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Rasante Action des Thriller-Bestsellerautors nun als große Serienverfilmung
Mickey Bolitar hat wirklich ein übles Jahr hinter sich: Sein Vater ist bei einem Unfall umgekommen, seine Mutter ist auf Entzug und jetzt muss er auch noch zu seinem Onkel Myron ziehen, den er kaum kennt. Doch es kommt noch schlimmer: Gerade als er neue Hoffnung schöpft, verschwindet seine Freundin Ashley spurlos! Fest entschlossen, herauszubekommen, was mit ihr passiert ist, findet er sich plötzlich in einem Strudel mysteriöser Ereignisse wieder – und diese scheinen mit dem Tod seines Vaters in Zusammenhang zu stehen ...
Ein atemberaubendes Abenteuer vom Meister der psychologischen Spannung – nun auch als Serienverfilmung!
Die Bänder der Shelter-Reihe:
Shelter – Der schwarze Schmetterling (Band 1)
Das dunkle Haus (Band 2)
Das geheimnisvolle Grab (Band 3)
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Seitenzahl: 359
HARLANCOBEN
Der schwarze Schmetterling
Aus dem Amerikanischen
von Anja Galić
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© 2011 Harlan Coben
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »Shelter« bei G. P. Putnam’s Sons, einem Imprint der Penguin Young Readers Group, New York
© 2012 der deutschsprachigen Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Übersetzung: Anja Galić
Lektorat: Carola Henke
Umschlagkonzeption: Geviert, Grafik & Typografie
unter Verwendung des Originalcovers von © Tony Sahara
mit Abbildungen von © Shutterstock und © AdobeStock
mit freundlicher Genehmigung von Penguin Random House LLC, New York
MP ∙ Herstellung: LW
Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss
ISBN 978-3-641-31655-6V001
www.cbj-verlag.de
Für Charlotte, Ben, Will und Eve
Ich war gerade auf dem Weg zu meiner neuen Highschool und zerfloss in Selbstmitleid – mein Vater war tot, meine Mutter machte einen Entzug, und meine Freundin war verschwunden –, als ich die Hexe zum ersten Mal sah.
Natürlich hatte ich die Gerüchte gehört, die man sich über sie erzählte. Angeblich lebte sie ganz allein in dem heruntergekommenen Haus Ecke Hobart Gap Road und Pine Street, das jeder hier aus der Gegend kannte. Jetzt stand ich direkt davor. Der gelbe Anstrich pellte sich vom Putz wie Haut nach einem Sonnenbrand. Der geteerte Zugangsweg war rissig und in dem ungepflegten Vorgarten wucherte kniehoch der Löwenzahn.
Es hieß, die Hexe sei hundert Jahre alt und würde nur nachts rauskommen. Und wenn ein Kind nicht vor Einbruch der Dunkelheit vom Spielen oder vom Baseballtraining zu Hause war – und so mutig, im Dunkeln heimzulaufen, oder verrückt genug, die Abkürzung durch ihren Garten zu nehmen –, dann holte sie es sich.
Was sie dann mit ihnen machte, hatte mir niemand sagen können. Kinder waren in der Stadt jedenfalls seit Jahren keine verschwunden. Bei Jugendlichen, wie zum Beispiel meiner Freundin Ashley, sah die Sache schon anders aus. Die konnten am einen Tag noch da sein, deine Hand halten, dir tief in die Augen schauen und dein Herz dazu bringen, Trommelwirbel zu schlagen – und am nächsten waren sie verschwunden. Aber kleine Kinder? Nö. Die hatten nichts zu befürchten, noch nicht einmal von der Hexe.
Ich wollte gerade auf die andere Straßenseite wechseln, weil selbst mir als frischgebackenem Zehntklässler bei der Vorstellung mulmig wurde, zu dicht an dem unheimlichen Haus vorbeizugehen, als sich knarzend die Eingangstür öffnete.
Ich erstarrte.
Einen Moment lang passierte gar nichts. Die Tür stand sperrangelweit offen, aber es war niemand zu sehen. Ich blieb stehen und wartete. Gut möglich, dass ich blinzelte, aber beschwören kann ich es nicht.
Jedenfalls stand plötzlich die Hexe da.
Sie hätte tatsächlich hundert Jahre alt sein können. Oder sogar zweihundert. Ihre hüftlangen silbergrauen Haare wehten im Wind und verbargen ihr Gesicht wie ein Schleier. Sie trug ein weißes Kleid, das an ein Hochzeitskleid aus einem alten Horrorfilm oder Heavy-Metal-Video erinnerte, und ihr Rücken war gekrümmt wie ein Fragezeichen.
Die Hexe hob langsam ihre rechte Hand, die so blass war, dass sich überdeutlich die blauen Adern auf dem Handrücken abzeichneten, und zeigte mit knochigem, zitterndem Zeigefinger in meine Richtung. Ich sagte nichts. Ihr Finger verharrte auf mir, bis sie sich sicher war, dass ich sie ansah. Dann breitete sich auf ihrem von Falten zerfurchten Gesicht ein Lächeln aus, bei dem es mir eiskalt den Rücken hinunterlief.
»Mickey?«
Ich hatte keine Ahnung, woher die Hexe meinen Namen wusste.
»Dein Vater ist nicht tot«, sagte sie.
Ihre Worte durchfuhren mich wie ein Stromstoß und ließen mich einen Schritt zurückweichen.
»Er lebt.«
Ich stand immer noch wie vom Donner gerührt da, als sie wieder in ihrem abbruchreifen Hexenhaus verschwand, aber ich wusste, dass das, was sie gesagt hatte, nicht stimmte.
Ich hatte nämlich mit eigenen Augen gesehen, wie mein Vater starb.
Okay, das war wirklich schräg.
Ich blieb vor dem Haus der Hexe stehen und wartete ab, ob sie vielleicht noch mal herauskam. Fehlanzeige. Nach einiger Zeit ging ich den Weg zur Tür hinauf und suchte nach einem Klingelknopf. Es gab keinen. Ich hämmerte gegen die Tür. Sie erbebte unter der unsanften Behandlung, und das Holz war so rau, dass es wie Schmirgelpapier über meine Fingerknöchel schrappte. Farbsplitter rieselten zu Boden, als hätte die Tür ziemlich übel Schuppen.
Aber die Hexe ließ sich nicht blicken.
Tja, und was jetzt? Die Tür eintreten und die komische alte Frau in dem merkwürdigen weißen Kleid dazu auffordern, ihr wirres Gerede zu erklären? Vielleicht war sie ja nach oben ins Bad gegangen, hatte ihr weißes Kleid ausgezogen und stand gerade unter der Dusche …
Igitt.
Zeit, abzuhauen. Ich musste sowieso weiter, wenn ich den ersten Gong nicht verpassen wollte. Mein Klassenlehrer Mr Hill nahm es mit Pünktlichkeit extrem genau. Außerdem hoffte ich immer noch, dass Ashley heute auftauchen würde. Ich meine, konnte doch sein, dass sie genauso plötzlich wieder da war, wie sie sich in Luft aufgelöst hatte.
Ich hatte Ashley vor drei Wochen beim Einführungstag der Highschool kennengelernt, der sowohl für komplette Neulinge wie Ashley und mich abgehalten wurde als auch für die angehenden Neuntklässler, von denen sich aber alle schon seit der Grundschule kannten. Typisch Kleinstadt eben.
Eigentlich sollte so ein Einführungstag dazu da sein, sich seinen Stundenplan zusammenzustellen, überall herumgeführt zu werden und vielleicht mit ein paar Mitschülern Bekanntschaft zu machen. Aber nein, das reichte noch nicht. Wir mussten zusätzlich an total schwachsinnigen, entwürdigenden und komplett peinlichen »Teambildungs-Übungen« teilnehmen.
In der ersten ging es um Vertrauen und Sich-fallen-Lassen, und wir sprechen hier nicht von Sich-fallen-Lassen im übertragenen Sinn. Ms Owens, eine Sportlehrerin mit einem breiten Lächeln, das aussah, als wäre es ihr von einem volltrunkenen Clown aufs Gesicht gepinselt worden, begann die Übung damit, uns mit penetrant guter Laune zu terrorisieren.
»Guten Morgen allerseits!«
Hier und da ertönte unterdrücktes Stöhnen.
Dann – und ich hasse es, wenn Erwachsene das machen – rief sie: »Kommt schon, Leute! Ich weiß genau, das könnt ihr besser, also lasst es uns noch mal versuchen! Guten Morgen allerseits!«
Die Schüler gaben ein lautes »Guten Morgen« zurück, aber nicht, weil Ms Owens sie überzeugt hatte, sondern damit sie endlich mit dem Quatsch aufhörte.
Anschließend teilte sie uns in Sechsergruppen auf – in meiner waren drei angehende Neuntklässler und zwei Schüler aus der Oberstufe, die wie ich gerade erst in die Stadt gezogen waren.
»Okay! Gleich werdet ihr euch der Reihe nach mit verbundenen Augen auf dieses Podest hier stellen!« Ms Owens schien ihre Sätze immer mit einem Ausrufezeichen beenden zu müssen. »Und dann möchte ich, dass ihr die Arme vor der Brust verschränkt und so tut, als würde das Podest in Flammen stehen! Oh Gott!« Sie presste die Hände auf die Wangen wie der Junge auf dem Filmplakat von »Kevin allein zu Haus«. »Es ist so schrecklich heiß, dass ihr euch nach hinten fallen lassen müsst!«
Jemand hob die Hand. »Warum sollen wir unsere Arme verschränken, wenn das Podest in Flammen steht?«
Zustimmendes Murmeln.
Ms Owens’ Dauerlächeln blieb an Ort und Stelle, aber ich meinte, ein leichtes Zucken unter ihrem rechten Auge zu sehen. »Weil ihr an den Armen gefesselt seid!«
»Ähm, sind wir aber doch gar nicht.«
»Ihr tut so, als ob!«
»Aber wenn wir so tun, als seien wir gefesselt, wozu brauchen wir dann die Augenbinde? Können wir nicht auch einfach so tun, als könnten wir nichts sehen?«
»Oder die Augen zumachen?«
Ms Owens rang um Fassung. »Das Podest brennt! Es ist so heiß, dass ihr euch rückwärts fallen lasst!«
»Rückwärts?«
»Würde man in so einem Fall nicht eher springen, Ms Owens?«
»Genau. Warum sollten wir uns nach hinten fallen lassen? Ich meine, wenn doch angeblich das ganze Podest brennt.«
Ms Owens reichte es. »Weil ich es euch sage! Ihr werdet euch nach hinten fallen lassen! Die anderen aus der Gruppe werden euch auffangen! Und das Ganze machen wir so lange, bis jeder einmal dran war!«
Wir fügten uns in unser Schicksal, auch wenn ein paar von uns sichtlich schluckten. Ich bin eins fünfundneunzig groß und wiege hundert Kilo. Ich sah den Leuten aus meiner Gruppe an, dass ihnen bei der Vorstellung, mich gleich auffangen zu müssen, etwas mulmig wurde. Und dann war da noch eine von Kopf bis Fuß schwarz gekleidete angehende Neuntklässlerin in meinem Team, die ziemlich fett war. Ich weiß, ich sollte sie nicht fett nennen, sondern stattdessen lieber ein politisch korrektes Wort benutzen, aber mir fällt keines ein, das nicht irgendwie herablassend klingt. Korpulent? Pummelig? Vollschlank? Ich meine das ganz ohne Wertung, so wie ich auch hager, dürr oder schmächtig sagen würde.
Das dicke Mädchen zögerte, bevor sie als Erste auf das Podest stieg. Jemand in unserer Gruppe lachte. Dann fing noch einer an.
Ich habe wirklich keine Ahnung, wozu diese Übung gut sein sollte, außer diesem Mädchen zu zeigen, dass die Grausamkeiten nicht aufhören würden, wenn sie auf die Highschool kam.
Als sie sich nicht sofort nach hinten fallen ließ, sagte einer der anderen Neuntklässler mit gehässigem Grinsen: »Na los, Ema, mach dich mal locker. Wir fangen dich schon auf.«
Seine Stimme klang nicht gerade vertrauenerweckend. Ema zog die Augenbinde herunter und schaute sich zu uns um. Als unsere Blicke sich trafen, nickte ich ihr aufmunternd zu. Schließlich ließ sie sich fallen, und wir fingen sie auf, wobei sich ein paar nicht verkneifen konnten, dabei übertrieben zu ächzen. Ema machte danach allerdings nicht den Eindruck, als hätte sie jetzt mehr Vertrauen in ihre Mitmenschen als vorher.
Als Nächstes spielten wir irgend so ein dämliches Paintballspiel, bei dem sich zwei Leute verletzten, und dann kam eine Übung, die sich »Vergiftete Erdnussbutter« nannte. Kein Witz – leider. Dafür musste man einen zehn Meter langen imaginären Sumpf aus vergifteter Erdnussbutter durchqueren, aber – »Es kann immer nur einer von euch die Antigift-Schuhe tragen!«, wie Ms Owens erklärte.
Kurz: Wer in den Zweierteams die »Antigift-Schuhe« anhatte, musste seinen Partner huckepack nehmen. Die meisten Mädchen kicherten albern, während sie auf die andere Seite getragen wurden. Das Ganze wurde von einem Fotografen der Lokalzeitung Star-Ledger dokumentiert, der die ganze Zeit hektisch auf den Auslöser drückte, während ein Reporter der strahlenden Ms Owens Fragen stellte. In ihren Antworten tauchten vor allem immer wieder die Wörter Zusammengehörigkeitsgefühl, Geborgenheit und Vertrauensbildung auf. Es war mir ein absolutes Rätsel, wie der Typ daraus einen interessanten Artikel machen wollte, aber vielleicht brauchten sie ja dringend Material für Geschichten, die das Leben schreibt.
Ich stand mit Ema vor dem vergifteten Erdnussbuttersumpf und wartete, bis ich dran war. Ihr lief schwarze Wimperntusche über die Wangen. Vielleicht war ihr der Angstschweiß ausgebrochen, vielleicht weinte sie lautlos. Oder beides. Ich fragte mich, ob der Fotograf diesen Moment mit der Kamera einfangen würde.
Kurz bevor Ema an der Reihe war, sich von einem Teamkollegen durch die vergiftete Erdnussbutter tragen zu lassen, konnte ich tatsächlich spüren, wie sie anfing, vor Angst zu zittern.
Ich meine, das muss man sich mal vorstellen.
Da hat ein Mädchen, das wahrscheinlich um die hundert Kilo wiegt, seinen allerersten Tag an einer neuen Schule, und dann zwingt man sie, kurze Turnhosen anzuziehen und bei einer völlig hirnverbrannten Gruppenübung mitzumachen, bei der sie sich von schmächtigeren Mitschülern zehn Meter weit wie ein Bierfass schleppen lassen muss, während sie sich am liebsten in einer Ecke zusammenrollen und sterben würde.
Von wegen »Teambildungs-Übungen«.
Ms Owens kam zu unserer Gruppe. »Bist du so weit, Emma?«
Emma? Ich hatte gedacht, sie hieße Ema mit einem m und langem E. Jetzt war ich endgültig verwirrt.
Ema/Emma sagte nichts.
»Na los, Mädchen! Augen zu und durch! Du schaffst das!«
Ich räusperte mich. »Ms Owens?«
Ihr Blick wanderte zu mir. Obwohl das Lächeln wie festgetackert blieb, kniff sie leicht die Augen zusammen. »Und Sie sind?«
»Mickey Bolitar. Ich bin einer der neuen Zehntklässler und würde diese Übung gern auslassen, wenn das okay ist.«
Wieder begann es unter ihrem rechten Auge kaum merklich zu zucken. »Verzeihung?«
»Na ja, ich glaube, ich eigne mich nicht wirklich dafür, getragen zu werden.«
Die anderen Schüler glotzten mich an, als würde mir ein drittes Auge aus der Stirn wachsen.
»Sie sind neu hier, Mr Bolitar.« Das Ausrufezeichen war aus ihrer Stimme verschwunden. »Da ist es eigentlich besonders wichtig, etwas für die Integration in die Gemeinschaft zu tun.«
»Ist die Teilnahme denn Pflicht?«, fragte ich.
»Verzeihung?«
»Ist die Teilnahme an dieser Übung Pflicht?«
»Also … nein, Pflicht ist sie …«
»Gut. Dann lasse ich sie aus.« Ich sah Ema/Emma an. »Was ist mit dir? Leistest du mir Gesellschaft?«
Wir drehten uns um und gingen. Ich hörte, wie hinter mir die Welt verstummte. Dann blies Ms Owens in eine Trillerpfeife, beendete die Übung und schickte alle in die Mittagspause.
»Wow«, sagte Ema/Emma, als wir ein paar Meter weiter weg waren.
»Was meinst du?«
Sie sah mich an. »Du hast das fette Mädchen gerettet. Ich wette, du bist mächtig stolz auf dich.«
Dann schüttelte sie den Kopf und ließ mich stehen.
Ich schaute über die Schulter zurück zu Ms Owens, die uns beobachtete. Sie lächelte immer noch, aber der kalte Ausdruck in ihren Augen ließ keinen Zweifel daran, dass ich es geschafft hatte, mir gleich an meinem ersten Tag Feinde zu machen.
Die Sonne brannte auf mich herunter. Ich tat nichts, um sie daran zu hindern, und schloss einen Moment lang die Augen. Ich dachte an meine Mutter, die bald aus der Entzugsklinik nach Hause kommen würde, und an meinen Vater, der tot auf dem Friedhof lag.
Ich fühlte mich ziemlich allein.
Die Cafeteria hatte noch zu – offizieller Schulbeginn war erst in ein paar Wochen –, wir mussten uns also selbst versorgen. Ich hatte mir bei Wilkes Deli ein Buffalo-Chicken-Sandwich gekauft, mit dem ich mich auf einen kleinen Abhang mit Blick auf das Footballfeld setzte, und wollte gerade davon abbeißen, als ich sie sah.
Eigentlich war sie nicht mein Typ, obwohl ich selbst nicht hätte sagen können, wer mein Typ war. Ich habe mein ganzes Leben im Ausland verbracht, weil meine Eltern für eine gemeinnützige Stiftung gearbeitet hatten, die Hilfsprojekte in Ländern wie Laos, Peru und Sierra Leone unterstützt. Geschwister habe ich keine. Früher fand ich es spannend, ständig woanders zu leben, aber je älter ich wurde, desto mehr nervte es mich. Ich wollte endlich mal an einem Ort bleiben. Ich hatte keine Lust mehr, mir ständig neue Freunde und Basketballmannschaften zu suchen. Ich wollte ein ganz normaler Jugendlicher sein und … na ja, vielleicht auch mal das eine oder andere Mädchen kennenlernen. Was ein echtes Problem darstellt, wenn man mit Rucksack in Nepal unterwegs ist.
Das Mädchen war unfassbar hübsch, so viel stand fest, aber sie hatte gleichzeitig auch etwas von »Höherer Tochter« an sich und wirkte irgendwie arrogant. Sie hatte porzellanpuppenblonde Haare, trug einen Rock, also einen richtigen Rock, meine ich, der züchtig die Knie bedeckte, dazu Söckchen, und sah aus, als wäre sie einem Brooks-Brothers-Katalog entsprungen, aus dem meine Großeltern meistens ihre Klamotten bestellen.
Ich biss von meinem Sandwich ab, als mir auffiel, dass sie nichts zu essen dabeihatte. Vielleicht machte sie ja gerade eine von diesen komischen Diäten – nicht dass sie das nötig gehabt hätte –, aber aus irgendeinem Grund glaubte ich das nicht.
Ich beschloss spontan, zu ihr rüberzugehen, obwohl ich eigentlich gar nicht in der Stimmung war, mich zu unterhalten oder jemanden kennenzulernen. Mir schwirrte immer noch der Kopf von den vielen neuen Leuten, die in mein Leben getreten waren, und ich konnte gut darauf verzichten, dass noch mehr hinzukamen.
Vielleicht hatte es etwas damit zu tun, dass sie so hübsch war – und ich genauso oberflächlich wie alle anderen Typen. Oder damit, dass der Einsame manchmal den Einsamen wittert. Zumindest schien sie genau wie ich lieber für sich zu bleiben.
Ich ging zögernd auf sie zu, hob die Hand und sagte: »Hi.«
Wortgewandtheit ist übrigens eine meiner ganz großen Stärken.
Sie sah zu mir auf und schirmte ihre smaragdgrünen Augen vor der Sonne ab. »Hi.«
Jep, sie war unfassbar hübsch.
Ich trat verlegen von einem Bein aufs andere, wurde rot und hatte plötzlich das Gefühl, dass meine Hände viel zu groß für meinen Körper waren. Der zweite Satz, den ich zu ihr sagte, lautete: »Ich heiße Mickey.«
Also wenn das keine geschliffene Rhetorik ist – Worte wie in Stein gemeißelt.
»Und ich bin Ashley Kent.«
»Cool«, sagte ich.
Sie lächelte zurückhaltend.
Irgendwo auf dieser Welt – in China oder Indien oder einem entlegenen Dorf in Afrika – gab es vielleicht einen noch größeren Deppen als mich. Aber meine Hand hätte ich dafür nicht ins Feuer gelegt.
Ich hielt mein Sandwich hoch. »Hast du dir nichts zu essen mitgebracht?«
»Nein, habe ich vergessen.«
»Das Teil hier ist riesig«, sagte ich. »Möchtest du die Hälfte?«
»Oh, das kann ich nicht annehmen.«
Aber ich bestand darauf, und sie lud mich daraufhin ein, mich zu ihr zu setzen. Ashley kam auch in die zehnte Klasse und war wie ich neu in der Stadt. Sie erzählte, dass ihr Vater ein erfolgreicher Chirurg und ihre Mutter Anwältin war.
Wäre das Leben ein Film, hätte an der Stelle die Musik eingesetzt. Irgendeine Schnulze wäre gespielt worden, während die Kamera ein Stück zurückfährt und zeigt, wie Ashley und ich uns das Sandwich teilen, reden, lachen, schüchterne Blicke austauschen, Händchen halten – und uns schließlich unseren ersten zaghaften Kuss geben.
Das war jetzt drei Wochen her.
Ich schaffte es gerade rechtzeitig mit dem ersten Gong ins Klassenzimmer. Mr Hill überprüfte die Anwesenheit, dann gongte es zum zweiten Mal, und die erste Stunde stand an. Kaum war sie zu Ende, spurtete ich zu Ashleys Klassenzimmer am anderen Ende des Flurs. Ich drückte mich ein paar Minuten davor herum. Aber wieder einmal wartete ich vergeblich.
Für mich war Ashley meine Freundin gewesen, auch wenn das vielleicht ein bisschen voreilig war. Wir ließen es eher langsam angehen und hatten uns erst zweimal geküsst. Von den anderen an der Schule mochte ich eigentlich niemanden. Ich mochte sie. Es war keine Liebe. Aber es wäre auch noch ein bisschen früh gewesen, um von Liebe zu sprechen. Andererseits nehmen solche Gefühle für gewöhnlich im Laufe der Zeit eher ab. Das ist leider die Wahrheit. Wir tun gern so, als würden sie wachsen, je länger wir mit jemandem zusammen sind. Dabei ist meistens das Gegenteil der Fall. Wir sehen ein umwerfendes Mädchen und sind sofort so hin und weg, dass wir kaum noch atmen können und es vor lauter Aufregung mit Sicherheit vermasseln, wenn wir sie ansprechen.
Schaffen wir es doch irgendwie, bei dem Mädchen zu landen, werden unsere Gefühle für sie auf der Stelle weniger. Bei Ashley war es anders. In ihrem Fall waren meine Gefühle gewachsen. Das machte mir ein bisschen Angst, aber auf eine gute Art.
Tja, und dann kam ich eines Tages in die Schule und Ashley war nicht da. Ich versuchte, sie auf ihrem Handy zu erreichen, aber sie ging nicht dran und rief auch nicht zurück. Am nächsten Tag war sie wieder nicht da. Und am darauffolgenden auch nicht. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ihre Adresse hatte ich nicht. Ich googelte nach »Ashley Kent«, nach Anwältinnen und Chirurgen mit dem Namen, fand aber nichts, was mir einen Hinweis auf sie gegeben hätte. Tatsächlich war im Netz überhaupt nichts über sie zu finden.
Ashley hatte sich einfach in Luft aufgelöst.
Während der dritten Stunde kam mir eine Idee.
Ashley und ich hatten nur einen Kurs zusammen – Geschichte bei Mrs Friedman, die ich zu meiner Lieblingslehrerin erkoren hatte, weil sie mit so viel Herz und Leidenschaft bei der Sache war. Heute schwärmte sie davon, wie unglaublich gebildet und auf den unterschiedlichsten Wissensgebieten bewandert viele historische Persönlichkeiten gewesen waren, und sagte zu uns, wir sollten danach streben, »Renaissancemenschen« zu werden.
Außerhalb des Unterrichts hatte ich noch nie mit ihr gesprochen. Auch mit anderen Lehrern nicht. Ich blieb für mich. Das war nun mal meine Art. Ich weiß, dass mir neugierige Blicke zugeworfen wurden, weil ich »der Neue« war, aber das war normal, das kannte ich. Einmal spähte eine Gruppe Mädchen in meine Richtung und kicherte. Ein paar Minuten später kam eine von ihnen zu mir und fragte: »Kann ich vielleicht deine Handynummer haben?«
Verwundert gab ich sie ihr.
Fünf Minuten später hörte ich wieder unterdrücktes Kichern und mein Handy vibrierte. Ich hatte eine SMS bekommen, in der stand: Meine Freundin findet dich total sueß. Ich antwortete nicht darauf.
Nach dem Unterricht ging ich zu Mrs Friedman.
»Ah, Mr Bolitar.« Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Schön, dass Sie in meinem Kurs sind.«
Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte, weshalb ich nur ein »Oh … ähm … danke« stammelte.
»Ihren Vater habe ich leider nie unterrichtet«, sagte sie, »aber Ihr Onkel gehörte immer zu meinen Lieblingsschülern. Sie sind ihm sehr ähnlich.«
Mein Onkel. Der großartige Myron Bolitar. Ich konnte ihn nicht leiden und hatte es wirklich satt, mir ständig anzuhören, was für ein toller Typ er war. Mein Vater und er hatten sich einmal sehr nahegestanden, bis es dann zum Bruch zwischen ihnen gekommen war. Die beiden Brüder hatten während der letzten fünfzehn Jahre – praktisch vom Moment meiner Geburt bis zum Tod meines Vaters – kein einziges Wort mehr miteinander gewechselt. Wahrscheinlich sollte ich Onkel Myron allmählich mal verzeihen, aber ich bin nicht wirklich in der Stimmung dazu.
»Und was kann ich für Sie tun, Mr Bolitar?«
Bei anderen Lehrern hat es schnell etwas Gönnerhaftes oder klingt zu förmlich, wenn sie einen Mr oder Ms nennen, aber Mrs Friedman traf genau den richtigen Ton.
»Wie Ihnen wahrscheinlich aufgefallen ist«, sagte ich zögernd, »ist Ashley Kent nicht im Unterricht gewesen.«
»Das ist mir in der Tat aufgefallen.« Mrs Friedman war eine kleine Frau und hatte ein bisschen Mühe, zu mir hochzuschauen. »Sie sind ein Paar?«
»Wir sind befreundet.«
»Ich bitte Sie, Mr Bolitar. Ich bin vielleicht nicht mehr die Jüngste, aber meine Augen funktionieren immer noch ganz hervorragend. Mir ist nicht entgangen, wie Sie sie ansehen. Selbst Ms Caldwell ist verwirrt darüber, dass Sie so gar keine Augen für sie haben.«
Ich wurde rot. Rachel Caldwell war vermutlich das heißeste Mädchen der Schule.
»Jedenfalls …«, ich zog das Wort absichtlich in die Länge, »habe ich mir überlegt, dass ich Ashley helfen könnte.«
»Helfen? Wie meinen Sie das?«
»Na ja, dass ich ihre Hausaufgaben für sie mitnehmen könnte.«
Mrs Friedman war gerade dabei gewesen, die Tafel zu wischen. Die meisten Lehrer benutzten Smartboards, aber Mrs Friedman scherzte gern, dass sie eine Verfechterin der »alten Schule« sei, und zwar im eigentlichen Wortsinn. Jetzt hielt sie inne und sah mich an. »Hat Ashley Sie darum gebeten, die Hausaufgaben für sie mitzunehmen?«
»Äh … nein.«
»Ach so, Sie wollten sich nur netterweise dafür anbieten?«
Es war ein bescheuerter Einfall gewesen. Selbst wenn sie mir die Hausaufgaben für Ashley geben würde – ich wusste ja noch nicht einmal, wo sie wohnte. »War nur so eine Idee«, sagte ich und wandte mich zum Gehen. »Trotzdem danke.«
Sie ließ den Tafelschwamm sinken. »Mr Bolitar?«
Ich blieb stehen.
»Wissen Sie, warum Ashley Kent nicht in der Schule erschienen ist?«
Mein Herz schlug schneller. »Nein, Ma’am.«
»Aber Sie machen sich Sorgen?«
Ich sah keinen Grund, sie anzulügen. »Ja, Ma’am.«
»Sie hat sich nicht bei Ihnen gemeldet?«
»Nein.«
»Seltsam.« Mrs Friedman runzelte die Stirn. »Ich kann Ihnen nur sagen, dass ich eine Nachricht erhalten habe, in der mir mitgeteilt wurde, dass ich nicht mit Ashleys Rückkehr rechnen soll.«
»Ich verstehe nicht …«
»Mehr weiß ich auch nicht«, sagte Mrs Friedman. »Wahrscheinlich ist sie weggezogen. Aber …«
Sie verstummte.
»Aber?«
»Ach, schon gut, Mr Bolitar.« Sie fuhr damit fort, die Tafel zu wischen. »Nur … seien Sie vorsichtig.«
In der Mittagspause reihte ich mich in der Cafeteria in die Schlange vor der Essensausgabe ein.
Es war genau so, wie ich es mir immer vorgestellt hatte – die Cafeteria an einer Highschool ist so etwas wie eine große Showbühne, auf der sich die Schüler selbst darstellen. Es gab jede Menge unterschiedlicher Cliquen. Die Sportskanonen nannten sich hier »Lax Bros« von Lacrosse Brothers. Sie hatten lange Haare, muskelgestählte Körper und fingen fast jeden Satz mit »Ey« an. Dann gab es einen Tisch für die »Cosplayer« – weiße Kids, die sich für Asiaten hielten und auf Mangas und Animes standen. Die hübschen Mädchen waren weniger hübsch als superdünn, stöckelten auf viel zu hohen Absätzen herum und trugen teure Designerklamotten. Dann gab es noch die Zocker, die Bohemiens, die Skater, die Kiffer, die Nerds und die Emos.
Echte Klassenkämpfe schienen hier aber nicht stattzufinden. Jeder kannte jeden, und das schon so lange, dass man sich gegenseitig in Ruhe ließ. Die sogenannten Außenseiter, die immer allein saßen, saßen schon so viele Jahre allein, dass es weniger Gemeinheit als Gewohnheit war. Ich war mir allerdings nicht sicher, ob das besser oder schlimmer war.
Auf einmal kam ein Schüler, dem seine Zugehörigkeit zur Splittergruppe der Nerds deutlich anzusehen war, zielstrebig mit einem Tablett auf mich zu. Er trug eine Hochwasser-Cordhose und schneeweiße Turnschuhe ohne Logo.
Er schob sich seine Harry-Potter-Brille auf der Nase hoch und deutete mit dem Tablett in meine Richtung.
»Hey, willst du vielleicht meinen Löffel?«, fragte er mich. »Ich habe ihn kaum benutzt.«
Ich blickte auf sein Tablett. »Kaum?«
Er nickte freundlich und hielt das Tablett ein bisschen höher, sodass ich den Löffel sehen konnte, der in einem leer gekratzten Joghurtbecher steckte.
»Nein danke«, sagte ich.
»Bist du sicher?«
»Sind Löffel hier vielleicht Mangelware?«
»Was? Nein, überhaupt nicht.«
Oh-kay. »Tja dann, nein danke.«
Er zuckte mit den Achseln. »Wie du willst.«
Nachdem ich mir mein Mittagessen gekauft hatte, sah ich, dass Löffel – wie ich ihn in Gedanken nannte – am Ende der Essensausgabe auf mich wartete.
»Wo sitzt du?«, fragte er.
Seit Ashley verschwunden war, setzte ich mich immer irgendwo allein draußen hin. »Keine Ahnung. Mal hier, mal da.«
Löffel ging neben mir her. »Du bist groß und du bist lieber für dich. Wie Shrek.«
Dazu gab es nicht viel zu sagen.
»Ich könnte dein Esel sein, du weißt schon.«
Ooohhh-kay. Würde ich nach draußen gehen, würde er mir garantiert folgen, also schaute ich mich nach einem sicheren Rückzugsort innerhalb der Cafeteria um.
»Oder dein Robin. Wie Batman und Robin. Oder Sancho Panza. Hast du Don Quijote mal gelesen? Ich auch nicht, aber ich habe das Musical Der Mann von La Mancha gesehen. Ich liebe Musicals. Genau wie mein Dad. Meine Mutter steht mehr auf Kampfsport, so was wie Cagefighting oder Kickboxen und so. Dad und ich schauen uns einmal im Monat ein Musical an. Magst du Musicals?«
»Sicher«, sagte ich, immer noch auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit.
»Das ist echt cool von meinem Dad. Dass er mich zu Musicals mitnimmt, meine ich. Mamma Mia haben wir uns dreimal angeschaut. Der absolute Wahnsinn. Also das Musical, nicht der Film. Ich weiß auch nicht, aber Pierce Brosnan singt, als hätte ihm jemand einen Pfeil in den Hals geschossen. Dad bekommt ermäßigte Tickets, weil er an der Schule arbeitet. Er ist hier Hausmeister. Aber frag ihn bloß nicht, ob er dich in den Mädchenumkleideraum lässt, okay? Ich habe ihn nämlich schon gefragt, und er meinte, keine Chance. Dad kann ganz schön streng sein, weißt du?«
»Natürlich«, sagte ich.
In der sogenannten Außenseiter-Ecke entdeckte ich einen fast leeren Tisch, an dem nur ein Mädchen saß. Meine undankbare Jungfrau in Nöten – Ema oder Emma. Ich wusste immer noch nicht, wie man ihren Namen aussprach.
»Und? Kann ich jetzt dein Esel sein oder nicht?«
»Ich komme auf dich zurück«, sagte ich unverbindlich.
Dann eilte ich auf den Tisch zu und setzte mich neben Ema/Emma. Ihre Haare glänzten schuhcremeschwarz, sie hatte sich die Augen kohlschwarz umrandet und trug von Kopf bis Fuß Schwarz, nur ihre Haut war kalkweiß. Sie war ein Goth oder Emo oder wie immer man diesen Look jetzt nannte. Ihre Unterarme waren tätowiert. Ein Tattoo verschwand im Ärmel ihres Shirts, kroch aus dem Kragen wieder heraus und ringelte sich von dort um ihren Hals. Sie sah zu mir auf und machte ein Gesicht, als hätte ihr jemand die Faust ins Gesicht gerammt.
»Na super«, sagte sie. »Da kommt der Mitleidshocker.«
»Mitleidshocker?«
»Denk mal drüber nach.«
Das tat ich. Ich hatte das Wort noch nie gehört. »Ah, ich hab’s. Ich habe Mitleid mit dir, weil du allein sitzt, also setze ich mich zu dir.«
Sie verdrehte die Augen. »Und ich dachte schon, du wärst eine dieser hirnamputierten Sportskanonen.«
»Ich versuche, ein Renaissancemensch zu sein.«
»Du machst also auch Geschichte bei Mrs Friedman, verstehe.« Sie sah sich suchend um und fragte dann: »Wo ist die höhere Tochter?«
»Ich weiß es nicht.«
Ema/Emma schüttelte den Kopf. »Ganz schöner Abstieg, was? Erst sitzt du neben dem hübschen Püppchen und jetzt neben mir.«
Ich wurde es allmählich leid, sie in Gedanken immer Ema/Emma zu nennen. »Wie heißt du eigentlich?«
»Warum willst du das wissen?«
»Ich habe gehört, wie dich ein Schüler Ema genannt hat, aber Mrs Owens nannte dich Emma.«
Sie griff nach ihrer Gabel und stocherte in ihrem Essen herum. Erst jetzt fiel mir auf, dass sie gepiercte Augenbrauen hatte. Autsch. »Eigentlich heiße ich Emma, aber alle nennen mich Ema.«
»Und wieso? Ich frag nur, weil ich wissen will, wie ich dich nennen soll.«
»Ema«, presste sie widerwillig hervor.
»Okay. Ema.«
Sie schob ihr Essen auf dem Teller hin und her. »Und? Was machst du sonst so? Ich meine, wenn du nicht gerade das fette Mädchen rettest.«
»Übertreibst du nicht ein bisschen?«
»Findest du?«
»Ich würde es nicht ganz so drastisch ausdrücken.«
Sie zuckte mit den Achseln. »Vielleicht. Also, du bist neu hier, oder?«
Ich nickte.
»Woher kommst du?«
»Wir sind ziemlich oft umgezogen«, sagte ich. »Und du?«
Sie zog eine Grimasse. »Ich wohne schon immer hier.«
»Scheint mir nicht der schlechteste Ort zu sein.«
»Und mir scheint, als hättest du noch ein paar Anpassungsschwierigkeiten.«
»Ich will mich nicht anpassen.«
Ema schien meine Antwort zu gefallen. Ich nahm meinen Löffel vom Tablett, musste an, na ja … Löffel denken und schüttelte lächelnd den Kopf.
»Was?«, fragte Ema.
»Nichts.«
Es war ein seltsamer Gedanke, aber als mein Vater so alt gewesen war wie ich, hatte er in derselben Cafeteria gesessen und zu Mittag gegessen. Er war jung gewesen und hatte noch sein ganzes Leben vor sich gehabt. Ich schaute mich um und fragte mich, wo er sich hingesetzt und mit wem er sich unterhalten hätte und ob er damals schon so viel gelächelt hatte wie zu der Zeit, als ich ihn kannte.
Mir legte sich ein tonnenschweres Gewicht auf die Brust. Ich blinzelte und ließ den Löffel sinken.
»Hey, alles okay?«, fragte Ema.
»Alles bestens.«
Ich dachte an das, was die Hexe gesagt hatte. Der Name passte perfekt zu ihr. Sie war wirklich eine fiese, alte Hexe. Wer sonst würde einem Jungen, der mit eigenen Augen mit angesehen hatte, wie sein Vater bei einem Autounfall starb, erzählen, dass der Mann, den er so sehr vermisste, noch am Leben war?
Ich erinnerte mich an den Tag vor acht Monaten, an dem wir am Flughafen in Los Angeles gelandet waren – mein Vater, meine Mutter und ich. Meine Eltern hatten sich mir zuliebe fest an einem Ort niederlassen wollen, an dem ich auf die Highschool gehen, Stammspieler in einem Basketballteam werden und später vielleicht studieren konnte.
Klingt nach einem guten Plan, oder?
Jetzt war mein Vater tot und meine Mutter ein Wrack.
»Ema?«, sagte ich.
Sie hob misstrauisch den Blick.
»Weißt du irgendetwas über die Hexe?«
Ema runzelte die Stirn und ihre dick getuschten Wimpern hoben sich wie ein schwarzer Fächer von ihrer weißen Haut ab. »Ach so ist das.«
»Was?«
»Jetzt weiß ich, warum du dich zu mir gesetzt hast«, sagte sie. »Du hast dir gedacht, das durchgeknallte fette Mädchen weiß bestimmt alles über die durchgeknallte alte Hexe.«
»Was? Nein!«
Ema stand auf und griff nach ihrem Tablett. »Lass mich einfach in Ruhe, okay?«
»Hey, warte doch. Du hast da was völlig falsch verstanden …«
»Oh, keine Sorge. Ich hab dich absolut richtig verstanden. Du hast deine gute Tat vollbracht.«
»Kannst du vielleicht mal damit aufhören, Ema?«
Aber sie lief fluchtartig davon. Ich wollte ihr gerade hinterher, als sich plötzlich rechts und links von mir zwei grinsende Muskelprotze in Basketball-Trainingsjacken aufbauten. Der zu meiner Linken – auf seiner Jacke war in Brusthöhe der Name BUCK eingestickt – schlug mir eine Spur zu hart auf die Schulter und sagte: »Ey, sieht aus, als hättest du dir einen Korb eingefangen.«
Der andere Muskelprotz – eingestickter Name: TROY – lachte keckernd. »Einen Korb. Von der fetten Tussi.«
Darauf Buck: »Fett und hässlich.«
Und Troy: »Ey, was für eine Schlappe.«
»Alter!«
Buck und Troy klatschten sich ab, dann drehten sie sich zu mir um und hielten mir ihre erhobenen Handflächen hin. »Schlag ein, Bruder.«
Ich runzelte die Stirn. »Habt ihr nichts Besseres zu tun? Zum Beispiel euch gegenseitig Anabolika in die Arschbacken zu spritzen oder so was?«
Ihre Münder formten ein überraschtes »Oh«. Als ich mich an ihnen vorbeischob, rief Buck mir hinterher: »Das wird noch ein Nachspiel haben, toter Mann.«
»Ey!«, schob Troy nach. »Du bist ein toter Mann.«
»So was von tot.«
»Hast du kapiert, toter Mann?«
Großer Gott, ich konnte nur hoffen, dass der Name nicht hängen blieb.
Ich war gerade dabei, Ema einzuholen, als sich mir Ms Owens in den Weg stellte, die an diesem Tag Aufsicht in der Cafeteria hatte. Wie immer klebte das breite Dauerlächeln auf ihrem Gesicht, aber in ihren Augen sah ich ein feindseliges Funkeln. Offensichtlich hatte sie mir den Vorfall während ihrer Teambildungs-Übung noch nicht verziehen.
»Es ist verboten, in der Cafeteria zu rennen«, sagte sie. »Wer diese Regel missachtet, muss eine Woche nachsitzen. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?«
Ich schaute mich um. Buck entsicherte gerade eine imaginäre Waffe und zielte damit auf mich. Ema stellte ihr Tablett ab und floh zur Tür hinaus. Ms Owens grinste, und dieses Grinsen schien zu sagen: »Na los, trau dich, lauf ihr hinterher.« Ich tat ihr den Gefallen nicht.
Meine Integration in die Gemeinschaft machte wirklich rasant Fortschritte.
Das Zahlenschloss an meinem Schließfach öffnet sich prinzipiell nie beim ersten Versuch. Ich habe keine Ahnung, warum.
Ich hatte mal wieder erfolglos die Ziffern – erst die 14, dann wieder zurück zur 7 und zuletzt die 28 – einrasten lassen und wollte es gerade ein zweites Mal probieren, als ich eine mittlerweile vertraute Stimme sagen hörte: »Ich sammle Wackelkopffiguren.«
Ich drehte mich zu Löffel um.
»Gut zu wissen«, sagte ich.
Löffel bedeutete mir mit einer Handbewegung, aus dem Weg zu gehen, und zog einen riesigen Schlüsselbund aus seiner Hosentasche. Als er einen bestimmten Schlüssel gefunden hatte, steckte er ihn ins Schloss, und die Tür öffnete sich, ohne Widerstand zu leisten.
»Was hast du denn für eine Zahlenkombination?«
»Ähm, ich glaube nicht, dass ich sie dir verraten sollte.«
»Hallo?« Löffel wedelte mit dem Schlüsselbund vor meinem Gesicht herum. »Glaubst du wirklich, ich brauche deine Kombination, um dein Schließfach aufzukriegen?«
»Da ist was dran.« Ich nannte ihm die Zahlen.
Er fummelte eine Weile am Schloss herum und meinte dann: »Okay, jetzt müsste es funktionieren.«
Er wandte sich zum Gehen.
»Warte mal, Löffel.«
Er drehte sich zu mir um. »Wie hast du mich eben genannt?«
»Sorry, ich weiß gar nicht, wie du richtig heißt.«
»Löffel.« Er sah zu mir auf und lächelte, als würde ihm zum ersten Mal bewusst, was für einen wunderbaren Klang dieses Wort hatte. »Das gefällt mir. Löffel. Ja, das ist cool. Nenn mich Löffel, okay?«
»Klar.« Und weil er mich so erwartungsvoll ansah, hängte ich noch ein »Äh, Löffel« dran. Er strahlte. Ich wusste nicht genau, wie ich die Frage formulieren sollte, die mir plötzlich auf der Zunge brannte, aber dann dachte ich mir, was soll’s. »Du hast da eine Menge Schlüssel.«
»Nenn mich bloß nicht Schlüssel, ja? Löffel gefällt mir viel besser.«
»Oh, hey, natürlich. Löffel. Du hast vorhin erzählt, dass dein Vater hier Hausmeister ist.«
»Stimmt. Übrigens – die Weiße Hexe aus Die Chroniken von Narnia? Also ich finde, die ist supersexy.«
»Supersexy«, bestätigte ich, um unsere Unterhaltung schnell wieder auf das Thema zu lenken, das mich wirklich interessierte. »Sag mal, kann dein Dad dir echt Zugang zu allen abgeschlossenen Bereichen verschaffen?«
Löffel lächelte. »Klar, aber dazu muss ich nicht unbedingt meinen Dad fragen. Ich habe ja die Schlüssel.« Für den Fall, dass ich nicht wusste, wovon er redete, wedelte er erneut mit dem Schlüsselbund vor meinem Gesicht herum. »Aber der Mädchenumkleideraum ist tabu. Ich hab ihn schon mal gefragt und …«
»Natürlich. Auf keinen Fall der Mädchenumkleideraum. Aber in andere Räume kannst du?«
Löffel schob sich die Brille auf der Nase hoch. »Woran hast du denn da so gedacht?«
»Na ja«, sagte ich. »Ich habe mich gefragt, ob wir vielleicht in den Verwaltungstrakt könnten, um die Akte einer Schülerin zu suchen.«
»Von welcher Schülerin?«, fragte er.
»Sie heißt Ashley Kent.«
Der Unterricht endete zwar schon um drei, aber da Löffel mir gesagt hatte, dass die Luft erst ab sieben Uhr abends wirklich rein sein würde, musste ich vier Stunden totschlagen. Es war zu früh, um Mom zu besuchen – ich durfte erst abends zu ihr, weil sie tagsüber Therapiesitzungen hatte –, also entschloss ich mich spontan, noch einmal zum Haus der Hexe zurückzugehen.
Als ich das Schulgebäude verließ, warf ich einen Blick auf mein Handy und stellte fest, dass ich eine Nachricht auf der Mailbox hatte. Ich nahm an, dass irgendein Erwachsener sie hinterlassen hatte. Leute in meinem Alter schreiben SMS. Sie wissen nämlich genau, dass Sprachnachrichten total nervig sind, weil man erst einmal seine Mailbox anrufen, dann die Nachricht abhören und sie anschließend auch noch löschen muss.
Ich hatte richtig getippt. Die Nachricht stammte von Onkel Myron. »Ich habe unseren Flug nach Los Angeles gebucht«, sagte er mit betont ernster Stimme. »Samstagmorgen geht’s los, am Sonntag fliegen wir wieder zurück.«
Los Angeles. Wir würden das Grab meines Vaters dort besuchen. Mein Onkel Myron hatte die letzte Ruhestätte seines Bruders noch nicht gesehen. Dasselbe galt für meine Großeltern, mit denen wir uns in L.A. treffen würden und die noch nicht am Grab ihres jüngsten Sohnes gewesen waren.
»Natürlich habe ich auch ein Ticket für deine Mutter besorgt«, fuhr Onkel Myron fort. »Sie kann auf keinen Fall allein hierbleiben. Ich weiß, dass ihr wahrscheinlich lieber für euch wärt, wenn sie morgen entlassen wird, aber vielleicht sollte ich lieber mitkommen. Du weißt schon, sicher ist sicher.«
Ich zog die Brauen zusammen. Auf keinen Fall.
»Jedenfalls hoffe ich, dass bei dir alles in Ordnung ist. Ich bin heute Abend zu Hause. Was hältst du davon, wenn wir uns eine Pizza oder so etwas bestellen?«
Ich hatte keine Lust, ihn zurückzurufen, also schrieb ich ihm eine kurze SMS: Bin zum Abendessen nicht da. Ich glaube, es ist weniger anstrengend für Mom, wenn du nicht mitkommst.
Myron würde zwar nicht begeistert sein, aber das war nicht mein Problem. Er war schließlich nicht mein Erziehungsberechtigter. Das war Teil unserer Abmachung. Als er erfuhr, dass mein Vater tot war und meine Mutter ernsthafte Probleme hatte, drohte er, die Vormundschaft für mich zu übernehmen. Erst als ich ihm daraufhin meinerseits drohte, abzuhauen – ich habe immer noch genügend Kontakte im Ausland – oder gerichtlich meine Mündigkeit einzuklagen, sodass niemand mehr über mich bestimmen könnte, gab er Ruhe.
Meiner Mom geht es vielleicht nicht besonders, aber sie ist immer noch meine Mom.
Es war eine ziemlich unschöne Auseinandersetzung, aber am Ende einigten wir uns immerhin auf so etwas wie Waffenstillstand, und ich erklärte mich bereit, zu ihm nach New Jersey zu ziehen. Er wohnt immer noch in demselben Haus in Kasselton, in dem er und mein Dad aufgewachsen sind. Echt komisch. Ich habe das Zimmer im Keller bekommen, das früher Myron gehörte, und mache einen Riesenbogen um das Zimmer im ersten Stock, in dem mein Vater seine Kindheit verbrachte. Trotzdem ist es irgendwie unheimlich.
Als Gegenleistung dafür, dass ich einwilligte, bei ihm zu wohnen, stimmte Myron zu, dass meine Mutter die alleinige Erziehungsberechtigte blieb, und versprach, sich nicht in mein Leben einzumischen. Aber genau dieser Teil der Abmachung bereitet ihm nach wie vor einige Schwierigkeiten.
Als ich jetzt vor dem Haus der Hexe stand, fröstelte mich. Die kahlen Bäume in ihrem Vorgarten bogen sich ächzend im Wind. Mir sind in allen Teilen der Welt alle möglichen Formen von Aberglauben begegnet. Das meiste davon kam mir völlig absurd vor, aber meine Eltern haben mir beigebracht, so unvoreingenommen wie möglich zu bleiben. Jedenfalls glaube ich nicht an Spukhäuser und auch nicht an Geister oder körperlose Schatten, die nachts ihr Unwesen treiben.
Aber wenn ich daran geglaubt hätte, dann wäre ich in diesem Moment sicher davon überzeugt gewesen, dass dieser Ort die Heimstätte von so ziemlich jedem übernatürlichen Wesen war, das der Aberglaube sich nur vorstellen kann.
Das Haus war so heruntergekommen und schief, dass es aussah, als könnte es beim kleinsten Windstoß in sich zusammenfallen. An vielen Stellen bröckelte tellergroß der Putz aus der Fassade, ein paar der Fenster waren mit Holzplanken vernagelt, die Scheiben der übrigen waren so beschlagen, als hätte das Haus gerade eine heiße Dusche genommen, was angesichts seines verdreckten Zustands auch dringend nötig gewesen wäre.
Hätte ich die Hexe nicht mit eigenen Augen gesehen, wäre ich davon überzeugt gewesen, dass das Haus schon seit vielen Jahren nicht mehr bewohnt war.
Ich ging zur Tür und klopfte. Keine Antwort. Ich hielt das Ohr ganz dicht an das Holz – nicht zu nah, weil ich mir keinen Splitter einfangen wollte – und lauschte. Nichts. Völlige Stille. Ich klopfte noch einmal. Wieder keine Antwort.
Und jetzt?
Nachdem ich eine Weile nachgedacht hatte, beschloss ich, es an der Hintertür zu versuchen. Ich ging links herum, weil das Haus, wie schon gesagt, ziemlich Schlagseite hatte und ich nicht darunter begraben werden wollte, falls es plötzlich zusammenkrachte. Als ich nach oben schaute, bildete ich mir einen kurzen Moment lang ein, in einem der Fenster im obersten Stock einen grauen Haaransatz zu sehen, und stellte mir vor, wie die Hexe dort oben, immer noch ganz in Weiß gekleidet, in einem Schaukelstuhl saß und auf mich herabschaute.
Ich ging schneller und fragte mich beklommen, was ich wohl hinter ihrem Haus finden würde.
Nichts.
Das Haus grenzte direkt an ein kleines Wäldchen. Um genau zu sein, sah es sogar so aus, als wäre es zur Hälfte auf einem ganz normalen Grundstück und zur anderen mitten in den Wald gebaut worden. Von der Straße aus hatte man den Eindruck, im Garten würden ziemlich viele Bäume stehen. Aber jetzt sah ich, dass da ausschließlich Bäume standen. Die Wurzeln schienen völlig mit dem Fundament verwachsen zu sein und an der Rückwand wuchsen dicke, hässliche Ranken nach oben. Ich habe keine Ahnung, ob das Haus ursprünglich in den Wald hineingebaut und die Umgebung nachträglich gerodet worden war oder ob es genau andersherum gewesen war und die Bäume im Laufe der Zeit immer näher gekommen waren und angefangen hatten, das Haus der Hexe zu verschlingen.
»Was treibst du da?«