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In ›Traum und Leben‹ zeigt sich Ingrid Noll von ihrer sanften Seite. In diesen autobiografischen Geschichten springt man kopfüber in das Leben dieser großen Kriminalautorin. Spannend und berührend zugleich erzählt sie von ihrer in China verbrachten Kindheit, berichtet über ein internationales Studentinnenlager, erinnert sich an die Rolle ihres Vaters, gesteht, was sie am Älterwerden nervt und schreibt einen berührenden Brief an ihre verstorbene Mutter.
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Seitenzahl: 48
Ingrid Noll
Diogenes
Meistens bin ich zu barmherzig oder geizig, um die Blumen aus dem eigenen Garten zu plündern, und kaufe den Wohnzimmerstrauß im Supermarkt. Aber wenn ich gerade das letzte Kapitel eines neuen Romans geschrieben habe, will ich mich belohnen. Kein professionelles Bukett könnte mit der eigenen verwilderten Flora konkurrieren. Auf dem Fensterbrett meines Arbeitszimmers stehen heute Rosen, Päonien, Margeriten, Akeleien, Glocken- und Kornblumen in einem gläsernen Krug. Als kleines Mädchen kannte ich diese Blumen fast alle nur aus Bilderbüchern, denn im subtropischen Klima wachsen andere Pflanzen.
In meiner Kindheit lebte unsere Familie nämlich jahrelang in Nanking. Die Erinnerung gaukelt mir unseren damaligen Garten als ein großflächiges Paradies vor: Es gab eine weitläufige Rasenfläche, Gemüsebeete, einen Maulbeerbaum, zwei Ginkgos und ein Bambuswäldchen. In den Zweigen einer Trauerweide suchten wir erfolgreich nach den hohlen Chitinhüllen der Zikaden. Natürlich wuchsen auch Blumen in den Rabatten – Zinnien, Cannas, Gladiolen, Wunder- und Ringelblumen. Auf den Kieswegen breiteten sich Portulakröschen aus, die sich in der heißen Sommersonne wohl fühlten. Sie strahlten in den wunderbaren Farben chinesischer Seide – kaisergelb, rosa, violett, rot, pink, mauve, orange und elfenbeinweiß.
Es wimmelte von Getier. Wir vier Geschwister besaßen alle eine eigene Ziege. Ich versorgte meine Geiß mit Butterbrot, wie ich es nannte. Dafür beschmierte ich ein großes Blatt mit gelber Blütenstaub-Butter und belegte es dann mit roter Rosenblätter-Wurst. Ich weiß nicht, ob mein Lieschen dieses Arrangement mochte, aber sie hat es immerhin gefressen. Außerdem besaßen wir Hunde, Katzen, ein Eichhörnchen, Hühner und einmal sogar vier Schweine, die sich irgendwann auf geheimnisvolle Weise in Schinken verwandelten. Wir fingen Kröten und bauten ihnen Häuser und Gärten, die sie aber fluchtartig wieder verließen.
Nach ausgiebigen Regentagen konnte man mit Lehm wunderbar herummatschen. Allerdings hatten meine Schwestern und ich künstlerische Ambitionen und formten braune Erdmännchen, die wir in größeren Familienverbänden unter einem Balkon ansiedelten. Leider hatten unsere Homunculi keine lange Lebensdauer, weil sie auf biblische Art nach ein paar heißen Tagen zu Staub zerfielen und wieder zu Erde wurden.
Ganz besonders faszinierte mich das Wachstum der Bambussprossen; wir legten einen schweren Stein auf die hervorbrechende Spitze und beobachteten den Trieb, der mit unerhörter Kraft das Gewicht hochstemmte.
Im Bambuswäldchen hatte mein Bruder eine kleine Höhle gegraben, die er als geheimen Unterschlupf plante. Er verlor aber bald die Lust am Buddeln, das Loch füllte sich an Regentagen mit Wasser. Eines Tages bekam unsere Setterhündin die absurde Idee, ihre sechs Welpen dort zur Welt zu bringen. Als es anfing zu regnen, musste man die Babys mit einer breiten Schaufel evakuieren und in einer komfortablen Hundehütte unterbringen. Es gehört zu meinen schönsten Erinnerungen, dass mich die Hundemutter als Patin für ihre Kleinen auserkoren hatte. Nur ich durfte vor der Kinderstube Platz nehmen und ein Junges nach dem anderen herausholen, streicheln, bewundern und der stolzen Mama zum Abschlecken hinhalten. Meine Eltern und Geschwister wurden durch Knurren und Zähnefletschen vertrieben.
Da es im Sommer sehr heiß war, konnte man eigentlich nur am Abend draußen herumtoben.
Wenn es dunkel wurde, mussten wir ins Haus zurück. Meine Mutter behauptete, in der Nacht würden sich Fledermäuse in unseren Haaren einnisten. Viele Jahre später hörte ich im Urlaub, dass man in Frankreich das gleiche Lügenmärchen kannte, um kleine Mädchen bei anbrechender Dämmerung dingfest zu machen.
Im Gemüsegarten herrschte der Gardenman. Zum Abendessen kamen oft gebackene Süßkartoffeln auf den Tisch, mittags gab es gelegentlich mein Lieblingsgemüse – gebratene Eggplants, also Auberginen. Der Gärtner wollte oder konnte kein Tier töten, aber die fetten Raupen auf den Kohlköpfen waren ihm ein Dorn im Auge. Wir Kinder wurden dazu verdonnert, das eklige Gewürm abzusammeln und in wassergefüllten Blechbüchsen zu ertränken. Es stank widerlich. Aber wir begriffen, dass es für uns Menschen sowohl nützliche Tiere und Pflanzen gibt als auch Feinde, die es zu bekämpfen gilt.
In meinem Alter wird man großzügig. In unserem Garten darf so manches wachsen und gedeihen, was einen militanten Kleingärtner auf die Palme bringen würde. Nur die Nacktschnecken sind meine erklärten Feinde, da könnte ich glatt zur Mörderin werden.
In meiner Biographie kann man lesen, dass ich 1935 in Shanghai geboren wurde. Allerdings lebte meine Familie auch in anderen chinesischen Städten, am längsten wohl in Nanjing. Natürlich gab es dort keine deutsche Schule, und meine Eltern nahmen den Unterricht ihrer vier Kinder selbst in die Hand. Auch wenn meine Mutter über veraltete Lehrpläne und Lehrbücher verfügte, so herrschten bei unseren Schulstunden doch paradiesische Zustände: keine Hausaufgaben, keine Noten, keine Versetzung, und sobald der Boy das Mittagessen servierte, war Schluss für diesen Tag. Einerseits blieb ich von Leistungsdruck oder gar Versagensängsten verschont, andererseits sehnte ich mich nach einer Freundin und fühlte mich oft ein wenig einsam. Zum Spielen hatte ich zwar meine jüngeren Schwestern, aber das ersetzte ja keine Schulkameraden.
Als ich beinahe zwölf war, zogen wir wieder nach Shanghai. Das Gebäude der dortigen »Kaiser-Wilhelm-Schule« war 1945 von den Amerikanern beschlagnahmt worden, fast alle Lehrer wurden nach Deutschland repatriiert. Nur Herr Döring und Herr Amann waren von der alten Garde übriggeblieben und betrieben eine Art private Zwergschule. Zusätzlich sorgte eine Missionarin namens Tante Leni für Religionsunterricht, ein Neunzehnjähriger war für die Naturwissenschaften und ein vertrottelter Professor für Mathe zuständig. Bei den Schülern sah es kaum besser aus: Es gab nur noch wenige, die durch die Millionenstadt von Herrn Amanns Wohnzimmer zum Turmzimmer der deutschen Kirche radelten. An vielen Vormittagen mussten wir nämlich mehrmals den Standort wechseln. Zwei Jahrgänge wurden meist zusammengefasst, so dass ich immerhin mit ein paar Mädchen und Jungen gemeinsam unterrichtet wurde und rasch meine erste Freundin fand. Emanuela war zwar ein Jahr älter als ich, aber das spielte überhaupt keine Rolle.