Sherlock Holmes, Band 1: Der Atem Gottes - Guy Adams - E-Book

Sherlock Holmes, Band 1: Der Atem Gottes E-Book

Guy Adams

0,0

  • Herausgeber: Panini
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

DIE TOTEN ERHEBEN SICH. Im Londoner Schnee wird die zerschmetterte Leiche eines Mannes gefunden, doch nichts deutet auf die genaueren Umstände seines Todes hin. Sherlock Holmes und Dr. Watson begeben sich nach Schottland, um sich mit der einzigen Person zu treffen, die bei der Aufklärung angeblich helfen kann: Aleister Crowley. Als sie mit scheinbar dunklen Mächten konfrontiert werden, die selbst den genialen Detektiv an seinem Sinn für Realität zweifeln lassen, versammeln Holmes und Watson einige der bekanntesten Spezialisten des Okkulten um sich. Während sich das Jahrhundert seinem Ende zuneigt, scheint es, als sei London kurz davor, in einen höllischen Abgrund gerissen zu werden, der alles Leben zu verschlingen droht.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 294

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



SHERLOCK HOLMES – DIE ROMANREIHE

Sherlock Holmes: Die Armee des Dr. Moreau

Gedruckte Ausgabe: ISBN 978-3-8332-2873-5

E-Book: ISBN 978-3-8332-2887-2

Der Atem Gottes

Roman von Guy Adams

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

In neuer Rechtschreibung.

Deutsche Ausgabe: Panini Verlags GmbH, Rotebühlstraße 87, 70178 Stuttgart. Alle Rechte vorbehalten.

Englische Originalausgabe: “SHERLOCK HOLMES: The Breath of God” by Guy Adams, published in the UK by Titan Books, a division of Titan Publishing Group Ltd., London, September 2011.

Copyright © 2011 by Guy Adams. All Rights reserved.

No part of this publication may be reproduced, stored in or introduced into a retrieval system, or transmitted, in any form, or by any means (electronic, mechanical, photocopying, recording or otherwise) without the prior written permission of the publisher. Any person who does any unauthorized act in relation to this publication may be liable to criminal prosecution and civil claims for damages.

Übersetzung: Claudia Kern

Lektorat: Sabine Dreyer und Andreas Kasprzak für Grinning Cat Productions

Redaktion: Mathias Ulinski, Holger Wiest

Chefredaktion: Jo Löffler

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Satz: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-8332-2886-5

Gedruckte Ausgabe:

ISBN 978-3-8332-2872-8

1. Auflage, April 2014

www.paninicomics.de

Für Phil Jarrett, meinen Watson.

1. Kapitel Der Todvon Hilaryde Montfort

Lassen Sie mich als Erstes klarstellen, dass ich nicht dabei war.

Wenn ich die Karriere meines Freundes Sherlock Holmes der lesenden Öffentlichkeit präsentiere, dann beschreibe ich normalerweise Ereignisse, die ich mit eigenen Augen gesehen habe. Davon ausgenommen sind natürlich die Schilderungen seiner zahlreichen Klienten. Doch selbst in diesen Fällen – vor allem in diesen Fällen – habe ich ihre Aussagen so wortgetreu wiedergegeben, wie meine Notizen es zulassen. ­Holmes weiß dies vielleicht nicht zu schätzen (nein, er weiß es sogar ganz sicher nicht zu schätzen), aber ich habe immer sehr viel Wert darauf gelegt, dass meine Schilderungen nichts als die reine Wahrheit enthalten. Stilistisch wurden sie zwar aufbereitet, denn es ist mein Wunsch, nicht nur zu informieren, sondern auch zu unterhalten, aber ich habe nie auch nur ein Detail verändert.

Wenn ich die Anfänge dieser Affäre betrachte – eine Affäre, die London so kurz vor Beginn dieses schönen und neuen Jahrhunderts ins Chaos stürzte –, dann muss ich mich auf die Berichte der Augenzeugen, die von der Polizei zusammengetragen wurden, auf die überschwängliche Berichterstattung der Presse und auf die Klarheit, die man erst im Nachhinein erlangt, verlassen.

Aber ob ich nun dort war oder nicht, ob ich die Ereignisse, die sich in den letzten Momenten von Hilary De Montforts Leben abspielten, beschwören kann oder nicht, wir müssen an diesem Punkt ansetzen, denn unsere Geschichte beginnt, wie so oft, mit dem Tod. Als der Atem Gottes zum ersten Mal ausgestoßen wurde, traf er den jungen De Montfort, einen Salonlöwen und Plünderer anderer Leute Bankkonten.

Und er traf ihn hart, sehr hart.

De Montfort begann den Abend des 27. Dezembers 1899 mit Champagner und einem Kartenspiel. Er beendete ihn mit zerschmettertem Körper mitten auf dem Grosvenor Square. Was dazwischen lag, werde ich so gut es geht schildern. Dass er um sein Leben rannte, spielte dabei sicherlich eine große Rolle …

London ist eine Stadt, die aus vielen Städten besteht. Sie erstreckt sich von Rotherhithe, wo der Gestank von Teer zwischen den Opiumhöhlen hängt, bis zu Mayfairs unterkühlter Vornehmheit. Im Rahmen von Holmes’ Nachforschungen habe ich sie viele Male durchquert und oft Spektakuläres gesehen. Ich habe die halbe Welt bereist und blutend auf einem fernen Schlachtfeld gelegen, doch der Ort, der mir die meiste Bewunderung entlockt, ist diese Stadt, die ich nun Heimat nenne. Allein aus diesem Grund glaube ich nicht, dass ich an einem anderen Ort leben könnte.

Für Hilary De Montfort stellte sich London, so vermute ich, weniger vielschichtig dar. Sein Leben drehte sich um angesehene Adressen und Vergnügungen in Clubs. Dieses Verhalten war für einen jungen Mann aus elitären Kreisen nicht ungewöhnlich. Seit Generationen befand sich ein beachtliches Stück der Grafschaft Sussex im Besitz seiner Familie, und bis der junge Hilary so weit war, familiäre Pflichten zu übernehmen und die Verantwortung für das Anwesen zu tragen, konnte er frei über seine Zeit – und das Geld seiner Eltern – verfügen.

Den fraglichen Abend verbrachte er an einem der Tische im Knaves, einem der vielen Spielclubs, die wie Pilze aus dem Boden geschossen waren, nachdem das Crockford’s geschlossen hatte. Nun sahen sich Gentlemen gezwungen, ihr Geld und ihre Wetten in ein anderes Etablissement zu bringen.

Er war kein schlechter Spieler. Im Gegenteil, denn er verließ den Tisch oft mit dem Vermögen eines anderen Mannes und verlor sein eigenes nur selten. An diesem Abend war das Glück auf seiner Seite, und der Türsteher – ein missmutiger Herr namens Langford – sollte später aussagen, dass der junge Mann hervorragend gelaunt gewesen war, als er den Club verließ.

»Die gute Laune sprudelte aus ihm heraus wie Champagner.« So zitierte The Daily News Langford. »Er hüpfte die Treppenstufen hinunter und war voller Leben.«

Das war ein Zustand, der nicht mehr lange anhalten sollte.

Seit dem frühen Abend schneite es. De Montfort machte sich zu Fuß durch wirbelnde Schneeflocken auf den Weg zu seinem nächsten Ziel, dem Salon von Salieri’s, wo junge Männer, denen das Geld ein Loch in die Tasche brannte, gern ihren Durst stillten. Wir können nur raten, weshalb er trotz des unangenehmen Wetters zu Fuß ging. Vielleicht wollte er nach den Exzessen im Knaves einen klaren Kopf bekommen, den Alkohol und Zigarrenrauch abschütteln, damit er von beidem wieder mehr aufnehmen konnte.

Als wir das nächste Mal einen Blick auf De Montfort erhaschen, rennt er von Panik getrieben durch die Straßen, die den Grosvenor Square umgeben. Ein älterer Herr, der auf dem Weg nach Hause war, wurde auf ihn aufmerksam, weil er die Schreie des jungen De Montfort hörte. Sie klangen verzweifelt und wollten nicht enden. Immer wieder sah er über seine Schulter, während er über den schneebedeckten Bürgersteig rannte. Es ist offensichtlich, dass De Montfort glaubte, verfolgt zu werden, auch wenn der Zeuge später vor Scotland Yard schwören würde, dass auf der Straße niemand außer ihnen beiden gewesen war.

»Nicht gerade überraschend, wenn man das Wetter bedenkt«, sagte er vor Inspektor Gregson aus. »Der Schnee war schon unangenehm genug, aber der Wind, der bei meinem Aufbruch noch leicht geweht hatte, war kurz vor meiner Ankunft zu einem wahren Tornado geworden.«

Gregson bemerkte das Unbehagen, mit dem sich der ältere Herr an den Sturm erinnerte. »Ich musste mich am Geländer festhalten«, fuhr er fort, »sonst hätte mich der Wind hinter dem armen jungen Mann über den Bürgersteig geweht. Einige Momente lang konnte ich kaum etwas sehen, denn der Schnee fiel so dicht, dass er alles außer dem schwachen Licht der Lampen über mir verbarg.«

»Und als er sich legte?«, fragte Gregson.

»Da war nichts mehr von dem Mann zu sehen. Die Straße war leer. Ich sah nur die Schneeverwehungen, die der Wind hinterlassen hatte.«

Diese ungewöhnlichen Muster, die der Schnee gebildet hatte, fielen auch dem Polizisten auf, der, nachdem De Montforts Leiche entdeckt worden war, als Erster den Tatort erreichte. Besagter Constable – ein junger Kerl namens Wilson, noch grün hinter den Ohren und ganz aufgeregt, weil er auf seiner Patrouille über »so einen Knüller« stolperte – war so beeindruckt von den Schneeverwehungen, dass er versuchte, sie in sein Notizbuch zu zeichnen.

»Es sah aus, als hätte die Hand Gottes nach seinen Fersen gegriffen«, würde er später gegenüber Holmes erklären. »Als wäre sie ihm über den Platz gefolgt. Ich denke, das muss auch so was gewesen sein, wenn man bedenkt, wie der aussah. Der war ganz ordentlich zugerichtet worden.«

Das war in der Tat so. Die Wunden konnten ihm nicht von einem einzelnen Täter zugefügt worden sein. In De Montforts Körper gab es kaum noch einen heilen Knochen, die Haut war mit blauen und dunkelroten Prellungen übersät. Sein Zustand erinnerte an den der Unglücklichen, die manchmal ans Ufer der Themse gespült werden: aufgedunsen, entstellt, kaum noch als menschliche Körper zu erkennen. Wir konnten nicht einmal raten, was für eine Waffe man benötigen würde, um solche Zerstörungen anzurichten. Es gab keine eindeutigen Spuren an der Leiche, nichts, was auf einen Knüppel oder eine Keule hingewiesen hätte. Ich hätte schwören können, dass dieser Körper aus großer Höhe zu Boden gestürzt war. Aber so vielseitig unsere Hauptstadt auch sein mag, ein Gebirge sucht man in ihr vergeblich. Der Mann war in aller Öffentlichkeit auf einem von Londons grünen Plätzen gestorben und niemand konnte sich seinen Zustand erklären.

2. KapitelDer ›psysikalische‹ Doktor

»Ich kann das einfach nicht nachvollziehen, Watson!«, rief mein Freund und breitete dabei theatralisch die Arme aus, so wie er es gern tat, um seinen lautesten Aussagen Gewicht zu verleihen. »Wie kann ein Mann der Wissenschaft, ein rational denkender Mensch, ein Mann, der mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Tatsachen steht, auch nur mit dem Gedanken spielen, einen solchen Unsinn zu glauben?«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich es glaube«, antwortete ich, während ich meine Pfeife anzündete und das Streichholz ins Feuer warf, »nur dass man allem gegenüber aufgeschlossen sein sollte.«

»Aufgeschlossen …« Holmes verdrehte die Augen und ließ sich in seinen Sessel sinken. »Es gibt wenige Worte, vor denen es mir mehr graust als vor diesem. Aufgeschlossen … Wie kann man so etwas auch nur erwägen? Aufgeschlossen in einem Meer aus Müll … Das wäre so, als schwämme man mit aufgerissenem Mund durch die Themse, um ihre Ausdünstungen tief einatmen zu können.«

»Sie haben selbst gesagt, dass es ein Fehler wäre, eine Theorie ohne Fakten aufzustellen. Dass ein guter Detektiv nur alle Informationen aufnimmt und entsprechende Rückschlüsse zieht.«

»Alle relevanten Informationen«, entgegnete Holmes. »Man muss sich darauf verlassen, dass die eigene Logik und Rationalität die Schlacke aussiebt. Ein Verstand ist nicht elastisch. Man kann nicht einfach bedeutungslosen Unsinn hineinschütten. Die Fakten müssen sorgfältig und selektiv zusammengestellt werden. Nur so entsteht ein korrektes Bild.«

»Und welches Bild haben Sie von unserem zukünftigen Klienten?«

Holmes warf die Visitenkarte des Mannes auf den Esstisch und sah aus dem Fenster. »Das wird sich zeigen, aber es kann sich bei ihm, logisch betrachtet, nur um einen Scharlatan oder einen Narren handeln.«

Ich seufzte, sah aber wenig Sinn darin, die Diskussion fortzusetzen. Mein Freund änderte seine Meinung nicht sehr schnell. Die Karte stammte von Dr. John Silence. Sein Ruf war mir vertraut, auch wenn ich den Mann selbst nicht kannte. Ich bezweifle, dass es in ganz London auch nur einen Mediziner gab, der nicht von dem selbst erklärten »psysikalischen Doktor« gehört hatte. Er war ein wohlhabender Mann – auch wenn niemand wusste, auf welche Weise er an Geld gelangt war –, der jenen Behandlung anbot, die sich keine leisten konnten. Viele meiner Kollegen und auch ich selbst besuchten hin und wieder Arbeitshäuser oder andere Orte, an denen unsere Dienste benötigt wurden, aber die meisten von uns verfügten nicht über ausreichende finanzielle Mittel, um dies fast ausschließlich zu tun.

Man sprach jedoch nicht nur wegen seiner Großzügigkeit oft über Dr. Silence. Seit einigen Jahren konzentrierte er sich weniger auf die körperlichen Aspekte der Medizin und mehr auf etwas, das er als »psychische Erkrankung« bezeichnete. Er sprach von »dämonischer Besessenheit« und »Eindringlingen von jenseits des Erdenreiches«, was seinem Ruf nicht besonders guttat (und häufig eine Reaktion wie die meines Kollegen, eines Mannes, der auf eine rationale Sicht der Welt bestand, hervorrief). Andere hingegen betrachteten seine Arbeit als einen Nebenzweig der Irrenbehandlung.

Wie man es auch bewertete, es ließ sich nicht leugnen, dass Menschen von Silence’ Behandlungen profitierten. Holmes hätte natürlich argumentiert, dass viele, die sogenannte Wahrsager aufsuchten, sich nach einer einstündigen Vorstellung ermutigt fühlten, was jedoch nicht bedeutete, dass man diese Scharlatane unterstützen sollte.

Ich war ebenfalls skeptisch, doch ich hatte so viel Gutes über Dr. Silence’ Charakter gehört, dass es mir schwerfiel, ihm und seiner Arbeit nicht mit ein wenig Aufgeschlossenheit gegenüberzutreten. Ich würde den Mann treffen, mir seine Ansichten anhören und danach über ihn urteilen. Holmes schien nicht dazu bereit zu sein. Zumindest aber hatte er sich auf einen Termin eingelassen, was seiner stets verlässlichen Neugier geschuldet war.

Holmes war bereits seit einigen Monaten schlecht ­gelaunt, das hatte mir Mrs Hudson, unsere Vermiete­rin, bei meiner Rückkehr mitgeteilt. Nachdem ich Mary geheiratet hatte, war ich natürlich aus unserer gemeinsamen Wohnung ausgezogen. Nach ihrem verfrühten Ableben hatte mich jedoch die Einsamkeit – und wenn ich ehrlich sein darf, auch der Zwang, den Geldbeutel etwas enger zu schnallen – zu einer Rückkehr bewogen. Mrs Hudson glaubte anscheinend, dass Holmes’ Laune einen historischen Tiefstand erreicht hatte, weil ihm in der Zwischenzeit mein beruhigender Einfluss gefehlt hatte. In Wirklichkeit hatte ich ihn nie kontrollieren können. Seine Launen waren so unvorhersehbar und wechselhaft wie die Bewegungen eines Bootes, das im Ozean treibt. Ich muss jedoch die Verantwortung für die Veränderungen seiner beruflichen Umstände übernehmen und leider änderten sie sich nicht zum Besseren. Nicht nur das 19. Jahrhundert neigte sich seinem Ende zu, sondern auch seine Beratertätigkeit. In nur wenigen Jahren würde er sich zurückziehen – entgegen aller Erwartungen in die ländliche Idylle von Sussex –, doch in diesen letzten Jahren wurde er ständig mit Fällen bombardiert, die er als Zeitverschwendung erachtete. Es hatte ihn stets gestört, dass ich seine Arbeit einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen wollte, und die Zeit sollte ihm recht geben. Seine Detektei war so berühmt geworden, dass er spezielle Arrangements mit der Post treffen musste, um all die Korrespondenz zu bewältigen. Die meisten Briefe enthielten keine Fälle, sondern Drohungen, Bitten um Anstellung, Anfragen von Möchtegern-Biografen (die wohl glaubten, dass sie besser als ich für diese Aufgabe geeignet wären) und Liebeserklärungen.

Letztere waren besonders häufig, überraschten mich aber immer wieder. Hatte ich nicht deutlich gemacht, dass Holmes, obwohl er eine attraktive Frau durchaus zu schätzen wusste, keine für sich selbst suchte? Hin und wieder versuchte irgendein Witzbold ihn zu verleumden, indem er behauptete, seine Neigungen gingen in eine andere Richtung, dabei hatte er einfach kein Interesse an solchen Dingen. Holmes war kein Mann des Körpers – deshalb behandelte er seinen eigenen auch so schlecht –, er war ein Mann des Verstandes; kein parfümgetränkter Brief in der Morgenpost würde daran etwas ändern.

Er verbrachte die Morgenstunden meistens im Schneidersitz vor dem Kamin. Der Rauch brennender Liebesbriefe und von anderem Unsinn vermischte sich mit dem seiner Frühstückspfeife, während er die Post nach Korrespondenz durchsuchte, deren Inhalt zumindest ansatzweise mit seinem Beruf zusammenhing. Diese Briefe unterzog er dann einer zweiten Prüfung. Er sortierte die uninteressanten aus, die von eifersüchtigen Ehemännern und Menschen, die Vermisste suchten. Letzteres hatte er aufgegeben, weil er die Familien, denen einzelne Mitglieder abhandengekommen waren, nur selten zufriedenstellen konnte. Menschen verschwanden jeden Tag und die meisten wollten gar nicht gefunden werden. Nur die halbwegs interessanten Briefe behielt er.

Es überraschte mich, dass Dr. Silence’ Anfrage beide Sortiervorgänge überstanden hatte und er zum höchsten aller Heiligtümer vorgedrungen war: dem Termin. Doch je näher der Zeitpunkt rückte, desto schlechter wurde Holmes’ Laune. Nach einigen Stunden unbefriedigender Chemieexperimente hatte er sich auf das Sofa gelegt, die säurebefleckten Hände herabhängen lassen und eine Zigarette nach der anderen geraucht. Er hatte ausgesehen wie eine reglose Dampfmaschine, die jemand in einen abgewetzten Morgenmantel gewickelt hatte.

»Ein Gast, Sir«, sagte Billy, Holmes’ Page, zur vereinbarten Stunde. »Ein Dr. John Silence. Hat angeblich ’n Termin.«

Holmes knurrte nur und schnippte die Überreste seiner Zigarette in Richtung Kamin. Er verfehlte ihn, und bis ich aufgestanden war und sie aufheben konnte, hatte sie bereits eine weitere schwarze Wunde in den Teppich gebrannt.

»Schick ihn nach oben, Billy«, antwortete ich. Wenigstens einer von uns sollte den Mann anständig begrüßen, das nahm ich mir fest vor.

Doktor Silence war anders, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Sein Auftreten wirkte weder theatralisch noch mystisch. Er war Ende dreißig, schlank und trug einen sorgsam gestutzten Bart. Seine Kleidung war angemessen formell, aber keinesfalls prahlerisch. Vielmehr passte sie sich ihrer Umgebung an und ragte nicht aus ihr hervor. Er wirkte wie ein Stadtmensch, aber da ich Holmes’ Methoden schon so lange ausgesetzt war, betrachtete ich automatisch die Knie seiner Hose und entdeckte einige Tierhaare. Sie waren hell und kurz, zu dick, um von einer Katze zu stammen. Wahrscheinlich hatte Silence einen Hund. Er trug außerdem ein neues Paar Schuhe. Das Leder war noch faltenfrei, was selbst ein aufmerksamer Diener nicht allein durch Pflege hätte erreichen können.

Ich bemerkte, wie Holmes den Mann musterte und dabei zweifellos all das und noch mehr sah. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem erschreckend leeren Zigarettenetui zu.

»Guten Morgen«, murmelte er und zeigte dabei auf einen leeren Stuhl. Es hatte nicht den Anschein, als wolle er dem Mann die Hand schütteln. Stattdessen setzte er seine Suche nach Zigaretten in den Bücherregalen fort.

»Morgen«, sagte Silence, richtete den Blick jedoch auf mich, da ich als Einziger im Raum ein Mindestmaß an Höflichkeit zeigte.

»John Watson«, sagte ich, schüttelte seine Hand und wiederholte Holmes’ Geste.

»Ah.« Silence nickte und setzte sich. »Ich habe natürlich von Ihnen gehört.«

»Ganz London hat von Watson gehört«, sagte Holmes zustimmend. Er zog einen Stapel Fahrpläne aus einem der Regale und griff nach dem kleinen braunen Paket, das dahinter lag. »Seine Schriften sind äußerst beliebt.«

»In der Tat«, gestand Silence ein, »aber ich bezog mich dabei auf unseren Beruf. Wir hatten den gleichen Anatomieprofessor.«

»Wirklich?« Ich lachte.

Holmes riss das Papier des Tabakpakets auf. »Dann haben Sie ebenfalls beim blutdürstigen Barrow studiert?«

Silence lächelte und nickte. »Und wie Ihnen wohl auch war mir das Vergnügen, das ihm jeder Schnitt zu bereiten schien, unangenehm.«

Ich drehte mich zu Holmes um. »Es würde mich nicht wundern, wenn Sie Sir Lionel Barrow schon einmal begegnet wären. Er hatte die Ausstrahlung eines Mörders.«

Mein Freund zuckte mit den Schultern und schob eine Zigarette zwischen seine Lippen. »Der Name sagt mir nichts.« Er stieß eine Rauchwolke aus, hinter der sein gelangweiltes Gesicht einen Moment lang verschwand. »Vielleicht sollte ich mich zurückziehen, damit Sie beide ein wenig … plaudern können.«

Die leicht angewiderte Betonung, mit der er das Wort unterlegte, entging mir nicht. Holmes verabscheute Smalltalk.

»Entschuldigen Sie«, sagte Silence. »Es bereitet mir zwar Vergnügen, Dr. Watson hier anzutreffen, aber ich hatte auf Ihre Aufmerksamkeit gehofft.«

»Die haben Sie«, antwortete Holmes und ließ sich auf dem Sofa nieder, »allerdings nur wegen der Labradorhaare an Ihren Hosenbeinen.«

Silence warf einen Blick nach unten und zupfte die Haare aus dem Stoff. »Ihre Beobachtungsgabe ist bemerkenswert, aber die Relevanz erschließt sich mir nicht.«

»Sie widmen Ihrem Erscheinungsbild offensichtlich so viel Aufmerksamkeit wie eine Katze«, erklärte Holmes. »Dass Ihnen auf Ihrem Weg hierher der Zustand Ihrer Hose entgangen ist, zeigt, wie tief Sie in Gedanken versunken waren. Das ist etwas, worauf ich sehr neidisch bin, deshalb hoffe ich, dass es ansteckend sein könnte.«

»Ich kann Ihnen versichern, dass ich eine unglaubliche Geschichte zu erzählen habe. Sie wissen vielleicht, dass ich nicht dazu neige, von anderen Rat einzuholen. Im Gegenteil, ich fühle mich wohler, wenn ich Rat geben kann.«

»Ich habe von Ihrer Arbeit gehört, allerdings muss ich ehrlich sagen, dass ich keine hohe Meinung davon habe.«

Silence lächelte. »Die Meinung anderer ist nicht meine Sorge, Mr Holmes, aber vielleicht ändern Sie Ihre Ansichten im Laufe der Zeit noch.«

Holmes wischte den Gedanken mit einer Geste beiseite, als sei dies so unwahrscheinlich, dass man es nicht erwähnen musste. Doch mir fiel auf, dass sich sein Verhalten geändert hatte. Äußerlich wirkte er zwar desinteressiert – sogar ablehnend –, aber er achtete genau darauf, was der Arzt sagte. Als sich Silence’ Geschichte ihrem Ende zuneigte, lauschte er sogar gebannt.

3. KapitelDie Geschichtedes Arztes

»Es wird Sie nicht überraschen«, sagte unser Gast, »dass meine Arbeit häufig skeptisch betrachtet wird. Diejenigen, die über meine Praxis reden, gehen großzügig mit ihrem Spott um, doch der wird übertroffen von der Dankbarkeit der wenigen Glücklichen, denen ich zu helfen vermag. Dieses Gleichgewicht erklärt vielleicht, weshalb es mir so leicht fällt, mich über meine Verleumder zu erheben. Davon abgesehen gebe ich mich keinen wirren oder irrationalen Theorien und Praktiken hin, wie meine Kritiker oft annehmen. Meine Arbeit basiert auf fundiertem Wissen. Ich habe fünf Jahre meines Lebens damit verbracht, das, was man mich über den Körper gelehrt hat, auf den Geist zu übertragen. Auf der ganzen Welt habe ich studiert, von den Aschrams am Fluss Sabarmati bis zu den Tempeln in den unzugänglichsten Regionen Tibets.«

»Mein Freund weiß auch einiges über Tibet«, warf ich in der Hoffnung ein, dies könne das Fundament gegenseitigen Respekts zwischen Klient und Detektiv bilden.

»Wo man Wissen erlangt, ist unerheblich. Nur sein intellektueller Wert zählt«, sagte Holmes und wischte meinen Einwurf mit einer Geste weg. »Dr. Silence, könnten wir bitte das Reich der Rechtfertigung verlassen und in das der Information vordringen? Sagen Sie mir, welche Nachforschungen ich anstellen soll.«

»Gerne, allerdings werden Sie bald erkennen, dass ich eigentlich kein potenzieller Klient, sondern eher ein Bote bin.

Seit einem oder zwei Jahren praktiziere ich weniger Medizin. Meine esoterischen Dienste werden häufiger benötigt und ich widme ihnen mehr und mehr Zeit. Gestern suchte mich jedoch ein alter medizinischer Patient auf, ein Matrose, den ich nach einem Unfall in der Takelage, bei dem er beinahe sein linkes Bein verloren hätte, behandelt habe.«

Silence erzählte seine Geschichte:

»Simcox«, begrüßte ich ihn. Ich bemerkte, dass er leicht hinkte, doch das war bei der Kälte dieses Winters nichts Ungewöhnliches. »Ich hoffe nicht, dass die alte Wunde Ihnen Ärger macht.«

»Nein, Doktor«, antwortete er. »Die alten Knochen sind stärker als je zuvor. Ich bin wegen jemand anderem hier. Erinnern Sie sich an meine Elsa?«

Elsa war seine Tochter, ein hübsches kleines Ding, das bei meinen Besuchen im Haus der Simcox’ an meinem Ellenbogen gehangen und meine Behandlung ebenso besorgt wie fasziniert beobachtet hatte. »Natürlich«, versicherte ich ihm. »Was fehlt dem armen Mädchen denn?«

»Wenn ich das nur wüsste, Sir.« Er ließ sich auf einen Stuhl sinken und schluchzte. Anscheinend war dieser sonst so phlegmatische Mann schon seit geraumer Zeit angespannt wie ein Seil in einer Takelage. Nun, da er hier war und hoffte, dass ich ihn von dieser Anspannung befreien konnte, verließ ihn die Kraft. Ich schüttete ihm einen Brandy aus der Karaffe ein, die ich für solche Fälle im Schrank aufbewahre – wir Ärzte wissen, dass manchmal die beste Medizin auch die einfachste ist –, und zwang ihn, einen Schluck zu trinken, bevor er weitere Erklärungsversuche unternahm.

»Entschuldigen Sie, Doktor«, sagte er schließlich, »aber die letzten Tage waren zu viel für mich. Das Gewicht, das auf meinen Schultern lastet, hat mich einen Augenblick übermannt.«

»Sie müssen sich nicht entschuldigen«, versicherte ich ihm. »Ich hoffe nur, dass ich Ihnen helfen kann. Erzählen Sie mir alles.«

»Es fing vor ungefähr einer Woche an«, erklärte er, »in den frühen Morgenstunden, als meine Frau und ich schliefen. Ich war seit ein paar Tagen an Land und genoss den festen Boden unter meinen Füßen. Ich bin oft unterwegs, so ist das in meinem Beruf nun einmal, aber wenn ich hier bin, versuche ich auch, die Zeit zu nutzen. Wir hatten den Tag im Park verbracht, mit einem vollen Picknickkorb und ein paar Spielen.« Er lächelte, als er sich daran erinnerte. »Wir waren faul wie reiche Leute. Doch in dieser Nacht, während Elsas freudiges Lachen noch in meinen Ohren nachhallte, wachte ich auf und hörte sie in ihrem Bettchen schreien. Es klang, als habe der Teufel seine Klauen in ihr Fleisch geschlagen. Und vielleicht war es auch so …

Ich sprang auf und meine geliebte Sally folgte mir auf dem Fuße. Wir liefen zum Bettchen unserer Tochter. Sie saß aufrecht und hielt die Laken in den Fäusten, so als wolle sie den Stoff zerreißen. Ihr Blick war fest auf einen Punkt an der Decke gerichtet, aber sosehr ich es auch versuchte, ich konnte dort nichts erkennen. Doch Elsa glaubte, dass dort etwas war. ›Kannst du nicht sehen, wie es sich windet?‹, fragte sie, bevor sich ihre Augäpfel nach hinten drehten und sie ohnmächtig wurde.

Ganz ehrlich, Doktor, ich dachte zuerst, es sei um sie geschehen, aber sie war glücklicherweise bald wieder auf den Beinen. Auf See bin ich dem Tod oft genug begegnet. Die Ozeane fordern ihren Tribut, und jeder, der auf ihnen arbeitet, sieht früher oder später einen Toten. Als meine Tochter in meinen Armen zusammensank, war ich mir sicher, dass das Leben aus ihr geflohen war. Sie fühlte sich so leicht und substanzlos an. Ich hielt ihr Gesicht in die Nähe der Kerzenflamme und versuchte verzweifelt zu erkennen, ob sie noch atmete. Und gerade hatte ich mich dazu durchgerungen, mir ihren Tod einzugestehen, als sie sich in meinen Armen versteifte und die Augen öffnete.

›Papa?‹, fragte sie, als wüsste sie nicht genau, wer sie hielt.

›Ich bin hier, Kleines‹, versicherte ich ihr. ›Deine Mama und ich sind hier, du musst dich nicht fürchten.‹ Sie lächelte, und bei Gott, seitdem frage ich mich, ob das das erste Anzeichen unserer Probleme war. Wir brachten sie zurück in ihr Bettchen und legten uns wieder hin. Wir glaubten, dass sie nur schlecht geträumt habe, doch diese Hoffnung wurde uns in der darauffolgenden Nacht genommen.

Meine Frau und ich waren längst eingeschlafen, als Elsa ihren Anfall bekam – ja, Anfall, anders kann ich es nicht beschreiben. Ihre Schreie weckten uns, und als wir in ihrem Zimmer eintrafen, sprang sie von ihrer Matratze und streckte die Finger nach der Decke aus. Ich lief los, um sie aufzufangen, bevor sie hinfiel, doch Sie können sich meine Überraschung nicht vorstellen, als das nicht geschah. Ihre Finger hafteten an dem trockenen Gips über uns und sie zog sich damit zu den Schatten in einer Ecke des kleinen Zimmers. ›Es rennt!‹, schrie sie. ›Es versucht zu entkommen! Ich will es haben! Ich will!‹ Sie schlug auf die Decke ein, als wolle sie unsichtbare Spinnen zerquetschen.

›Elsa!‹, schrie Sally. Sie konnte den unvorstellbaren Anblick, den unsere Tochter bot, nicht ertragen. ›Elsa!‹

Sie hörte auf, gegen die Decke zu schlagen, und wandte uns langsam den Kopf zu. Doktor, ich kenne das Gesicht meiner eigenen Tochter, und ich hoffe, dass Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sage, dass das Gesicht, das uns da aus den Schatten anstarrte, nicht das ihre war. Es glänzte wächsern, es war eine grinsende Maske aus Zähnen und Schweiß, ein böses Gesicht! Doktor, es war das Gesicht von etwas, das in diesem Moment Besitz von meiner Tochter ergriffen hatte.

Meine Frau schrie, ich vielleicht auch, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich spüre, wie in meiner Brust ein Schrei emporsteigt, wenn ich nur an diese Nacht denke. Aber als Sally schrie, kehrte Elsa in ihren Körper zurück. Im Kerzenlicht sah ich, wie ihr Gesicht weich wurde. Ihre Finger verloren die teuflische Magie, die sie festgehalten hatte, und sie fiel von der Decke in meine Arme.

Doktor, ich glaubte, sie würde verbrennen! Ihr Körper war heiß wie glühende Kohlen. Ich hätte sie beinahe fallen lassen, weil ich dachte, sie würde meine Haut versengen. Ich brachte sie ins Bett und sah meine Frau an, bat sie mit Blicken, nicht mehr zu weinen. Ich verstand ihre Reaktion, aber in diesem Moment wollte ich nur dass Elsa einschlief. Sie sollte wieder normal sein, und ich wollte das, was wir gesehen hatten, hinter einem Schleier verbergen.

Ich deckte sie zu und zog meine Frau zur Tür. Die kleine Elsa machte kein Theater. Sie sah aus wie ein Mädchen, das aus einem ungewöhnlichen Traum gerissen worden war. Vielleicht war es in ihrem Kopf auch so. Einige Minuten später schlief sie fest, und meine Frau und ich zogen uns zurück, um alles zu besprechen.

Wir haben gehört, was Sie in letzter Zeit getan haben, Doktor. Dank Ihnen kann ich meinen Lebensunterhalt weiter verdienen, deshalb schätze ich Sie sehr. Aber ich muss gestehen, dass wir einige der Geschichten, die über Sie erzählt werden, kaum glauben können. Trotzdem möchte ich Ihnen versichern, Sir, dass wir nie an Ihnen gezweifelt haben. Vieles wird sicherlich übertrieben. Also einige dieser Geschichten …«

»Mein Leben war in letzter Zeit recht interessant«, versicherte ich ihm. »Ob die Geschichten, die Sie gehört haben, wahr sind, weiß ich nicht, aber ich habe genug gesehen, um das, was Sie erzählt haben, ernst zu nehmen.«

Daraufhin wirkte Simcox sehr erleichtert. »Trotz allem, was ich gehört habe«, gestand er, »hatte ich Angst, dass Sie mich auslachen würden.«

»Ganz und gar nicht«, beharrte ich. »Ich hole nur meinen Hut und meinen Mantel, dann werde ich mitkommen und mir Ihre Tochter ansehen.«

Er blickte mich mit großer Dankbarkeit an. Es wird Sie nicht überraschen, Mr Holmes, dass ich diesen Blick in meinem Beruf oft sehe. Wenn diese unglücklichen Menschen erkennen, dass man ihnen glaubt, ist der erste Schritt zur Besserung oft schon getan.

Ich winkte also eine Droschke heran, da Eile angebracht erschien. Mein Begleiter war zwar an eine so dekadente Fortbewegung nicht gewohnt, aber ich kann sie mir zum Glück erlauben.

»Ich benutze fast ausschließlich Droschken«, unterbrach Holmes ihn.

Silence lächelte knapp. »Ich hatte vergessen, dass Sie sich für Ihre Dienste bezahlen lassen. Ich biete meine kostenlos an.«

»Man bekommt, wofür man bezahlt«, murmelte mein Freund und zündete sich eine weitere Zigarette an. »Und meine Zeit gilt als wertvoll.«

»Dann wollen wir nichts mehr davon verschwenden«, antwortete Silence. »Soll ich fortfahren?«

Holmes nickte ungeduldig.

Simcox’ Räumlichkeiten befinden sich im Erdgeschoss eines Hauses nahe King’s Cross. Das Kind lag trotz der Tageszeit im Bett und beachtete mich kaum, als ich das Zimmer mit seinem Vater betrat.

»Da ist er«, sagte Simcox zu seiner Frau. »Ich habe doch gesagt, dass er helfen wird.«

»Das hast du.« Sie lächelte mich an. »Und ich habe nie daran gezweifelt. Danke, dass Sie gekommen sind, Doktor.«

»Es ist mir ein Vergnügen.« Ich beugte mich über das Bett des Mädchens. Auch wenn Übernatürliches vermutet wird, beginne ich meine Untersuchung immer von einem medizinischen Standpunkt aus. Das ist zum einen Gewohnheit, zum anderen aber hat mich mein Glaube nicht blind gemacht. Ich schließe eine rationale Erklärung niemals aus. Ich bin schon einige Male in Fällen von Besessenheit konsultiert worden – und darum schien es sich bei Simcox’ Geschichte zu handeln –, nur um herauszufinden, dass es eindeutige medizinische Gründe für das beobachtete Verhalten gab. Fieber führt zum Delirium und in diesem Zustand werden alle möglichen schrecklichen Dinge gesagt.

»Aber ein Fieber würde sie nicht in die Lage versetzen, an der Decke entlangzureisen«, sagte ich.

»In der Tat«, stimmte Silence zu. »Nichts Natürliches könnte das.«

»So ist es«, sagte auch Holmes. »Wenn Simcox exakt das beschrieben hat, was geschehen ist, wäre es unerklärlich. Aber fahren Sie bitte fort oder haben Sie noch einen anderen Termin?« Holmes hatte bemerkt, dass der Doktor einen kurzen Blick auf die Uhr über dem Kamin geworfen hatte.

»Vielleicht werden Sie bald denken, dass wir beide einen haben«, antwortete der Arzt, »aber wir haben noch genügend Zeit.«

Er nahm den Faden wieder auf.

Elsa hatte kein Fieber. Auf ihren Handflächen befand sich ein wenig Staub, der vermutlich von ihrer – wie sagten Sie so schön? – unerklärlichen Reise entlang der Decke stammte. Abgesehen davon fand ich keinen Hinweis auf die Ereignisse, die ihr Vater beschrieben hatte. Damit war die medizinische Untersuchung abgeschlossen und ich konnte mich meinem Fachgebiet widmen. Ich habe in den letzten Jahren einige Werkzeuge gesammelt, die mir meine Arbeit erleichtern. Vieles von dem, was man allgemein als das Übernatürliche bezeichnet, spielt sich auf einer geistigen Ebene ab, aber wie ich herausgefunden habe, können physische Objekte nützlich sein. Dinge, die bei der Konzentration helfen; Kräuter, die einen aufnahmebereiten Zustand herbeiführen; Kristalle, mit denen man bestimmte Energien fokussieren kann … Letzteres zog ich aus meiner Tasche. Es handelte sich um einen kleinen, opalfarbenen Edelstein, den ich nach einigen Monaten der Ausbildung von einem holländischen Medium bekommen habe. Dieser Edelstein soll Geister anziehen und sie aus demjenigen hervorlocken, in dem sie sich verschanzt haben. Dann kann ein einfühlsames Medium sie festsetzen.

Ich sah, wie Holmes die Augen verdrehte, als er diese Erklärung hörte. Ob Silence dies bemerkte, weiß ich nicht, denn er fuhr kommentarlos fort.

Ich legte dem Mädchen den Edelstein auf die Stirn, streichelte seine Wange und versicherte ihm, dass bald alles wieder gut sein würde. Das war eine etwas vermessene Behauptung, aber ich wollte Elsas Vertrauen gewinnen. Ich begann mit einer Beschwörung, die ich bei solchen Fällen oft verwende. Es handelt sich nur um einen einfachen kleinen Reim, nichts in sich Spirituelles, aber äußerst effektiv, wenn man den Kopf freibekommen will.

Nach nur wenigen Momenten machte Elsa eine auffällige Veränderung durch: Ihre Augenlider flat­terten, und ihre Lippen bewegten sich, als wäre sie zu müde, um die Worte auszusprechen, die sie zu bilden versuchte. Ich legte meine Finger auf den Kristall, und sie fixierte mich plötzlich mit einem so intensiven und bösartigen Blick, dass ich völlig verunsichert innehielt.

»Hallo Doktor«, sagte sie. Es war eindeutig Elsas Stimme, aber tiefer und verzerrter. Sie klang wie die einer alten Dame, die nach Jahren des missbräuchlichen Sprechens keine kindlich weichen Töne mehr hervorbringen kann. »Wie schön, dass Sie mich besuchen.«

Meine Seele ist schon einige Male in Gefahr geraten, das können Sie mir glauben, aber etwas in dieser Stimme – vielleicht der ironische Unterton – jagte mir mehr Angst ein als alles, was ich je zuvor erlebt hatte. Aus dem unschuldigen Kindergesicht starrten mich Augen an, die unfassbar alt wirkten. Ich hatte mich des Mädchens angenommen, um zu helfen, aber in diesem Moment kam es mir so vor, als sei ich derjenige, der Beistand benötigte. Ich war vollkommen überfordert. Die wenigen Worte und die Augen des Wesens, das sie aussprach, reichten, um diesen Zustand bei mir auszulösen.

»Mit wem spreche ich?«, fragte ich, ohne eine Antwort zu erwarten, denn Namen haben in dieser alternativen Wissenschaft große Macht, Gentlemen. Ich stellte die Frage nur, um der Kreatur zu verdeutlichen, dass ich wusste, dass ich nicht mit einem Kleinkind sprach.

Das Mädchen lächelte. Es war ein altes Lächeln, eines, wie es vielleicht ein Erwachsener einem Kind schenkt, das gerade etwas Amüsantes oder Altkluges gesagt hat.

»Seien Sie nicht albern, Doktor«, sagte Elsa. »Ich werde Ihnen zwar Namen nennen, aber nicht den meinen.«

»Namen?«

Das Mädchen nickte und warf dann mit zusam­mengebissenen Zähnen den Kopf zurück, so als geriete es in eine Art Ekstase. Ihre Haut warf Falten, als würden sich Finger unter ihr bewegen und die Knochen liebkosen. Ich machte mir große Sorgen um das Kind, denn ich war mir sicher, dass dieses Wesen, wenn sein Spiel erst mal beendet war, Elsa nicht am Leben lassen würde.

Sie wandte mir wieder ihre Aufmerksamkeit zu. »Ja«, fuhr sie fort, »drei Namen. Der erste lautet Hilary De Montfort, der zweite Laird of Boleskine, der dritte Sherlock Holmes.«

»Ha!« Mein Freund sprang auf. Er zog eine dünne Rauchfahne hinter sich her, als er zum Bücherregal ging. »Es hat mich beim Namen genannt? Dann hat sich mein Ruf wohl bis in die tiefsten Kreise der Hölle herumgesprochen.«

»Wenn man bedenkt, wie viele Seelen Sie dorthin geschickt haben«, antwortete Silence, »überrascht mich das nicht.«

Holmes durchwühlte seine Sammlung von geo­gra­fischen Namensverzeichnissen und Nach­schlagewerken. »Beachten Sie mich einfach nicht«, murmelte er, während seine Finger Seiten umblätterten und über Inhaltsverzeichnisse strichen. »Fahren Sie einfach fort.«

»Viel gibt es nicht mehr zu sagen«, gestand Silence.

Nachdem das Mädchen die Namen genannt hatte, verkrampfte es sich, und entgegen all meiner Erwar­tungen wich der Einfluss der Kreatur. Die Energie, die bei unserem Gespräch ausgestoßen worden war, hatte den Kristall trübe aufleuchten lassen, doch nun erlosch das Licht, und das Mädchen sank in die Kissen zurück.