Tea Time - Ingrid Noll - E-Book

Tea Time E-Book

Ingrid Noll

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Beschreibung

Die Freundinnen Nina und Franziska wohnen im selben Haus am Weinheimer Marktplatz. Aus einer Sektlaune heraus gründen sie mit vier anderen Frauen den Klub der Spinnerinnen – jede von ihnen hat eine spezielle Macke. Als Nina ihre Handtasche verliert, beginnt die verhängnisvolle Bekanntschaft mit Andreas Haase. Er begnügt sich nicht mit dem üblichen Finderlohn, er möchte mehr. Die Solidarität ihrer Busenfreundin ist gefragt.

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Ingrid Noll

Tea Time

Roman

Diogenes

1Macken, Spleens und Schrullen

Jahrelang kannte bloß meine Schwester den wahren Grund für meinen Tick. Ich konnte nämlich nur einschlafen, wenn ich mich in meine Bettdecke wie in einen strammen Kokon einwickelte. Unter keinen Umständen durf‌te ein Fuß oder gar ein Unterschenkel ungeschützt herausragen. Sollte ich es doch einmal vergessen, würde ein rot gekleideter Henkersknecht mit einem Beil auf‌tauchen und mir meine freiliegenden Gliedmaßen einfach abhacken. Während die meisten Deutschen die festgestopf‌te Steppdecke in Hotelbetten wieder etwas lockern, war es mir gerade so am liebsten. Ich überlegte sogar, ob ich mir nicht einen engen Mumien-Schlafsack anschaffen sollte, worin ich mich wie ein russisches Wickelkind geborgen fühlen konnte. Es ist mir daher auch völlig unverständlich, wie es andere Menschen stundenlang zu zweit unter einer Decke aushalten.

 

Ich war damals etwa neun, meine Schwester elf. Es hört sich sicher merkwürdig an, aber wir waren bisher noch nie am späten Abend allein gewesen. Erst als meine Großmutter in ein Pflegeheim umsiedeln musste, kamen wir in diese Situation. Unsere Eltern hielten es für selbstverständlich, dass wir auch ohne Aufsicht für ein paar abendliche Stunden uns selbst überlassen blieben; notfalls waren sie ja telefonisch erreichbar. Wir taten ebenfalls so, als seien wir längst erhaben über Räubermärchen oder furchterregende Gespenstergeschichten.

Im Fernsehen fanden wir zunächst nur langweilige Sendungen, bis wir schließlich auf eine Doku über entführte Kinder stießen. Vor vielen Jahren wurden die minderjährigen Töchter einer deutschen Journalistenfamilie während eines Italienurlaubs gekidnappt. Die Lösegeldforderungen, die diplomatischen Verwicklungen und die schwierigen Verhandlungen mit den Gangstern interessierten uns weniger, wir verfolgten mit viel größerem Interesse die Aufregung und das Leid der Eltern. Ob unsere Erzeuger, die uns heute so schnöde allein gelassen hatten, ebenso unglücklich wären und ihr letztes Hemd für unsere Befreiung hergeben würden?

»Was meinst du, Nina, sollen wir sie mal testen?«, fragte meine Schwester, und wir beschlossen, unseren Eltern einen Denkzettel zu verpassen, beziehungsweise einen gehörigen Schrecken einzujagen. Auf dem Dachboden gab es eine Kammer mit Gerümpel, hinter einem ausgedienten Schrank deponierten wir die Polster eines zweisitzigen Sofas. Dort sollte ich mich über Nacht und möglichst auch noch länger versteckt halten. Dann schnitten wir Buchstaben aus der Zeitung aus und bastelten einen nach unserem Wissensstand professionellen Erpresserbrief, in dem wir eine horrende Summe für unsere Freilassung forderten. Da zu erwarten war, dass die Eltern nach ihrer Rückkehr noch einen Blick auf ihre schlafenden Kinder werfen würden, ließen wir unter meiner Bettdecke einen Strumpf hervorlugen und deponierten das Haarteil unserer Mutter auf meinem Kopfkissen. Schließlich malten wir uns die Verzweif‌lung unserer Eltern genussvoll aus und waren hochzufrieden mit unserer Strafmaßnahme. Obwohl ich mich auf dem kalten Dachboden etwas ängstigte, bin ich schließlich doch eingeschlafen.

Leider kam es anders; meine Schwester hatte am nächsten Morgen dem mütterlichen Verhör nicht lange standgehalten. Irgendwann hörte ich wie im Traum die Stimmen meiner Eltern. Bevor ich noch richtig wach war, stand mein Vater vor meinem Lager und sagte: »Diese bleichen Flossen sind natürlich ebenso eine Attrappe wie die Perücke in Ninas Bett. Gut, dass Opas Axt hier noch herumliegt, jetzt werde ich gleich mal kräftig zuschlagen, um der blöden Schaufensterpuppe die hölzernen Beine abzuhacken!«

Schreiend fuhr ich hoch, unsere Eltern lachten sich fast krank. Irgendwann fand ich es wichtig, dieses peinliche Erlebnis meiner besten Freundin Franziska zu beichten. Vielleicht würde sie mich und meine Macke dann besser verstehen, denn sie tickt ja selbst nicht ganz richtig.

»Mein Gott, Nina, ich wusste zwar schon längst, dass du ein wenig spinnst, aber unter Klaustrophobie scheinst du nicht gerade zu leiden«, sagte Franzi. »Ich werde bereits bei dem Gedanken fast wahnsinnig, man könnte mich in einer Zwangsjacke festzurren! Ich kriege ja schon Platzangst in einem vollbesetzten Lift! Mein Alptraum wäre es, halbtot in einen Teppich eingerollt zu werden.«

Teppiche haben für meine Freundin eine ganz spezielle Bedeutung. Aber sie hat recht, kleine und enge Räume sind mir wesentlich lieber als riesige Säle.

 

Franzi und ich hatten zwar früher die Parallelklassen desselben Gymnasiums besucht, aber damals hatten wir uns kaum beachtet. Erst als uns der Beruf in die gleiche Stadt verschlug, begann eine vorsichtige, aber stetig wachsende Freundschaft. Richtig eng wurde unsere Beziehung erst durch ein schreckliches Erlebnis, ein gemeinsames Geheimnis, von dem niemand etwas erfahren sollte.

 

Als ich vor einiger Zeit nach Weinheim zog, sorgte Franzis Bruder anfangs für eine leichte Verstimmung, weil er eine Zeitlang hinter mir her war. Meine Freundin hätte es wahrscheinlich nicht ungern gesehen, wenn ich ihn erhört hätte, aber ich fand diesen Alexander zwar gutaussehend und lustig, aber trotzdem nicht sympathisch. Nachdem ich ihn wiederholt abgewimmelt hatte, spielte er die beleidigte Leberwurst und versuchte sogar, mich bei seiner Schwester madig zu machen, was ihm aber nicht gelang. In Anlehnung an einen alten Filmtitel nannte er uns »die Hochmütigen«. Er fand es geradezu abartig, dass Männer für uns anscheinend nicht das zentrale Thema waren. Vor allem hätte er aber mehr Dankbarkeit von mir erwartet, weil ich ihm mein neues Domizil verdankte.

Durch seine Vermittlung wohnen Franzi und ich nämlich im selben alten Fachwerkhaus, allerdings in verschiedenen Stockwerken. Es war ein Glücksfall für uns, dass der alte Besitzer verstarb und dessen nun leerstehende Zimmer vom Erben rasch vermietet werden sollten. Dieser Neffe lebte im Ausland, kannte sich mit hiesigen Preisen und der zentralen Lage am Marktplatz nicht aus und war bloß froh, sich nicht um die unbekannte Immobilie kümmern zu müssen. Obwohl das Gebäude etwas heruntergekommen ist, kann man es durchaus als Sahneschnittchen bezeichnen. Und wenn nicht ausgerechnet Franzis Bruder der zuständige Makler gewesen wäre, hätten wir nie hier einziehen können. Ein sachkundiger Eigentümer hätte das Objekt nämlich an einen geschäftstüchtigen Investor verkauft, der das Gebäude aufwendig renoviert und in Luxusappartements oder ein Restaurant mit Gästezimmern verwandelt hätte.

Hier am Weinheimer Marktplatz sammeln sich im Sommer Touristen und Einheimische, um unter japanischen Schnurbäumen Eis zu essen, Wein zu trinken und den lauen Abend in heiterer Gesellschaft zu verbringen. Deswegen ist es gerade an den Wochenenden bis in die späte Nacht hinein ziemlich laut, doch wofür gibt es Ohrstöpsel. Wenn ich aber an einem grauen Novembertag morgens die alten grünen Fensterläden öffne und hinausblicke, ist es ruhig und still. Nebel liegt über der fernen Burg, ein paar Saatkrähen haben sich verirrt und kreisen um den Roten Turm, der noch von der ehemaligen Stadtmauer übriggeblieben ist. Ich wohne im Dachgeschoss, Franzi im ersten Stock. Neben ihr gibt es eine etwas größere Wohnung, in der eine spanische Familie mit drei Kindern lebt. Außerdem soll ein sogenannter einsamer Wolf hier leben, ein angeblich durchgeknallter Typ und freier Mitarbeiter einer wissenschaftlichen Zeitschrift. Im Erdgeschoss befindet sich ein Buchladen, dort kaufen Einheimische ihre Lektüre und Touristen bunte Ansichtskarten, Souvenirs sowie Rätsel- und Sudokuhefte.

 

Es war lustig für uns beide, so nah beieinander zu wohnen, so manchen Abend gemeinsam zu verbringen und dabei ausgiebig über unsere Freundinnen und Feindinnen, Chefs und Kollegen, über unsere Eltern, über attraktive oder gemeine Männer oder über Gott und die Welt zu reden. Auch über unsere eigene Befindlichkeit, unsere Sehnsüchte, Schwächen und Stärken.

Franziska leitet ihre Macke von ihrem Namen ab, denn sie wurde von klein auf Franzi genannt. Hätte man sie Klara oder Amelie getauft, wäre sie niemals eine Fransenspezialistin geworden, wie sie allen Ernstes behauptet. Manchmal kann es schon ein wenig peinlich werden, wenn man gemeinsam mit Franziska eine fremde Wohnung betritt – einmal war es sogar bei einer Schlossführung –, wo Orientteppiche ausgelegt sind. Mit Adleraugen sieht sie sofort, wenn sich die Fransen in liederlichem Zustand befinden, also nicht akkurat und kerzengerade nebeneinander liegen. Schon zieht sie einen breitzinkigen Kamm aus der Tasche, kniet nieder und macht sich an die Arbeit. Sie kann sich richtig aufregen, wenn ein Teppich immer wieder von einer aufgehenden Tür gestreift wird und die Fransen an dieser Stelle mehr oder weniger abgesäbelt werden. Die Bezeichnung ausgefranst ist für sie eines der gemeinsten Schimpfwörter.

Natürlich gönne ich ihr das Vergnügen der Instandsetzung von ganzem Herzen, ja ich sorge in meinen beiden Zimmern absichtlich für verzottelte Fransen, wenn ich Franzi erwarte. Die Liebe geht allerdings nicht so weit, dass ich den von ihr verabscheuten Teppichboden im Flur herausreiße und durch einen Perser ersetze.

Aber da Franziska sowieso nicht überall auf liegende Beute trifft, spürt sie auch handgestrickte Schals auf, die irgendeine Großmutter irgendwann mit Quasten versehen hat, ebenso das quadratische Seidentuch von Tante Karin, die mir das bildschöne Stück vor Jahren aus Sevilla mitgebracht hatte. Der Mantón de Manila ist ein gefundenes Fressen für Franzi, denn seine Fransen sind zwanzig Zentimeter lang. Ich habe das edle Stück über einen kleinen Tisch gehängt. Bei ihren Besuchen zieht sich Franzi sofort einen Stuhl heran und legt los. Einmal wollte sie auch über meine Ponyfrisur herfallen, da die Haare durch einen kleinen Wirbel immer etwas unregelmäßig abstehen. Aber in diesem Fall kenne ich keine Gnade, meiner Meinung nach darf sie sich mit ihrer Teppichharke nicht an Menschen vergreifen, in Ausnahmefällen vielleicht an einem zotteligen Hund.

Franziska überlegt allen Ernstes, ob sie ihren Brotberuf – Schulsekretärin – aufgeben und sich als Teppichrestauratorin ausbilden lassen soll. In den nächsten Sommerferien will sie probeweise ein Praktikum in einer Fachwerkstatt absolvieren, wo nicht nur Fransen, sondern auch Kanten, Risse und Mottenlöcher mit authentischem Material repariert werden. Vor allem würden mit Nadel und Zange neue Kettfäden durch die intakten Knoten gezogen, defekte Fransen entnommen und neue geknüpft. Ich konnte bloß den Kopf schütteln, weil mich ein solches Handwerk so gar nicht reizen konnte.

»Du spinnst«, hatte ich mehr als einmal zu Franzi gesagt, aber sie behauptet, ich stünde ihr in nichts nach. Irgendwie hat sie ja recht, denn ich habe auch eine etwas ausgefallene Leidenschaft, die ihr wiederum auf den Wecker fällt: Ich fotografiere Kräuter. Und zwar nur selten in Parks und botanischen Gärten, um Hobbygärtner mit der Materie vertraut zu machen, sondern weil ich mickrigen, verkrüppelten Pflänzchen am Rande einer Asphaltstraße oder zwischen Gehwegplatten ihre Würde wiedergeben möchte. Die Bezeichnung ›Unkraut‹ ist ja inzwischen verpönt, darüber bin ich glücklich. Löwenzahn, Gänseblümchen und Klee sind in meiner Sammlung zwar am häufigsten vertreten, aber inzwischen habe ich auch ganz seltene Arten entdeckt und mich bemüht, ihren botanischen Namen zu erfahren. Schon der Dichter Joachim Ringelnatz hatte Mitleid mit einem armen Kräutchen zwischen Bahngleisen, das immer nur Züge und niemals einen Dampfer zu Gesicht bekam. Ein besonders gelungenes Foto habe ich sogar in einer lokalen Zeitung untergebracht.

 

Vielleicht kann man es ja auf die Gene schieben, dass ich trotz meines noch jugendlichen Alters schon ein wenig schrullig bin. Meine Tante Karin ist eigentlich eine patente Frau, inzwischen Rentnerin, aber früher eine tüchtige und beliebte Bibliothekarin, zweimal geschieden und trotzdem alles andere als eine Männerfeindin. Ihre Kinderlosigkeit war nie ein Thema.

Mit sechsundsechzig Jahren, als sie ihren Ruhestand schon seit Monaten für einen Glücksfall hielt, Städtereisen unternahm und Kurse in der Volkshochschule besuchte, entdeckte sie einen Zeitungsartikel über künstlerisch gestaltete Babypuppen aus Vinyl, die durchaus einen stattlichen Preis hatten. Sie bestellte sich ein kleines Mädchen, das in Größe und Gewicht einem echten Baby glich, Flaumhärchen auf dem Kopf hatte und geradezu danach schrie, in den Arm genommen zu werden. Wenn sie ihr allerliebstes Kindchen bloß zur Sofa-Dekoration eingesetzt hätte, würde ich es milde lächelnd akzeptieren. Über Geschmack soll man bekanntlich nicht streiten. Aber sie benimmt sich wie ein kleines Mädchen, das Mutter und Kind spielt: Die Puppe wird gebadet, gewickelt, angezogen, in ein Hochstühlchen gesetzt und gefüttert, ins Bettchen gebracht und sogar in einer Babyschale im Auto mitgenommen. Die gesamte Ausstattung ist vom Feinsten und wurde nicht etwa beim Discounter, sondern in den teuersten Boutiquen gekauft. Mit diesem seltsamen Hobby ist Tante Karin jedoch kein Einzelfall, vor allem in den USA gibt es anscheinend gar nicht so wenige Frauen, die sich ein sogenanntes Reborn-Baby zugelegt haben. Ob es nun aus therapeutischen oder verspielten Zwecken geschieht oder gar zwanghafte Züge annimmt, kann ich nicht beurteilen. Tante Karin erklärt ihr Hobby einfach damit, dass sie sich immer gern um andere gekümmert hätte. Ein Haustier käme wegen einer Allergie leider nicht infrage.

Als ich Franzi von meiner Tante erzählte, war sie begeistert. »Diese Frau würde ich gern mal kennenlernen, schade, dass sie in Frankfurt lebt. Aber ich nehme an, dass fast jeder irgendeinen Spleen hat, wenn man hinter die Fassade schaut. Oder mindestens eine besondere Fähigkeit, die man nicht erwartet.«

Diese besondere Fähigkeit besitzt sie natürlich selbst. Franziska kann nicht nur in Spiegelschrift – von rechts nach links – schreiben, sondern auch ganze Sätze nach Gehör rückwärts sprechen. Als ich sie auf die Probe stellte und ihr zum Beispiel folgende Aufgabe gab: »Ich kann diese Zeilen ohne weiteres von hinten aufsagen«, begann sie zwar ganz langsam, aber ohne Unterbrechung: »Negasfua netnih nov seretiew enho neliez eseid nnak hci!« Es klang wie eine fremde slawische Sprache und hinterließ einen bleibenden Eindruck. Wenn sie allerdings ganz entspannt ist, spricht sie gern wie die Schüler, mit denen sie täglich zu tun hat, dann ist sie »gef‌lasht«, und alles ist ganz »easy«.

 

Es machte uns immer wieder Spaß, bei einem Glas Wein über unsere Macken, seltenen Begabungen oder sonstigen Zwangsneurosen zu reden und uns gegenseitig mit Absonderlichkeiten zu überbieten. Schließlich waren es Beweise unserer Einmaligkeit und Individualität. Zum Beispiel suche ich mir immer einen sogenannten Alpha-Platz, wo ich mit dem Rücken zur Wand sitzen kann. Es ist mir unerträglich, wenn sich hinter mir etwas zusammenbrauen könnte. Falls es nicht anders geht, kann ich nicht ruhig verharren, sondern muss mich ständig umdrehen und die Aktivitäten hinter mir kontrollieren. Und ich kann noch mit einem weiteren Spleen aufwarten: Von Kindheit an habe ich die Predigt meiner Eltern im Ohr: Erst die Arbeit, dann’s Vergnügen. Obwohl mein Vater diesen Satz wahrscheinlich ganz anders gemeint hat, mache ich mich beim Essen zuerst über die Kartoffeln her, dann über das Gemüse, und erst am Schluss kommt das Fleisch oder der Fisch an die Reihe. Das sieht natürlich etwas unkonventionell aus, Feinschmecker und Anstandsdamen rümpfen die Nase. Schon meine Schwester hatte mich umerziehen wollen und mir empfohlen, zuerst das Beste zu verzehren, damit man es mir nicht mehr wegnehmen könne. Außerdem sei meine Methode absolut sinnlos, denn wenn man schon fast satt sei, könne man das Beste überhaupt nicht mehr genießen. Einig waren wir uns nur in einem Punkt: Fleisch war das Beste.

»Wow«, sagte Franzi, »ich sehe schon, du willst mich übertrumpfen. Aber sind wir wirklich etwas Besonderes? Ich kenne zwei Lehrerinnen in meiner Schule, die durchaus einen Knall haben, aber Eva und Corinna funktionieren im Alltag tadellos. Es wäre great, wenn man mal ein Forschungsprojekt starten würde, um die Häufigkeit solcher Macken etwas genauer zu untersuchen.«

In unserer Begeisterung öffneten wir eine zweite Flasche Prosecco, und aus dieser Sektlaune heraus beschlossen wir, den Klub der Spinnerinnen zu gründen.

Es war im wahrsten Sinn des Wortes eine Schnapsidee.

2Die Schnapsidee

Inzwischen sind wir sechs Klubschwestern: Franzi und ich, die Lehrerinnen Corinna und Eva, außerdem Jelena und Heide, die im Supermarkt und bei der Stadtverwaltung angestellt sind.

Frauen mit einer handfesten Neurose wollten wir in unserem Klub natürlich nicht aufnehmen, Zähl- und Händewaschzwang hatten bei uns keine Chance. Originelle und lustige kleine Macken sollten als Voraussetzung für die Mitgliedschaft gelten. Auch ausgefallene Berufe, mit denen man jedoch seinen Lebensunterhalt verdient, gehören nicht dazu. Zum Beispiel habe ich Evas gelehrte Halbschwester ablehnen müssen, weil sie nichts anderes als einen etwas merkwürdigen Fachartikel über Traufkinder nachweisen konnte. Sie erklärte ausführlich, dass es sich um ungetauf‌te Babys handelte, die früher nicht in geweihter Erde begraben werden durf‌ten. Die Vorstellung, dass ihre Kinder in der Hölle schmoren müssen, war für die armen Eltern kaum zu ertragen. Deswegen ersann man allerhand listige Alternativen. Eine davon war die geduldete Bestattung unter der Regenrinne einer Kirche, denn das Wasser aus der Traufe sollte als Ersatz für die Taufe dienen. Archäologen finden noch heute die Skelette neu- oder totgeborener Kinder rund um altes Kirchengemäuer. Das waren zwar interessante und uns neue Tatsachen, doch untauglich für die Aufnahme in unseren Klub. Den wahren Grund für meine Ablehnung habe ich allerdings für mich behalten: Ich mochte Eva nicht besonders, und ihre Schwester war mir unheimlich. Immerhin kam ich dadurch auf die Idee, meiner Tante Karin dringend zur Taufe ihrer Babypuppe zu raten. Ich wollte gern Patin werden und meinen Vornamen Nina zur Verfügung stellen.

 

Meine Klubfreundinnen finden zwar, dass man auch mein Hobby nicht direkt als Spleen bezeichnen sollte, sondern fast als Wissenschaft, aber ich war schließlich die Gründerin, und keine hatte etwas dagegen, wenn ich meine Arm-Kräutlein-Fotos herumzeigte und ausführlich kommentierte.

Im Gegensatz zu meinen sind Jelenas Objekte nur minutenlang am Himmel zu sehen. Sie kann aus Wolkenformationen die Zukunft vorhersagen und tut es manchmal sogar für ein bisschen Geld, obwohl es natürlich nicht ihr erlernter Beruf ist. Ebenso wie ihre okkulten Kolleginnen – also Kartenlegerinnen, Kaffeesatz- und Handlinienleserinnen oder Wahrsagerinnen mit und ohne Glaskugel – ist sie im Grunde eine ausgezeichnete Psychologin und kann die geheimsten Wünsche ihrer Kundschaft an ihrem Mienenspiel ablesen. Aber sie glaubt selbst an ihre einmalige Gabe, was sie von zwielichtigen Betrügerinnen unterscheidet. Ihre freundlichen Vorhersagen beruhigen im Allgemeinen und regen sogar ihre Kundschaft zu eigenen Aktivitäten an. Und ich muss gestehen, seit sie mir anhand eines bizarren Wolkengebildes einen unerwarteten Erfolg vorhergesagt hatte – der dann tatsächlich auch bei der Veröffentlichung meines Fotos eintraf –, hielt ich ihr esoterisches Gewerbe nicht mehr für reinen Humbug.

Wir beide sind aber die Einzigen, die sich mit einem Naturphänomen beschäftigen, unsere Vereinsschwestern ticken anders.

Natürlich haben alle sechs Klubschwestern noch ganz spezielle Eigenheiten oder eher Fähigkeiten und Begabungen, die sie vom Durchschnitt unterscheiden. Heide kann mit den Ohren wackeln, Jelena nur eine einzelne Augenbraue hochziehen, die schlangengleiche Eva verschränkt in liegender Position ihre Füße hinterm Kopf.

Lange gab es eine kontroverse Diskussion, ob wir die mit Franzi befreundete Mathelehrerin in unseren Klub aufnehmen sollten. Es handelt sich in Corinnas Fall allerdings nicht um eine Voyeurin, die fremde Paare beim Sex beobachtet, sondern um Anfälle ihrer extremen mitmenschlichen Anteilnahme bei überentwickelter Neugierde. Die auf den ersten Blick eher konservativ wirkende Lehrerin bespitzelt wildfremde Familien oder Paare beim abendlichen Essen, Fernsehen oder Spielen. Es gelingt ihr allerdings nur, wenn ihre Opfer einen Garten oder Hinterhof besitzen, im Parterre wohnen und auf keinen Fall einen Hund haben. Es klappt natürlich auch nicht, wenn Gardinen zugezogen oder Rollläden heruntergelassen sind. Mindestens einmal pro Woche geht sie auf die Pirsch, schleicht sich durch dunkles Gebüsch, versteckt sich hinter Bäumen und kann amüsant oder auch anrührend von den überwachten Personen erzählen. Anscheinend ist es eine hohe Kunst, sich so geschickt in fremden Gärten zu positionieren, dass man nicht vom Lichtkegel getroffen und entdeckt wird. Corinna besucht meistens die gleichen Menschen, weil nur wenige Wohnungen für ihre Observationen geeignet sind. Natürlich ist es Ehrensache, dass sie keine Namen nennt und auch wir ihre Geschichten für uns behalten. Trotzdem habe ich in einem Fall erraten, um wen es sich handelte: Es war nämlich meine Chefin mit ihren schrecklichen Kindern und einem neuen unsympathischen Partner. Seltsamerweise wohnt sie nämlich auch in Weinheim, obwohl sich unsere Apotheke in einer Nachbargemeinde befindet. Ich war aber klug genug, meine Klappe zu halten, um immer wieder den neuesten Klatsch über die blöde Kuh zu erfahren.

Bei meiner unsympathischen Vorgesetzten, die in unserer Apotheke großmäulig für Nahrungsergänzungsmittel wirbt, kommt wohl regelmäßig minderwertiges Fast Food auf den Tisch, wie ich von Corinna wusste. Und die Tischmanieren ihrer Kinder lassen angeblich sehr zu wünschen übrig, was ich allerdings nicht kritisieren will. Wer im Glashaus sitzt, sollte lieber nicht mit Steinen werfen. Doch Corinnas Beobachtungen belustigten mich so sehr, dass ich am liebsten einmal mitgekommen wäre.

Corinna lehnte meine Bitte um einen nächtlichen Besuch bei besagter Familie ab, weil es dort nur einen einzigen Baum gebe, hinter dem gerade mal sie selbst Platz fände. Stattdessen machte sie mir aber einen weniger riskanten Vorschlag. Es handele sich um das sehenswerte Anwesen reicher Leute, die sie schon oft und gern beobachtet hatte und die jetzt im Urlaub seien. Wenn wir Lust hätten, würde sie uns in den dunklen Garten einschleusen, denn eine kleine Seitenpforte sei nie abgeschlossen und dank einer Zeitschaltuhr seien Wohn- und Esszimmer stets von Anbruch der Dunkelheit bis Mitternacht beleuchtet. Dann könnten wir uns in Ruhe und völlig gefahrlos anschauen, wie man in gehobenen Kreisen eingerichtet sei. Wer könnte so einem Angebot widerstehen! Fernsehen live! Wir Klubschwestern waren allesamt nicht gerade vermögend, ja eine sogar fast so arm wie die berühmte Kirchenmaus, und gerade Jelena interessierte sich sehr für Königshäuser und Medienstars.

Es war Anfang September, die Sonne ging gegen acht Uhr unter, dunkel war es dann aber noch längst nicht. Kurz vor elf wollten wir uns in den fremden Garten schleichen, allerdings nicht vollzählig, denn das könnte auf‌fallen. Von unserer Wohnung am Marktplatz bis zum Villenviertel im Süden der Stadt war es nur ein Katzensprung. Das besagte Haus lag in einer ruhigen Nebenstraße, wo zwar wenig Verkehr herrschte, wo man andererseits aber auch eher bemerkt werden könnte als in einer Straße mit Läden und Gasthäusern. Also starteten vorerst nur drei unscheinbar gekleidete Frauen in dunklen Sneakers. Die anderen wurden auf ein nächstes Mal vertröstet.

Franziska war die Dritte im Bunde und erspähte im fremden Wohnzimmer sofort einen rot gemusterten marokkanischen Teppich mit besonders langen Fransen. Wie ein edler antiker Perser sah das Objekt ihrer Begierde allerdings nicht aus.

»Da muss ich ran«, sagte sie. »Wie sieht das denn aus! Das kann ich ja kaum ertragen! Einen solchen Kuddelmuddel hätte ich bei angeblich reichen Leuten nie erwartet! Here we go!«

»Jetzt spinnst du aber einen Tick zu viel«, sagte ich, »wir sind doch keine Einbrecher! Wir müssten schließlich ein Fenster oder gar die Glasscheibe der Verandatür zertrümmern, was meinst du, was das für einen Lärm macht! Da wird doch die gesamte Nachbarschaft aufgeschreckt! Außerdem haben reiche Leute mit Sicherheit eine Alarmanlage.«

»Nein, haben sie nicht, aber Nina hat im Prinzip recht, sie haben bestimmt andere Sicherheitsvorkehrungen«, sagte Corinna. »Aber ich wüsste schon, wie man trotzdem …«

»Na sag schon«, quengelte Franzi. Hocherfreut erfuhr sie schließlich, was die neugierige Lehrerin beobachtet hatte.

»Einmal war ich hier, als die ganze Familie ausgeflogen war, wahrscheinlich waren sie im Theater oder eingeladen. Gerade als ich frustriert wieder abhauen wollte, kam der älteste Junge ganz allein zurück, öffnete das seitliche Pförtchen und flitzte in den Garten; ich konnte gerade noch rechtzeitig hinter einem Busch verschwinden. Der Teenager hatte offensichtlich seinen Hausschlüssel vergessen und kannte für solche Fälle ein Versteck, wo er sofort fündig wurde. Ich sehe durchaus eine Möglichkeit, wie man unsere Franzi glücklich machen könnte.«

»Und – worauf wartest du noch?«, fragte Franziska.

Corinna zögerte. »Ich glaube, wir sollten uns lieber vom Acker machen. Auf keinen Fall möchte ich eine Straf‌tat begehen, in diesem Fall wäre es wohl Hausfriedensbruch oder so … Ich bin zwar keine Juristin, aber wenn ich ertappt würde, könnte ich meinen Beamtenstatus verlieren und am Ende sogar im Knast landen!«

»Auch wenn man gar nichts anrührt und sich nur mal umschaut?«, fragte ich. »Die frisch gekämmten Fransen würden bestimmt nicht auf‌fallen! Falls aber doch, dann nimmt man erst mal an, die Putzfrau hätte es besonders gut gemeint.«

»Wenn man es so sieht, hast du eigentlich recht. Wir können es ja mal spaßeshalber versuchen – der Hausschlüssel war damals im Vogelhäuschen gebunkert.«

Das ließ sich Franziska nicht zweimal sagen. Zum Glück konnte man trotz der Dunkelheit die Umrisse eines Futterhäuschens auf dem Rasen erahnen. Unsere Fransenfetischistin zögerte nicht lange. Beim Abtasten der hölzernen Innenwand hatte sie Erfolg und zog triumphierend einen Schlüssel heraus. Ein bisschen unheimlich war mir die Situation inzwischen doch geworden, auch weil mir plötzlich eine Katze um die Beine strich und einen leisen klagenden Laut von sich gab.

»Jetzt muss ich allerdings zur vorderen Hausseite«, sagte Franzi, »am besten wartet ihr hier, damit wir nicht zu dritt an der Straßenfront gesehen werden. Ich schließe die Haustür auf und lasse euch über die Terrasse herein.«

 

Und so geschah es auch. Franzi stürzte sich begeistert auf den Teppich, Corinna studierte Familienfotos, die in einem großen Rahmen als Collage zusammengestellt waren und die sie nun endlich aus nächster Nähe betrachten konnte. Ich ging an die Bücherwand, um festzustellen, wes Geistes Kind die angeblich so steinreichen Bewohner waren. Tatsächlich gab es sowohl ledergebundene Klassiker als auch die Werke sämtlicher Literaturnobelpreisträger. Vor den Bücherreihen standen kleine, kunstvoll geschnitzte Figuren aus Holz oder Elfenbein. Ich wusste, dass es sich um japanische Netsukes handelte, und war hingerissen. Neben Masken und Buddhas waren es vor allem Tiere, die hier gesammelt wurden: Löwen, Hasen, Ratten, Frösche, Eichhörnchen, Grillen und sogar mehrere Miniaturhähne aus Buchsbaum. Bewundernd nahm ich einen davon in die Hand – und steckte ihn in die Hosentasche. Schließlich war ich im Jahr des Hahns geboren, wie ich in einer Zeitschrift mit chinesischem Horoskop gelesen hatte. Schnell machte ich noch ein paar Fotos von der Bücherwand und aus alter Gewohnheit auch von den Topfpflanzen auf dem Fensterbrett. Leider wurde Corinna schon nach wenigen Minuten nervös und drängte uns allzu schnell, das Haus wieder zu verlassen, anscheinend bereute sie ihren eigenen Vorschlag. Einerseits wollte sie uns an Wagemut und verrückten Ideen nicht nachstehen oder gar als feige Spießerin gelten, befürchtete vielleicht sogar uralte Vorurteile gegen nicht mehr junge, ledige und kinderlose Lehrerinnen. Andererseits spürte sie als Älteste in unserem Verein wohl eine gewisse Verantwortung.

 

Leider war ich dumm genug, meinen beiden Komplizinnen die Beute zu zeigen, natürlich erst, als wir wieder in Franzis Küche saßen und mit Heppenheimer Riesling anstießen.

Corinna war außer sich und explodierte. »Du hast mein Vertrauen missbraucht, hätte ich mich bloß nicht auf eure infantilen Spielchen eingelassen! Jetzt fehlt nur noch, dass es irgendwo eine Kamera gab, woran wir alle nicht gedacht haben. Es war eine völlig unüberlegte und saudumme Idee, uns ins Haus zu schleichen, außerdem hatten wir keine Handschuhe an. Man wird Fingerabdrücke finden!«, brüllte sie und stand auf. Mit Sicherheit war sie hauptsächlich wütend auf sich selbst, so schien mir.

Doch Franziska zwinkerte mir zu. Erst als wir allein waren, griff sie ihrerseits in die Hosentasche und zeigte mir ihre eigene Beute – eine volkstümliche Votivgabe; es war ein winzig kleiner Männerkopf aus versilbertem Blech. Wir mussten herzlich lachen.

»Der Kerl soll mir Glück bringen«, sagte Franzi und polierte das angelaufene Silber mit einem Geschirrtuch. »Ich habe jetzt seit Ewigkeiten keinen Freund mehr gehabt, langsam kriege ich Entzugserscheinungen. Aber sag das bloß nicht meinem Bruder, der versucht schon lange, mich mit seinen Macho-Freunden zu verkuppeln.«

Franziska hatte bereits mit zwanzig geheiratet und ein gerade begonnenes Studium der Anglistik wieder geschmissen. Schon nach zwei Jahren und einer Fehlgeburt war sie eine geschiedene Frau. Seitdem lebte sie allein, hatte zwar gelegentlich eine kurze Affäre, aber keine feste Beziehung. Über das Scheitern ihrer frühen Ehe sprach sie nicht gern, aber andeutungsweise hatte sie körperliche Gewalt als Grund angegeben. Andererseits konnte ich mir durchaus vorstellen, dass nicht jeder Ehemann Franzis Tick widerspruchslos hingenommen hätte.

»Es wundert mich allerdings, dass du diesen ausgefallenen Devotionalienartikel überhaupt gesehen hast«, sagte ich. »Du hast doch die ganze Zeit am Boden gekniet und warst mit den Fransen beschäftigt!«

»Nun, es war sozusagen eine Fügung, a stroke of luck! Als ich den Teppich an einer Ecke etwas glattstrich, fühlte ich eine kleine Unebenheit. Vielleicht lag mein Männlein schon lange dort begraben, ich nehme an, man hat es nie gesucht und wird es jetzt auch nicht vermissen. Eigentlich schade, dass wir nicht ins obere Stockwerk vorgedrungen sind, wer weiß, was dort noch zu entdecken ist!«

»Solange die Besitzer verreist sind, könnten wir es ja noch ein zweites Mal versuchen. Corinna wird uns bestimmt nicht auf die Schliche kommen, denn sie observiert immer nur Personen, die auch anwesend sind.«

»Natürlich würde es mich brennend interessieren, was für Teppiche in den Schlafzimmern liegen – ich bin fast sicher, dass sie keine fransenlose Fabrikware haben. Aber wir müssten dort das Licht anmachen. Und die Nachbarn wissen bestimmt, dass es im Erdgeschoss am Abend automatisch eine Weile lang hell bleibt, oben aber nicht. Denn eines will ich auf keinen Fall riskieren: dass man die Polizei ruft.«

Franziska hatte recht, ich sah es ein. Aber irgendwie hatte mir unsere nächtliche Aktion so viel Spaß gemacht, ich hatte so viel Adrenalin ausgeschüttet, und meine Lust auf Abenteuer war geschürt worden, dass ich nur ungern aufgab. Außerdem hatte ich ein paar Fotos von den niedlichen Netsukes gemacht, die ich mir jetzt etwas genauer anschaute. Leider musste ich feststellen, dass ich einen viel hübscheren Hahn aus Elfenbein übersehen hatte, also im Grunde den falschen mitgenommen hatte. Mir kam eine Idee.

Wenn wir einfach am helllichten Tag dort aufkreuzten und überhaupt kein Kunstlicht brauchten? Zum Beispiel an einem Sonntag, wenn wir freihatten und die aufmerksamen Nachbarn sicher lange schliefen?

Franzi schüttelte den Kopf. »Du bist ja noch ausgefranster als ich«, sagte sie. »Wir wissen ja nicht einmal, wann die Besitzer zurückkommen – stell dir vor, die stehen auf einmal vor uns! Vergiss es!«

Das war allerdings ein überzeugendes Argument, vorerst musste ich mich geschlagen geben. Doch immer, wenn ich mir mein geschnitztes Hähnchen anschaute, musste ich mich ärgern. Und daher fasste ich den Entschluss, ohne Franzi oder sonstige Begleitung die Villa aufzusuchen und den Gockel umzutauschen.

 

Also trabte ich am darauf‌folgenden Sonntag in Jogginghosen durch die Lützelsachsener Straße und war mir sicher, dass mich kein Mensch an diesem trüben Morgen beachtete. Problemlos erreichte ich mein Ziel, wo immer noch kein Auto vor der Tür stand oder ein geöffnetes Fenster auf die Rückkehr der Besitzer schließen ließ. Zielstrebig huschte ich in den Garten und fand auch gleich den Schlüssel, der brav im Futterhäuschen lag, wo wir ihn beim letzten Besuch wieder deponiert hatten. Mit klopfendem Herzen, doch nicht ohne Stolz auf meine Tollkühnheit, schloss ich die Haustür auf und stand endlich vor der Bücherwand, um mein mickriges Hähnchen unverzüglich gegen ein edleres auszuwechseln. Sollte ich noch rasch etwas anderes einstecken? Die Gelegenheit kam wohl nie mehr wieder. Mein Blick schweif‌te herum und fiel auf die durstigen Zimmerpflanzen. Die Alpenveilchen ließen die Blüten hängen, die Azaleen schienen fast vertrocknet. Aus alter Gewohnheit wollte ich ein paar weitere traurige Fotos machen, doch das Mitleid überwältigte mich. Hier musste dringend gehandelt werden! Prüfend sah ich mich nach einer Gießkanne um, fand auch eine und lief damit in den Flur, um ein Waschbecken zu suchen. Als ich gerade die Küche betreten wollte, ging jedoch die Haustür auf, und eine fremde Dame stand direkt vor mir. Wir fuhren beide zusammen.

»Huch, haben Sie mich aber erschreckt!«, sagte die Frau. »Ich dachte, alle seien noch verreist. Sie sind sicher hier, um sauberzumachen, aber heute ist doch Sonntag …?«

»Ich wollte mich rasch mal um die Blumen kümmern«, sagte ich und schwenkte wirkungsvoll die Gießkanne.

»Ach so! Sind Sie eine Freundin der Familie? Entschuldigung, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt, ich heiße Martina Wilhelm und bin die Kusine von Anita.« Fragend sah sie mich an, und ich stotterte blitzschnell einen Namen: »Stef‌f‌i Graf.«

»Ach so«, sagte Frau Wilhelm zum zweiten Mal. »Komisch, die Blumen sollte ich doch gießen! Man hat mir extra einen Hausschlüssel überlassen, aber Ihnen anscheinend auch.«

Ich nickte bestätigend, hielt ihr demonstrativ den Schlüssel unter die Nase und verabschiedete mich eilig. Erst als ich mich auf der Straße wieder in Trab setzte, wurde mir die brenzlige Situation so richtig bewusst. Musste es dieser Kusine nicht merkwürdig vorkommen, dass ich Handschuhe trug? Aber ich hatte meine Mission geistesgegenwärtig erfüllt und den begehrten Hahn in der Tasche, wenn ich auch den fremden Hausschlüssel in der kommenden Nacht wieder ins Futterhäuschen legen musste. Im Grunde war ich eine Heldin, und zwar eine, die ihre Ängste gut im Griff hat.

3Der Hase im Pfeffer

Etwa alle zwei Wochen trafen wir uns bei einer der sechs Klubschwestern. In einem Restaurant oder Café wollten wir uns lieber nicht versammeln, denn wir sprachen ja oft über Intimitäten und Privatangelegenheiten, die keinen Fremden etwas angingen. Wenn wir zusammensaßen, wurde natürlich gebechert und geschlemmt, mit unseren Marotten angegeben, gelacht, geblödelt und auch gern getratscht. Schon nach wenigen Sitzungen kam es zu einer wichtigen Abstimmung. Es ging darum, ob wir noch weitere Mitglieder aufnehmen sollten und vielleicht sogar Männer willkommen seien. Die meisten waren eigentlich dagegen, mehr als sechs Frauen würden unseren Rahmen sprengen und allzu undiszipliniert durcheinanderquasseln. Schließlich wollten wir auch kein eingetragener Verein mit Mitgliedsbeiträgen werden, sondern ein exklusiver Geheimbund bleiben. Ganz abgesehen davon hatte keine von uns eine große Wohnung.

»Und Männer kommen schon deswegen nicht infrage, weil wir Klub der Spinnerinnen heißen«, sagte Franzi. »Es klänge doch bescheuert, wenn man Spinner und Spinnerinnen sagen müsste!«

Eigentlich hatte nur Eva, die gelenkige Schlangenfrau, für eine Erweiterung plädiert, denn ihr eifersüchtiger Mann würde anscheinend gern mitkommen. Er ließ es sich nicht nehmen, seine Frau nach jedem unserer Treffen persönlich abzuholen. Deswegen wussten wir, wie er aussah, nämlich fett und hässlich. So einen schon gar nicht, fand ich. Er war Mathelehrer wie Corinna, während Eva Sport und Ethik unterrichtete.