Sherlock Holmes - Neue Fälle 01: Sherlock Holmes und die Zeitmaschine - Ralph E. Vaughan - E-Book

Sherlock Holmes - Neue Fälle 01: Sherlock Holmes und die Zeitmaschine E-Book

Ralph E. Vaughan

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Beschreibung

In London verschwinden Menschen. Die Nächte verbreiten überall Angst und Schrecken, niemand fühlt sich mehr sicher. Man erzählt sich in den Straßen von Geistern, welche die Menschen entführen.Als Sherlock Holmes durch H. G. Wells einen zurückkehrenden Zeitreisenden aufspürt, vermutet er einen Zusammenhang mit den Morden und ist der grausamen Wahrheit damit bereits sehr nah.Es sind die Morlocks, die das viktorianische London terrorisieren.Der Meisterdetektiv stellt sich ihnen entgegen.

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DIE NEUEN FÄLLE DES MEISTERDETEKTIVS SHERLOCK HOLMES

Sherlock Holmes und die Zeitmaschine

Sherlock Holmes and the Coils of Time

© 2005 by Ralph E. Vaughan,

erschienen bei Gryphon Books, New York

© 2012 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Lektorat: Dr. Richard Werner

Fachberatung: Dr. Klaus-Peter Walter

Umschlaggestaltung und Illustration:

Mark Freier, München

eBook-Erstellung: Die eBook-Manufaktur

All rights reserved

Print ISBN: 978-3-89840-323-8 E-Book ISBN: 978-3-95719-200-4

www.BLITZ-Verlag.de

Ralph E. Vaughan

SHERLOCK HOLMES

und die Zeitmaschine

Nach den Charakteren

Sherlock Holmes und Dr. John H. Watson

von Sir Arthur Conan Doyle

aus dem Amerikanischen übersetzt

von Hans Gerwien und Andreas Schiffmann

Der Autor

RALPH E. VAUGHAN, ein amerikanischer Autor, gilt als Spezialist für äußerst originelle und skurrile Themen. Die Spannweite reicht vom Steampunk bis zur Heroic Fantasy mit dem gewissen eigenen Flair.

PROLOG

Der Gestank aus den Beinhäusern ...

Eine besiegte, unterdrückte Menschheit, die in die

Dunkelheit hineinschlurft ...

Das ewige Murmeln und Schluchzen der höllischen

Maschinen tief unten ...

Die weiße, geflügelte Sphinx, die sich unter den brodelnden

schwarzen Wolken über die Ruinen Londons erhebt ...

Das Triumphgeheul der Morlocks ...

Er floh in dieses unmögliche, albtraumhafte Land und suchte eine eingebildete Sicherheit in seinem Haus in Richmond an der Themse, diesem ehrwürdigen Backsteingebäude, von dem aus man einen weiten Blick über den Richmond Green Park am Cholmondelay Weg genoss und nach Norden über das alte Hirschgehege an der Kew Street, eine Hinterlassenschaft des ersten Königs Charles. Dort befand er sich weniger als ein Dutzend Meilen von London entfernt, nur eine kurze Fahrstrecke mit der L&SW-Bahn, und dennoch hatte er sich tagelang verstecken und allen Gefahren ausweichen müssen, um endlich die eingestürzte Ruine seines Hauses zu erreichen.

Er hackte sich den Weg durch den überwucherten Garten frei, um schließlich jenseits der zersplitterten Fensterscheiben und der verlassenen Backsteinmauern seine Maschine zu erreichen. Er benötigte nur wenige Augenblicke, um gewisse Hebel zu verstellen, und dann eine Ewigkeit, bis er zu einem Zeitpunkt zurückkehrte, der kurz nach seinem erneuten Start lag.

Zurück ins Jahr des Herrn 1893.

Als sich seine Werkstatt um ihn herum materialisierte, glaubte er, die Vertrautheit des Raumes mit seinen großen Fenstern würde seinen Nerven ebenso guttun wie die Einnahme eines Opiats, doch nun erschien ihm die Werkstatt düster und voller Schatten, die Gasbeleuchtung war trübe und erhellte sie nur unvollständig. Er fuhr zusammen, als jenseits der Fenster etwas Blasses, Flüchtiges durch den Garten in Richtung des großen, dicht mit Bäumen bestandenen Hirschgeheges huschte, doch es verschwand, bevor er sicher sein konnte, ob er überhaupt etwas Konkretes gesehen hatte. Die Erschöpfung überfiel ihn mit aller Macht, und er sackte auf den gepolsterten Ledersitz der Maschine zurück. Die Bücher, von denen er gehofft hatte, sie würden ihm bei der Neugestaltung der Zukunft behilflich sein, entschlüpften seinen Händen und schlugen mit dumpfem Knall auf die abgenutzten Bohlen des Fußbodens.

Er trat von der nunmehr stillstehenden Maschine zurück und stürzte beinahe der Länge nach hin. Dann wankte er durch den mit Teakholz getäfelten Korridor, der die Werkstatt mit dem übrigen Haus verband. Er fühlte sich schwach vor Hunger und Erschöpfung – und vom Blutverlust. Maddoc wünschte sich, einfach in die Bewusstlosigkeit hinübergleiten zu können, hinein ins Vergessen, ohne von Träumen, Visionen oder Erinnerungen gequält zu werden. Dennoch zwang er sich voran. Er musste in Erfahrung bringen, wo er sich auf dem Weg in die Zukunft verirrt hatte und ob es wirklich seine Schuld gewesen war.

Am Ende des Korridors schob er den Riegel zur Seite, stolperte durch die schwere Tür ins Esszimmer und prallte mit seiner Haushälterin zusammen. Die gute Mrs. Watchett ließ ob seines plötzlichen Auftauchens und seiner zerlumpten Erscheinung beinahe das Essen fallen und stieß einen erschrockenen Schrei aus. Entsetzt bemerkte sie die Schnitte und Schrammen in seinem Gesicht und die zerrissene, blutbefleckte Kleidung.

Die Männer, die um den Esstisch verteilt saßen, sprangen hastig auf.

»Guter Gott!«, keuchte der Mediziner. »Was ist passiert? Hatten Sie einen Unfall mit der Kutsche?«

»Gebt ihm ein Glas Portwein!«, rief der Redakteur.

»Sind Sie von Schurken überfallen worden?«, wollte der General wissen.

»Er hat ganz offensichtlich einen furchtbaren Schock erlitten«, bemerkte der Psychologe.

Maddoc fühlte sich durch einen kräftigen Griff gestützt und zu seinem üblichen Platz am Ende der Tafel geführt. Man drückte ihm ein volles Glas in die zittrige Hand. Erst als er beobachtete, wie es erneut gefüllt wurde, wurde ihm bewusst, dass er den Inhalt in einem einzigen Zug hinabgestürzt hatte.

»Berichten Sie! Was ist mit Ihnen geschehen?«, forderte Philby ihn auf, ein rothaariger Mann, dessen ansonsten äußerst streitbare Natur nun durch eine bedrückte Dringlichkeit in seinem Tonfall überdeckt wurde. »Wir haben fast eine Stunde lang mit dem Essen auf Ihre versprochene Rückkehr gewartet!«

Plötzlich war ihm klar, warum sich diese Männer an seinem Tisch versammelt hatten. Er hatte sie eingeladen, aber diese Einladung schien vor einem ganzen Leben erfolgt zu sein. War es erst eine lumpige Woche her, dass er einigen dieser Männer so närrisch, so naiv die Funktion seines kleinen Modells vorgeführt hatte? Sicher, für sie war es wahrscheinlich nur eine Woche her, aber für ihn ...

In gewissem Sinne war es ein anderer Mann gewesen, der vor ihnen gestanden hatte, voller Selbstbewusstsein und überzeugt von seinen Visionen in Bezug auf Wissenschaft und Technik und von der Zukunft selbst. Er hatte auf eine strahlende Zukunft gehofft – wenn auch nicht erwartet –, in welcher Britannia nach wie vor die Wogen regierte, aber womit er gerechnet hatte, war eine trotz der kleinlichen Verfehlungen der Politik von einer überragenden Technologie beherrschte Zukunft, ein Schicksal, das von einer erleuchteten und geadelten Menschheit erreicht wurde. Die Menschen jener fernen Ära, A. D. 802.701, hätten sich ihm gegenüber als weise ältere Brüder erweisen sollen, aber wie sich herausgestellt hatte, waren sie mehr wie kleine Kinder, die Angst vor der Dunkelheit hatten und seiner Führung viel eher bedurften als er ihrer.

Wie hatte er sich danach gesehnt, die Eloi aus der Dunkelheit zu führen, aus dem Schatten der Morlocks. So überwältigend war dieser Wunsch gewesen, dass er sich nach seiner ersten Rückkehr aus der Zukunft sofort wieder hinaus auf das Meer der Zeit begeben hatte. Seine eigene Ära, solch alberne Dinge wie diese Dinnerparty und solch kleinkarierte Narren wie diese Männer ließ er dabei außer Acht.

»Sind Sie durch die Zeit gereist?«, fragte Wells, ein Mann, den Maddoc in den Mittachtzigern am Royal College of Science kennengelernt hatte. »Sind Sie in die Geschichte gereist oder haben Sie ... Haben Sie die Zukunft gesehen, die Reife der menschlichen Rasse, das Schicksal der Menschheit?«

Maddoc stellte sich ihren neugierigen Blicken.

Nicht alle Anwesenden hatten mit eigenen Augen das frühere Experiment mit dem Modell der Zeitmaschine erblickt, aber jene, die nicht dabei gewesen waren, hatten mit Sicherheit Einzelheiten von den anderen erfahren, vor allem dieser verdammte Wells, der sich als Schriftsteller aufspielte. Jetzt die Existenz der Zeitmaschine zu leugnen, würde nur zu neugierigen Untersuchungen führen, dass einige daran glaubten, andere nicht. Dies alles konnte er nicht gebrauchen, er war nicht daran interessiert. Natürlich wagte er nicht, ihnen die Wahrheit zu sagen, zumindest nicht die ganze Wahrheit, aber er war ein Mann der Wissenschaft und kein Schreiberling, der sich eine befriedigende Geschichte aus den Fingern zu saugen vermochte. Alles, was er besaß, war die verfluchte Wahrheit. Also kam es jetzt darauf an, ihnen nichts von der zweiten Reise zu erzählen und nur gerade so viel von der ersten, um ihnen Zweifel zu gestatten und die Gelegenheit zu verschaffen, ihn als Exzentriker abzustempeln, dessen Geschichte nicht mehr als eine warnende Allegorie war, die auf den herrschenden gesellschaftlichen Umständen basierte.

»Ja, meine Freunde, ich bin in meiner selbst gebauten Maschine durch die Zeit gereist«, sagte er schließlich und bemühte sich um eine Leichtigkeit im Tonfall, die er überhaupt nicht empfand. »Ich werde Ihnen von meinem Aufenthalt unter den Eloi und den Morlocks in der fernen Zukunft berichten, mehr als achthunderttausend Jahre nach unserer Zeit.«

»Total phantastisch«, murmelte der General.

»Doch lassen Sie mich zuerst ein weiteres Glas dieses feinen Portweins genießen und etwas von Misses Watchetts exzellenter Hammelkeule verspeisen, denn es scheint mir Monate her, dass ich etwas Anständiges zu essen hatte.« Zumindest dies entspricht der Wahrheit, dachte er wehmütig. »Danach werde ich von den Ereignissen berichten, die sich während meiner Fahrt auf dem Meer der Zeit abspielten, sowohl zu Ihrer Aufklärung wie auch, um mich Ihrem Urteil zu stellen. Aber ich warne Sie. Wenn Sie erfahren haben, was sich aus den Entscheidungen unserer eigenen Zeit entwickeln wird, mag Ihr Glaube an die augenblicklich herrschende Gesellschaftsordnung erschüttert sein.«

Später vernahm Maddoc nur noch das leise Klappern des Geschirrs beim Abräumen, das unterschwellige Zischen des Gases in den Lampen und das Kratzen von Wells' Stift auf seinem Notizblock. So richtete er das Wort an seine einstmals sehr willkommenen Dinner-Gäste. »Letzten Donnerstag habe ich einigen von Ihnen die Funktionsprinzipien der Zeitmaschine erklärt, mein Modell vorgeführt und Ihnen sogar die Maschine selbst in meiner Werkstatt gezeigt. Nachdem ich eine der Nickelstreben ersetzt und einen Kristallhebel wiederhergestellt hatte, startete die erste Zeitmaschine mit ihrer Reise durch die Zeiten, mit mir selbst als Pilot. Und dies ist nun, was dabei geschah ...«

Zu ihrer aller Besten begann er sodann zu lügen.

KAPITEL 1

Ein Schrei in der Nacht

Der junge William Dunning schritt vorsichtig über den gepflasterten, vom Nebel glitschigen und beinahe erstickt wirkenden Albion Yard im Rotherhithe-Bezirk von Bermondsey, südlich der Themse. Hinter ihm und im gelblichen, rußgeschwängerten Dunst nur schwer sichtbar erhob sich ein ganzer Wald von kahlen Mastbäumen, Zeichen der von hier aus unsichtbaren Schiffe an den Kais im Albion-Hafen, die von ihren Argosien über die Meerestiefen und dann die Themse herauf ruhten. Viele dieser muschelverkrusteten Rümpfe gehörten seiner Familie.

Nein, korrigierte er sich in Gedanken, nicht ohne eine gewisse Bitterkeit, sie gehören meinem Bruder.

Wollte man die Dunning Güter- & Handels-Compagnie als ein großes Schiff betrachten, das die Meere der Finanzwelt so wie die britische Handelsflotte die Ozeane befuhr, so war Sir Reginald Dunning dessen Kapitän, beinahe gottgleich in seinem Reich, und William war kaum mehr als ein schwarzer Schiffsjunge. Damit wäre er wahrscheinlich sogar besser dran gewesen, überlegte er wehmütig, denn dann würden ihn seine Aufträge und Arbeiten wenigstens über das schwankende Deck eines Schiffes führen. Er würde die ungeheure Weite und Größe der Meere kennenlernen, die Erregung beim Anblick einer unentdeckten Küste, die sich in der blauen Ferne erhob, den Zauber exotischer Häfen mit all ihren Geheimnissen und ihrer Andeutung düsterer Gefahren. Aber diesen Windhunden des Meeres vermochte er sich nur zu nähern, wenn er den Handelshafen von Surrey besuchte, um dort Ladungen zu inspizieren und Listen zu überprüfen.

Mit solchen Allerweltsaufträgen hatte er den Nachmittag und den Abend verbracht, Ladungen exotischer Hölzer aus den Dschungeln von Burma und Ceylon überprüft, Getreide aus den nördlichen Provinzen und aus dem Dominion Canada. Nun lag all dies buchstäblich hinter ihm, und er durfte wieder er selbst sein, Herr über sein eigenes Schicksal, zumindest bis er in den Büros der Gesellschaft am Morgen Bericht erstatten musste.

Er wandte sich nach rechts in die Swan Lane und dann links in die Albion Street. In diesem Bereich der Kontore und Lagerhäuser gab es keine Gaslaternen, und der Nebel wallte wie schwarze Tentakel um ihn herum. Trübsinnige Backstein-Lagerhäuser und Silos erhoben sich inmitten der Schwaden; ihre leeren Fensteröffnungen wirkten wie die Augenhöhlen von Totenschädeln. Das schwache Klirren seiner Nagelstiefel auf dem Pflaster warf hohle Echos zwischen den verschmutzten Mauern.

Es war eine einsame Nacht der Verderbnis, ohne andere Passanten. Die klaustrophobische Weite des Londoner Nebels beeinflusste seine Phantasie, füllte die tiefe Nacht mit noch tieferen stygischen Schatten und blassen, schweigend einherhuschenden Gestalten, die auf beklemmende Weise an jene East-End-Geister erinnerten, die sich schon seit einem Monat in den Sensationsgazetten herumtrieben. Nach einigen langen Minuten auf der mit einem Mal so finster wirkenden Straße entdeckte er in der Ferne den Schein trüber Beleuchtung, und er war ebenso froh darüber, die Gaslaterne in der Dunkelheit zu erblicken, wie ein Mann in der Wüste eine Oase. Als er sie schließlich erreicht hatte, hielt er sich an der Kreuzung der Neptun Street so lange wie möglich in ihrem Schein auf. Er zögerte, sich wieder hinaus in die Dunkelheit zu begeben.

Er hatte geplant, zum nahe gelegenen Rotherhithe-Bahnhof zu gehen und mit der U-Bahn durch den Themse-Tunnel in die belebteren Regionen der Stadt zu fahren. Von dort aus wollte er dann einen Einspänner zurück zu seiner Wohnung nehmen. Doch er wurde zuerst durch ein Geräusch und dann durch einen Anblick abgelenkt. Das Geräusch war das schwache, fröhliche Klimpern eines schlecht gestimmten Klaviers, dazu undeutliche Stimmen, die laut einen Shanty sangen, der ihm bekannt war.

Fifteen men on a dead man's chest

Yo ho ho and a bottle of rum

Drink and the devil had done for the rest Yo ho ho and a bottle of rum.

The mate was fixed by the bosun's pike

The bosun brained with a marlinspike

And cookey's throat was marked belike

It had been gripped by fingers ten;

And there they lay, all good dead men

Like break o'day in a boozing ken

Yo ho ho and a bottle of rum.

Der Anblick, der ihn ablenkte, war ein goldener Lichtschein, der aus einer doppelten Reihe von schmutzigen Fenstern mit Butzenscheiben auf die Nebelschwaden schien; ein fröhlicher Gegenpol zur Düsternis dieser Nacht. Und mit einem Mal wurde ihm bewusst, warum er diesen weiten Umweg zum nahe gelegenen Bahnhof gewählt hatte. Hier lag die Taverne Zum Neptun, ein beliebter Aufenthaltsort für Schauerleute. Ein Wirtshaus, zu dem es ihn oftmals hinzog, wenn er sich in diesem Viertel befand und Zeit zur Verfügung hatte. Das traf im Augenblick nicht unbedingt auf ihn zu, denn es war bereits sehr spät, und er musste mit seinem Inspektionsbericht ziemlich früh im Kontor erscheinen. Sein Bruder hatte, wie meistens, genaue Anweisungen hinterlassen. Dennoch zog es ihn in Richtung der Taverne, genauso sicher und unwiderstehlich wie einen Eisenklotz zum Magneten. In dieser Hinsicht war er hilflos und unfähig, seine Füße zum Stillstand zu bringen.

Der Eingang des Pubs war von geschnitzten Abbildern des Meeresgottes flankiert. Dazu hatte der unbekannte Künstler Teile der Masten alter Windjammer verwendet. Über der Eingangstür hing an einem Balken ein Holzschild, auf dem der Herr der Meere in bunten Farben dargestellt war, mit Tang durchwebten, fließenden Locken und dem Dreizack, den er in königlicher Geste emporhielt. Diese maritimen Bilder, die so plötzlich um ihn herum aufragten, lösten in Dunning starke Gefühlswallungen aus. Beinahe spürte er die Gischt in sein Gesicht spritzen, und der Salzgeruch des Meeres umwehte seine Nase.

Zuerst hatte man den Pub Die blaue Meerjungfrau getauft, zu einer Zeit, als das Gebäude errichtet wurde, als die jetzigen Hafenbecken von Surrey noch seichte Tümpel waren und die meisten Schiffe ihre Ladungen entweder an Landestegen oder direkt am schlammigen Ufer löschten.

Genauso wie ein Schiff hilflos angesichts einer mächtigen, von der Hand des Meeresgottes gesandten Woge ist, so wurde nun auch Dunning durch das Tor in das Innere gespült. An diesem unangenehmen Abend war die Neptun-Taverne von derartigem Lärm und Gelächter und Qualm erfüllt, wie es im Prinz am Picadilly oder im Café Royale in der Regent Street als skandalös gegolten hätte. Die Luft wallte blau von den Schwaden brennender Kräuter aus einem Dutzend Ländern, dennoch roch es immer noch süßer als die Pestschwaden, die heute Abend über den Londoner Straßen lagen. Die verwitterten Deckenbohlen waren von der Patina vieler Jahre überzogen.

Einige der alten Seebären, die sich im Neptun aufhielten, warfen einen Blick auf den Neuankömmling und stempelten ihn augenblicklich als einen weiteren feinen Pinkel aus dem West End ab, der die dortigen Gewissheiten für kurze Zeit durch das Eintauchen in die Slums am Hafen ersetzen wollte und auf jenes halbseidene Leben östlich des Charing Cross und südlich des Flusses scharf war. Mit der gebührenden Verachtung und dem eigenartigen Snobismus der unteren Klassen begutachteten sie seinen Zylinder mit der hochgezogenen Krempe, den gestärkten Hemdkragen und die gepunktete Krawatte, die Brokatweste, die enge Hose, seine hochgeknöpften Gamaschenstiefel und den sorgfältig geschlossenen Regenschirm, und sie entschieden, dass er keiner von ihnen sei.

Ihm jedoch war absolut egal, was die meisten dieser Leute von ihm hielten. Sie sahen nur den äußerlichen Menschen, die Merkmale jener Welt, in der er lebte, wie das Brandzeichen eines Herrn auf dem Fell eines wertvollen und nützlichen Tieres, das nur die Haut berührte und das Herz überhaupt nicht erreichte. Ein paar Stammgäste kannten ihn als guten Zuhörer, wenn sie ihr Garn sponnen, einer, der gut war für ein paar Runden Getränke während des Abends. Aber sie kannten seine Träume nicht, geheimnisvolle Tiefen, Küsten, die der nach Gewürzen duftende Wind streichelte. Er blieb stets für sich, auch wenn er sich unter diesen rauen Männern befand, die er unter anderen Umständen gerne als Kameraden bezeichnet hätte.

Er nickte einigen flüchtigen Bekannten zu, während er ein Glas dunkles Bier vom Barkeeper entgegennahm und damit zu einem Tisch schlenderte, an dem lauthals prahlende Seeleute saßen. Ein paar Männer nickten ihm zu oder grinsten ihn mit Zahnlücken bewehrten Mündern an. Ihre Barschaft ging offensichtlich zu Ende, und sie konnten sich nichts mehr zu trinken leisten. Keiner dieser Kerle hätte seinem Bruder gepasst. Allerdings hätte Sir Reginald auch dieses Etablissement mit Argwohn betrachtet, genau wie die Tatsache, dass sein Bruder einfaches Bier trank und Dinge tat, die weder seinem Stand noch seinem Reichtum und seiner Familie entsprachen. Sir Reginald besuchte niemals selbst seine Schiffe; er war zu stark damit beschäftigt, die Klubs an der Pall Mall zu besuchen und dort Bekanntschaft mit den richtigen Männern zu schließen oder die zweifelhaften Aktivitäten seines jüngeren Bruders zu überwachen. Also dachte sich William Dunning, während er sein dunkles Bier leerte, dass es ihn keinen müden Heller interessierte, was Sir Reginald von irgendetwas auf der Welt hielt.

Die Männer erzählten von den Wundern und Rätseln der Meere, und ein paar dieser Geschichten mochten sogar der Wahrheit entsprechen. Vielleicht jene von Marlowe, der sein Garn besonders undurchsichtig und kompliziert spann. Sie sprachen gerade über London, die Stadt von Licht und Schatten, von Aufklärung und Geheimnissen.

»Ein schlitzäugiger Kamerad von mir hörte einen Dämon im Fluss heulen.«

»... hat einen Ertrunkenen im Kopenhagen-Becken aus dem Wasser kriechen sehen.«

»In den Abwasserkanälen treiben sich eigenartige Dinger herum«, erklärte ein alter Seebär.

»Du musst aufpassen, was du dort hineinwirfst!«, bestätigte ein anderer und lachte abrupt und laut, erfreut über die eigene Schlagfertigkeit.

»Man hat weiße Gestalten in der Dunkelheit gesichtet«, beharrte der erste Mann. »Mein Bruder hat eine im Dunkeln ausgemacht, die nicht wie ein Mensch ausgesehen hat.«

»Vielleicht Geister«, meinte ein anderer. »London ist eine alte Stadt. Stellt euch mal vor, wie viele Leute hier gestorben und begraben worden sind. Wenn man in dieser Erde buddelt, sollte man schon aufpassen, was man damit aufstört!«

»Wie die Geister vom East End«, sagte Dunning, der nicht nur an jene wilden Geschichten aus den weniger seriösen Tageszeitungen dachte, sondern auch an sein heftig klopfendes Herz während seines Weges durch den Nebel. »Man behauptet, Leute hätten berichtet, solche blassen Geistergestalten durch den Nebel schweben gesehen zu haben, und dann seien sie im Boden versunken.«

»Die Verschwundenen«, flüsterte ein Mann erschrocken. »Männer und Frauen, die in der Nacht entführt werden ... nicht von der Hand anderer Menschen ... und die man niemals wieder sieht.«

»Ja, ich bin sicher, dass dies alles miteinander zu tun hat!«, rief Dunning mit einer Stimme, die laut war vor Erregung und vom Bier. »Die East-End-Geister und entführte Leute ... da muss es irgendeinen Zusammenhang geben.«

»Klar gibt es im East End 'nen Geist«, warf der Spaßvogel ein. »Weingeist! Gin!«

Dunning fiel in das allgemeine Gelächter und Schnauben ein, aber es war ihm nicht wohl dabei. In den Zeitungen, auch den respektablen, wie sie sein Bruder im Klub las, während er Havannas qualmte und alten französischen Cognac schlürfte, standen Berichte über die sogenannten Verschwundenen. Obgleich die geheimnisvollen Ereignisse sich zumeist in den ärmeren Teilen Londons abgespielt hatten, hörte man auch vom East End, aus Whitechapel und Spitalfields beispielsweise, von Gespenstern oder Dämonen, und Gerüchten zufolge waren diese auch in wohlhabenderen Vororten wie Kensington und Holborn aufgetaucht. Dunning vermutete sogar, es habe viele weitere solcher Fälle gegeben, die man jedoch verschwieg, um keine offene Panik heraufzubeschwören.

Er beharrte nicht auf diesem Gesprächsthema, da die anderen offensichtlich nicht darüber reden wollten und lieber die Geheimnisse des Meeres erörterten als diejenigen hier an Land. In ihren Blicken lag jedoch eine gewisse Verzweiflung, die er früher noch nie bemerkt hatte; sie lachten zu laut und zu grell und harrten aus, auch wenn ihr Geld bereits am Ende war. Dann nahmen sie gern die Großzügigkeit anderer an, ja, sie bettelten fast darum, nicht wegen ein paar Drinks mehr, sondern weil sie damit hinauszögerten, in die Umarmung der Nacht und des Nebels zurückkehren zu müssen, der die Stadt wie ein Leichentuch verhüllte. Dunning erschauerte bei dem Gedanken, welcher Wahnsinn hinter dem grauen Wallen verborgen liegen mochte, doch das verheimlichte er vor diesen rauen Männern, damit sie ja nicht auf den Gedanken kämen, dass in seiner Brust das Herz einer feigen Landratte schlagen könnte.

Der Abend zog sich hin, Dunning trank weiter, sang Shantys und lauschte dem Seemannsgarn, bis ihm sein wohlgeordnetes, in so festen Bahnen verlaufendes Stadtleben wie eine schwache Erinnerung an einen Traum vorkam. So ging es weiter bis zum Anbruch des Morgens, als er sich nicht mehr vom Leben der bevölkerten Straßen, der metallbeschlagenen Transportkisten, der frustrierten Menschen und der ziellos dahinrasenden Droschken zu distanzieren vermochte. Dann begann er, bitter vor Bedauern und Frust, in dieses verhasste Leben zurückzufinden. Er sehnte sich nach endlosen Seereisen auf goldenen Karavellen unter der bronzenen Sonne der Tropen, und doch vermochte er nicht, der Stahlfalle seines reglementierten Lebens zu entfliehen.

Schließlich seufzte er voller Weltschmerz, stand unsicher von dem langen Holztisch auf, schob seinen Hut schräg und frech zurück und wünschte seinen angetrunkenen Kumpanen einen guten Morgen. Er beglich seine Rechnung an der Bar, zählte das Wechselgeld gar nicht erst nach und schritt zur Tür. Als er nach der Klinke griff, zögerte er noch einmal und wäre am liebsten zurück ins trübe Licht der Kaschemme gegangen, doch dafür war es zu spät. Er öffnete die Tür.

Der Nebel war genauso dicht wie zu der Zeit, als er davor geflohen war, ja, vielleicht im grauenden Morgen sogar noch etwas dichter. Der Lichtschein und das lärmende Leben im Neptun