39,99 €
In der Schule üben sich Schüler*Innen im selbstständigen Lernen. Selbstorganisation, Selbststeuerung und Selbstbestimmung spielen dabei eine zentrale Rolle. Das Konzept des Selbstorganisierten Lernens ist für Lehrende eine Möglichkeit, Schüler*Innen zu motivieren und zu einem erfolgreichen Lernen zu verhelfen. Aber wie gelingt die Umsetzung des Selbstorganisierten Lernens in der Schule? Welche Chancen ergeben sich für die Schüler*Innen? Und welche Nachteile und Risiken birgt das Konzept des Selbstorganisierten Lernens? Rebecca Wendel stellt in ihrer Publikation das Konzept des Selbstorganisierten Lernens dar. Dabei zeigt sie auf, wie Lehrende das Konzept erfolgreich in den schulischen Alltag integrieren und wie Schüler*Innen durch die Anwendung an Kompetenz und Eigenverantwortung gewinnen. Aus dem Inhalt: - Schulalltag; - Selbstorganisation; - Lernprozess; - Schüler; - Didaktik; - Kooperatives Lernen
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 275
Inhaltsverzeichnis
Abstract
Tabellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Theoretische Grundlagen
2.1 Fraktale als Organisationsform und lebende Systeme
2.2 Zum Begriff SOL
3 Selbstorganisiertes Lernen in der Praxis
3.1 Der Advance Organizer
3.2 Das Gruppenpuzzle und das Sandwichprinzip
3.3 Autonomie, Eingebundensein und Erfolg
3.4 Weitere didaktisch-methodische Prinzipien
3.5 Rahmenbedingungen
4 Ziele Selbstorganisierten Lernens und potentielle Gefahren
4.1 Empirische Befunde zu Selbstorganisiertem Lernen
5 Qualitative Inhaltsanalyse
5.1 Begründung der Forschungsmethode
5.2 Methode
5.3 Analysetechnik und Ablaufmodell
6 Zusammenstellung der Ergebnisse
6.1 Hauptkategorie 1: Begriffsverständnis
6.2 Hauptkategorie 2: Verankerung innerhalb der Einzelschule
6.3 Hauptkategorie 3: Ziele
6.4 Hauptkategorie 4: Chancen
6.5 Hauptkategorie 5: Risiken
6.6 Hauptkategorie 6: Bedingungen
7 Diskussion der Ergebnisse
7.1 Diskussion Hypothese 1
7.2 Diskussion Hypothese 2:
7.3 Diskussion Hypothese 3
7.4 Diskussion Hypothese 4:
7.5 Diskussion Hypothese 5
7.6 Gütekriterien
7.7 Ausblick
Literatur
Monographien/ Sammelbände
Onlinequellen
Zeitungen/ Magazine
Präsentationen/ Informationen/ Unveröffentlichtes
Anhang
Interview L1 GS
Interview L2 GS
Interview L3 GS
Interview L4 GS
Interview L5 GS
Interview L1 BBS
Interview L2 BBS
Interview L3 BBS
Interview L4 BBS
Interview L5 BBS
Interview L1 RS+
Interview L2 RS+
Interview L3 RS+
Interview L4 RS+
Interview L5 RS+
Interview L1 Gym
Interview L2 Gym
Interview L3 Gym
Interview L4 Gym
Interview L5 Gym
Die vorliegende Masterarbeit bietet zunächst einen theoretischen Zugang zu Selbstorganisiertem Lernen (SOL) im schulischen Kontext. Ziel ist es, den Begriff zu definieren und von didaktischen Konzepten wie dem Selbstgesteuerten und Selbstbestimmten Lernen abzugrenzen. Anschließend soll beschrieben werden, wie man das Konzept im schulischen Alltag praktisch umsetzen kann, welche Bedingungen hierbei eine Rolle spielen, welche Chancen Selbstorganisiertes Lernen für Lehrer, Schüler und Bildung im Allgemeinen bietet, aber auch welche Risiken sich hinter dem Konzept verbergen. Die Forschungsfrage Wie gelingt die Umsetzung Selbstorganisierten Lernens in der Schule und welche Chancen und Risiken ergeben sich dabei? soll schließlich qualitativ mittels leitfadengestützten Experteninterviews mit zwanzig praktizierenden Lehrpersonen untersucht und beantwortet werden.
Tabelle 1: Verankerung nach Art und Schulform
Tabelle 2: Ziele und deren Erreichung in Prozent
Abbildung 1: Dimensionen der Öffnung des Unterrichts. (Bohl & Batzel 2012, 44)
Abbildung 2: Gegenüberstellung lehrerzentrierter und selbstorganisierter Unterricht. (Landherr 2003)
Abbildung 3: SOkeL-Kurve (Haas 2015, 27)
Abbildung 4: Gestaltung eines Unterrichtsarrangements nach dem Sandwichprinzip (Landherr 2007)
Abbildung 5: Ziel- und Regelkreis. (Herold & Herold 2017, 42)
Abbildung 6: Allgemeines inhaltsanalytisches Ablaufmodell (Mayring 2015, 62)
Abbildung 7: Ablaufmodell zusammenfassender Inhaltsanalyse (Mayring 2015, 70)
Abbildung 8: Begriffsverständnis Selbstorganisierten Lernens
Abbildung 9: Art der Verankerung innerhalb der Einzelschule
Abbildung 10: Ziele Selbstorganisierten Lernens
Abbildung 11: Chancen Selbstorganisierten Lernens
Abbildung 12: Risiken Selbstorganisierten Lernens
Die Begriffe Selbstorganisation, Selbststeuerung und Selbstbestimmung haben in den letzten zehn Jahren Hochkonjunktur. Allerdings handelt es sich bei diesen Konzepten, die sowohl im pädagogischen als auch neuro- und bildungswissenschaftlichen sowie psychologischen Bereich und in schulischer Praxis Interesse geweckt haben, nicht um neue Ideen und Forschungsgebiete. Ansätze, die das Individuum in den Mittelpunkt pädagogischer Bemühungen und erfolgreichen Lernens stellen, gehen auf Ideale verschiedener Epochen sowie Reformpädagogen zurück: Von der Idee antiker Philosophen eines ganzheitlichen und selbstreflektierten Gebrauchs der Vernunft zur Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, über die Forderung der freien Persönlichkeitsentfaltung durch Bildung und Erziehung in der Renaissance bis hin zum neuzeitlichen Ideal des selbstbestimmten Handelns (vgl. Greif & Kurtz 1998). Auch gehen pädagogische Ansätze der Selbstbestimmung, -steuerung, -organisation und -verantwortung auf Reformpädagogen des 19. und 20. Jahrhunderts wie Maria Montessori und Rudolf Steiner zurück, die Individualität und Selbsttätigkeit in ihren pädagogischen Konzepten umsetzen (vgl. Herold & Herold 2017).
Anlässe diese Denk- und Handlungsweisen und somit auch das Konzept des Selbstorganisierten Lernens in die öffentlichen Schulen zu übertragen und im Unterricht umzusetzen, hängen größtenteils miteinander zusammen. Zu nennen sind hierbei Begriffe wie PISA, Neue Lernkultur, der Kompetenzbegriff und gesellschaftliche Dynamik. Ausgangspunkt die Effektivität und Nachhaltigkeit des deutschen Schulsystems sowie die Umsetzung von Unterricht und die darin ablaufenden Lehr-Lernprozesse neu zu überdenken und Reformen einzuläuten, waren internationale Vergleichsstudien wie PISA (Programme for International Student Assessment) und TIMSS (Trends in International Mathematics and Science Study), bei denen Deutschland nicht zu den Spitzenreitern im internationalen Vergleich gehörte. „Infolge dieser […] Ergebnisse der pädagogischen Forschung sind Forderungen nach Selbstständigkeit oder Selbststeuerung von Lernenden heute an der Tagesordnung“ (ebd. 42).
Auch etablierte sich aus gleichem Anlass eine neue Lernkultur, die sich durch zunehmende und akzeptierte Heterogenität, starke Binnendifferenzierung, Öffnung von Unterricht und individuellen Kompetenzerwerb auszeichnet (vgl. Paradies, Wester & Greving 2017). Bohl und Kucharz (2013) merken an, dass Unterrichtsöffnung zusammen mit der Förderung der Selbstständigkeit und Selbst- bzw. Mitbestimmung sogar als Voraussetzungen dieser neu etablierten Lernkultur gelten. Lehren und Lernen werden somit komplexer und zur Herausforderung von Lehrkräften, die mit zunehmender Heterogenität der Schülerschaft akzeptieren müssen, dass Synchronisiertes Lernen nunmehr nicht erfolgreich umsetzbar ist: „Aus dem ‚Lernen im Gleichschritt‘ wurde ein komplexerer Prozess, der auf pädagogische Diagnose beruht, die zu individualisierten Unterrichts- und Lernkonzepten führt, die wiederum auf Basis gestufter Kompetenzmodelle entwickelt werden“ (Paradies et al. 2017, 6).
Auch der Kompetenzbegriff hängt mit dem Konzept des Selbstorganisierten Lernens und dessen Entwicklung im schulischen Bereich zusammen. Schule soll Schüler[1] auf das Leben in der Gesellschaft vorbereiten. Schul- und Unterrichtsentwicklung gehen mit gesellschaftlicher Dynamik einher. Diese Veränderungen spiegeln sich in der Debatte um Selbstorganisiertes Lernen der letzten Jahre wieder (vgl. Faulstich 2002). Um gesellschaftsfähig zu werden, reicht reines Wissen nicht aus. Es muss in Können umgewandelt werden. Dieses Können findet Ausdruck in seiner überprüfbaren Umsetzung und Anwendbarkeit des Wissens durch die erworbenen Kompetenzen, die Wissen und Können vereinen, indem sie als „[…] wissensbasierte Fähigkeiten und Fertigkeiten […] eine erfolgreiche Bewältigung bestimmter Situationen ermöglichen“ (Niggli 2013, 104). Herold und Herold (2017) wie auch Erpenbeck und Heyse (1999) sind sich einig: Selbstorganisiertes Lernen stellt eine zentrale Voraussetzung von Kompetenzerleben und -entwicklung in der Schule dar. Letztere definieren Kompetenzen sogar als „Selbstorganisationsdispositionen“ des Individuums (ebd., 26). Handlungen werden in der Regel selbst organisiert. Dass das Individuum dazu fähig ist, hängt von unterschiedlichen Kompetenzen ab (Fach-, Methoden-, Sozial-, und Individualkompetenz), die in allgemeine Handlungskompetenzen münden und integriert werden (vgl. ebd.). Eben diese Handlungsorientierung, Kompetenz- und Motivationsförderung und selbstbestimmtes, eigenverantwortliches und kooperatives Arbeiten sowie die Erziehung zur Mündigkeit werden von der Kultusministerkonferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (2014) in den Standards für Lehrerbildung gefordert und sind zentrale Aspekte von Selbstorganisiertem Lernen. Sie ermöglichen gleichzeitig die Vorbereitung auf gesellschaftliche Teilhabe, auf das Leben nach der Schule und im Beruf:
„Die Schule hat die Aufgabe, zwischen den gesellschaftlichen Zielen und den selbstorganisierten Lernprozessen der Individuen eine Verbindung herzustellen, die für jeden Einzelnen Sinn ergibt. Dieser Sinn misst sich wiederum daran, ob eine noch bessere Anpassung an die Umwelt dadurch möglich wird“ (Herold & Herold 2017, 68).
Hieraus wird die Verbindung zwischen Selbstorganisiertem Lernen und Motivation deutlich. Lernen ist ein natürlicher Prozess, der sich aus der Motivation ergibt etwas lernen zu wollen. Diese Motivation fußt in dem Sinn, den das Individuum in einem Lernprozess sieht. Erkennt das Individuum, dass die erworbene Kompetenz einen Nutzen im realen (gesellschaftlichen) Leben hat, wird es bereit sein, sich das Wissen darüber selbst anzueignen und wird schließlich auf spätere Herausforderungen besser vorbereitet sein (vgl. Herold & Herold 2017). Haben Schüler zudem eine ausgeprägt wahrgenommene Selbstwirksamkeit, dann lässt sich festhalten, „[j]e positiver die Erwartungshaltung, desto motivierter und handlungsaktiver gehen Menschen an Aufgaben und Entscheidungen heran und desto erfolgreicher kann das Ergebnis gelingen“ (Brackhahn 2004, 10). Das Ergebnis stellt schließlich das anwendbare Wissen, sprich die erworbene Kompetenz und Schlüsselqualifikationen dar, die auch in zahlreichen Unternehmen und in der Berufswelt im Allgemeinen gefordert werden: Teamfähigkeit, soziale Kompetenz und die Fähigkeit die eigenen Arbeit selbst zu organisieren (vgl. Greif 1998). Auch Fach- und Methodenkompetenz werden benötigt, wenn verlangt wird, dass man sich neues Fachwissen sowie Arbeitsmethoden schnell und selbstständig aneignet. Nicht nur die Gesellschaft und deren Anforderungen sowie Lebensbedingungen sind ständigen Veränderungen ausgesetzt. Auch die Arbeitswelt ist von Komplexität geprägt. So gibt es ständig neue, innovative und weiterentwickelte Techniken, an die sich Unternehmen, Industrie, Arbeitgeber und -nehmer stets anpassen müssen. Je besser dies gelingt, desto erfolgreicher zeichnen sich individuelle und unternehmerische Erfolge aus. (vgl. Erpenbeck & Heyse 1999)
Aus diesen Erkenntnissen entwickelte sich das Konzept des Selbstorganisiertes Lernen, als Lösung, die diesen Anforderungen gerecht wird (vgl. Herold & Herold, 2017). Immer mehr sogenannte SOL-Schulen werden eingerichtet, wie die Robert-Bosch-Schule in Homburg. Dort wurde zudem eine Studie geführt, um Effekte des Konzeptes aufzuzeigen, die sich vor allem auf emotionale und individuelle Aspekte wie Lernbereitschaft, intrinsische Motivation und Schulklima stützt (vgl. Krick 2016). Insgesamt existieren nur wenige Studien und diese auch nur im deutschsprachigen Raum (vgl. Sembill et al. 2007). Häufig werden Effekte aufgezeigt sowie Chancen herausgearbeitet und dadurch Risiken aufgedeckt. Demnach ist es interessant zu erfahren, ob sich die Chancen und Risiken aus bisheriger Forschung, die sich häufig aus einer Prozessbegleitung ergeben, in denen hauptsächlich die Schüler und deren Erleben im Mittelpunkt stehen, mit denen, die die befragten Lehrpersonen nennen, decken (vgl. Krick 2016, Sembill et al. 2007). Wie Praktizierende, also Lehrpersonen, Selbstorganisiertes Lernen erleben und einschätzen, bleibt offen. Es stellt sich die Frage, ob die Chancen und Risiken, die sich gemäß Lehrererfahrungen ergeben, mit denen der bisherigen Forschung übereinstimmen. Diese basieren auf Leistungstests und Fragebogen (vgl. Krick 2016). Daten zu Selbstorganisiertem Lernen, die sich aus Experteninterviews ergeben, wie es in der vorliegenden Arbeit der Fall ist, wurden bisher nicht erhoben.
Nicht alle Lehrpersonen vertrauen in Selbstorganisiertes Lernen und sind auf Anhieb bereit das Konzept umzusetzen (vgl. Herold & Herold 2017). Dennoch werden immer mehr SOL-Schulen eingerichtet oder mit einem entsprechenden Zertifikat ausgestattet (vgl. Cortex 2014). Es ist eine Gradwanderung zwischen der notwendigen Anpassung der Schule an gesellschaftliche Anforderungen, bestehender Skepsis und mangelnder empirischer Befunde, die dieser entgegenwirken und einem Konzept, das komplexer ist als traditioneller Frontalunterricht, was im Folgenden noch deutlich wird.
Schließlich stellen sich Praktiker, Skeptiker und Forschende sicherlich die Frage, welche Chancen sich tatsächlich aus Selbstorganisiertem Lernen ergeben, damit verdeutlicht werden kann, dass sich dieser Einsatz lohnt und rechtfertigen lässt. Auch fehlen gänzlich Forschungsansätze, die aufzeigen, wie das Konzept gelingen kann, um Gefahren zu bannen und die Umsetzung zu erleichtern.
Diese Punkte sollen in der vorliegenden Arbeit näher beleuchtet werden, indem zunächst auf theoretische Hintergründe, die in der Natur des Menschen fußen, eingegangen wird, um darin Ansätze zur Begriffsdefinition offenzulegen. Hierbei sollen die bereits genannten Konzepte des Selbstorganisierten, Selbstbestimmten und Selbstgesteuerten Lernens abgegrenzt werden, um so Missverständnisse und Überschneidungen zu relativieren und einzugrenzen. Im Anschluss kann schließlich die Praxis Selbstorganisierten Lernens mit seinen Grundpfeilern, Rahmenbedingungen und Anforderungen verdeutlicht werden, die sich größtenteils aus den theoretischen Hintergründen des ersten Teils entwickeln. Hierbei werden schon Bedingungen genannt, die das Gelingen des didaktischen Konzeptes unterstützen. Schließlich sollen daraus Effekte als Chancen und Risiken abgeleitet werden, die zunächst auf Hypothesen mehrerer Autoren beruhen und teilweise in empirischen Befunden fußen. Darauf folgt der zweite Teil der Arbeit, die Qualitative Inhaltsanalyse, die in der Methode des leitfadengestützten Experteninterviews fußt und deren Vorgehen sich an Philipp Mayrings (2015) regelgeleiteten Techniken orientiert. Schließlich soll die Forschungsfrage Wie gelingt die Umsetzung Selbstorganisierten Lernens in der Schule und welche Chancen und Risiken ergeben sich dabei?
Die Grundidee von Selbstorganisiertem Lernen (SOL) beruht schließlich auf dem Prinzip der fraktalen Organisation, das sich bereits in modernen Unternehmen etabliert und bewährt hat. Wenn auch Unterricht nach dem Prinzip der fraktalen Organisation gestaltet wird, werden Schüler dazu befähigt, individuell, zielorientiert und selbstständig Aufträge im Hinblick auf vereinbarte Ziele zu erfüllen und sich die Zeit hierfür selbst einzuteilen. Das Prinzip stellt einen Lern- und keinen Lehrprozess dar. Fraktale sind wiederkehrende Strukturen, die sich größtenteils selbstständig organisieren. Sie sind in der Natur zu beobachten (Blutgefäße, Bäume, Schneeflocken usw.). Ihre Eigenschaften sind Selbstähnlichkeit, Zielorientierung und Selbstoptimierung. Martin Herold (2017) übertrug diese wissenschaftlichen Erkenntnisse des Naturwissenschaftlers Benoît Mandelbrot, die sich bereits in Unternehmen, geprägt durch Hans-Jürgen Warnecke, etabliert hatten, auf Lernprozesse im Unterricht. Ausgangspunkt sind wieder Fraktale, hier die Klasse oder die Lerngruppe. Diese besitzen dieselben Eigenschaften wie die Fraktale, die in der Natur vorzufinden sind und werden als Selbstorganisationsprinzipien auf Lernprozesse angewandt (vgl. ebd.), „[w]erden diese Prinzipien auf Unterricht übertragen, ersetzen sie die zentralen Steuerungsimpulse der Lehrenden und ermöglichen somit selbst organisiertes Lernen.“ (Clausen & Landherr 2003). Sie müssen wirksam werden, um Chaos zu vermeiden, was im Verlauf dieser Arbeit noch deutlich wird, wenn es um Selbstorganisiertes Lernen in der Praxis geht.
Dass Menschen generell dazu fähig sind, sich selbst zu organisieren, fußt in dem systemisch-konstruktivistischen Ansatz, der den Mensch als natürliches, lebendes und kognitives System begreift. Natürliche Systeme sind ohne äußeres Einwirken entstanden, schließen sich zusammen, wenn es ihnen zum Überleben dienlich ist und verändern sich oder passen sich selbstorganisiert ständig ihrer Umwelt an. Dadurch sind sie lernfähig. Auch wenn Menschen und die Gesellschaft im Allgemeinen dazu fähig sind sich selbst zu organisieren, erfahren sie meistens Steuerungsimpulse von außen, die die Selbstorganisationsfähigkeit ergänzen. Diese Steuerungsimpulse können Regeln, Verordnungen, Strafen oder Instruktionen der Lehrperson sein. Um die Klasse und deren einzelne Schüler selbstorganisationsfähig zu machen, sind die sogenannten Selbstorganisationsprinzipien notwendig (vgl. Herold & Herold 2017). Wie bereits erwähnt werden durch deren Wirksamkeit Steuerungen von außen nebensächlich. Dennoch gilt:
„Selbstorganisiertes Lernen heißt nicht »Schüler ohne Lehrer«, sondern ein systematisches Umdenken und Einführen der Selbstorganisationsprinzipien Selbstähnlichkeit, Zielorientierung und Selbstoptimierung. Sich selbst organisierende Systeme orientieren sich an Zielen und brauchen keine externe Steuerung. (Zielorientierung) Diese Zielorientierung liegt allen Konzepten von SOL zugrunde. Sie gibt Orientierung, Sicherheit und Freiraum in sich wandelnden Umgebungen“ (ebd. 46ff).
Im pädagogischen sowie im didaktischen Bereich taucht immer häufiger das Präfix selbst- auf, wenn man von verschiedenen Formen des Lernens spricht: Selbstorganisiertes, Selbstreguliertes und Selbstbestimmtes Lernen. Häufig sind diese Begriffe nicht immer eindeutig abzugrenzen und werden synonym verwendet. Sie deuten alle drei auf Möglichkeiten hin, wie Schüler und Lehrer Lernprozesse gestalten. (vgl. Faulstich 2002) Auch verweist bei allen drei Begriffen das Präfix auf die Diskrepanz zu einem weiteren Lernkonzept: dem Fremdbestimmten Lernen. Beim Fremdbestimmten Lernen entscheidet der Lehrer über Organisation, Methodik, individuelle Ziele sowie Inhalte des Unterrichtes (vgl. Bohl & Kucharz 2013). Auch wenn die Bedeutung der Begriffe sowie die Intention dieser drei Lernkonzepte Parallelen aufweisen, sind sie nicht genau dasselbe. Neben dieser Unterscheidung existieren zahlreiche weitere, sich gegenüberstehende Begriffe, zwischen deren Pole sich die oben genannten Lernformen einordnen lassen:
Systemisch-konstruktivistisches Lernen vs. Linear-kausales Lernen
System-konstruktivistisches Lernen weicht von der Ansicht ab, dass Lernen immer eine Folge von Lehren ist, also hauptsächlich vom Lehrer in eine Richtung geht: Der Lehrer gibt Methoden vor, stellt Lern- und Lösunngswege parat, sodass der Lernerfolg der Schüler schließlich auf die Organisation des Lehrers zurückzuführen ist. Bekommen Schüler jedoch zu Beginn des Lernprozesses einen Überblick über diesen, können sie Vorwissen und neues Wissen vernetzen. Die Linearität wird aufgehoben, sodass Schüler ihre Lernwege gemäß ihrer individuellen Voraussetzungen bilden und organisieren können. Beim Systemisch-konstruktivistischen Lernen werden Vorwissen und neues Wissen vernetzt. (vgl. Herold & Herold 2017)
Positionales vs. Dispositionales Lernen
Positionales (angestrebtes) Lernen richtet sich nach fremd- oder selbstgesetzten und -gesteuerten Lernzielen, wohingegen Dispositionales Lernen weniger das Ziel, als die Voraussetzungen und Eigenschaften zur Erreichung dieses Zieles der Lernenden im Blick hat, diese werden erweitert oder vertieft, wobei der Lernende, „[…] einer Vielzahl vorab nicht festliegender, nicht einmal erahnbarer Handlungsmöglichkeiten gegenüber [steht]. Seine Zukunft ist offen“ (Erpenbeck & Heyse 1999, 130).
Kollektives vs. Kooperatives Lernen vs. Individualisiertes Lernen
Kollektives Lernen bedeutet Lernen im Plenum oder in der Gruppe. Der gleiche Lernstoff wird von allen Schülern gleichermaßen in seiner Gesamtheit erarbeitet und zusammengetragen. Beim Kooperativen Lernen dagegen bearbeitet jedes Gruppenmitglied zu einem Thema mehrere Subthemen, die anschließend zu einem Ganzen zusammengefügt werden. Somit entsteht eine wechselseitige Abhängigkeit. Schüler sind für den Wissenserwerb ihrer Gruppemitglieder verantwortlich und umgekehrt und nur so kann das Thema in seiner Gänze erarbeitet werden. (vgl. Haas 2015) Ausgangspunkt beim Individualisierten Lernen sind die individuellen Lernvoraussetzungen oder Interessen der Schüler, gemäß derer die Lehrperson individuelle Lernangebote zur Verfügung stellt (vgl. Bohl, Batzel & Richey 2012).
Frontalunterricht vs. Offener Unterricht
Frontalunterricht ist weitestgehend fremdbestimmt. Schüler haben keinen bis wenig Einfluss auf die Ausgestaltung des Unterrichtes, auf Methoden, Inhalte und Ziele. Diese liegen weitestgehend in der Hand und der Verantwortung der Lehrperson. Die Vermittlung fachlicher Inhalte steht im Vordergrund (vgl. Herold & Landherr 2013). Wie oben bereits beschrieben, nimmt „[…] das Ausmaß der Selbst- und Mitbestimmungsmöglichkeiten der Schülerinnen und Schülern, etwa in organisatorischer, methodischer, inhaltlicher und politisch-partizipativer Hinsicht“ (Bohl & Batzel 2012, 50) mit der graduellen Öffnung von Unterricht zu.
Abbildung 1: Dimensionen der Öffnung des Unterrichts. (Bohl & Batzel 2012, 44)
Abbildung 1 zeigt den Unterschied zwischen Geöffnetem und Offenem Unterricht, der sich aus Rahmenbedingungen ergibt. Wie aus ihr hervorgeht, stellt Selbstorganisation im Unterricht noch keinen Offenen Unterricht dar. Durch die Möglichkeit organisatorischer und methodischer Mitbestimmung, d.h. bei zeitlichen und örtlichen Rahmenbedingungen sowie bei Lernwegen, öffnet sich der Unterricht partiell. Je mehr Selbstbestimmung die Schüler am Unterricht haben, desto eher kann man ihn als offen charakterisieren. Bohl und Batzel (2012, 51) bezeichnen den Übergang von Geöffneten zu Offenem Unterricht als „Quantensprung“, der sich durch die aktive Beteiligung der Schüler an inhaltlichen Aspekten, wie Themen und Aufgaben, Regeln und Abläufen, ergibt, was im Folgenden noch deutlicher wird.
Selbstgesteuertes Lernen bedeutet, dass Schüler ihren Lernprozess größtenteils selbstbestimmt in Richtung ihres selbst- oder fremdgesetzten Lernzieles planen, steuern und kontrollieren. Deitering (1998, 45) charakterisiert Selbstgesteuertes Lernen als „[…] Oberbegriff für alle Lernformen, in denen die Lernenden ihren Lernproze[ss] weitgehend selber bestimmen und verantworten können.“ Dem Lernenden werden mehr Handlungsspielräume eingeräumt, somit kann er „[…] die wesentlichen Entscheidungen, ob, was, wann, wie und woraufhin er lernt, gravierend und folgenreich beeinflussen […]“ (Weinert 1982, 102). Neber (1978, 22) bezeichnet Lernprozesse, die komplett selbstgesteuert sind als „Idealvorstellung“. Somit ist Selbstgesteuertes Lernen nie ganz zu erreichen, insofern sich schulisches Lernen nie völlig ohne Fremdsteuerung durch beispielsweise Schulpflicht, Lehrpläne oder Lehrer vollzieht (vgl. Reinmann-Rothmeier 2003). Inwieweit Schüler ihren Lernprozess selbst steuern, hängt von der Fähigkeit respektive Lernkompetenz und deren Bereitschaft ab, sprich inwieweit sie motiviert sind zu lernen (vgl. Deitering 1998).
Im Hinblick auf Abbildung 1 zu den Dimensionen der Öffnung von Unterricht lässt sich Selbstgesteuertes Lernen zwischen Selbstorganisiertem Lernen und Selbstbestimmten Lernen einordnen. Was Selbstorganisiertes Lernen von Selbstgesteuertem Lernen und gleichzeitig auch von Selbstbestimmtem Lernen unterscheidet, ist der inhaltliche Aspekt. Demnach merken Herold und Landherr (2003, 6) an, dass „SOL […] sich inhaltlich an den gültigen Lehrplänen [orientiert] und sollte aus diesem Grund nicht mit selbstbestimmtem oder selbstgesteuertem Lernen gleichgesetzt werden.“ Auch wenn den Lernenden bei selbstgesteuerten Lernprozessen mehr Verantwortung, Entscheidungs- und Handlungsfreiheit auch auf inhaltlicher Ebene eingeräumt wird, können sie diese höchstens beeinflussen oder haben in nur Teilbereichen Entscheidungsfreiheit. Vollkommene Entscheidungsfreiheit kommt ihnen erst bei selbstbestimmten Lernprozessen zu, in denen dem Lernenden auf allen Ebenen der Unterrichtsöffnung maximale Verantwortung zuteilwird, also in organisatorischer, methodischer, inhaltlicher und politisch-partizipativer Hinsicht, d.h. im Hinblick auf beispielsweise Zeitmanagement, Sozialform, Inhalt, Unterrichtsablauf und Regeln (vgl. Greif & Kurtz 1998). Betrachtet man sich die beiden Definitionen des Selbstgesteuerten und Selbstbestimmten Lernens, so kommt man zu der Annahme, dass rein Selbstgesteuertes Lernen gleichzeitig Selbstbestimmtes Lernen darstellt, insofern letzterem, wie es Greif und Kurtz (1998) definieren, die Fremdsteuerung, durch das Zukommen maximaler Entscheidungsfreiheit fehlt. Da es Selbstbestimmtes Lernen so nicht geben würde und es diesem Anspruch nicht standhalten könnte, fügt Peschel (2005) bei der Definition Offenen Unterrichts, der durch Selbstbestimmung geprägt ist, hinzu, dass diese durch einen offenen Lehrplan sowie Mitbestimmung bei der Klassenführung, Unterrichtsgestaltung und bei Regeleinführungen eingeschränkt wird.
So ist Selbstbestimmtes Lernen immer zugleich Selbstgesteuertes Lernen und beides wiederrum immer Selbstorganisiertes Lernen (vgl. Deitering 1998). Der Grad der Selbstbestimmung steigt mit dem Grad der Öffnung von Unterricht hinsichtlich der vier genannten Dimensionen. Somit ist Selbstbestimmtes Lernen eine Zielvorstellung. Gleichzeitig zeichnet sich Selbstbestimmtheit beim Lernen aber auch als Mittel aus, mit dessen Hilfe Schüler sich von fremdbestimmten Lernprozessen distanzieren und ihren Lernprozess selbst in die Hand nehmen (vgl. Bohl 2010). Faulstich (2002, 62) bringt die oben beschriebene begriffliche Unterscheidung durch folgende Erläuterung auf den Punkt:
„Selbstbestimmtheit im Lernen richtet sich also auf die Interessen der Lernenden und deren Probleme. In einem umfassenden Sinn kann man deshalb von „selbstbestimmtem Lernen“ reden, das thematische Relevanz (Auswahl der Lerngegenstände), organisatorisch-methodische Aspekte (dies wird betont, wenn man von „selbstorganisiertem Lernen“ redet) und intentionale Kriterien (dies wird bei „selbstgesteuertem Lernen“ hervorgehoben) übergreift. Es geht um die interessengeleitete, aktive Aneignung von Welt durch die handelnde Person.“
Auch wenn Selbstgesteuertes Lernen zugleich Selbstorganisiertes Lernen darstellt, bedeuten beide Begriffe nicht dasselbe, wie im vorherigen Kapitel schon angeschnitten wurde. Greif und Kurtz (1998, 45) unterscheiden beide Lernformen wie folgt: „Von selbstorganisiertem Lernen wird bereits gesprochen, wenn die Lernenden einen vorgegebenen Lernstoff selber aktiv strukturieren und ordnen […]. Als Selbstgesteuertes Lernen sollte eine Lernform nur dann bezeichnet werden, wenn die Lernenden über Aufgaben, Methoden und Zeitaufwand zumindest mitentscheiden können.“ Auch die Komponente Ziel ist wichtig, um beide Begrifflichkeiten zu unterscheiden. Somit fokussiert der Lernende bei Selbstgesteuertem Lernen ein festgelegtes Ziel an, dieses muss von vorneherein klar sein, der Weg dorthin kann schließlich mitbestimmt werden (vgl. Neber 1978). Bei Selbstgesteuertem Lernen können während dem Lernprozess Strategien verändert werden, damit das Ziel erreicht wird. Bei Selbstorganisiertem Lernen geht es weniger um die Zielerreichung, als um Kompetenzerwerb und Handlungsmöglichkeiten dazu. Nach dem Motto „Der Weg ist das Ziel“ handeln Lernende gemäß ihrer Dispositionen (Anlagen, Bereitschaften, Fähigkeiten, Voraussetzungen). Ziel ist es diese vielfach zu erweitern (vgl. Erpenbeck & Sauer 2001).
Den bisherigen Lernformen lassen sich beide Konzepte wie folgt zusammenfassend zuordnen:
· Selbstgesteuertes Lernen: System-konstruktivistisches, Positionales Lernen, methodische, organisatorische und inhaltliche Öffnung von Unterricht.
· Selbstorganisiertes Lernen: System-konstruktivistisches, Dispositionales Lernen, methodische und organisatorische Öffnung von Unterricht.
Wenn Lernen laut Herold und Herold (2017) immer selbstorganisiert ist, dann lässt sich auch die Aussage von Euler und Lang (2006) bestätigen, dass selbstgesteuerte Lernprozesse auch selbstorganisierte miteinschließen. Insgesamt bedeutet Lernen Veränderung und zwar dahingehend, dass Individuen sich den Veränderungen der Umwelt anpassen, um so zu überleben (vgl. Herold & Herold 2017).
Diese Definition von Lernen führt wieder zum Kompetenzbegriff und gleichzeitig zum Ziel selbstorganisierter Lernprozesse, nämlich der Kompetenzerweiterung und -vertiefung, kurz: „Meist sollen Schüler schlussendlich einfach dazu in der Lage sein, sich im Leben so gut wie möglich zurechtzufinden“ (ebd., 42).
Aus sozialwissenschaftlicher Sicht organisiert der Mensch sein Leben nach drei Prinzipien: Zielorientierung, Selbstoptimierung und Selbstähnlichkeit. Durch die Integration und Übertragung dieser natürlichen Prinzipien in die pädagogische Ausgestaltung schulischer Lernprozesse, ist Selbstorganisiertes Lernen möglich. Vom Negativen ins Positive definiert, ergibt sich also,
„[…] dass Selbstorganisiertes Lernen nicht bedeutet, dass Schüler ihren Lernalltag inhaltlich und formell selbst organisieren, sondern dass die Selbstorganisationsprinzipien von Systemen […] im pädagogischen Alltag und bei Lernprozessen berücksichtigt werden. Es geht um eine sinnvolle Kombination aus Instruktion und Konstruktion, aus der individuellen Förderung des Einzelnen, ohne den Gesamtkontext Gesellschaft auszublenden“ (ebd., 43).
Hierbei werden wieder zwei Diskrepanzen deutlich, die sich bei genauerer Betrachtung allerdings ergänzen. Zum einen die Diskrepanz der Instruktion und Konstruktion, sprich, dass Selbstorganisiertes Lernen nicht ohne Steuerung von außen auskommt, was, wie im vorherigen Teil bereits angesprochen wurde, durch Lehrkräfte und Lehrpläne geschieht und gleichzeitig die Abgrenzung zu selbstgesteuerten Lernprozessen ausmacht. Instruktionsphasen ergeben sich durch die veränderte Rolle der Lehrperson in selbstorganisierten Lernprozessen als Lernbegleiter, der Anweisungen gibt, Hilfestellung leistet, Zusammenhänge verdeutlicht, Ergebnisse festhält und Fehler korrigiert. Der Begriff Konstruktion bedeutet, dass Schüler sich an die veränderte Umwelt anpassen (vgl. ebd.). Durch die Auseinandersetzung mit dieser konstruieren sie sich ihre eigene Wirklichkeit und entwickeln dabei Kompetenzen. Dies geschieht individuell und vom Lernenden selbst aus, denn „Kompetenzentwicklung kann nicht gelehrt werden. Sie ist eine individuelle Konstruktionsleistung“ (Mattes 2017, 10f). Die Instruktion dient demnach dem Ziel die Kompetenzentwicklung, als Konstruktionsleistung, zu fördern (vgl. ebd.).
Zudem benötigen Lernprozesse eigentlich keine Steuerung von außen, wenn das Prinzip der Zielorientierung wirksam ist (vgl. Herold & Herold 2017). Zielorientierung bedeutet, dass Schüler oder Gruppen von Schülern ein Ziel haben, an dem sie sich orientieren. Auch wenn bei Dispositionalem Lernen weniger das Ziel im Vordergrund des Lernprozesses steht, sondern vielmehr die Voraussetzungen dieses zu erreichen, muss es dennoch ein Ziel als Anlass geben. Das allgemeine Bestreben natürlicher Systeme stellt das Überleben dar und zwar mit so wenig Aufwand wie möglich. Dank der Erweiterung der Dispositionen und des Kompetenzerwerbes fällt es Individuen leichter, sich in der Gesellschaft zurechtzufinden und somit zu überleben. Durch das Prinzip der Selbstähnlichkeit, d.h. mithilfe wiederkehrender Strukturen wie Regeln und Routinen, kann der Mensch leichter darauf zurückgreifen.
Zusammen mit dem dritten Prinzip der Selbstoptimierung, der stetigen Reflexion, kann der Weg zur Zielerreichung optimiert und Rahmenbedingungen verändert werden. Werden diese Prinzipien vom Lehrer erkannt, akzeptiert und auf schulische Lernprozesse durch Bereitstellung entsprechender Bedingungen übertragen, kann der Lehrer sich als zentrale Steuerung zurücknehmen und stattdessen zu einem Lernbegleiter oder -helfer werden, dann ist Selbstorganisiertes Lernen möglich (vgl. ebd.).
Der Begriff Lernbegleiter findet sich in der oben angeführten Definition Selbstorganisierten Lernens in dem Termini Förderung wieder. Die Instruktion der Lehrperson dient dazu das Individuum bei der Konstruktion der Wirklichkeit zu fördern, d.h. zu unterstützen. Diese Förderung muss allerdings nicht nur vom Lehrer ausgehen. Durch kooperative Lernarrangements verändern sich zudem die Rollen der Schüler untereinander. Diese werden zu Lernpartnern. Zudem findet ein Wechsel von Kollektivem zu Kooperativem Lernen statt. Die Förderung des Individuums stellt schließlich kein Individualisiertes Lernen, wie es zuvor angeschnitten wurde, dar. Kunze (2008, 18f) verdeutlicht den Unterschied zwischen Individualisiertem Lernen und individueller Förderung, wie es bei selbstorganisierten Lernarrangements stattfindet. Sie definiert letztere wie folgt:
„Unter individueller Förderung werden alle Handlungen von Lehrerinnen und Lehrern und von Schülerinnen und Schülern verstanden, die mit der Intention erfolgen bzw. die Wirkung haben, das Lernen der einzelnen Schülerin/ des einzelnen Schülers unter Berücksichtigung ihrer/ seiner spezifischen Lernvoraussetzungen, -bedürfnisse, -wege, -ziele und -möglichkeiten zu unterstützen.“
ndividuell gefördert werden Schüler demnach beim Ausbau ihrer persönlichen Dispositionen durch andere. Zentral sind hierbei am Lernprozess beteiligte Personen, wie die Lehrkraft und die Mitschüler und die Frage, wie der einzelne Schüler optimal gefördert werden kann.
Beim Individualisierten Lernen werden die Dispositionen zunächst genau erfasst und anschließend ein auf den Lernenden angepasstes Lernangebot bereitgestellt bzw. ein Lernangebot aus mehreren vom Lernenden selbst gewählt. Im Mittelpunkt stehen also der Lernenden und die diagnostische Frage, was ihm angeboten werden kann (vgl. ebd.).
Diese veränderte Rolle von Schülern und Lehrer zeigt sich auch in der Planung und Gestaltung von Unterrichtstunden. In selbstorganisierten Lernprozessen ist es nicht mehr möglich jeden Schritt und jede Handlung im Unterricht vorauszusehen. Die Schüler planen und strukturieren ihren Lernprozess gemäß ihrer Kompetenzen selbst. Der Lehrer bietet Hilfe und Unterstützung wo dies notwendig ist. Wer, wann und in welchem Ausmaß Hilfe benötigt, ist demnach nicht voraussehbar. Kühl (2015) merkt hierzu an, dass eine gewisse Instabilität eine Voraussetzung darstellt, damit Individuen Selbstorganisationsfähigkeiten erwerben. Er geht hierbei auf wissenschaftliche Erkenntnisse der Chaos- und Komplexitätsforschung ein, die herausgefunden haben, „[…] dass überzogene Strukturierung und stabile Ordnungen die Selbstorganisationsfähigkeit von Systemen zerstören. Deshalb müssen Systeme im Zustand begrenzter Instabilität sein, um sich selbst organisieren zu können“ (ebd., 138).
Auch für Schüler kann der Wandel von vom Lehrer strukturierten und minutiös geplanten Unterricht hin zu mehr Freiheit und Verantwortung eine Herausforderung darstellen. Man unterscheidet dabei zwischen Gewissheits- und Ungewissheitsorientierung. Je nachdem ob Schüler gewissheits- oder ungewissheitsorientiert sind, können sie unterschiedlich mit instabilen und unkalkulierbaren Situationen umgehen und sind motiviert sich damit auseinanderzusetzen und damit einhergehende Probleme zu lösen (vgl. Herold & Landherr 2003). Es lässt sich daraus ableiten, dass für gewissheitsorientierte Personen daher das Prinzip der Selbstähnlichkeit eine besondere Rolle spielt. Handlungen werden durch eine zu Beginn stärkere Steuerung zur Routine, wodurch die Notwendigkeit von Vorgaben und Steuerung nach und nach abgebaut wird. Gleichzeitig werden Selbstorganisationskompetenzen aufgebaut:
„Selbstorganisationskompetenzen bilden eine spezielle Untergruppe aus dem Bereich der sozialen Kompetenzen und Problemlösekompetenzen. Der besondere Schwerpunkt liegt hier in den Kompetenzen zur eigenständigen Strukturierung und Ordnung von Aufgaben, Regeln und Handlungen. Einfacher ausgedrückt, geht es im Kern um Kompetenzen zur selbstständigen Planung und Durchführung von Arbeitsaufgaben. Personen oder Gruppen, die für bestimmte Aufgaben gute Selbstorganisationskompetenzen entwickelt haben, sind in der Lage, ohne vorherige Anleitung und Anweisungen selber effektive Pläne und Strukturen zur Bearbeitung dieser Aufgaben zu entwickeln“ (Siegfried 1998, 166f).
Zentral bei der Unterstützung zum Aufbau der genannten Kompetenzen sowie bei der Bewältigung instabiler Situationen und bei der veränderten Unterrichtsgestaltung ist der Begriff des Kooperativen Lernens als didaktische Strategie, die ein wesentliches Kennzeichen von Selbstorganisiertem Lernen ist (vgl. Freimuth & Hoets 1998).
Gemäß der bereits angeschnittenen Definition bedeutet Kooperatives Lernen verantwortungsbewusstes Voneinander und Miteinander Lernen mit dem Ziel
„[…] möglichst alle Schülerinnen und Schüler ertragsorientiert in den Unterricht zu integrieren und die Klasse zu produktiven Leistungsteams zu formen, in denen das Miteinander- und Füreinanderarbeiten zählt und nicht das Konkurrenzverhalten. Damit hebt kooperatives Lernen den scheinbaren Widerspruch zwischen Individualisierung und dem gemeinsamen Lernen auf. Die Klasse wird zum Lern- und Leistungsteam. Weil es das Ziel ist, möglichst alle Schülerinnen und Schüler individuell anzusprechen und mit ihren unterschiedlichen Begabungen und Fähigkeiten produktiv in die Klassengemeinschaft zu integrieren“ (Mattes 2011, 20).
Kooperatives Lernen ist demnach keine Methode, sondern eine didaktische Strategie, die Methoden der Kooperations- sowie der Selbstorganisationsfähigkeit beinhaltet und diese fördert. Kooperative Methoden können sich auch in lehrerzentriertem Unterricht wiederfinden. Lehrerzentrierter Unterricht unterscheidet sich diesbezüglich jedoch von Selbstorganisiertem dahingehend, dass bei letzterem das Lernarrangement in einem regelmäßigen Wechsel von individuellem und kooperativem Arbeiten, eingebettet in Plenums-, Einzelarbeits- und Gruppenphasen stattfindet, was als Sandwichprinzip bezeichnet wird, wobei die Plenumsphase, die durchaus einen Lehrervortrag beinhaltet, zur Vorbereitung auf Selbstorganisiertes Lernen im kooperativem Lernarrangement dient (vgl. Herold & Herold 2011).
Die folgende Abbildung von Birgit Landherr (1997) veranschaulicht den Unterschied zwischen Lehrergesteuertem Lernen als Aufeinanderfolge von zeitlich geplanten Lehr-Lernmethoden und Selbstorganisiertem, Kooperativem Lernen:
Abbildung 2: Gegenüberstellung lehrerzentrierter und selbstorganisierter Unterricht. (Landherr 2003)
In Kapitel 2.2. wurden zur Begriffsdefinition bereits einige Aspekte angesprochen, die mit der praktischen Umsetzung von Selbstorganisiertem Lernen im Zusammenhang stehen und zudem als Voraussetzung gelten, um zu erörtern, was der Begriff theoretisch beinhaltet.
Somit wurden bereits praktische Ansätze, wie die Rolle der Lehrperson und der Mitschüler sowie die didaktische Ausgestaltung durch Kooperatives Lernen und dem Sandwichprinzip, angeschnitten, was im Folgenden präzisiert wird.
Grundlegend gilt, dass Selbstorganisiertes Lernen beim Lehrer beginnt. Das bedeutet er organisiert und plant das Unterrichtsarrangement gemäß Selbstorganisierten Lernens und passt es an die Schüler und deren individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten an. Die Planung muss sorgfältig vonstattengehen und begründet sein. Anschließend wird das Konzept nach und nach im Unterricht umgesetzt und eingeführt, vor allem dann, wenn es Schülern noch nicht bekannt ist. Ansonsten ist eine schrittweise Weiterführung von Bedeutung. Bei der Frage, ob und inwiefern Schüler mit Selbstorganisiertem Lernen vertraut sind und auf welchem Kompetenzniveau sie sich befinden, ist die diagnostische Fähigkeit der Lehrperson gefragt. (vgl. Herold & Landherr 2003) Wurden die Schüler bisher noch nicht mit Selbstorganisiertem Lernen vertraut gemacht, besitzen sie am Anfang noch nicht die nötige Selbstorganisationskompetenz und müssen neue Methoden erst kennenlernen und konsequent einüben. So organisieren Schüler zu Beginn ihr Lernen noch nicht vollkommen selbstständig, sondern werden zunächst noch vom Lehrer unterstützt. Anfangs ist das Ziel Schülern die nötigen Kompetenzen für den Einstieg in Selbstorganisiertes Lernen zu vermitteln, bevor dann damit begonnen werden kann. Herold und Landherr (2003) empfehlen zunächst mit bekannten Inhalten und neuen Methoden über kürzere Zeiträume zu arbeiten, damit die Selbstorganisation gelernt werden kann. Klippert (2013, 47) merkt hierzu an, dass „[…] je versierter die Schüler/ innen sind, desto mehr Verantwortung tragen sie und desto mehr müssen sie selbst organisieren, recherchieren, entscheiden, planen, konstruieren, reflektieren, diskutieren, kooperieren und präsentieren.“
Der Aspekt des schrittweisen Einführens geht mit dem Prinzip der Selbstähnlichkeit einher. Laut Herold und Herold bedeutet der Begriff: „Nicht zu viel Neues auf einmal“ (Herold & Herold 2017, 145). Schüler müssen trotz Integration neuer Handlungsweisen, auf alte Muster zurückgreifen können, bis das Neue durch Wiederholung geübt wird und sich eine Regel daraus ableiten lässt, auf die dann immer wieder zurückgegriffen werden kann (vgl. ebd.).