem Carnegie schließlich den Titel gab: Public Speaking and Influencing Men in Business. Seinen Durchbruch feierte er 1936 mit der Veröffentlichung des Buches How to Win Friends and Influence People19. Als Carnegie 1955 starb, hatte er fünf Millionen Exemplare dieser Schrift, die in 31 Sprachen übersetzt wurde, verkauft. Das Dale Carnegie Institute verzeichnete im gleichen Zeitraum ca. 450.000 Absolventen. Noch heute werden auch im deutschsprachigen Raum entsprechende Kurse angeboten. Carnegies Associates haben es nicht versäumt, seinen Ratgeber ins digitale Zeitalter zu überführen. 2012 ist die an die Erfordernisse der Digitalisierung angepasste Version erschienen: How to Win Friends and Influence People in the Digital Age20.
In dem Ratgeber Wie man Freunde gewinnt: Die Kunst beliebt und einflussreich zu sein fokussiert Carnegie auf Geschäftstüchtigkeit und Überzeugungskraft21. Es geht ihm nicht um Selbstverwirklichung oder Selbstoptimierung (self-improvement), jedenfalls nicht vordergründig. Vielmehr zeigt er an zahlreichen Beispielen, wie man sich verhalten muss, um andere dazu zu bringen, das zu tun, was man möchte. Carnegies Hauptforderung lautet: Man muss sich in das Gegenüber hineinversetzen. Das erreicht man am besten, indem man selbst tatsächlich die Person verkörpert, die man zu sein vorgibt, nämlich ‚a well-adjusted character‘ (‚eine gut regulierte Persönlichkeit‘). Auf der Cover-Rückseite der deutschen Ausgabe von 2011 heißt es:
Dale Carnegie hat mit diesem Ratgeber ein bewährtes und immer noch hochaktuelles Werkzeug geschaffen, mit dem man
die Sympathie seiner Mitmenschen gewinnt
seine Beliebtheit und sein Ansehen steigert
ein guter Redner und besserer Gesellschafter wird
andere von sich überzeugt und mitreißt
Letztlich geht es also darum, dass wir unsere Reaktionen am Verhalten anderer Menschen ausrichten