Sepia 1: Sepia und das Erwachen der Tintenmagie - Theresa Bell - E-Book

Sepia 1: Sepia und das Erwachen der Tintenmagie E-Book

Theresa Bell

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Beschreibung

»Ich könnte eine viel zu lange Liste mit Gründen nennen, weshalb du dieser Einladung folgen solltest. Aber ich möchte nur einen nennen: Flohall erwartet dich.«

Dass in Flohall Tinte und Bücher wertvoller sind als Gold merkt die zwölfjährige Sepia schon bei ihrer Ankunft in der berühmten Hafenstadt mit ihrer duftenden Tinte und dem flüsternden Papier. Bei Silbersilbe, einem der drei großen Meister, soll sie das Handwerk des Buchdrucks lernen. Warum wurde gerade sie ausgewählt – ein tollpatschiges Waisenmädchen, das ständig Tintenflecken an den Fingern hat? Bald findet Sepia in Niki und Sanzio treue Freunde und erlebt ihr erstes Funkelfest. Doch es geschehen merkwürdige Dinge in Flohall. Tinte geht verloren, düstere Gestalten schleichen umher, und dann verschwinden die Meister. Sepia ahnt, dass das mit dem Tintenkrieg zu tun hat, und mit einem dunklen Alchemisten, den alle für längst besiegt gehalten haben.

Auftakt einer Trilogie mit Suchtpotenzial

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Das Buch

„Flohall erwartet dich!“

Mit einem geheimnisvollen Brief lockt Silbersilbe, der Meister der schwarzen Kunst des Buchdrucks, Sepia als Lehrling in die funkelnde Bücherstadt. Bald fühlt sich das Waisenmädchen hier, wo alles nach Tinte, Papier und Magie duftet, wie zu Hause. Und mehr noch, zum ersten Mal im Leben findet sie echte Freunde. Aber als sich ein kleiner Bleibuchstabe selbstständig macht, düstere Schatten um die Druckerei streichen und Silbersilbe und die anderen Meister plötzlich verschwinden, ahnt Sepia, dass etwas nicht stimmt.

Die Autorin

© Wiebke Lück

Theresa Bell, wollte als Kind am liebsten Schauspielerin oder Piratin werden, studierte aber am Ende doch Japanologie und Germanistik. Sie liebt fantastische Geschichten, Kaffee und Zeichnen. Ihre Freizeit verbringt sie fast immer mit einem Stift in der Hand am Schreibtisch, irgendwo im Internet oder durch ihre Wahlheimat Hamburg streifend.

Theresa Bell auf Instagram:https://www.instagram.com/theresabellauthor/

Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

Theresa Bell

Sepia und das Erwachen der Tintenmagie

MIT BILDERN VON

EVA SCHÖFFMANN-DAVIDOV

THIENEMANN

Mehr als das Gold hat das Blei

die Welt verändert.

Und mehr als das Blei in der Flinte

jenes im Setzkasten.

Georg Christoph Lichtenberg

PERLNACHT

Eismond 1, der erste Monat des neuen Jahres

Die klapprige Pferdekutsche passierte die Stadtgrenze von Flohall um Mitternacht, und dicke Nebelschwaden folgten ihr wie schüchterne Gespenster. Hoch oben am Himmel glänzte der Mond wie eine Silbermünze. Vorne auf der Kutsche saß ein grimmiger Mann und hinten ein Mädchen, das der Grund für seine schlechte Laune war.

Der kalte Wind riss an Sepias kurzem tiefschwarzem Haar, und sie zog sich ihren zerschlissenen Reiseumhang enger um die Schultern. Trotzig biss sie die Zähne zusammen und grub ihre Fingerspitzen in den Leinenbeutel, in dem alles steckte, was sie besaß: ein Wechselhemd, ein Paar dicke Stricksocken und der Brief.

Der Brief, der vor genau vier Wochen im Waisenhaus eingetroffen war. Ein schwarzer Umschlag aus festem, glattem Papier mit einem silbernen Wachssiegel darauf. Das Siegel zeigte ein Wappen: in der Mitte ein Buch, darüber der geschwungene Buchstabe S und darunter eine kleine Flamme. Auf der Rückseite stand nur ihr Name: Sepia. So war er von einem Boten im Waisenhaus in der Grauen Stadt abgegeben worden.

Allein das war schon mehr als seltsam. Jemand wusste, dass es sie gab und wie ihr Name war. Zumindest der Name, mit dem sie gerufen wurde, seit sie sich erinnern konnte. Den Text, der auf schwerem Büttenpapier gedruckt war, konnte sie mittlerweile im Schlaf aufsagen, so oft hatte sie ihn gelesen. Seinen Sinn begriff sie trotzdem nicht.

Sepia zog den mittlerweile völlig zerknitterten Brief hervor und faltete das Papier mit steifen Fingern auseinander. Worte in schwarzblauer Tinte schimmerten ihr entgegen, so klar und deutlich gedruckt wie die Inschrift auf einem Grabstein:

Flohall, Düstermond 1

An Sepia

Wenn du diesen Brief liest, bedeutet das, dass du bald zwölf Jahre alt bist und es dir erlaubt ist, das Graue Haus zu verlassen.

Aus diesem Grund möchte ich dich einladen, das überaus edle und ehrbare Handwerk der Buchdruckkunst zu erlernen. Die Druckerei Silbersilbe freut sich, dich als ihren neuen Lehrling willkommen zu heißen. Ohne falsche Bescheidenheit kann ich behaupten, dass ein Platz in meiner Werkstatt als großes Privileg angesehen wird, und ich könnte eine viel zu lange Liste mit Gründen nennen, weshalb du dieser Einladung folgen solltest.

Aber ich möchte nur einen nennen:

Flohall erwartet dich!

Hochachtungsvoll,

Aelius Atramento

Druckerei Silbersilbe

Sepia betrachtete den Brief. Seit einem Monat schwirrten ihr immer die gleichen Fragen durch den Kopf. Woher wusste dieser Aelius Atramento, wie alt sie war? Sepias eigene Erinnerung an ihr Leben war verschwommen. Für sie gab es keine Zeit vor dem Grauen Haus, keine Familie und keinen Geburtstag. Wie bei allen Kindern, deren Geburtstag unbekannt war, wurde der erste Tag des neuen Jahres zu diesem erklärt. Warum hatte dieser Meister Silbersilbe ausgerechnet sie eingeladen, bei ihm in die Lehre zu gehen? Sie, die handwerklich so geschickt war wie ein Elefant im Porzellanladen? Sie, die im Waisenhaus den Spitznamen Tintenfisch bekommen hatte, weil sie ständig Tintenflecken an den Fingerspitzen hatte, egal wie oft sie ihre Hände wusch. Ihre kränklichen Augenringe und ihr Geister-Teint trugen auch nicht dazu bei, dass sie als weniger sonderbar galt. Wenn Sepia eines früh gelernt hatte, dann das: Es war am besten, sich so unauffällig zu verhalten, dass sie sich fast unsichtbar fühlte.

Die allergrößte Frage war aber nur ein Wort.

»Flohall«, flüsterte Sepia.

Die berühmte Stadt, in der Tinte und Bücher angeblich wertvoller waren als Gold. Und ausgerechnet hier sollte sie nun in einer Druckerei lernen dürfen?

Immer tiefer fuhr der Wagen durch die verschlängelten Straßen in die Stadt hinein. Der Hafen lag längst hinter ihnen, und nun reihten sich schmale Fachwerkhäuser wie Bücher in einem Regal aneinander. Spitze Dächer drückten sich auf jedes Haus. Sepia hatte noch nie so viele Läden, Werkstätten und Geschäfte gesehen. Es duftete nach Kaminfeuer und Schnee. Im schwachen Licht der Öllaternen schimmerten hölzerne Fensterläden, und metallene Ladenschilder mit geschwungenen Buchstaben quietschten leise im Wind. Überall hingen tiefblaue Vorhänge und Stoffbahnen. Sie bauschten sich auf den Dächern, an Masten und flatterten vor Türen wie Fetzen aus Nachthimmel.

»Was sollen all die Fahnen und Vorhänge?«, fragte Sepia, mehr sich selbst als den schlecht gelaunten Kutscher.

Der schwieg eine gefühlte Ewigkeit, aber dann antwortete er ihr doch. »Es ist Perlnacht, Klapperkind. Die erste Nacht des neuen Jahres. Man hängt Stoffe vor die Tür’n und Fenster, damit die Geister draußen bleiben. Wenn’s stimmt, was die Leute hier glauben, bringt’s Unglück, an Perlnacht draußen zu sein. Die Tür’n zwischen den Welten stehen offen.«

Seine Worte jagten Sepia einen Schauer über den Rücken, was nicht nur an der fiesen Beleidigung lag. Klapperkind war ein gemeines Wort für Waisenkinder. Es sollte bedeuten, dass man ihre Knochen vor Kälte klappern hören konnte. Was absoluter Blödsinn war. Das Graue Haus war zwar kein schöner Ort, weil alles zu eng und zu klein war, aber sie hatte wenigstens nie frieren müssen.

»Was für Geister?«, fragte Sepia.

»Du bist zu neugierig, Klapperkind!«, schnauzte der Kutscher missmutig. Aber dann sprach er doch weiter. Vielleicht war ihm das Schweigen nach drei Tagen langweilig geworden. »Ist nur Aberglaube. Die sind alle verrückt hier mit ihrer Tinte und ihren Büchern. Glauben, dass Geister in der Stadt wohnen. In den Kanälen und in den Mauerritzen. Und wenn das Jahr zu Ende geht, sind sie unterwegs, ihre Tintengespenster. Deswegen zünden alle Kerzen an und trau’n sich nicht raus. Aber nicht mit mir, mich kriegen sie nicht mit ihren Geschichten. Ich hab das hier!« Er zog eine Kette unter seinem Hemd hervor und hielt sie hoch. Daran baumelte eine alte Hasenpfote. Sepia verzog das Gesicht. Der Kutscher packte den Talisman wieder weg und warf ihr einen unfreundlichen Blick zu. »Versteh nich’, wieso der Meister ausgerechnet dich will«, grummelte er wieder vor sich hin. »Na ja, er wird seinen Fehler schon noch bemerken.«

Sepia schwieg. Sie wollte es nicht zugeben, aber sie fürchtete, dass er recht hatte. Bei dem Gedanken wurde ihr Herz ein wenig schwer.

Mit einem Schnaufen brachte der Kutscher das Pferd plötzlich zum Stehen. Sie waren so tief in die Stadt hineingefahren, dass Sepia schon längst die Orientierung verloren hatte. Sie entdeckte ein Straßenschild, auf dem in verschnörkelter Schrift Bleierne Gasse stand, und runzelte die Stirn. Das klang nicht gerade vielversprechend. Der Karren wackelte, als der Kutscher sich herunterhievte. Er streckte sich, und Sepia hörte, wie seine Knochen knackten. »He, willst du da oben Wurzeln schlagen? Komm runter, wir sind da!«, schimpfte er.

Steif kletterte Sepia von dem Karren und presste den kleinen Leinenbeutel mit ihren wenigen Habseligkeiten an sich. Verstohlen warf sie einen Blick auf ihre Fingerspitzen. Sie waren schon wieder fleckig. Sepia krallte sie in ihren Beutel, um sie zu verstecken.

Langsam folgte sie dem Kutscher, der wortlos die Straße überquerte und auf ein schönes Haus zustapfte. Sepia legte den Kopf in den Nacken und konnte drei Stockwerke erkennen. Die hölzernen Fensterläden waren alle geschlossen. In der Mitte der weißen Mauer glänzte eine pechschwarze Holztür im schwachen Licht der Laterne. Vor der Türschwelle lag ein flacher schwarzer Marmorstein, und über der Tür baumelte ein Schild auf dem in schnörkellosen Lettern stand:

DRUCKEREI SILBERSILBE

Buchdruckkunst für alle Anlässe,Bekanntmachungen und Geheimnisse

Inhaber: Aelius Atramento

Darunter prangte das Wappen, das sie in den letzten Monaten so oft auf dem Brief bewundert hatte: das silberne S über einem Buch, darunter die lodernde Flamme, alles auf tintenschwarzem Grund.

Jetzt spürte Sepia zum ersten Mal echte Beklommenheit. Dieser Ort war zu besonders. Sie fühlte sich vollkommen fehl am Platz.

Der Kutscher schniefte missmutig und klopfte öfter als nötig an die Tür. »Mitten in Perlnacht …«, murmelte er wieder und warf Sepia einen bösen Blick zu, als könne sie irgendetwas für den Tag.

Sepia starrte auf ihre bläulich verfärbten Fingerspitzen. Eine Weile blieb es still, und nur das leise Flüstern des Windes erfüllte die Nacht. Als Sepia sich gerade fragte, ob sie hier wohl noch bis zum Morgen stehen würden, waren von drinnen endlich Schritte zu hören. Ein Schlüssel klapperte im Schloss, dann wurde ein Riegel beiseitegeschoben und die Tür öffnete sich mit einem leisen Quietschen.

Sepia wehte ein Duft entgegen, so stark, dass sie instinktiv zurückzuckte. So rochen die Morgenzeitung und die Bittermandelplätzchen, die es manchmal im Waisenhaus zu essen gab, warm und angenehm. Darunter lag ein etwas stechender Geruch nach Alkohol und Medizin. So roch die metallene Spitze ihres Füllers. Und nun rauschten all diese Gerüche durch die Luft wie ein Sturmwind: der Duft von Tinte.

»Oi! Träumst du schon wieder!?« Der Kutscher stieß ihr grob gegen die Schulter.

»Was?« Sepias eigene Stimme klingelte laut in ihren Ohren.

»Sag nich’ Was, Mädchen! Denk an deine Manieren!« Der Kutscher spuckte auf den Boden.

Von Manieren musst du gerade reden, dachte Sepia und widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen.

»Schon gut«, sagte eine ruhige, freundliche Stimme von der anderen Seite der Türschwelle. »Die Fahrt hat sicher lang gedauert. Du musst Sepia sein?«

Sepia sah nun zum ersten Mal den Mann an, der da in der Tür stand. Er hatte graue und zerzauste lockige Haare und einen gestutzten Bart, der sein kantiges, leicht gebräuntes Gesicht einrahmte. Sein Körper hätte mindestens zweimal in den Kutscher gepasst. Sie konnte sein Alter nicht schätzen. Er war nicht mehr jung, wirkte aber auch nicht wie ein Greis. Auf seiner etwas schiefen Nase trug er eine kleine runde Brille, über die er sie mit hellen freundlichen Augen interessiert betrachtete. Obwohl es mitten in der Nacht war, trug er ein makelloses Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln, eine elegante Hose und eine lange Schürze. Seine ganze Kleidung war tintenschwarz.

Der Kutscher kicherte und stemmte die Fäuste in die Hüften. »Ham’ sie im Heim alle Tintenfisch genannt, Meister. Weil sie irgendwann einfach dort aufgetaucht ist, ohne Erklärung oder Herkunft, als wär sie an Land gespült worden!«

Er lachte bellend, als hätte er gerade den besten Scherz aller Zeiten gemacht.

Der Mann räusperte sich, und der Kutscher verstummte. »Tintenfische sind meine Lieblingstiere«, sagte er dann und zwinkerte Sepia verschwörerisch zu. Sepia war sich nicht sicher, ob er das gerade erfunden hatte, aber es gab ihr das Gefühl, dass er auf ihrer Seite stand.

»Es freut mich sehr, Sepia. Mein Name ist Aelius Atramento. Aber die meisten nennen mich Silbersilbe.«

Aelius Atramento, genannt Silbersilbe, der berühmteste Buchdrucker von ganz Flohall. Der Meister, über den man hinter vorgehaltener Hand tuschelte, seine Bücher würden mit Diamanten bezahlt. Silbersilbe, der zu dem legendären Meister-Trio gehörte, das selbst jenseits der Fernsee berühmt war. Die drei Meister machten Bücher, von denen man sagte, die Bilder darin würden sich bewegen, das Leder, in das sie eingeschlagen waren, würde leise atmen und die Tinte würde duften.

Sepia spürte, wie sich etwas in ihr klein machte. Wieder war da dieser Gedanke: Was machst du hier? Du gehörst nicht hierher.

»Bitte, komm herein!« Silbersilbes Stimme riss Sepia aus ihrer Grübelei. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Für einen Augenblick wusste sie nicht, ob sie über diese Schwelle treten konnte. Vielleicht würden ihre Beine einfach festwachsen und sie würde erstarren. Und dann würde Silbersilbe feststellen, dass alles ein großer Irrtum war, und sie würde mit dem schrecklichen Kutscher wieder zurückfahren müssen. Und als hätte er ihre Gedanken gehört, räusperte sich der Kutscher in diesem Moment.

»Meister«, sprach er warnend in die kalte Nacht. »Das Kind wird euch nichts bringen. Solltet es schleunigst hinaus in die Gosse jagen, wo’s herkommt, oder am besten gleich –«

Seine restlichen Worte nahm Sepia nicht mehr wahr, denn in diesem Augenblick fällte sie eine Entscheidung. Vielleicht war es Angst, oder es war Mut; vermutlich aber war es vor allem Wut auf diesen schrecklichen Erwachsenen, der dachte, er wisse alles über sie. Und so schritt sie über die Schwelle, und die Tür schloss sich so schnell hinter ihr, dass sie den Luftzug im Nacken spüren konnte. Dann umgab sie plötzlich Stille und schummriges Licht.

Sepia sah sich um. Geradeaus führte ein enger Flur nach hinten in die Dunkelheit und rechts eine schmale Treppe in den ersten Stock. Das Licht von Silbersilbes Lampe schien auf hohe burgunderrot tapezierte Wände. Sie waren bis unter die Decke mit Urkunden und Dankesbriefen bedeckt. Sepia staunte über die vielen verschiedenen Sprachen, prächtigen Wachssiegel und schön geschwungenen Unterschriften.

Silbersilbe trat neben sie. »Schrecklich peinlich, oder?«, sagte er und rieb sich verlegen den Nacken. »Aber anscheinend macht es einen guten Eindruck, so was in seiner Diele aufzuhängen.« Er zuckte mit den Schultern.

Sepia nahm zum zweiten Mal an diesem Abend ihren Mut zusammen und fragte: »Verzeihung, aber warum genau bin ich hier?«

Silbersilbe blickte sie einen Moment schweigend an und etwas flackerte kurz in seinem Blick auf. Dann schien er sich zu besinnen und sagte, als sei das völlig offensichtlich: »Um die wunderbare Schwarze Kunst zu erlernen natürlich. So lautet der Name des mächtigsten und feinsten Handwerks, das die Welt jemals hervorgebracht hat. Jedenfalls meiner bescheidenen Meinung nach.« Er öffnete beide Hände. »Ich rede selbstverständlich von der Buchdruckkunst. Der Arbeit mit Tinte. Wir sind Schwarzkünstler, Jüngerinnen der Tinte, Diener des gedruckten Wortes und Verehrerinnen von Geschichten, Wissen und Fantasie.«

Silbersilbe hielt verzückt inne und Sepia fand, dass er ganz schön von sich selbst überzeugt wirkte. Aber nach allem, was sie wusste, musste er recht haben. Flohall war die Stadt der Tinte, es war wohl kein Wunder, dass auch die Buchdruckerinnen und Buchdrucker bewundert wurden.

Silbersilbe deutete auf die Treppe. »Wenn du möchtest, zeige ich dir dein Zimmer, alles andere hat Zeit bis morgen. Du musst entschuldigen, wir hatten eine ausgedehnte Perlnachtfeier, und es könnte etwas unaufgeräumt sein.«

Die schmale Holztreppe knarrte und flüsterte leise bei jedem Schritt. Im ersten Stock angekommen, öffnete Silbersilbe leise eine Tür und legte lächelnd einen Finger an die Lippen. Im Halbdunkel erkannte Sepia ein nicht allzu großes Zimmer mit zwei Betten an der rechten Wand und drei an der linken. Lange Vorhänge trennten die Betten voneinander. Am Fußende von jedem Bett stand eine kleine Kiste und neben jedem Kopfende ein kleiner Sekretär aus dunklem Holz mit einem Stuhl davor. Sepia konnte trotz des schwachen Lichts erkennen, dass jeder einzelne dieser Schreibschränke ganz unterschiedlich dekoriert zu sein schien. Einer versank unter einem Haufen Zeitungen und Bücher, ein anderer war bedeckt mit Süßigkeitenpapier und Kleidungsstücken, und auf einem dritten standen nur fein säuberlich ein Tintenfass und eine Schreibfeder. Leises Atmen und Schnarchen erfüllte den Raum. Ganz hinten an der Wand, direkt unter einem runden Fenster, stand ein einziges leeres Bett. Das weiße Bettzeug sah wunderbar weich aus.

Sepia drehte sich zu Silbersilbe um, der noch immer in der offenen Tür stand. Gegen das Licht hinter ihm konnte sie sein Gesicht nicht sehen.

Er tippte sich kurz an die Stirn, als würde er einen Hut tragen, und machte eine kleine Verbeugung. »Willkommen in Flohall. Und willkommen in der Druckerei Silbersilbe, Sepia. Ach ja, und alles Gute zum Geburtstag!«, sagte er leise und schloss die Tür hinter sich.

Sepia starrte noch eine Weile in die Dunkelheit. Dieser Meister Silbersilbe war wirklich rätselhaft. Noch nie hatte sich jemand vor ihr verbeugt, erst recht kein Erwachsener. Leise schlüpfte sie aus ihren Sachen, kletterte in das weiche Bett, und schaute aus dem Fenster. Unter ihr lag die stille Gasse, und vom Himmel warf der Mond sein Licht wie eine silbrige Decke auf das Meer aus Giebeldächern und Türmen. Direkt vor der Werkstatt stand eine einsame Straßenlaterne. Sepia ließ den Blick einen Augenblick darauf ruhen. Und dann, ganz kurz, glaubte sie einen kleinen Schatten in der Luft tanzen zu sehen, fast so, als würde jemand im Licht eine Seite umblättern. Aber im nächsten Augenblick war der Schatten wieder verschwunden.

Sepia schüttelte den Kopf, dann ließ sie sich ins Bett fallen und atmete tief ein. Sog den Duft nach Bittermandeln, ein wenig Medizin und Papier ein – den Duft von Tinte. Da fiel ihr ein, dass Silbersilbe ihr keine richtige Antwort auf ihre Frage gegeben hatte. Sie wusste noch immer nicht, warum er gerade sie hierhergeholt hatte. Doch dann hörte sie bald nur noch das leise Flüstern des Hauses um sie herum, und sie schlief ein.

SCHWARZE KUNST

Honigmond, der zweite Monat des Jahres

In den ersten Wochen versuchte Sepia, so unsichtbar zu sein, wie sie konnte. Außer ihr lebten noch fünf andere Lehrlinge in der Druckerei: die beiden Ältesten Jenson und Pagina, ein Mädchen namens Optima und die Zwillingsbrüder Caslon und Melior. Sie behandelten Sepia entweder freundlich, aber zurückhaltend oder, im Fall von Jenson, offen feindselig. Er hatte ihr gleich in der ersten Woche lautstark mitgeteilt, dass er aus einer Dynastie von Kaufleuten stammte, die unendlich stolz darauf waren, einen Lehrling der Schwarzen Kunst in der Familie zu haben. Vermutlich führte er sich deshalb so auf, als wäre er jetzt schon der nächste große Meister von Flohall. In seinen Augen war Sepia untalentiert und mit ihren ständig fleckigen Fingerspitzen eine Schande für die Druckerei. Und er sorgte regelmäßig dafür, dass sie das nicht vergaß.

Am schlimmsten war der Streich, den Jenson Sepia gemeinsam mit dem anderen Lehrlingsmädchen Optima in ihrer ersten Woche gespielt hatte. Silbersilbe war wie so oft außer Haus gewesen, und Sepia war gerade dabei, die kleine Bibliothek im zweiten Stock zu erkunden, als Jenson sich mit verschränkten Armen in die Tür stellte.

»Komm mit. Auftrag von Silbersilbe.«

Sepia folgte ihm in die Werkstatt und Jenson hielt vor den Setzkästen an. Er deutete auf die unzähligen Fächer, in denen Tausende von kleinen Bleibuchstaben lagerten.

»Wir haben mal wieder einen Fall von Bleiläusen. Du musst sie suchen und zerquetschen, sobald du sie siehst.«

»Und wie sehen sie aus?«, fragte Sepia unsicher.

»Das herauszufinden, gehört zu deiner Ausbildung, Fliegenkopf!«, sagte Optima und verdrehte die Augen. »Wenn du eine Bleilaus nicht erkennst, kannst du auch keine Buchdruckerin werden. Wir kommen in einer Stunde wieder.«

»Und pass auf, dass sie dich nicht beißen«, fügte Jenson grinsend hinzu, bevor er die Tür schloss.

Und damit war Sepia allein mit den drei großen Druckpressen, den Tausenden von kleinen Metallbuchstaben, dem Papier und dem Gefühl, vollkommen aufgeschmissen zu sein. Ratlos öffnete sie ein paar Schubladen und beugte sich über die winzigen Buchstaben. Aber da war nichts. Keine kleinen Insekten, egal, wie genau Sepia die rasselnden Buchstaben auch durchsuchte. Irgendwann ließ sie sich entmutigt auf einen Stuhl fallen und starrte vor sich hin. Es war still und roch nach Leim und Holz.

Und dann hörte sie auf einmal ein ganz leises Rasseln. Sepia hob den Kopf. Da war es wieder. Als würde jemand die Spitzen von Nähnadeln aneinanderschlagen. Sie sah sich um. War da gerade etwas im Schatten zwischen den Druckpressen umhergehuscht? Und dort, in der Ecke, direkt neben der Kellertür? Sepia glaubte winzige graue Lebewesen zu erkennen, etwa in der Größe einer Walnuss. Sie hüpften von einem Schatten zum nächsten. Und dann waren sie wieder fort.

In diesem Moment ging die Tür auf. Jenson und Optima standen mit breitem Grinsen vor ihr und wollten gerade etwas sagen, da streckte Sepia aufgeregt den Arm aus und deutete in die Ecke.

»Ich hab sie gerade gesehen! Ganz sicher, da in der Ecke!«

Jenson und Optima fiel ihr Grinsen aus den Gesichtern. Eine Weile herrschte Stille, und sie starrten Sepia nur an. Da begriff Sepia, und ihre Wangen brannten. Sie hätte diese … Dinger nicht sehen sollen. Es war nie ihre Aufgabe gewesen, sie tatsächlich zu finden. Weil es sie eigentlich nicht geben sollte. Für Jenson und Optima war das alles ein Scherz gewesen. Und trotzdem hatte Sepia etwas gesehen. Aber was sagte das über sie?

Das dachten wohl auch Jenson und Optima, die sich allerdings schnell wieder im Griff hatten. Optima schüttelte den Kopf und sagte: »Du bist hoffnungslos.«

Jenson nickte. »Untalentiert und auch noch verrückt. Na wunderbar. Was auch immer Silbersilbe sich dabei gedacht hat, dich …«

»Was habe ich mir wobei gedacht?«

Alle drei machten einen Satz. Silbersilbe war lautlos im Flur hinter Jenson und Optima aufgetaucht.

»Gar nichts!«, rief Jenson sofort, und Optima setzte ihr liebenswürdigstes Lächeln auf.

Silbersilbe sah Sepia freundlich an. Natürlich hätte sie alles verraten können, aber wenn sie eines nicht wollte, dann, dass Silbersilbe sie auch noch für verrückt hielt. Deswegen sagte sie nichts.

»Alles in Ordnung?« Der Meister kam näher, die Hände in den Taschen seines Ausgehumhangs. »Heute brauche ich euch eigentlich nicht in der Werkstatt. Und ich denke, ein so vorbildlicher Lehrling wie du, Jenson, wollte doch wohl nicht in den Tintenkeller hinunter, ohne mich um Erlaubnis zu fragen, oder?«

Jenson wurde knallrot. »Oh, n-nein, Meister! Das würde ich nie, ich hätte niemals …«, stammelte er und schob sich hinter Optima, die schon an Silbersilbe vorbeigehuscht war, in den Flur und verschwand nach oben.

Sepia überlegte panisch, was sie nun sagen könnte, aber Silbersilbe griff nur nach dem Türknauf und hielt ihr die Tür auf.

»Was für ein dunkler Nachmittag. Komm mit in die Küche, ich glaube, da steht noch etwas heiße Zimtmilch auf dem Ofen. Es gibt eigentlich keine Wolken, die sich nicht durch eine Prise Zimt vertreiben ließen, wenn du mich fragst.«

In den nächsten Wochen verbrachte Sepia ihre freie Zeit damit, Jenson aus dem Weg zu gehen und die Druckerei zu erkunden. Ganz oben im dritten Stockwerk befanden sich Silbersilbes Zimmer, doch die meiste Zeit verbrachte er ohnehin unten in der Werkstatt. Sepia fragte sich manchmal, ob er überhaupt schlief.

Im zweiten Stock war die kleine Bibliothek des Hauses. Sepia liebte es, in dem alten Sessel direkt vor dem einzigen Fenster, von dem aus sie einen fantastischen Blick auf die Bleierne Gasse hatte, inmitten der Bücher zu sitzen und in den Geschichten zu stöbern. Manchmal schlief sie dort auch ein, eingelullt vom Duft nach Tinte und Papier.

Im ersten Stock waren der Schlafraum und das Badezimmer der Lehrlinge untergebracht. Am Ende des langen Flurs im Erdgeschoss lag rechts die gemütliche Küche mit ihrem großen Holztisch und dem dunkelgrünen Kachelofen, auf dem immer irgendetwas vor sich hin köchelte – meistens eine Kanne Gewürzkaffee. Von der Küche aus führte eine Tür hinaus in den kleinen Innenhof, der einer Abstellkammer unter freiem Himmel glich: Von kaputten Druckpressen, über Kisten voller leerer Tintenflaschen bis zu einer Garnitur Holzstühle und alter Koffer lag dort alles herum, was Silbersilbe nicht mehr zu brauchen schien. Oder irgendwann noch einmal zu brauchen glaubte.

Geradeaus am Ende des Flurs befand sich die Werkstatt. Lichtdurchflutet von großen Fenstern beherbergte der Raum in der Mitte die drei großen Druckpressen und vorne rechts die Werkbänke mit den Setzkästen. Entlang der Wände standen Regale voller Bücher, Einmachgläser mit Baumharz und schwarz verfärbten Pinseln, Prägestempeln und Papier. Durch den ganzen Raum waren Leinen gespannt, an denen bedruckte Papierseiten zum Trocknen hingen. Außerdem stand hier ein großer Tisch, der sich unter Papier, Büchern und Werkzeug bog (Silbersilbe verkündete beinahe jeden Morgen, er werde hier bald aufräumen), und es gab die Tür zum verbotenen Keller, wo Silbersilbe seine kostbare Tinte aufbewahrte.

Die Werkstatt war der Ort, an dem Sepia das Haus am lebendigsten erschien. Jede alte Diele der Druckerei flüsterte und knarzte. Aber besonders in der Werkstatt hatte sie das Gefühl, nicht allein zu sein, auch wenn niemand außer ihr im Raum war.

Sepia hatte sehr schnell begriffen, dass Buchdruck viel mehr war, als Tinte irgendwie auf Papier zu bringen. Die Schwarze Kunst, die so wegen der schwarzen Tinte hieß, mit der die Bücher gedruckt wurden, war voller Geheimnisse.

Sie verbrachte Stunden vor den Regalen voller Papier und Pergament und versuchte zu lernen, welches Papier für welche Drucke gedacht war: steifes Büttenpapier für Geschichtsbücher, weiches Seidenpapier für Liebesromane, feines Zigarettenpapier für Gedichte und dünnes Altpapier für den Kritikteil in Zeitungen. Sie versuchte, die verschiedenen Tinten zu unterscheiden: Wasserfeste lampenschwarze Tusche war für Beschwerden gedacht, Gewürztinte für Kochbücher, Rosentinte für Komplimente, Leuchttinte für Werbung und nach Zuckerbonbons duftende Tinte für Kinderbücher. Sepia lernte, wie die Druckpressen funktionierten, und reinigte die größten Walzen und Druckplatten und die kleinsten Zahnräder und Metallzylinder der Maschinen. Und sie übte stundenlang das Schriftsetzen. Dabei musste sie die winzigen Bleibuchstaben aus den Setzkästen einzeln in einen Metallhaken setzen, die richtigen Absätze, Satzzeichen und Abstände wählen und aufpassen, dass die winzigen Buchstaben dabei nicht durcheinandergerieten.

Es hätte die schönste Arbeit sein können, wenn Sepia nicht ein Missgeschick nach dem anderen passiert wäre. Sie hatte schon Tintengläser fallen gelassen, ein heilloses Chaos im Papierraum angerichtet, und wie oft ihr schon ein fertig gesetzter Satz heruntergefallen und die winzigen Bleibuchstaben auf dem Boden der Werkstatt in alle Richtungen verstreut worden waren, wusste sie selbst nicht mehr. Und, als wäre das alles nicht genug, ließ der schreckliche Jenson keine Gelegenheit aus, ihr deutlich zu machen, dass sie eine absolute Katastrophe war.

Eines Morgens saß Sepia mit den anderen Lehrlingen in der Werkstatt und versuchte angestrengt einen Satz, Buchstabe für Buchstabe, aus den winzigen silbernen Bleilettern zusammenzusetzen. Jenson lehnte neben ihr an der Werkbank und seufzte in regelmäßigen Abständen genervt. Weshalb auch immer hatte Silbersilbe ausgerechnet ihn damit beauftragt, Sepia zu unterstützen?

»Zum Tintenteufel, du bist schon einen Monat hier! Wie kann man so langsam sein?«, zischte der ältere Lehrling und strich sich ungeduldig durch das helle Haar.

Sepia atmete tief und warf einen Blick zu Silbersilbe hinüber. Der Meister saß an einer der Druckpressen. Die mächtigen Maschinen erinnerten Sepia an glänzende Lokomotiven, und sie waren auch fast genauso laut. Ganz hinten, im Wandofen, prasselte wie immer ein gemütliches Feuer.

Sepia rutschte auf ihrer Bank hin und her und konzentrierte sich wieder auf ihre Arbeit. Sie hatte es noch kein einziges Mal geschafft, eine Seite fertig zu setzen, ohne einen Buchstaben oder ein Satzzeichen zu vergessen, einen Absatz falsch zu setzen oder irgendeinen anderen Fehler zu machen, den Jenson mit seinem kritischen Blick sofort erkannte. Sie fixierte den Notizzettel mit dem Text, den sie setzen sollte:

»Es war einmal …«Kinder, die dies lesen, mögen denken, nun folge das Wort »Ein König!«. Aber nein, Kinder, diesmal liegt ihr falsch.Denn es war einmal ein Stück Holz.

Jenson seufzte erneut. »So lang wie du hat wirklich noch niemand gebraucht, um Setzen zu lernen. Ich war ein ganzes Jahr jünger als du, als ich hergekommen bin, und ich konnte das schon nach einer Woche perfekt!«, murmelte er und zog den Knoten seiner tadellos sitzenden schwarzen Schürze glatt.

Er baute sich mit verschränkten Armen vor ihr auf, und Sepia konnte die kleinen Pickel sehen, die er versuchte, unter seinem Pony zu verstecken. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben, aber in ihr brodelte eine Wut auf den älteren Lehrling wie Milch in einem viel zu heißen Kochtopf. Ihre Hand wanderte langsam über den Setzkasten und suchte nach dem nächsten Buchstaben. Es musste ein S sein. Mit der anderen Hand hielt sie den metallenen Winkelhaken umklammert, das Werkzeug, in das sie die kleinen Buchstaben einspannen musste. Jenson trippelte mit dem Fuß auf den Boden, das Geräusch fraß sich in Sepias Kopf wie das Summen einer Fliege und machte sie nur noch wütender. Endlich entdeckte sie ein S und griff danach.

Was dann passierte, würde Sepia erst viel später begreifen. Sie setzte das S zu den anderen Buchstaben in den Satz und … es sprang wieder heraus. Sepia blieb die Luft weg. Sie traute ihren Augen nicht. Mit zitternden Fingern griff sie erneut nach dem Buchstaben, aber jetzt zappelte er. Er zappelte zwischen ihren Fingern!

Sepia erschrak so sehr, dass sie alles fallen ließ und aufsprang. Mit lautem Klirren prasselten alle kleinen Buchstaben auf den Boden und verteilten sich in der ganzen Werkstatt. Jenson schlug sich gegen die Stirn, aber Sepia starrte nur fassungslos auf ihre Hände. Das konnte nicht sein!

»Einer der Buchstaben hat sich von allein bewegt!«, platzte sie heraus.

Die anderen Lehrlinge starrten sie sprachlos an. Dann brach Jenson in schallendes Gelächter aus, und auch Optima stimmte mit ein. Silbersilbe hingegen lachte nicht. Er beobachtete sie von seinem Platz aus mit nachdenklichem Gesichtsausdruck. Sepia befürchtete, er könnte wütend sein, doch er räusperte sich nur kurz, woraufhin Jenson und Optima verstummten. Dann wandte sich der Meister ab und arbeitete in aller Seelenruhe weiter.

Sepia sah ihm fassungslos hinterher. Das war alles? Sein Verhalten war ihr ein Rätsel. Sie spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen schoss. Vielleicht hielt er sie einfach ebenfalls längst für einen hoffnungslosen Fall. Sie seufzte leise und begann, die verstreuten Buchstaben wieder aufzusammeln. Aber das kleine S, das sich ganz von allein bewegt hatte, war verschwunden.

NIKI UND SANZIO

Blaumond, Beginn des dritten Monats des Jahres

Eine Woche später stand Sepia in der Bibliothek und presste die Nase ans Fenster.

»Seidenhand und Perugina kommen.« Beim Frühstück hatte Pagina die Nachricht zwischen ihrer ersten und ihrer zweiten Tasse Gewürzkaffee verkündet.

Außer Sepia schien niemand besonders überrascht von dieser Nachricht zu sein. Für sie war es die aufregendste Neuigkeit seit Langem. Magia Perugina und Folio Seidenhand würden in die Druckerei kommen! Die legendäre Buchmalerin und der große Buchbinder waren treue Gefährten von Silbersilbe und bildeten mit ihm das berühmte Meister-Trio von Flohall.

Als Sepia aufgeregt gefragt hatte, warum sie der Druckerei einen Besuch abstatteten, hatte Pagina nur mit der Hand gewedelt. »Immer wenn sie zu dritt ein Buch anfertigen, treffen sie sich und prüfen, ob sie alles richtig gemacht haben.«

»Dann machen sie nicht jedes Buch zusammen?«, fragte Sepia überrascht.

Jenson schnaubte. »Bist du übergeschnappt? Hast du eine Ahnung, wie viel Arbeit in einem Buch steckt, das die drei zusammen anfertigen? Dann würden sie ja nichts anderes mehr machen! Außerdem kann so ein Buch ohnehin niemand bezahlen. Glaub mir, du kannst schon glücklich sein, wenn du in deinem Leben jemals eins der Bücher mit eigenen Augen siehst.«

Pagina warf Jenson einen strengen Blick zu. »Was der charmanteste Lehrling in ganz Flohall damit sagen will: Wer ein Buch der drei haben möchte, muss es Monate im Voraus bestellen. Und sehr viel Geld dafür bezahlen. Das machen sie wirklich nur selten. Für dich ist aber nur wichtig, dass so ein Tag für uns Freizeit bedeutet. Also verbring ihn am besten mit irgendetwas, das dir Spaß macht, so wie wir anderen auch.«

Doch Sepia war viel zu neugierig und wollte unbedingt einen Blick auf die berühmten Gäste erhaschen. So hockte sie an ihrem Lieblingsplatz in der Bibliothek und beobachtete den ganzen Vormittag über die Straße. Irgendwann erklang tatsächlich das Klappern von Hufen in der Bleiernen Gasse. Sepia presste ihr Gesicht so fest gegen die Scheibe, dass ihre Wange ganz warm wurde. Eine schmale dunkelblaue Kutsche bog in die Gasse ein. Sie wurde von zwei grauen Pferden gezogen und auf ihrem Dach prangte ein großes geschwungenes P. Die Kutsche hielt vor der Druckerei, und ihre Tür öffnete sich.

Eine große Frau stieg aus. Von ihrem Fenster aus konnte Sepia nur erkennen, dass sie ein langes dunkelblaues Gewand trug. Die Frau ging zum Eingang der Druckerei, wo Silbersilbe sie begrüßte. Da sprang noch eine kleine Gestalt hinter der Frau aus der Kutsche und folgte ihr. Sepia erkannte ein Mädchen mit hellem, zu einem langen Zopf gebundenen Haar, das ebenfalls einen dunkelblauen Umhang trug. Vor der Eingangstür blieb das Mädchen plötzlich stehen und blickte nach oben zu Sepias Fenster. Sepia zuckte erschrocken zurück, erkannte aber gerade noch ein breites Lächeln in einem gebräunten Gesicht.

Sepia riss sich vom Fenster los und schlich, so leise sie konnte, die Treppe in den ersten Stock hinunter. Unten führte Silbersilbe seine Gäste gerade durch den Flur in Richtung Werkstatt.

»Niki, warte in der Küche auf mich!«, hörte Sepia die Frau sagen.

Also hieß das Mädchen Niki. Sepia wollte gerade weiter hinunterschleichen, da klopfte es erneut. Sie beobachtete, wie Silbersilbe zur Tür eilte und jemanden herzlich begrüßte. Ein schmaler Mann betrat die Druckerei. Er hatte haselnussbraunes Haar und trug eine kleine runde Brille. Seine Kleidung war sehr elegant: ein tannengrüner Umhang und eine Bundfaltenhose in der gleichen Farbe, außerdem eine goldgelbe Weste, dazu eine rubinrote Fliege und ein Hut. Hinter ihm huschte ein Junge durch die Tür, der ein schwer aussehendes Paket trug. Sepia erkannte im Halbdunkel des Flurs, dass er schwarze Locken hatte, die ihm bis in die Augen fielen, und dunkelbraune Haut. Er war ein wenig größer als Sepia und trug ebenfalls einen dunkelgrünen Umhang, eine Bundfaltenhose und ein helles Hemd. Silbersilbe begrüßte den Jungen, dann verschwanden sie alle drei in Richtung Werkstatt.

Sepia schlich weiter hinunter und achtete darauf, vorsichtig auf die knarzenden Stufen zu treten. Unten angekommen, spähte sie um die Ecke. Die Tür zur Werkstatt stand offen, und Sepia sah die drei Meister in der Mitte des Raumes stehen. Von dem Jungen war keine Spur mehr zu sehen.

Magia Perugina hatte ein schmales Gesicht und langes Haar in der Farbe von Pergament. Es war zu einem lockeren Knoten gebunden, aus dem einige Strähnen auf ihre Schultern fielen. Wenn sie sich bewegte, raschelte ihr langes tiefblaues Gewand wie Seidenpapier. Sie drehte sich gerade zu dem Mann um, der hereingekommen war.

»Seidenhand. Wie gewöhnlich zu spät. Wie lang hat es diesmal gedauert, die passende Fliege zu deinem Hemd auszuwählen?«, fragte sie amüsiert.

Folio Seidenhand hob abwehrend die Hände. »Oh, wir waren pünktlich. Aber die viel zu prächtige Kutsche der berühmten Meisterin Perugina zieht mal wieder Schaulustige aus ganz Flohall an, und die ganze Straße ist blockiert. Die Stadtgarde muss die Massen mit Drohungen zurückhalten. Daher waren wir gezwungen, einen Umweg zu nehmen. Auf wessen Seite steht der Meister der Tintenkleckse?«

Ein kurzes Schweigen trat ein, dann lachten alle drei laut los. Plötzlich drehte Silbersilbe sich um und Sepia zog schnell den Kopf wieder zurück. Sie hörte, wie sich die Tür zur Werkstatt leise quietschend schloss.

Stille legte sich wie eine Decke über den dunklen Flur. Sepia wusste, dass sie hier nichts mehr verloren hatte. Offensichtlich wollten die Meister unter sich sein, sie sollte also brav zurück in die Bibliothek gehen und weiter in ihrem Buch lesen. Oder ihren Schreibschrank aufräumen oder … aber die Neugier siegte.

Sie schlich den Flur entlang zur Werkstatttür. Ihre Fingerspitzen kribbelten. Das Haus wisperte, aber die Dielen blieben zum Glück still. Nur noch wenige Schritte trennten sie von der Tür. Sepia schwor sich, nur ganz kurz zu lauschen und dann sofort wieder zu verschwinden. Sie hatte nun fast die Werkstatt erreicht und schlich gerade an der Küche vorbei, da ging plötzlich die Küchentür auf.

»Lass das! Das ist keine gute Idee«, flüsterte jemand panisch, und eine zweite Stimme antwortete ebenso leise: »Ach komm schon, Sanzio. Als ob du nicht wissen wi…«

Sepia starrte in zwei Augenpaare. Vor ihr standen das blonde Mädchen und der Junge, der mit Seidenhand hereingekommen war. Für einen Augenblick reagierte niemand. Sepia spürte, wie Panik in ihr hochkroch. Was sollte sie sagen? Wenn die beiden verraten würden, dass sie hatte spionieren wollen, dann steckte sie in großen Schwierigkeiten!

»Willst du auch wissen, was die da drin machen?«, flüsterte das Mädchen begeistert und Sepia nickte spontan.

Der Junge schlug sich lautlos gegen die Stirn und flüsterte: »Na klasse.«

»Wir auch«, fuhr das Mädchen ungerührt fort.

Sepia fiel ihr Name wieder ein. Niki hatte die Buchmalerin sie genannt.

»Komm schnell hier rein.« Eilig zog sie Sepia am Ärmel in die Küche und schloss die Tür hinter ihnen.

Die Küche war verlassen, sogar der Wasserkessel auf dem grünen Kachelofen, in dem ansonsten immer etwas köchelte, war still. Sepia betrachtete das andere Mädchen näher. Niki trug eine Hose, die so weit war, dass sie auf den ersten Blick wie ein Rock aussah, dazu einen Taillengürtel und ein weißes Hemd. An ihren Kragen war ein Wappen in der weißen Farbe von Papier geheftet. Es zeigte ein geschlossenes Buch, darunter einen blauen Tropfen und darüber einen Pinsel. Auch am Umhang des Jungen klemmte ein kleiner Pin mit einem Wappen darauf. Auf goldenem Grund prangte ebenfalls ein Buch, darüber ein grünes Pflanzenblatt und eine ausgestreckte Hand, mit der Handfläche nach vorn. Zweifellos das Wappen von Seidenhand.

»Du bist Sepia, die Neue, oder?«, wisperte das Mädchen aufgeregt und betrachtete Sepia interessiert. »Du hast tolle Augen! Das müsste … Neutraltinte sein, wenn mich nicht alles täuscht.«

Sepia blickte sie verdutzt an. »Wie bitte?«

»Sie meint deine Augenfarbe«, unterbrach der Junge sie lässig und stellte sich dann vor. »Ich bin Sanzio. Gehöre zu Seidenhand. Und die Wahnsinnige hier, die die Namen aller Farbtöne kennt, ist Niki Perugina.«

Sepia riss die Augen auf. »Augenblick, du bist ihre Tochter?«

Nikis Blick verdüsterte sich und Röte kroch ihre Wangen hinauf. Sie winkte ab. »Ja … ja bin ich. Aber können wir uns jetzt um die wichtigen Dinge kümmern? Wir wollen doch alle wissen, was zum Tintenteufel in dem Paket ist, oder? Durchs Schlüsselloch der Werkstatt kann man nichts sehen, haben wir schon ausprobiert«, erklärte sie. »Wir wollten gerade schauen, ob die Luft rein ist, und dann unter einem Vorwand einfach reinrennen.«

Sanzio sah Sepia skeptisch an. »Sie sagt wir, dabei war es allein ihre Idee. Ich finde diese Idee mehr als fragwürdig.«

»Als ob du nicht neugierig wärst. Wenn sie sich schon mit einem ihrer besonderen Bücher treffen, dann will ich wenigstens wissen, worum es bei dem geheimen Getue immer geht!«, erwiderte Niki trotzig.

»Ich glaube, ich hab einen besseren Plan«, sagte Sepia. Plötzlich war ihr eine Idee gekommen. Die war vielleicht halsbrecherisch, aber es war einen Versuch wert. Sie schlich hinüber zu der verschnörkelten Tür, die hinauf in den vollgestellten Innenhof führte.

Niki folgte ihr und strahlte. »Das ist es! Warum bist du nicht auf diese Idee gekommen, Sanzio?«