Selbstporträt in Schwarz und Weiß - Thomas Chatterton Williams - E-Book

Selbstporträt in Schwarz und Weiß E-Book

Thomas Chatterton Williams

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Beschreibung

Eine Auseinandersetzung mit der Art und Weise, wie wir uns selbst sehen und definieren. »Selbstporträt in Schwarz und Weiß« ist die Geschichte einer amerikanischen Familie, die sich über mehrere Generationen hinweg verändert auf ihrer Suche nach dem, was es heißt schwarz zu sein, und dem, was als weiß angenommen wird. Thomas Chatterton Williams, der Sohn eines »schwarzen« Vaters aus dem abgehängten Süden, und einer »weißen« Mutter aus dem Westen, war sein ganzes Leben davon überzeugt, dass ein einziger Tropfen »schwarzen Bluts« einen Menschen schwarz macht. Das war so fundamental für sein Selbstverständnis, dass er nie eine andere Überlegung zuließ. Aber die schockierende Erfahrung, der schwarze Vater zweier weißer Kinder geworden zu sein, erschütterte diesen Glauben. Es ist jedoch nicht so, dass er nun glaubte, nicht mehr schwarz zu sein oder dass seine Kinder weiß sind, sondern dass sich diese Kategorien von niemanden mehr angemessen erfassen lassen. Großartig geschrieben und darauf aus, die festgefahrenen Meinungen über race auf den Kopf zu stellen.

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Thomas Chatterton Williams

Selbstporträt in Schwarz und Weiß

Unlearning Race

Aus dem Englischen übersetzt

von Dominik Fehrmann

Fuego

- Über dieses Buch -

Eine Auseinandersetzung mit der Art und Weise, wie wir uns selbst sehen und definieren. »Selbstporträt in Schwarz und Weiß« ist die Geschichte einer amerikanischen Familie, die sich über mehrere Generationen hinweg verändert auf ihrer Suche nach dem, was es heißt schwarz zu sein, und dem, was als weiß angenommen wird. Thomas Chatterton Williams, der Sohn eines »schwarzen« Vaters aus dem abgehängten Süden, und einer »weißen« Mutter aus dem Westen, war sein ganzes Leben davon überzeugt, dass ein einziger Tropfen »schwarzen Bluts« einen Menschen schwarz macht. Das war so fundamental für sein Selbstverständnis, dass er nie eine andere Überlegung zuließ. Aber die schockierende Erfahrung, der schwarze Vater zweier weißer Kinder geworden zu sein, erschütterte diesen Glauben. Es ist jedoch nicht so, dass er nun glaubte, nicht mehr schwarz zu sein oder dass seine Kinder weiß sind, sondern dass sich diese Kategorien von niemanden mehr angemessen erfassen lassen. Großartig geschrieben und darauf aus, die festgefahrenen Meinungen über race auf den Kopf zu stellen.

Pressestimmen

»Eine intime und überzeugende Antwort auf die neue ›Rassen‹-Besessenheit.« (Caroline Fourest)

»Diese bewegenden und fesselnden Memoiren sind in bestem Sinne unmodern. In einer Zeit, in der selbst vermeintlich optimistische Zukunftsvisionen davon auszugehen scheinen, dass Menschen immer über ihre Hautfarbe definiert werden, lässt uns Williams von einer Zukunft träumen, in der die Bedeutung von race zurückgehen wird. Ein anregendes Buch von einem der größten Schriftsteller unserer Zeit.« (Ascha Mounk in »Der Zerfall der Demokratie. Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht.«)

»Thomas Chatterton Williams verfügt über die wesentlichen Dinge, die ein Schriftsteller braucht – Sprachbeherrschung, Komplexität und Tiefe des Denkens und vielleicht vor allem Mut. Dieses Buch bringt einen frischen Wind, der Ihr Denken über race in Amerika verändern wird.« (George Packer)

»Der Schriftsteller Thomas Williams kritisiert starres Identitäsdenken. Die Antwort auf Rassismus sieht er in einem neuen Universalismus.« (taz)

»Ein mutiges Buch, das ich nicht mehr weglegen konnte. Sollten wir in einer Zeit, in der die Vorherrschaft der Weißen in vielen Ländern wieder auflebt, dagegen ankämpfen, indem wir auf der Gleichheit oder der Beseitigung von race als soziale und biologische Kategorie bestehen? Das ist eine Frage, die gestellt, und eine Debatte, die geführt werden muss.« (Anne-Marie Slaughter, CEO, New America)

»Williams ist so ehrlich und frisch in seinen Beobachtungen, so geschickt darin, seine eigene Geschichte mit Grundsätzlicherem zu vermischen, dass es schwer fällt, ihn nicht zu bewundern.« (Andrew Solomon, New York Times)

Für Marlow und Saul, die mich neue

»Man hatte sich an die Dinge zu halten, auf die es ankam. Auf den Toten kam es an, auf das neue Leben kam es an; aber Schwarz und Weiß: darauf kam es nicht an. Zu glauben, dass es darauf ankäme, hieße, in den eigenen Untergang einwilligen.«

James Baldwin, Schwarz und Weiß

»Warum Zeit damit vertun, ein Gewissen für etwas zu schaffen, was es nicht gibt? Denn, sehen Sie, Blut und Haut denken nicht!«

Anmerkung des Autors

 

In diesem Buch bemühe ich mich, Ausdrücke wie »weiß«, »schwarz«, »mixed-raced«, »biracial«, »Asian«, »Latino«, »monoracial« (und ihre Synonyme) infrage zu stellen und zurückzuweisen. Dementsprechend habe ich sie oft in Anführungszeichen gesetzt. Um der Lesbarkeit willen habe ich aber auch unsere sprachlichen Konventionen der Beschreibung berücksichtigt und Menschen manchmal auf herkömmliche Weise bezeichnet. Wenn ich jene Ausdrücke ohne Anführungszeichen verwende – wenn ich zum Beispiel von einer schwarzen Mitschülerin oder einem weißen Polizisten rede –, dann deshalb, weil diese Menschen sich selbst so bezeichnen oder so bezeichnet werden. Es bedeutet nicht, dass ich diese Ausdrücke für hilfreich, zutreffend oder wahr hielte.

Außerdem habe ich die Namen und Beschreibungen bestimmter Personen geändert, die bei unseren Begegnungen nicht wissen konnten, dass sie es mit einem Memoirenschreiber zu tun haben. 1

Prolog

 

Im Oktober 2013, nach einem späten Abendessen mit amerikanischen Freunden, platzte die Fruchtblase meiner Frau. Leicht benommen vor Euphorie taten Valentine und ich, was wir seit Wochen geplant hatten, und weckten Steve, den Freund ihrer Schwester, der uns tapfer den weiten Weg von unserer Wohnung im 9. Arrondissement im Pariser Norden zur Entbindungsklinik am südlichen Stadtrand fuhr. Gegen zwei Uhr morgens hatten wir die Straßen praktisch für uns allein, und die Route, die Steve nahm, war atemberaubend: von unserer Wohnung den Hügel hinab, vorbei am Gold und grünspanigen Kupfer der Oper, durch den prachtvollen Innenhof des Louvre mit seinen Glaspyramiden und akkuraten Gärten, über die Seine, links aufragend Notre Dame und rechts das Grand Palais und der Eiffelturm, dann die belaubten Boulevards Saint-Germain und Raspail entlang, hinein nach Montparnasse und über die von der Leuchtreklame mehrerer Cafés erhellte Kreuzung, die man aus Hemingways Ein Fest fürs Leben kennt.

Ich bin mir der Schönheit oder auch nur der Besonderheit von Paris nicht ständig bewusst. Doch als ich die Stadt in jener Nacht am Fenster vorbeirauschen sah, wurde mir plötzlich klar, dass sie – die bei aller Herrlichkeit nicht die meine ist – die Heimatstadt meiner Tochter sein würde. Es vergingen weitere 24 Stunden, bis Marlow zur Welt kam. Als bei Valentine endlich die Wehen einsetzten, war ich vor Müdigkeit wie betäubt und zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Nur pure Emotion hielt mich noch wach. Beim vierten oder fünften Pressen schnappte ich einen Fetzen des wahnsinnig schnellen Französischs der Ärztin auf: irgendwas, irgendwas, irgendwas, »tête dorée …« Mein träges Hirn brauchte einen Moment, um die Laute zu verarbeiten. Dann wurde mir schlagartig klar, dass sie den Kopf meiner Tochter sah und uns mitteilte, dass sie blond sei. Alles Weitere sind neblige Erinnerungen. Ich erblickte eine Schale mit Plazenta, hörte einen allerersten Schrei und fiel fast in Ohnmacht. Die Schwester eilte mit meinem Kind aus dem Raum, die Ärztin kümmerte sich um meine Frau, und mir blieb nur, durch den leeren Flur zu irren, bis ich die Herrentoilette gefunden hatte, wo ich mich einschloss und heulte wie alle anderen Neugeborenen auf der Sta–tion. Abgesehen von den üblichen Einsichten – in eine neue und beängstigende Verantwortung, ins Älterwerden – dämmerte mir auch, dass meine eigene Identität, was immer sie bisher gewesen war, ab jetzt eine andere sein würde. Als ich schließlich mit gewaschenem Gesicht ins Zimmer zurückkam, um meine Tochter kennenzulernen, saugte man ihr gerade Fruchtwasser aus dem Bauch. Ich setzte mich ans Bett meiner Frau und musste hilflos zusehen, wie sich unser Kind ins Leben kämpfte. Als sie schließlich außer Gefahr und ruhig war, reichte die Schwester sie uns. Blinzelnd öffneten sich zwei nachtblaue Augen, von denen ich da schon wusste, dass sie noch deutlich heller werden würden, aber niemals braun. Dieses kostbare, nach Milch und Brust verlangende Wesen ließ etwas in mir pochen, das seither jede Minute in mir pocht: die innigste Liebe, die ich kenne. Gleichzeitig durchzuckte mich, um ehrlich zu sein, so etwas wie Todesangst. Was hast du bloß getan?, fragte die Stimme meines Über-Ichs oder einer noch strengeren Instanz aus der Tiefe meiner Vernunft. Was hast du bloß getan! Ich gebot der Stimme zu schweigen. Eine gute Stunde später, als Valentine und das Baby in nächtlichen Schlaf gefallen waren, sackte ich in den Sitz eines Taxis, und geistesabwesend fuhren meine braunen Augen jene schöne, irgendwie fremde Strecke noch einmal in umgekehrter Richtung ab.

 

Mein Leben lang habe ich aufrichtig an den uramerikanischen Spruch geglaubt, ein einziger »Tropfen schwarzen Bluts« mache eine Person »schwarz«, vor allem deshalb, weil sie damit auf keinen Fall »weiß« sein kann. Ich sage »uramerikanisch«, weil das andernorts anders ist. In Brasilien zum Beispiel macht ein Tropfen »weißen Bluts« einen Menschen nicht-schwarz.2 Bevor meine Tochter Marlow in jener Nacht zur Welt kam, hegte ich nicht den geringsten Zweifel, dass meine Kinder, wenn ich welche hätte, wie ich »schwarz« sein würden. Sie würden mixed-race sein, ja, aber das ist für uns alle, deren Wurzeln weit genug zurückreichen, nur etwas Graduelles. Für mich jedenfalls wären sie so schwarz wie Frederick Douglass oder W. E. B. Du Bois, Lenny Kravitz oder Halle Berry. Schwarzsein als Entweder-oder war für mein Selbstverständnis so elementar, dass ich das dahinterstehende Denken nie ernsthaft hinterfragt hatte. Mein Vater, den wir in Anspielung auf seine Südstaaten-Wurzeln Pappy nennen, ist ein rotbrauner Mann. Trotz Sommersprossen unter den Augen und einer markanten und, wie meine Mutter neckend sagt, »indianischen« Nase, ist er stets nur als »schwarz« bezeichnet worden. Seine äußere Erscheinung in Verbindung mit seiner starken Persönlichkeit ließen mich annehmen, er werde die Identität der Familie Williams für alle Zeit bestimmen, auch wenn meine Mutter eindeutig eine Weiße ist: blond, blauäugig und mit einem Stammbaum aus lauter nordeuropäischen Protestanten.

Als mein Vater ein Baby war, gab es dort, wo er lebte, noch Pferdewagen und Plumpsklos. Das war in den 1930er-Jahren in Galveston, Texas, einer schmalen Insel im Golf von Mexiko mit dem unrühmlichen Ruf, der letzte Ort in den USA gewesen zu sein, an dem die Sklaven befreit wurden, gut zweieinhalb Jahre nach Lincolns Emanzipationserklärung. Pappy, dessen Großvater noch im letzten Jahr der Besitzsklaverei geboren worden war, hatte nie viel Geld besessen. Doch dank einer Ausbildung konnte er gleich mehrere Generationen überspringen und uns jenes Mittelschichtsleben bieten, das mein Bruder und ich für normal hielten. Als ich 1981 in New Jersey zur Welt kam, hatte mein Vater faktisch alle schwarzen Südstaaten-Wurzeln unserer Familie gekappt. Mein Bruder und ich wuchsen in einem kleinen Haus voller Bücher auf, bei liebevollen und fürsorglichen Eltern, die von anderswoher stammten und nur wenige Fotos oder sonstige Zeugnisse ihrer Vergangenheit aufbewahrten. Individualität, Bildung und Selbstverwirklichung waren ihnen wichtiger als Stammbäume und Zugehörigkeit zu einer Sippe. Mir fehlten damals noch die Ausdrücke dafür, aber was meine Eltern von meinen polnischen, italienischen, puerto-ricanischen und schwarzen, irischen und katholischen Nachbarn und Mitschülern unterschied, war, wie sehr sie sich jedem Stammesdenken verweigerten. Wir gehörten keiner Gruppe an. Meine Mutter ist gläubige Christin, aber ihr Glaube war Privatsache, und erst nachdem mein Bruder und ich aus dem Haus waren, besuchte sie wieder Gottesdienste. Wir gingen zwar auf katholische Schulen, aber nur, damit wir aus unserer kleinen Heimatstadt herauskamen. Den Besuch der Heiligen Messe verboten uns unsere Eltern. Jeden Dienstagmorgen, wenn die ganze Schule über die Straße zur Kirche ging, saßen wir mit den Sekretärinnen im Foyer und schmökerten in unseren Büchern und Zeitschriften – eine frühe, harte und unbezahlbare Lektion im Ausbilden der Gewohnheit, sich abseits zu halten.

Auch im weltlichen Leben hielten wir uns abseits. Pappy hat eine angeborene Allergie gegen den vorsätzlichen Snobismus schwarzer Wohlfahrtsorganisationen wie Jack and Jill of America. Auch mit deren weißen Pendants wollten er und meine Mutter nichts zu tun haben. Zu viert bildeten wir eine Insel in unserer faktisch segregierten Kleinstadt, in deren weißem Teil wir lebten, aus stillem Protest gegen die Versuche mehrerer Immobilienmakler, uns auf die andere Seite ihrer unsichtbaren, aber nur allzu realen roten Linie zu bugsieren. Doch aller Eigensinnigkeit zum Trotz stand nie infrage, dass wir ein schwarzer Haushalt waren. Halb im Scherz sagte mein Vater manchmal sogar, seine Frau sei in Wirklichkeit gar keine Weiße, sondern einfach nur »hellhäutig«. Einmal, als ich vielleicht zehn war, fragte ich nach. »Hör mal«, sagte ich, »das glaubst du doch nicht wirklich, oder?« »Na, sie hat doch ein schwarzes Bewusstsein, oder etwa nicht?«, antwortete er nur. Erst jetzt, als Erwachsener, wird mir klar, dass es einen solchen Dialog nur in den USA und nirgendwo sonst auf der Welt geben konnte. Damals aber leuchtete es mir irgendwie ein. Auf jeden Fall weiß ich, dass meine Eltern meinen Bruder und mich bestmöglich auf die Wirklichkeit jenseits unserer Türschwelle vorbereiten wollten, indem sie sich selbstbewusst und stolz zu unserem Schwarzsein bekannten, damit wir, wenn die Welt unweigerlich von uns verlangen würde, Stellung zu beziehen, dasselbe täten.

Jenseits unserer Türschwelle musste ich allerdings von klein auf feststellen, dass andere Menschen beharrlich Unterschiede zwischen mir und meiner Mutter sahen. Trotz ihres »schwarzen Bewusstseins«. In meiner frühesten Erinnerung an diese Diskrepanz stehen wir in einem ShopRite-Supermarkt in der Kassenschlange. Ich muss vier Jahre alt gewesen sein und mit meinem Bruder irgendwelche Faxen gemacht haben. Mom, die gerade ihr Kleingeld und ihre Rabattmarken abzuzählen versuchte, fuhr herum und ermahnte uns, still zu sein. Nach dieser Schelte beugte sich eine ältere weiße Dame, die das Ganze beobachtet hatte, vor und sagte allen Ernstes: »Es muss ja so schwer sein, solche Ghetto-Kinder zu adoptieren.«

In den 1980er-Jahren und noch bis weit in die 1990er ernteten wir als Familie mal irritierte, mal böse Blicke, wenn wir auswärts essen gingen – und das in einer Gegend von New Jersey, die im Einzugsgebiet von Manhattan liegt. Und obwohl ich eine Menge »schwarzer« Kinder verschiedenster Hauttöne und Haarstrukturen kannte, war mir vor meinem Studienbeginn an der Georgetown University 1999 niemand bekannt, der sich als »biracial« bezeichnete. Bis zur Jahrtausendwende gab es bei Volkszählungen nicht einmal die Möglichkeit, mehr als eine race anzugeben. Will sagen: Ich bin alt genug, um zu verstehen, warum auch viele Schwarze auf die Zeiten der Segregation noch immer mit einer gewissen Nostalgie zurückblicken. Denn Einigkeit und Akzeptanz vermitteln ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, selbst wenn diese Einigkeit auf künstlichen und teils widersinnigen Abgrenzungen beruht.

 

2012, ein Jahr bevor Valentine schwanger wurde, veröffentlichte ich in der New York Times einen Essay, in dem ich meine künftigen Kinder für unzweifelhaft schwarz erklärte. Im Nachhinein erkenne ich darin ein letztes trotziges Aufbäumen von irgendetwas – einer bestimmten Sicht auf die Welt, von der ich insgeheim wohl wusste, dass sie kaum noch aufrechtzuerhalten war. Damals aber glaubte ich, Recht zu haben, und brachte sogar meine Frau dazu, meine Ansicht zu teilen, was ihrem europäischen Denken völlig zuwiderlief. Heute zucke ich zusammen, wenn ich den Artikel lese. Klar, Elternschaft verändert jeden, aber rückblickend kann ich ohne Übertreibung sagen, dass ich den Kreißsaal als ein Mensch betrat und ihn als ein völlig anderer verließ. Der Anblick dieses blonden, blauäugigen und unglaublich hellhäutigen Kindes, von dem ich ja zweifelsfrei wusste, dass es mein Kind war, schockierte mich. Auf einer zutiefst irrationalen Bewusstseinsebene fürchtete ich wohl, ein moderner Ödipus zu sein, der metaphorisch mit seiner weißen Mutter geschlafen und seinen schwarzen Vater umgebracht hatte.

Marlows Aussehen hatte mir die Absurdität meiner früheren »Ein-Tropfen«-Auffassung vor Augen geführt. Wenn ich meine Tochter heute ansehe, sehe ich eine weitere Facette von mir. Ich sehe mein eigenes, einzigartiges Kind. Aber ich weiß auch, dass die meisten Menschen, denen sie künftig begegnet, sie als »weiß« bezeichnen werden und wollen. Und ich kann nicht umhin mich zu fragen, ob ich meiner Familie etwas eingebrockt habe, dessen Auswirkungen mir in meinem Leben vielleicht nie ganz klar werden.

 

Am Tag nach Marlows Geburt brachte mich Nicholas, mein jovialer Schwiegervater, ins nächstgelegene Rathaus, damit ich meine Tochter anmelden und ihren Namen angeben konnte. In Frankreich muss diese Formalität innerhalb von drei Tagen nach der Geburt erledigt werden, was sie praktisch zu einem väterlichen Vorrecht macht. Im Scherz sagte Nic, das sei nun die Chance, dem Kind jeden mir gefälligen Namen zu geben. Ob ich es mir nicht noch mal überlegen wolle. Ich erinnerte mich, dass auf genau diese Weise Steve zu Steve statt zu Marc geworden war, als sein Vater im Rathaus einen Kreativitätsanfall hatte, während seine Mutter noch im Bett lag und sich erholte. Und ich war tatsächlich in Versuchung. Ein Teil von mir wünschte, auf das blaue Formular der République Française »Jemima« oder gar »Shaniq’wa« zu kritzeln. Einen Namen wie ein Mittelfinger, gerichtet gegen das Anstandsgefühl der schwarzen Mittelschicht, zugleich eine Subversion jeden Anscheins von Weißsein, eine nicht unkomische Art der Wiederaneignung – wenn nicht gar der Transzendenz – eines fortbestehenden ethnischen Stigmas. Als Valentine schwanger geworden war, hatte ich diese Idee einmal halb im Ernst in den Raum gestellt, aber schnell wieder fallengelassen, nachdem Valentine erklärt hatte, das sei auf unverantwortliche Weise manipulativ. Nun aber hatte die Hautfarbe unseres Babys meine rebellischen Geister wiedererweckt. Doch das Leben eines Kindes ist keine sarkastische oder gar politische Geste. Sorgfältig schrieb ich »Marlow« in das Feld für prénom, ganz wie wir es vereinbart hatten. Diese Vereinbarung ging auf unsere gemeinsame Begeisterung für die HBO-Serie The Wire zurück, aber auch auf die pragmatische Notwendigkeit, eine Silbenkombination zu finden, die sich auf Englisch wie auf Französisch aussprechen lässt. Nicht alle Franzosen haben einen zweiten Vornamen, aber ich fand, Marlow sollte einen bekommen und zwar einen mit stammesgeschichtlicher Bedeutung. Also schrieb ich noch »Cora« hin, den Vornamen der geliebten Großmutter meines Vaters, die als eine der ersten ihrer Generation nach der Emanzipationserklärung geboren wurde. Erst später gab man mir zu bedenken, dass »Cora« auch der Name einer französischen Kaufhaus-Kette ist und in den Ohren der meisten Franzosen nach »Walmart« klingt. Es war die erste von vielen Lektionen, die mich lehrten, dass sich bestimmte Bedeutungen zwischen den verschiedenen Wirklichkeiten, die Marlow künftig unter einen Hut bringen muss, nicht übertragen lassen.

 

Der französische Staat gewährte Valentine großzügige sechs Tage und Nächte in einem Einzelzimmer, bevor wir unsere Tochter in Decken wickelten und nach Hause fuhren. Ich hatte mir Gedanken darüber gemacht, welches allererste Lied sie auf dieser Fahrt zu hören bekommen sollte – ein erster elterlicher Versuch kultureller Indoktrination –, und entschied mich schließlich für »Mushaboom« von Feist. And we’ll collect the moments one by one, tönte ihre zarte Stimme im Auto. I guess that’s how the future’s done. Es ist alles andere als ein schwarzer Song, und auch das hatte mir Unbehagen bereitet. Wieder war da diese innere Stimme gewesen. Hey, was spricht denn gegen Stevie Wonder? Aber Unbehagen war nur ein Bruchteil dessen, was ich fühlte. Jeder Augenblick mit Marlow ließ die bohrenden Fragen und dämlichen Befürchtungen irrelevanter werden. »Ach, mein Sohn«, sagte Pappy schmunzelnd, als er mit meiner Mutter wenige Wochen später zu Besuch war und Marlow zum ersten Mal in den Armen wiegte. »Sie ist einfach ein Palomino!« Ich empfand – und empfinde – seine Art der Selbstsicherheit als ungemein tröstlich. Zu seiner Zeit waren Schwarze mit texanischem Vokabular selten um Worte verlegen, wenn es galt, die unterschiedlichsten Mischungen zu bezeichnen. (Viele dieser eigenartigen Ausdrücke stammen aus der Welt der Pferdezucht und klingen heute ziemlich schräg.) Ich jedenfalls musste erst mein iPhone zücken und »Palomino« googeln (»ein goldgelbes oder lohfarbenes Pferd mit weißer Mähne und Schweif, das traditionell im Südwesten der USA gezüchtet wird«). Ausdrücke wie »high-yellow« oder »mulatto« kenne ich dagegen noch aus meiner Kindheit, und zumindest in meinem Elternhaus verwendete man auch die heute unzeitgemäßen und belasteten Bezeichnungen »quadroon« und »octoroon«.3

Was für bizarre Wörter das sind. Und was für eine schlichte, überschaubare Wirklichkeit sie abbilden sollten. All diese raffinierten, rätselhaften Bezeichnungen zeugen letztlich davon, dass die blauäugige, blonde Marlow vor noch nicht allzu langer Zeit – hätte sie damals nicht mit ihrer Familie gebrochen und versucht, als »Weiße« durchzugehen – in diesem Land genau wie wir anderen entrechtet und geknechtet worden wäre. Und dass sie natürlich qua Geburt auch die Weisheit, Disziplin und Stilsicherheit der amerikanischen Schwarzen besessen hätte. Es gab also lange Zeit etwas, das als mehr oder weniger echte und gemeinsame schwarze Erfahrung galt. Diese kannte durchaus schlimme Not, aber eben auch tiefe Befriedigung und hatte nichts oder kaum etwas mit genetischen Markern zu tun. Zwar zeigt sich die Absurdität von race an den Rändern am deutlichsten, doch wäre meine Tochter in den früheren Sklaven-Staaten gar nicht als randständig betrachtet worden, wo »Hypodeszenz«-Theorien besonders hoch im Kurs standen und jemand noch mit einem Zweiunddreißigstel »schwarzen Bluts« laut Gesetz als »farbig« galt. Womit ich sagen will, dass es für Menschen wie Marlow – bei aller Grausamkeit der sogenannten Ein-Tropfen-Gesetze – bis vor kurzem noch einen festen Platz in jenem Spektrum gab, das vom Begriff American Negro abgedeckt wurde.

Doch dieser Drang zu bedingungsloser Inklusion (als völlig berechtigte und bewundernswerte Reaktion auf Exklusion) wird immer schwächer. Dieser Drang zu bedingungsloser Inklusion (als völlig berechtigte und bewundernswerte Reaktion auf Exklusion) wird schwächer; Wörter für Menschen wie meine Tochter und auch mich verschwinden allmählich aus der Volkssprache, werden dorthin verbannt, wo schon Ausdrücke wie »Negro« ihren Lebensabend fristen. Was weniger daran liegt, dass Schwarze auf einmal vergessen, wie vielfältig ihre Herkunft ist4, als daran, dass »Weiß« und »Nicht-Schwarz« im Sinne von mixed-race zu immer weniger exklusiven Kategorien werden. In Zeiten, in denen mehr als ein Drittel aller US-Amerikaner erklärt, mindestens ein Familienmitglied habe eine andere race, und in denen man (seit dem Jahr 2000) bei der Volkszählung jede Kombination von race angeben kann, franst die Vorstellung, die amerikanischen Schwarzen seien eine aus allerlei Mischlingen bestehende Bevölkerungsgruppe, an den Rändern aus.5 Vielleicht ist meine Generation die letzte in den USA, die es einfach so hinnimmt, dass die (Un-)Logik einer Einteilung nach race alle möglichen äußerlichen Unterschiede ignoriert. Was einer der Gründe dafür ist, dass ich anfangs überrascht war, bei meiner Tochter so viele rezessive Merkmale zu entdecken. Ich sah mich mit einer Wahrheit konfrontiert, die ich vielleicht nicht vergessen, aber doch für eine Weile aus dem Blick verloren hatte: Meine Tochter hat eben nicht nur »diese großen blauen Augen von ihrer Mutter geerbt«, wie es viele wohlmeinende Fremde und Freunde formulieren. Ich dagegen habe im Spiegel trotz meiner recht langen, schmalen Nase und meiner beigen Haut immer nur einen schwarzen Mann sehen können. So, wie ich aufgewachsen bin, noch vor der Jahrtausendwende, wäre es mir nicht im Traum eingefallen, mich als »biracial« oder – wie man heute eher sagt – »multiracial« zu bezeichnen.

Marlows Leben, das ahnte ich bald, würde sich meinen Begriffsschemata entziehen. Doch Neugeborene benötigen Freude und Zuwendung, keine Beurteilung oder ständige Prüfung, und außerdem gab es so viele dringende und praktische Aufgaben, die unseren Haushalt in diesen ersten, unschuldigen Monaten auf Trab hielten. Es ist daher keine Übertreibung zu sagen, dass ich, wenngleich mir das nicht bewusst war, erst später wieder genauer darauf achtete, wie meine Tochter aussah.

Als sie ein vier Monate altes flachsblondes Rotbäckchen war, machte ich mit ihr unseren ersten Vater-Tochter-Ausflug. Für mich war es eine große Sache. Ihre Mutter hatte gerade abgestillt und wieder zu arbeiten begonnen und ich noch nie eine so große Verantwortung übernommen. Ausgerüstet mit einer Plüschtasche voller Baby-Krimskrams brachen wir auf, von unserer Wohnung zur Gare Saint-Lazare, wo wir einen Regionalzug nach Deauville bestiegen, ein pittoreskes, im 19. Jahrhundert erblühtes Seebad in der Normandie. Während der zweistündigen Fahrt dösten und aßen wir, und ich betrachtete meine Tochter in elterlicher Ehrfurcht. Noch lernte ich ihr Gesicht kennen, sah darin – bei aller Einzigartigkeit – Grübchen, die von ihrer Mutter zu stammen schienen, ein Paar große lachende Augen, die sie vielleicht von mir hatte, und eine mir neue und ungeheuer betörende Grimasse, die ganz allein die ihre war.

Steve holte uns vom Bahnhof ab. Marlow und ich würden ein paar Tage mit ihm und seinem Sohn Jo-Jo auf dem Land verbringen, damit unsere Frauen etwas Erholung fänden, und wir abends, wenn die Kinder im Bett waren, am Kamin Burgunder-Flaschen seines Vaters leeren konnten. Die perfekte französische Idylle, wenn Sie mich fragen. Steve und seine Familie sind Chocolatiers. Wir zwängten uns in sein Auto und machten auf unserem Weg kurz Halt im Stadtzentrum, um uns ihren neuen Laden anzuschauen. Außerdem wollte er seine Nichte seinen Geschwistern vorstellen, die die Ladeneröffnung beaufsichtigten. Ich nahm meine Tochter auf den Arm und trug sie hinein. Voller Stolz, so als sei Elternschaft ein großes Kunststück, gab ich das Baby in die Runde und genehmigte mir etwas Konfekt.

Zu diesem Zeitpunkt wusste ich schon, dass Marlows recht unzweideutiges Aussehen einige Menschen eher enttäuschte und andere hoch erfreute. Beide Reaktionen behagten mir nicht. Enge Verwandte und Freunde wie Steve, einer der einfühlsamsten Menschen, die ich kenne, haben dafür ein gewisses Gespür. Weshalb es mich wie ein verirrter Ellbogen traf, als seine Schwester, die gewiss nichts Böses im Sinn hatte und wohl nur aussprach, was viele andere dachten, Marlow auf den Arm nahm und mir zurief: »Wow, warst du denn zumindest anwesend, oder hat sich Valentine einfach selbst fortgepflanzt?« Ich lachte, und Steve machte eine diplomatische Bemerkung über charakterliche Ähnlichkeiten, doch als wir wieder ins Auto stiegen, suchte ich in Marlows Gesicht nach Spuren von mir, fand sie auch, und fragte mich, wie alle anderen sie übersehen konnten.