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Die einen sterben, die anderen erben ... Doch die beiden Freundinnen Maja und Cora schaffen nicht nur lästige Männer aus dem Weg, es gibt auch zwischen ihnen Rivalitäten. Frauen sind nicht die bessere Hälfte der Menschheit, sie sind nur auf andere Art gemein ...
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Seitenzahl: 300
Ingrid Noll
Selige Witwen
Roman
Diogenes
Immer wieder höre ich, wie man abfällig über junge Erben urteilt. Die Leute haben ja keine Ahnung, wie mühsam es ist, an den Nachlaß eines reichen Mannes zu kommen. Mit kaum 20 Jahren hatte Cora einen Millionär geheiratet, und wir hatten sofort unsere gesamten Talente dafür eingesetzt, ihn so schnell wie möglich unter die Erde zu bringen. Coras Reichtum gründet auf Mut, Kreativität und der Gewißheit, in mir eine ebenbürtige und schnell entschlossene Freundin zu haben.
»Ohne dich hätte ich es zu nichts gebracht«, hatte sie in einem ihrer seltenen Anfälle von Dankbarkeit geäußert. Große Worte sind aber gar nicht nötig, weil wir durch so manche gemeinsame Schandtat fest zusammengeschweißt wurden. Im stillen befürchte ich allerdings, daß unser heimliches Laster zur Sucht werden könnte.
Letztes Jahr im Juni war es in Florenz ziemlich heiß. An einem schwülen Samstag beschlossen wir, unseren neuen Ferrari zu testen und aufs Land zu fahren. In bester Laune verließen wir Coras Florentiner Stadthaus; mit von der Partie waren unsere mütterliche Freundin und Haushälterin Emilia, ihr stotternder Freund Mario und mein kleiner Sohn Béla. Cora chauffierte uns über die Superstrada in die berühmte Region des Gallo nero, wo wir Wein und Olivenöl kaufen, gut essen und tief durchatmen wollten.
In Castellina in Chianti bestellten wir Gnocchi mit Rucola-Soße und gebratene Perlhühner. Abends ging es in unserem Lieblingslokal stets hoch her; diesmal gab es am Nachbartisch eine lebhafte Diskussion über den plötzlichen Unfalltod eines Engländers und den Eilverkauf seines Hauses. Immer mehr Gäste mischten sich in die Unterhaltung ein. Ein junger Handwerker geriet derart in Coras Bann, daß er ihr prahlerisch zuflüsterte, die Schlüssel zum Podere des unglücklichen Engländers zu besitzen. Nachdem er unsere Neugier durch seine märchenhaften Erzählungen geweckt hatte, fuhr er uns mitten in der Nacht über steile Wege durch die mondbeschienene Einsamkeit einer verträumten Berglandschaft. Emilia und Mario waren mit Béla im Auto nach Florenz zurückgekehrt, während Cora und ich das leerstehende Haus besichtigen und dort übernachten wollten.
Nach kurzer Fahrt öffnete sich ein automatisches Tor, und wir holperten über eine mit Kieselsteinen ausgelegte Auffahrt.
»Nobel«, meinte Cora.
Im Dunkeln betraten wir eine noch leicht sonnenwarme Terrasse und lauschten mit Entzücken dem Gesang dreier Nachtigallen, der durch einen Chor von Fröschen und Grillen begleitet wurde. Im fahlen Licht schimmerten Weinberge, die letzten Glühwürmchen schwebten um Hecken und Büsche, der süße Duft von Geißblatt und Lavendel erfüllte die Luft. Dino schlug vor, eine Runde im Pool zu schwimmen, was wir jedoch ablehnten. Der Junge wußte genau, daß wir keine Badeanzüge dabeihatten.
»Was soll es kosten?« fragte Cora, wies mit dem Daumen auf das Haus, hörte sich die Antwort an und schnippte ihre Zigarette gedankenverloren über die Terrassenbrüstung. Auf deutsch sagte sie zu mir: »Das ist ja fast geschenkt für so ein Riesengrundstück. Dann hätten wir endlich einen Swimmingpool, Maja. Florenz im Hochsommer, das ist die Pest. In der Stadt war es doch wahnsinnig heiß in den letzten Tagen.«
Der junge Italiener konnte sie zum Glück nicht verstehen.
»Ein netter Junge«, sagte Cora. »Er erwartet sicher, daß eine von uns zum Dank mit ihm ins Bett steigt. Wenn du vielleicht die Güte hättest …«
Dino zeigte uns zwei Gästezimmer. »Cora und ich können im Doppelbett schlafen«, schlug ich vor. »Bist du so lieb, Dino, und bringst uns morgen früh zur Bushaltestelle?«
Inzwischen wußten wir, daß er Elektriker war. Das Doppelbett fand er aus strategischen Gründen nicht gut, aber er versuchte, die momentane Enttäuschung zu verbergen. Sein mädchenhaftes Gesicht verzog sich nur wenig; bestimmt hatte er als Kind – noch ohne das Ziegenbärtchen – wie ein Barockengel ausgesehen. Am besten gefielen mir seine dichten, langen Wimpern.
Er sei müde und werde ebenfalls hier übernachten, schließlich müsse er am morgigen Sonntag nicht arbeiten, sagte er. Dann könne er uns nach dem Frühstück das Anwesen bei Tageslicht zeigen und uns anschließend zurück nach Florenz, bis vor die Haustür, fahren. Jedenfalls wünsche er eine gute Nacht. Mit diesen Worten, einem Kuß für Cora und einer flüchtigen Umarmung für mich, verzog er sich in eines der Schlafzimmer.
Als wir ihn los waren, schlug Cora vor, endlich den Pool zu testen. Es war eine besonders helle Nacht, so daß wir auf dem gepflegten Rasen den Weg gut finden konnten.
Zu unserer Enttäuschung war das Schwimmbad abgedeckt, und es gelang uns nicht, die automatische Aufrollung der Plastiklamellen in Gang zu bringen. Nackt, wie wir inzwischen waren, wurden wir unerwartet von einem Scheinwerfer angestrahlt. Dino hatte die Außenbeleuchtung eingeschaltet und erschreckte uns wie Faun die Nymphen. »Ihr müßt diesen Schlüssel nach rechts drehen«, sagte er mit listiger Hilfsbereitschaft, trat an eine Steinmauer, hob den Schutzdeckel einer Steckdose hoch und zeigte uns den verborgenen Schlüssel.
Durch die Zauberkraft des elektrischen Stroms wickelte sich die Abdeckung langsam, geräuschlos und stetig wie bei einer Sardinenbüchse auf und gab das Wasser frei. Es war angenehm temperiert.
Zu dritt schwammen wir ein paar Runden. »Bevor er vor Geilheit platzt«, sagte Cora, »sollten wir ihm eine kleine Lehre erteilen!«
Ich hatte wenig Lust, den hübschen Jungen leiden zu sehen, wußte auch nicht genau, was sie im Schilde führte. Wahrscheinlich wollte sie ihn mit meiner Hilfe so lange unter die Wasseroberfläche tunken, bis er Todesangst bekam. »Er hat uns bis jetzt überhaupt nicht zu berühren gewagt«, sagte ich. »Was heißt uns«, behauptete sie, »ich hatte bereits die Ehre.«
»Wenn er jetzt abdampft, sehen wir hier in der Pampa ganz schön alt aus«, sagte ich.
Cora hatte ein Einsehen. Nach dem Schwimmen schickte sie den abgekühlten Dino mit autoritärer Stimme ins Bett, und er verschwand ohne Widerrede.
Als ich wach wurde, war es noch sehr früh. Ich verließ das Ehebett und die schlafende Cora, zog Slip und T-Shirt an und huschte auf die Terrasse. Der Blick verschlug mir fast den Atem. Wie im Paradies, dachte ich, der schönste Teil der Welt liegt zu meinen Füßen: die Toskana. Grüne Berge vereinigten sich in der Ferne mit dem ersten Graublau des Himmels. Mein Blick schweifte über Weinberge und Bauernhöfe, deren Einfahrten von Zypressen gesäumt waren; die Luft war würzig, von einem leichten Wind belebt, denn das Haus lag erhöht.
Der im Tau schimmernde Rasen forderte meine Füße geradezu heraus, barfuß durch das Gras zu wandern. Das Licht war noch ganz weich, doch die Sonne verhieß einen heißen Tag. Was hatte Cora gestern von Kaufen gesagt? Im Duft der Rosen, umgaukelt von Schmetterlingen, stellte ich mir Béla vor, wie er unbesorgt in einem Garten voller Wunder herumspringen konnte.
Einzig der Pool konnte zum Problem werden. Ich durfte meines kleinen Sohnes wegen die Abdeckung nur dann entfernen, wenn wir gemeinsam baden wollten. Konnte Béla zur Sicherheit schon mit dem Schwimmenlernen beginnen – oder war er noch zu klein?
Unter welchen Umständen war eigentlich der ehemalige Besitzer verunglückt? Und war ein derart abgelegenes Haus nicht gefährlich für zwei junge Frauen? Nun, mit Cora an meiner Seite brauchte ich weder Tod noch Teufel zu fürchten.
Plötzlich fröstelte ich und beschloß, wieder ins warme Bett zu kriechen und noch ein Stündchen zu schlafen, denn es war erst kurz vor sieben.
Mein Platz war besetzt. Neben oder besser gesagt auf Cora lag Dino, ob von ihr herbeigelockt oder aus eigener Initiative, war mir nicht ganz klar. Jedenfalls waren sie im Augenblick zu beschäftigt, um mich überhaupt wahrzunehmen. An ähnliche Situationen gewöhnt, griff ich mir wortlos die Wolldecke, die vom Bett geglitten war, und kuschelte mich im Wintergarten in einen Liegestuhl. Zum Schlafen war ich allerdings nicht mehr in der Lage. Ich fühlte mich ausgeschlossen. Anscheinend amüsierten sie sich auf meine Kosten, denn ich hörte immer wieder meinen Namen und gleich darauf fröhliches Gelächter. War es meine äußere Erscheinung, die mit Coras blendender Figur verglichen wurde?
Es war und ist nichts Neues, daß die Männer mich kaum beachten, wenn sie an meiner Seite auftaucht. Wie kann mein hellbraunes glattes Haar mit ihrer roten Löwenmähne konkurrieren? Meine grauen Augen mit ihren grünen? Wer es gut mit mir meint, nennt meine Gestalt »klein, aber fein«, während Cora mit Attributen wie Traumfrau oder Rasseweib bedacht wird. Dazu kommt, daß sie stets in aufregenden Farben schwelgt: rosa-orange-gelb oder blaugrünschwarz. Mein Stil wird von ihr als Eisbecher-Kombination verspottet, denn ich liebe karamel, vanille und zimt. Von weitem werde ich wahrscheinlich völlig übersehen.
Irgendwann hörte ich Dinos Wagen über die Kieselsteine fahren. Cora bequemte sich aus dem Bett, machte vor meinem Lager ein paar possierliche Dehn- und Streckübungen und fragte: »Sauer?«
»Hat dein Romeo schlappgemacht?« konterte ich.
»Er will uns ein anständiges Frühstück zubereiten. Hat er jedenfalls versprochen«, behauptete Cora.
Sie sollte recht behalten. Nach etwa einer Stunde röstete uns Dino ungesalzenes toskanisches Brot, das er in Öl tauchte und mit Knoblauch einrieb, und machte einen passablen Espresso. Aus der Küche seiner Mutter hatte er Pecorino mitgebracht, Tomaten und Basilikum pflückte er im Garten.
»Seht mal, was ich im Bücherschrank gefunden habe«, rief Cora aus der Bibliothek, während ich wie eine gute Hausfrau die drei schmutzigen Becher von der Terrasse in die Küche trug, »den Decamerone! Giovanni Boccaccio hat bereits vor 650 Jahren die gleiche Begeisterung für die Schönheit dieser Landschaft empfunden wie wir.«
Aus einem ledergebundenen, mit Goldschnitt versehenen Buch las Cora uns eine ganze Weile lang vor; sie begann mit der Pestepidemie in Florenz, vor der eine Gruppe junger Adeliger auf ein idyllisches Landgut floh. »Der Garten machte den sieben Mädchen und ihren Kavalieren so viel Freude, daß sie sich einmütig gestanden, sie wüßten sich nicht vorzustellen, daß ein irdisches Paradies, wenn das möglich wäre, anders aussehen könne als dieser Garten, und sie seien außerstande, eine Schönheit zu erdenken, die ihm hinzugefügt werden könnte.«
Wir nickten anerkennend. Cora zitierte: »Die Villa im Decamerone lag ein wenig über die Ebene erhaben, aufeinem kleinen Hügel. Boccaccio könnte doch genau dieses Anwesen gemeint haben …«
Dino und ich bezweifelten das. In der Toskana waren Häuser auf einem kleinen Hügel fast die Regel.
Schließlich besichtigten wir unter Dinos Führung das gesamte Anwesen. Es gab drei überdachte Wagenstellplätze, drei Schlafzimmer mit drei Bädern, ein separates Gästehaus – »für Emilia und Mario« bestimmte Cora – und eine vorzüglich ausgerüstete Küche. Am besten gefiel uns der Wintergarten, der, ebenso wie die Terrasse, den Blick auf weites Land freigab. Im Anschluß an den Rundgang ließen wir uns in die behaglichen Korbsessel fallen.
»Wieso hat man gerade dir die Schlüssel anvertraut?« fragte ich Dino.
Sein Großvater sei der Gärtner dieses Anwesens, erwiderte er, und habe seinem einzigen Enkel den lukrativen Job verschafft, regelmäßig die Technik zu überwachen. Dino mußte sich um das Tor kümmern, er war auch für die Wartung des Schwimmbads mit Massagedüse, Gegenschwimmanlage und automatischer Abdeckung verantwortlich. Stolz zeigte er uns einen Fernseher mit einer Unzahl von Programmen. Der Engländer habe sich, sein Faible für aufwendige Elektronik einmal ausgenommen, nur durch wenig nennenswerte Spleens ausgezeichnet. »Einmal war er ganz verzweifelt über seinen defekten Computer, denn er verbrachte Stunden mit seinem Lieblingsspielzeug. Ich sagte gleich, daß ich zwar elektrische Leitungen legen könne, aber von Rechnern keine Ahnung hätte. Ein Spezialist kam extra aus Mailand, dabei gibt es auch hier in der Nähe genug Computerläden. Nach dem Tod des Engländers hat der Commissario den PC leider beschlagnahmt; vielleicht glaubt er, wichtige Hinweise auf der Festplatte oder in der E-Mail-Korrespondenz zu finden«, sagte Dino.
»Was meinst du mit Hinweisen? Wie alt war der Engländer? Hatte er Familie? Und vor allem – wie ist er überhaupt umgekommen?« fragte Cora.
Ein Mann Anfang Fünfzig, war die Antwort, ohne Familie, aber mit einem Lebenspartner, der ihn gelegentlich hier in Italien besuchte.
Im Dorf nannte man den Engländer il barone. Er war stets großzügig, was die Bezahlung der Angestellten und Trinkgelder betraf. Darüber hinaus war il barone sehr geistreich, belesen, kunstinteressiert, dabei aber nicht unsportlich. Täglich schwamm er morgens und abends seine Bahnen. Gerade deswegen blieb sein plötzlicher Tod für alle, die ihn kannten, ein Rätsel. Eines Morgens hatte Dinos Großvater Umberto die Abdeckung des Schwimmbads entfernt, um mit einem Spezialstaubsauger den Grund zu reinigen. Im Wasser trieb der tote Engländer.
»Er kann sich aber nicht eigenhändig zugedeckelt haben«, sagte ich sofort, »es ist doch unmöglich, vom Wasser aus den Schlüssel zu bedienen!«
Dino grinste. »Kluges Kind. Hat die Polizei auch schon festgestellt. Leider wissen wir im Dorf nicht genau Bescheid, was der Commissario aus Siena bis jetzt herausgefunden hat, denn die Presse wird nicht informiert. Die Polizisten haben jedenfalls den ganzen Medizinschrank ausgeräumt und den Inhalt einkassiert; nun wird gemunkelt, daß man bei der Obduktion Spuren eines Schlafmittels gefunden habe. Es könnte zum Beispiel so zugegangen sein, daß il baroneunter Sedativa stand und beim Schwimmen bewußtlos wurde. Eine zweite Person konnte im Dunkeln gar nicht bemerken, daß da ein hilfloser Mensch im Wasser lag, und hat nichtsahnend die Automatik bedient. Deswegen ist vorläufig von einem Unfall die Rede.«
»Natürlich war es Mord«, sagte Cora bestimmt.
Dino nickte. »Viele hier im Ort glauben das. Vor allem zerbricht man sich den Kopf, wer die zweite Person gewesen sein könnte. Verdächtig ist, daß der Erbe – ein Neffe – das Anwesen so eilig verkaufen will. Er selbst hat allerdings ein wasserdichtes Alibi. Andererseits liegt über einem Mörderhaus ja immer ein Fluch, man kann verstehen, daß er es nicht behalten möchte!«
»Ein Fluch lastet natürlich zentnerschwer«, sagte Cora geistesgegenwärtig, »und der Bann kann nur gebrochen werden, wenn zwei nordische Jungfrauen einen Gegenzauber betreiben.«
Dino meinte lachend, zwei Hexen täten es auch, und zeigte großes Interesse daran, woher Cora das Geld habe, um ein derartiges Projekt auch nur in Erwägung zu ziehen.
»Das kann ich dir erklären«, sagte sie, »das Geheimnis liegt in absoluter Disziplin! Jeden Morgen früh aus den Federn, fleißig ackern, no sex, no drugs und niemals vertrocknetes Brot oder eine Büroklammer wegwerfen! Eh du dich versiehst, bist du Millionär. Und zwar nicht bloß in Lire!«
Cora ließ ihren habgierigen Blick in die Ferne schweifen. »Wo verläuft eigentlich die Grenze zum Nachbargrundstück?«
Wir wurden belehrt, daß zwei Zypressen an jeder Ecke traditionsgemäß das Ende einer Fattoria, also eines Weingutes oder Bauernhofes, markieren.
Cora machte sich eine Skizze und kratzte mit dem Bleistift ausgiebig ihr von Mücken zerstochenes Décolleté, wobei Dino sie mit lüsternen Blicken beobachtete.
Ich ärgerte Cora mit einem Sprichwort, das ich von Emilia kannte: »Wer mit Hunden zu Bett geht, steht mit Flöhen auf.«
Als sie mir einen zornigen Blick zuwarf, ließ ich sie mit ihrem Köter allein und begab mich ins Haus, um die Bibliothek genauer zu inspizieren.
Da gab es italienische Kunstbände, englische Klassiker, aber auch Kriminalromane und eine große CD-Sammlung. Monteverdis Madrigale waren in verschiedenen Einspielungen vorhanden. Im Stereogerät lag noch eine Scheibe, ich drückte auf play. Mit Wehmut lauschte ich der anmutigen Renaissancemusik und zwei wunderbaren Stimmen, die in melismatischen Läufen sowohl den geflügelten Pfeil Amors als auch den Flug eines Vogels besangen: Addio, Florida bella. Der deutschen Übersetzung entnahm ich, daß es sich um den bewegenden Abschiedsgesang zweier Liebender bei Sonnenaufgang handelte.
Vielleicht waren mir durch Coras Affäre meine persönlichen Defizite bewußter geworden, denn plötzlich brach ich in Tränen aus. Vor fünf Jahren hatte ich Jonas, den Schwarzwälder Naturburschen und Vater meines Kindes, während der Sommerferien in der Toskana kennengelernt – womöglich war es auch die Umgebung, die mich auf einmal so sentimental stimmte. Zweifellos hatte ich ihn geliebt, jedenfalls so, wie ich mit meinen siebzehn Jahren lieben konnte. Es war traurig, daß unsere Ehe an den Tücken des Alltags gescheitert war; wie sehr sehnte ich mich nach einer Liebkosung.
Cora suchte, fand und umarmte mich. »Was ist? Du wolltest meinen schönen Cherub doch gar nicht haben – oder magst du Flöhe?«
Ich schüttelte nur den Kopf.
Später beschlossen wir, bis Montag zu bleiben. Cora wollte direkt weiter nach Siena, um sich über alle Einzelheiten, die das Landgut betrafen, beim Makler zu informieren. Sie griff zum Handy und gab Emilia Bescheid. Dann zog sie ihren Malblock hervor, und Dino mußte gut eine Stunde Modell stehen. Den Rest des Tages verbrachten wir am Pool, bis wir abends alle drei nach Castellina zum Essen fuhren.
Das hübsche kleine Städtchen mit Piazza, Kirche und Verteidigungsanlage lag auf einem Hügel zwischen den Tälern der Flüsse Arbia, Elsa und Pesa. Bei der zuppa inglese kamen wir wieder auf den mysteriösen Tod des Engländers zu sprechen. »Ist der Neffe eigentlich nach dem Tod seines Onkels sofort angereist und hat Anweisungen für den Verkauf gegeben?« fragte ich.
»Natürlich«, sagte Dino, »ein unangenehmer Typ. Er bezahlt zwar meinen Opa noch weiter, weil sich das Anwesen mit einem vertrockneten Garten wohl weniger gut verkaufen läßt, aber er hat sofort das Telefon abgemeldet und Lucia entlassen.«
»Wen?«
»Die Haushälterin. Oder glaubt ihr, il barone hätte selbst gekocht?«
Dino sah Cora voller Zweifel an. Wenn sie wirklich reich war, dann müßte sie sich in den Gepflogenheiten eines Millionärs eigentlich auskennen.
»Erzähl weiter«, drängte ich, »der Neffe hat sich also nicht gerade beliebt gemacht! Hat er seinen Onkel zu Lebzeiten denn häufig besucht?«
»Nein, nicht daß ich wüßte. Übrigens hat er die Sammlung sofort einpacken lassen und mit nach England genommen. Sicher nicht aus Sentimentalität, sondern um sie zu verscherbeln.«
»Welche Sammlung?« fragten wir wie aus einem Mund.
Dino schüttelte den Kopf über unsere schlechte Beobachtungsgabe. »Ihr tut so clever, dabei sind euch noch nicht einmal die leeren Vitrinen aufgefallen! Lucia hat ein paar alte Vogelnester hineingelegt, damit es nicht gar so kahl aussieht. Schade, daß ihr seine Schätze nie mehr sehen könnt! Wie im Museum!«
Mein Interesse war geweckt. Il barone wurde mir immer sympathischer. »Was hatte er denn gesammelt?« fragte ich.
Dino sah mich zum ersten Mal taxierend an und holte tief Luft: »Puppen! Alte, wertvolle Puppen aus Frankreich, meistens mit Porzellanköpfen. Und zwar nur Jungs, keine einzige Mädchenpuppe! Lucia brauchte viel Zeit, um die kleinen Matrosenanzüge zu waschen und die Gesichter mit Ohrenstäbchen zu putzen, aber es machte ihr Spaß. Eigentlich sollte man ja annehmen, daß eine solche Kollektion bloß einer Frau gefällt; Männer sammeln doch lieber Waffen, Münzen, Pfeifen …«
»Und Briefmarken«, vervollständigte Cora.
»Einmal wollte ihn sein Freund necken«, plauderte Dino, »und hat heimlich eine Mädchenpuppe zwischen all die Porzellanjungs geschmuggelt – eine moderne mit Busen, versteht sich. Il barone fand die Barbie überhaupt nicht lustig, ich dagegen habe mich krankgelacht, als Lucia es mir erzählte.«
Nach weiteren Anzüglichkeiten legte ich mich am Abend gar nicht erst neben meine rothaarige Freundin ins Doppelbett, sondern bezog gleich eines der Gästezimmer.
Montag früh mußten wir für unsere Verhältnisse zeitig aus den Federn, genossen aber dennoch die Fahrt nach Siena. Über Schleichwege fuhr uns Dino durch Wälder und über Äcker, wo die Bauern trotz der frühen Stunde schon beim Heumachen waren oder mit kleinen Traktoren die Erde zwischen den Weinstöcken pflügten, um Unkraut und Gras herauszureißen.
An einem der Stadttore setzte uns Dino ab und verabschiedete sich. Es war noch zu früh, um den Makler aufzusuchen, und wir freuten uns auf ein kleines Frühstück auf dem Campo. Bei Cappuccino und Cornetti sprachen wir angeregt über jenen Sommer vor dem Abitur, als wir auf diesem Platz mit hübschen Burschen das Flirten übten – bis ein Kehrauto, das von einer jungen Frau bedient wurde, uns aus unseren Erinnerungen herausriß.
»Sieh nur, welche Mühe sie mit den vielen Kippen hat«, bemerkte ich ein wenig schuldbewußt, denn auch wir pflegten nicht immer nach öffentlichen Abfalleimern Ausschau zu halten.
»Du hättest bei Jonas im Schwarzwald bleiben sollen«, sagte Cora aggressiv und zündete sich eine Zigarette an. »Komm jetzt, wir sollten zum Busbahnhof gehen und schon einmal die Tickets für die Rückfahrt besorgen.«
Wir hatten uns kaum von unseren Plätzen erhoben, als sich der Himmel verfinsterte.
»In den Dom!« kommandierte Cora.
Während der Regen auf das Kirchendach trommelte, konnte ich mich in Ruhe meiner Lieblingsbeschäftigung widmen und den wunderbaren Fußboden Meter für Meter abgehen. Ein Fries aus schwarzen, weißen und rotbraunen Marmorrauten hatte es mir besonders angetan; lustvoll ließ ich mich durch uralte optische Täuschungen verführen: einem Mosaik aus Treppenstufen, die sowohl auf- als auch abwärts zu führen schienen. Cora räkelte sich auf einer Kirchenbank. Als wir schließlich ins Freie traten, regnete es immer noch, die Taxis waren wie vom Erdboden verschluckt, doch ein fliegender Händler stand mit billigen bunten Plastikfolien bereit, die zwar penetrant an den nackten Beinen klebten, aber durchaus ihren Zweck erfüllten. Die Touristen spannen sich, wie wir auch, samt und sonders in rosarote, hellblaue und grünliche Kokons ein.
Der Makler legte uns die Pläne vor. Das Anwesen war erst vor zehn Jahren nach den strengen Baugesetzen der Toskana renoviert und ausgebaut worden. Äußerlich hatte man zwar nichts an der traditionellen Architektur verändert, aber das Innere der Gebäude war entkernt, modernisiert und mit den edelsten Baumaterialien und teuersten Installationen ausgestattet worden. »Wenn Sie ernsthaft interessiert sind, müssen Sie schnell zugreifen«, riet er. »Für diesen Preis ist ein Haus mit einem so großen Grundstück im Handumdrehen verkauft. Außer Ihnen gibt es noch weitere solvente Kundschaft, zum Beispiel einen Industriellen aus Bologna und einen berühmten Schönheitschirurgen aus Rom.«
Cora versuchte, den Preis ein wenig zu drücken. Man spreche in Castellina bereits von einem Fluch, der auf diesem Haus laste, was den Wert sicherlich drastisch mindern könne.
Der Makler lächelte: »Sie scheinen mir keine Frau zu sein, die etwas auf abergläubisches Geschwätz gibt.«
»Nein«, sagte sie und schenkte ihm einen warmen Blick, »Sie sind ein guter Menschenkenner! Aber ich denke, es wird Schwierigkeiten geben, genügend Personal zu finden. Bestimmt meidet die Landbevölkerung ein Mörderhaus wie der Teufel das Weihwasser.«
Der Makler tat gekränkt: »Aber ich bitte Sie, wir Toskaner sind doch keine Hinterwäldler, sondern seit vielen hundert Jahren moderne und aufgeklärte Menschen!«
Schleunigst schaltete ich mich ein und beklagte, daß wir Germanen zu Zeiten der Renaissance gerade mal mit der Höhlenmalerei begonnen hätten.
Cora packte die kopierten Baupläne und Unterlagen in unsere Strohtasche und versprach, so bald wie möglich mit ihrer Bank zu sprechen.
Mit neugierigem Interesse blickte ihr der Makler nach. Wo hat sie das Geld her? mochte er denken.
»Hier sind die Leute aber schnell beleidigt«, meinte Cora später. »Sind wir auch so empfindlich?«
»Ja, sicher«, sagte ich. »Oder wie würdest du reagieren, wenn man die Deutschen als Volk von Mördern bezeichnete?«
»Das wäre wohl die letzte Unverschämtheit!« ereiferte sich Cora. »Politisch unkorrekt, rassistisch und vor allem frauenfeindlich. Mörder und Mörderinnen muß es heißen!«
Wir sahen uns an und prusteten los.
Wenn Cora sich auch heftig in das Landhaus verliebt hatte, so gab sie dennoch keine bindende Zusage, unterschrieb keinen Vertrag. Nach dem Gespräch mit ihrem Finanzberater war sie nicht mehr ganz so wild zum Kauf entschlossen wie anfangs.
»Was meinst du, Maja?« fragte sie beim Frühstück. »Ob es sinnvoll ist, das ganze Kapital in ein einziges Projekt zu stecken? Ich könnte mir das Anwesen mit knapper Not leisten. Sollte man alles auf eine Karte setzen?«
»Alles, was man besitzt, kann man wieder loswerden«, sagte ich. »Und wenn dich plötzlich eine Hazienda in Argentinien lockt oder eine Schweinefarm am Mekong, dann ade Italien!«
»Argentinien! Mekong! Toskana! Mich fragt ihr überhaupt nicht«, schaltete sich Emilia, die neuen Kaffee gebracht hatte, plötzlich ein. »Dabei wißt ihr gar nicht, ob ich dort wohnen möchte! Kann man in dieser Wildnis überhaupt frische Muscheln kriegen?«
»Mir kommen die Tränen!« sagte Cora. »Da will man das schönste Landgut, das es auf Erden gibt, kaufen, und Emilia zögert, ob es ihr fein genug ist.«
»Quatsch«, konterte Emilia, »du drehst mir immer das Wort im Mund herum. Aber schließlich bin ich nicht mehr die Jüngste und reiße mich nicht darum, das Haus in Schuß zu halten.«
»Für eine Putzfrau ist bereits gesorgt«, behauptete Cora kühn und sah mich dabei an.
Unter diesen Umständen ließ mein Enthusiasmus ebenfalls erheblich nach.
Vielleicht lag es also auch ein wenig an Emilia und mir, daß Cora eine Woche lang das Pro und Contra erwog. Schließlich rief sie in Siena an, um ihr Jawort zu geben.
»Es tut mir leid«, sagte der Makler, »vor zehn Minuten habe ich das Objekt verkauft.«
Cora war entsetzt. »Wieso? An wen? Warum?« stotterte sie.
Sie erfuhr, daß eine Amerikanerin den Preis aus eigener Initiative um fünf Prozent erhöht habe und damit sofort den Zuschlag bekam, ohne daß die anderen Bewerber ein zweites Mal gefragt wurden.
»Da kann man nichts machen«, sagte ich erleichtert.
Aber Cora war so schlechter Laune wie schon lange nicht mehr. »Ihr beide seid schuld!« brüllte sie. »Der Makler hatte gesagt, daß man nicht lange fackeln darf, aber ihr habt mich völlig verunsichert! Du mit deinem ewigen Wiederverkaufen – da verliert man doch in jedem Fall einen Haufen Kohle! Und Emilia mit ihren absurden Bedenken, daß es auf dem Markt von Castellina nicht ebenso frische Muscheln wie in Florenz gibt! Das Blödeste daran ist, daß mein Haus erst seit zehn Minuten weg ist! Warum hast du mich nicht früher geweckt, Emilia! Jetzt hat sich der Traum meines Lebens in Luft aufgelöst!«
Die so bitter enttäuschte Cora tat mir zwar leid, aber mußte ihr einfach alles in den Schoß fallen? Ich für meinen Teil durfte von dergleichen noch nicht einmal träumen. Ein Landsitz in der Toskana, das waren Luftschlösser für mich. Seit ich meinen Job als deutschsprachige Stadtführerin verloren hatte, verdiente ich nicht einmal mehr ein Taschengeld.
Cora tröstete sich mit dem Besuch einer teuren Boutique, wo sie auch uns in einem gigantischen Kaufrausch von Kopf bis Fuß neu einkleidete. Und mitten beim Anprobieren kam ihr die Idee, die Bildhauerei zu erlernen. Ausgerechnet ich animierte sie dazu, als ich in einem hautengen Kleid auf einem Hocker stand und die Schneiderin den Saum absteckte.
Kaum waren wir vom Einkauf zurück, als schon wieder ein Sommergewitter heraufzog. Emilia stellte Béla vor sich auf das Fensterbrett, und sie beobachteten gemeinsam, wie der Regen auf den Terrassenboden prasselte. Mein Sohn entdeckte ein großes Spinnennetz, das von den Tropfen wie mit unzähligen Perlchen bestickt schien.
»Selbst die schönsten Klamotten können mit der Natur nicht mithalten«, stellte Cora wehmütig fest.
Ich hatte das Haus in der Toskana bereits verschmerzt und ahnte nicht, daß meine Freundin eine Niederlage niemals wegsteckte.
Cora begann damit, probeweise kleine Skulpturen aus Ton zu modellieren, später wollte sie sich an Marmor heranwagen. Aber sie war unruhig und gereizt, so daß alles mißlang. Obwohl wir mindestens einmal in der Woche eine Tour ans Meer machten oder in der Nachbarschaft eine Ausstellung besuchten, lief sie mit Leichenbittermiene herum. – Bis eines Tages die Rede auf die alte Heimat kam.
Ich hatte sofort ein ungutes Gefühl. Angeblich ging es Coras Großmutter schlecht; sie habe eine beginnende Lungenentzündung, die für eine über Achtzigjährige den Tod bedeuten könnte. Und Cora verstieg sich zu der Behauptung: »Außer dir ist sie der einzige Mensch, den ich …«, längere Pause, »… liebe.« Wir müßten sofort losfahren, verlangte sie, vielleicht sei dieser Besuch der letzte.
Wieso wir? fragte ich, es gehe einzig und allein um ihre Großmutter, denn ich hatte Gott sei Dank keine eigenen Verwandten mehr.
»Ich möchte ihr den letzten Wunsch erfüllen«, sagte Cora.
Halb neugierig, halb mißtrauisch hörte ich mir ihre Überlegungen an.
»Meine Oma hat drei Kinder und sechs Enkel. Also denk mal nach, Maja, was man sich auf seine alten Tage sehnlich wünscht? Urenkel natürlich.«
Ich war empört. Wollte Cora einer Greisin zuliebe sämtliche Prinzipien über Bord werfen und sich mal eben schwängern lassen? Sollte sie Dino einzig für diesen Zweck benutzt haben?
Doch Cora erriet meine Gedanken und schüttelte mißbilligend den Kopf: »Da liegst du voll daneben.«
Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Béla sollte als Urenkel herhalten, mein kleiner Sohn einer Sterbenden untergejubelt werden wie weiland Jakob dem Isaak!
»Wie willst du ihr weismachen, daß du einen vierjährigen Jungen hast?« fragte ich ungehalten. »Sie ist doch noch bei Trost – oder?«
Cora war der Meinung, unterwegs werde uns schon noch eine plausible Begründung einfallen. Mir graute vor der langen Autofahrt. Béla hatte zwar noch nie von dieser Urgroßmutter gehört, aber die Welt war in seinem Alter voller Überraschungen; er hörte sich den Grund für unsere Reise ohne trotzige Einwände an. »Die Uroma wohnt bei Papa«, meinte er hoffnungsvoll, und mir fiel reichlich spät ein, daß er ja tatsächlich eine Urgroßmutter im Schwarzwald hatte.
So kam es zu jener Reise, die unser Leben verändern sollte.
Wie sich herausstellte, ließ sich Charlotte Schwab jedoch noch nicht so schnell beerben. In Darmstadt wurde uns die Tür von einem jungen Mann geöffnet, der strahlend wie ein Engel verkündete, die Oma sei fast wieder gesund. Es war Coras Vetter, den man mir bereits als Musterknaben geschildert hatte, weil er die Versorgung der alten Dame im Bedarfsfall gegen gute Bezahlung übernahm.
»Hör, Felix«, sagte Cora streng, »ich präsentiere ihr jetzt dieses Kind als Urenkel. Und wehe …«
Gemessenen Schritts traten wir ein, vorsichtshalber schon mal schwarz gekleidet, was gut aussah zu unserer gepflegten Sonnenbräune. Coras Großmutter trug einen grünen Jogginganzug, saß am Fenster, las mit Hilfe einer Lupe einen Brief und stieß dabei mit dem Fuß einen Schaukelstuhl an, in dem eine Schaufensterpuppe saß. Der Fernseher lief ohne Ton.
Die alte Frau begrüßte ihre Enkelin herzlich, reichte mir die Hand und stellte fest: »Das muß Maja sein! Wie reizend, daß Sie Ihren Kleinen mitbringen!«
»Nein, Oma, das ist mein Kind«, sagte Cora feierlich. »Ich dachte, es ist Zeit, endlich mit der Wahrheit herauszurücken.«
Trotz der vorausgegangenen Warnung wieherte Felix los, die Großmutter fiel ein, ich lachte schließlich mit. Béla wurde nach dem langen Stillsitzen wieder munter, fegte wie ein Irrwisch im Zimmer herum, warf einen Meißner Teller zu Boden und schwatzte in italienisch-deutschem Kauderwelsch auf die Puppe im Schaukelstuhl ein. Ich wußte genau, daß er noch eine Weile den Clown spielen würde, um dann todmüde in Tränen auszubrechen. Cora ärgerte sich.
An diesem denkwürdigen Tag lernte ich Felix näher kennen. Was Wunder, daß er mit seinem charmanten Diensteifer das Herz seiner Oma gestohlen hatte. Er himmelte auch Cora an, bettete den müden Béla aufs Sofa, kochte Tee, entkorkte eine Weinflasche und warf mir gelegentlich so treuherzige Blicke zu, daß ich nicht recht wußte, ob ich ihn nett oder zu brav finden sollte.
»Wollt ihr bei den Eltern oder bei Regine übernachten?« fragte die Großmutter. »Ich habe höchstens Platz für eine Person.«
Cora mochte weder bei Vater und Mutter in Heidelberg noch bei ihrer Tante schlafen, sie verzog das Gesicht.
»In unserer WG ist in den Semesterferien viel Platz«, sagte Felix. »Zwei Mitbewohner sind ausgeflogen, ihre Betten stehen leer, und für den Kleinen bauen wir ein Nest.«
Cora war einverstanden, ich wurde nicht gefragt.
Die Großmutter zog die Brauen hoch, musterte Enkelin und Enkel – und schließlich mich –, sagte aber nichts.
Bevor wir uns verabschiedeten, bot sie uns muffige Kekse und ein Balladenstündchen bei Kerzenlicht an. Als sie mit »Wild zuckt der Blitz. Im fahlen Lichte steht ein Turm …« begann, türmten wir.
Während wir hinter ihrem Vetter herfuhren und er uns nicht hören konnte, sagte Cora: »Meine Oma phantasiert, daß ich etwas mit diesem grünen Jungen anfangen will. Aber das hat nichts mit mir, sondern bloß mit ihren eigenen Ansprüchen zu tun, denn sie liebt Felix über alles.«
Ich nahm die Alte in Schutz, aber Cora lachte mich aus. Von wegen abgeklärt – ihre Großmutter besuche alle paar Tage einen Methusalem im Altersheim, und der sei ihr Lover. »Da kann man nur sagen je oller, um so doller.«
In der WG machte Felix sich abermals nützlich und durchforstete die Speisekammer der Gemeinschaftsküche, um uns in aller Eile ein warmes Essen zu kochen. Wir waren zwar bessere Pasta gewohnt, langten aber trotzdem zu. Nach einer Weile tauchte ein ebenso müder wie magerer Student namens Andy auf, aß zwei Portionen, ohne viel zu reden, und verzog sich wieder. Béla schlief schon längst auf dem schmuddeligen Lammfell eines Hundes, als Cora gegen Mitternacht nach einem Bett verlangte. Felix zeigte uns zwei leerstehende Zimmer; im einen stand ein Ehebett, im anderen lag eine Matratze. Unverzüglich trug ich mein Kind ins Doppelbett und legte mich daneben; es war mir völlig gleichgültig, wann, wo und wie Cora und Felix schliefen.
Am nächsten Morgen erwachte ich erst spät und suchte verschlafen meinen Sohn. Béla saß mit Felix am Küchentisch und panschte in einer Schale mit Milch und Cornflakes herum, während ein struppiger Köter unterm Tisch die willkommene Beute aufleckte. Felix streckte mir bereitwillig eine Kakaotüte entgegen, aus der er selbst gerade getrunken hatte. Ich lehnte ab und ließ mich neben meinem Sohn nieder.
»Dein Hund?« fragte ich und erfuhr, daß er einem Mitbewohner gehöre.
»Max wollte den Hund nicht nach Irland mitnehmen, obwohl die Quarantäne-Vorschriften gelockert wurden. Zilli ist auch gerade verreist, sonst ginge es in unserer Küche turbulenter zu.«
In Italien hatte ich mir das Frühstücken zwar weitgehend abgewöhnt, aber Emilia kochte uns stets einen Espresso, wenn wir aus den Federn krochen. Suchend sah ich mich um, doch Felix sprang bereits auf und kramte in einem Regal, wo er auch tatsächlich ein Glas mit Instantkaffee fand.
Als Cora erschien, nahm sie mir wortlos meine Tasse aus der Hand und trank sie aus, dann griff sie zur Sprudelflasche. Nachdem sie ihren Flüssigkeitshaushalt einigermaßen reguliert hatte, sagte sie mit verdächtiger Wärme: »Felix und ich haben gestern abend festgestellt, daß er die Toskana gar nicht kennt. Jetzt, wo er Ferien hat …«
Fragte man mich um Erlaubnis? Ich nickte kurz, was sollte ich auch dagegen vorbringen?
»Da ist nur die Sache mit Oma«, sagte Cora. »Meine Tante hat dummerweise gerade ihren Jahresurlaub genommen und ist nach Bali geflogen.«
Ich schaltete immer noch nicht. Was gingen mich Coras Tante und Oma an?
»Außerdem muß der Hund ausgeführt werden«, fuhr Cora fort.
Langsam schwante mir etwas, aber ich schwieg.
»Maja ist sicherlich so lieb«, sagte sie zu Felix, »und bleibt ein paar Tage als Vertretung hier. Für Béla ist es bestimmt ein tolles Abenteuer.«
Felix protestierte. Das könne man mir nicht zumuten.
»Aber doch nur für ein paar lächerliche Tage«, wiederholte Cora und lächelte Felix an. »Dann bringe ich dich wieder zurück nach Darmstadt und hole Maja und Béla ab.«
Im Nu hatten sich die beiden darauf geeinigt, daß man es mir doch zumuten könne. Das Auto von Max stehe mir zur Verfügung, und ich könne täglich einen schönen Ausflug mit Hund und Kind unternehmen, am Nachmittag mal bei der Großmutter reinschauen und ihr gelegentlich eine Kleinigkeit zum Essen …
»Hat sie eine Putzfrau?« fragte ich.
Aber nein, eine alte Frau spiele schließlich nicht im Sand wie Béla, da gebe es nicht viel zu putzen. Außerdem ertrage sie keine Fremden in ihrem Haus.
Das konnte ja gut werden.
Zwei Stunden später hatte Felix hektisch eine Reisetasche gefüllt, sich bei seiner Großmutter telefonisch verabschiedet, mir gezeigt, wo der Klopapiervorrat und das Hundefutter lagerten, und sich dann zu Cora ins Auto geschwungen.
Wer mag es schon, wenn Entscheidungen gegen den eigenen Willen getroffen werden? Ich fühlte mich wie eine Strafgefangene, die man auf der Pfefferinsel ausgesetzt hatte. Grimmig packte ich mein Köfferchen aus und zog das Doppelbett ab, das mir bei Tageslicht längst nicht so einladend erschien wie gestern nacht. Béla hatte sich mit dem namenlosen Köter bereits angefreundet; da er mit Emilias Hund Pippo aufgewachsen war, hatte er keinerlei Skrupel, einem fremden Vierbeiner mit seinen Patschhänden in den Rachen zu greifen.
Ich begann erst einmal damit, die fremde Wohnung zu inspizieren. Anscheinend hatte jeder Bewohner ein eigenes Zimmer, gemeinsam genutzt wurden Küche und Bad. Felix hauste an der Straßenseite offenbar in einem ehemaligen Frisörsalon, was man noch an den vielen Wasseranschlüssen erkennen konnte. Das zugehörige Schaufenster war vollgestopft mit Kram, den er für originell und dekorativ hielt: ein leerer Vogelkäfig zum Beispiel und ein biedermeierliches Korsett. Gegen Möchtegernkünstler hatte ich schon immer Vorurteile.
Das Zimmer von Max, der Elektrotechnik studierte, verriet sich durch eine professionelle Werkbank, während die Kemenate, in der ich geschlafen hatte, auf eine weibliche Besitzerin schließen ließ. Es war der schmutzigste Raum.
Im nächsten Zimmer lag Andy im Bett, was ich nicht erwartet hatte. »Ich suche …«, stotterte ich. »Wo steht die Waschmaschine?«
Der Student sah auf die Uhr. Gut, daß ich ihn geweckt hätte, gleich beginne seine Schicht. In den Ferien – und auch sonst zuweilen – arbeite er als Taxifahrer. »So gut wie Felix hat es nicht jeder. Der wirft alle vier Wochen bei seiner Großmutter den Staubsauger an – oder noch besser: er läßt es seine Freundin machen und kassiert dafür zwei Blaue.«
Ich erklärte, daß ich in den nächsten Tagen diese Aufgabe übernehmen müsse.
»Bist du seine Neue?« fragte Andy.