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Ein Attentat auf den Innenminister!Ein toter Architekt!Ein erhängter Bischof!Vier doppelt belegte Gräber!Die Verbindungen zwischen diesen vier Fällen bringen Holmes und Watson an ihre Grenzen.
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Seitenzahl: 175
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Sherlock Holmes - Neue Fälle
Buch 43
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Copyright © 2023 Blitz Verlag, eine Marke der Silberscore Beteiligungs GmbH, Mühlsteig 10, A-6633 Biberwier
Redaktion: Jörg Kaegelmann
Titelbild: Mario Heyer
Umschlaggestaltung: Mario Heyer
Logo: Mark Freier
Satz: Gero Reimer
Alle Rechte vorbehalten.
www.Blitz-Verlag.de
ISBN: 978-3-7579-5299-0
3043 vom 08.05.2024
Die Mordkonferenz
Im Auftrag des Toten
Der gehenkte Bischof
Ruhe nicht sanft
Totentanz
Anmerkungen
Über den Autor
Das zurzeit leerstehende Stadthaus in Mayfair reihte sich ein in die zahlreichen Anwesen, die von vermögenden und bekannten Persönlichkeiten – neureich oder aus ererbter Linie – hier unterhalten wurden. Wenn die Besitzer auf dem Land waren, gab es in der Regel nicht einmal Hauspersonal, und wer sich auskannte, konnte unbemerkt ein und aus gehen. In diesem leeren Haus fand an einem Sonntagabend eine geheime Besprechung unter vier Personen statt. Das Thema, um das es ging, war kein üblicher Gesprächsstoff. Es ging um Erpressung und Mord. Die vier besprachen die Aufgabenverteilung, was allerdings schnell erledigt war. Die wilde Entschlossenheit in den Augen der vier hätte einem heimlichen Beobachter keinen Zweifel gelassen, dass sie fest entschlossen waren, ihren Plan um jeden Preis durchzuziehen.
Der Plan selbst war einfach, man wollte gewisse Unterlagen in die Hand bekommen und danach einige Personen endgültig ausschalten.
Zunächst jedoch begannen Ereignisse ganz anderer Art, die alle scheinbar für sich allein standen. Die Mordkonferenz setzte Dinge in Gang, die sich erst später auswirken sollten, aber es gab Zusammenhänge, die rund zehn Jahre zurücklagen. Die vier gingen auseinander.
Zwei Tage später wurde ein Attentat auf den Innenminister, Sir David Hume, unternommen.
* * *
Ich kehrte von einem Patientenbesuch zurück, stellte meine Tasche griffbereit an die Garderobe, um bei einem Notfall nicht erst lange suchen zu müssen, und legte meinen Mantel ab. Von oben hörte ich Stimmen und schaute Mrs. Hudson fragend an. Sie trug ein Tablett mit drei Gedecken für Tee und Gebäck.
„Ach, Doktor Watson, Sie sind zurück, ich hole rasch noch …“
„Wer ist denn oben bei Holmes?“, fragte ich.
„Zwei Herren, die mir ungeheuer bekannt vorkommen, aber ich weiß nicht – o doch, jetzt fällt es mir ein! Ich habe diese Gesichter in der Zeitung gesehen. Zwei Herren aus der Politik“, fügte sie hinzu und verschwand in der Küche, um ein weiteres Gedeck für mich zu holen.
Ich war allerdings nicht überzeugt, in dieser Gesprächsrunde wirklich willkommen zu sein. Regierungsbeamte bevorzugten die Verschwiegenheit, sie wollten sicher allein mit Holmes reden. Trotzdem ging ich die Treppe hinauf und öffnete ohne anzuklopfen die Tür – schließlich war das hier auch mein Zuhause.
Holmes sprang lächelnd aus seinem Sessel auf. „Watson, da sind Sie ja endlich, ich habe den Herren gesagt, dass wir warten sollten, bis Sie eintreffen. Dann müssen sie das Problem nicht zweimal darlegen. Ah, und da ist ja auch Mistress Hudson. Ich danke Ihnen sehr, den Rest machen wir selbst.“ Er ließ sie gar nicht zu Worte kommen, nahm ihr das Tablett aus den Händen und drängte sie kaum merklich in Richtung Tür.
Ich hingegen war etwas verwirrt. Warum legte Holmes Wert darauf, dass ich bei dem Bericht von Anfang an dabei war? Er fasste Aufträge und Probleme doch sonst auch immer für mich zusammen. Nun stellte er das Tablett auf den Tisch und machte mir ein Zeichen, aufzudecken, dann trat er an den rechts von ihm stehenden Mann heran.
„Ich nehme an, Watson, Sie haben die beiden Herren bereits erkannt?“
„Selbstverständlich. Mister James Curtis, persönlicher Sekretär und Pressesprecher des Innenministers, und Sir Patrick Wendell-Hume, außerordentlicher Berater für Fragen der Inneren Sicherheit, unterstehend dem Innenminister. Ich nehme deshalb an, es handelt sich um ein Problem der Inneren Sicherheit, aus dem Sie meinen Freund Holmes aufsuchen.“
„Klug gefolgert“, bemerkte Holmes, ohne den beiden Männern eine Chance zur Erwiderung zu geben. „Es handelt sich jedoch noch um einiges mehr, Watson. Normalerweise würde der Innenminister einen nachgeordneten Mitarbeiter oder Berater schicken. Dass gleich zwei hochrangige Vertraute hier sind, lässt darauf schließen, dass es sich um ein persönliches Anliegen oder ein das Königshaus betreffendes Problem handelt. Der Kreis der Eingeweihten ist überaus klein, und kein Mitarbeiter des Premierministers ist anwesend, also liegt die Vermutung nahe, dass es ein persönliches Problem mit Auswirkungen auf die Regierung sein muss. Auch da bleiben zwei Möglichkeiten: Entweder wird der Innenminister erpresst, oder man hat ihn ernsthaft bedroht.“
Die Gesichter der beiden Männer waren durchaus sehenswert, sie kannten die rasche und meist folgerichtige Art von Holmes’ Aussagen nicht, der aus Kleinigkeiten oder nicht vorhandenen Details seine Schlussfolgerungen zog.
Ich hatte lächelnd den Tee eingeschenkt, James Curtis schnappte nach Luft, Wendell-Hume hob die Tasse an die Lippen und verbrannte sich die Zunge.
„Wie – wie kommen Sie zu derartigen Aussagen, Mister Holmes? Niemand sonst weiß etwas von dem Vorfall …“
„Ich bitte Sie, Gentlemen, gerade habe ich Ihnen die Anhaltspunkte dargelegt. Aber nun schlage ich vor, dass Sie mir von Anfang an alles erzählen. Ich nehme an, dass Sie anschließend die Dienste meines Freundes Watson in Anspruch nehmen werden, da Sie ja ausdrücklich nach uns beiden gefragt hatten, als Sie eintrafen.“
„Aber Holmes, das war vielleicht nur reine Höflichkeit“, wandte ich ein.
„Watson, selbst ein eingeschränktes Denkvermögen wie das Ihre sollte erkennen, dass zwei derart wichtige Mitarbeiter aus dem Innenministerium kaum Zeit für überflüssige Höflichkeit haben. Also wird das Wissen und Können eines Arztes gebraucht – oder täusche ich mich?“
In seiner üblichen arroganten Art schaute Holmes auf die beiden Männer, denen die Verwunderung deutlich ins Gesicht geschrieben stand.
Wendell-Hume räusperte sich und trank einen winzigen Schluck Tee. „Ich finde Ihre leider zutreffenden Schlussfolgerungen überaus bemerkenswert, Sir, und ich muss sicher nicht extra betonen, dass diese Angelegenheit der absoluten Geheimhaltung unterliegt.“
Holmes lehnte sich in seinem Sessel zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wir sind ganz Ohr, wie man in Volkes Mund so sagt.“
Curtis seufzte und begann zu berichten. „Heute Morgen gegen zehn Uhr betrat ein gewisser Randolph Harris das Büro unseres Innenministers. Er war angemeldet, der Minister sagte, er würde den Mann aus seinem Wahlkreis kennen. Mit ihm im Raum befand sich Gordon Prentiss, einer der Sekretäre. Als Harris direkt vor dem Schreibtisch stand, blickte der Minister auf und rief laut: Sie sind nicht Harris. Wie kommen Sie dazu … Der Besucher hatte blitzschnell eine Waffe gezogen und diese auf den Innenminister gerichtet. Mister Prentiss erkannte die Gefahr, stürzte sich auf unseren Chef und warf ihn zu Boden. Dabei bekam er selbst die Kugel ab, die für den Innenminister bestimmt war. Der Attentäter ließ einen Fluch hören und flüchtete in dem einsetzenden Durcheinander, denn Angestellte und Besucher waren durch den Schuss alarmiert worden. Der Mann verschwand spurlos. Mister Prentiss hatte …“ Curtis brach ab, die Sache ging ihm offenkundig sehr nahe.
Wendell-Hume übernahm. „Die Kugel hatte Gordon Prentiss in den Kopf getroffen, er muss sofort tot gewesen sein. Der Innenminister hat sich bei dem Sturz verletzt, neben einer Wunde an der Stirn, deren Blutung schwer zu stillen war, kommt eine Verletzung an der linken Schulter hinzu. Der Arm lässt sich kaum bewegen, die Schmerzen sind überaus stark und beeinträchtigen sogar das Atmen. Aber Sie werden verstehen, dass der Vorfall auf keinen Fall an die Öffentlichkeit gelangen darf. Deswegen …“
Holmes hob die Hand. „Gegen zehn? Nun, es ist fast zwei Uhr nachmittags. Warum sind Sie nicht gleich hergekommen?“
„Und wie wollen Sie die Sache geheim halten, wenn Mitarbeiter und Besucher anwesend waren und vermutlich sofort in das Büro gestürmt sind? Eine Wunde an der Stirn lässt sich nicht verbergen, genauso wenig wie ein Toter im Büro“, setzte ich sarkastisch hinzu.
Es war deutlich, dass ihnen die Fragen nicht behagten. Curtis schluckte und fuhr fort.
„Niemand hatte etwas Genaues gesehen, Sir, es gelang uns, den Eindruck zu erwecken, als hätte es sich um ein Eifersuchtsdrama zwischen Mister Prentiss und dem unbekannten Attentäter gehandelt. Der Innenminister war demnach gar nicht involviert. Um diesen Anschein aufrechtzuerhalten, empfing er einen Abgesandten einer indischen Lokalregierung und später Lord Butterfield aus dem Oberhaus, mit dem eine Gesetzesänderung besprochen wurde. Wir beide – Mister Wendell-Hume und ich – waren die ganze Zeit bei ihm, wir sind auch die Einzigen, die über den tatsächlichen Hergang informiert sind. Deswegen die Verzögerung.“
„Sie sind absolut sicher, dass alle die Eifersuchtsgeschichte glauben?“, fragte ich zweifelnd.
„Das spielt jetzt keine Rolle, Watson. Mich würde vielmehr interessieren, welches Motiv diesem Anschlag zu Grunde liegt. Der Attentäter muss sich recht gut im näheren Umfeld des Innenministers auskennen, um einen ihm bekannten Namen zu benutzen. Anschließend gab es zwei mehr oder weniger öffentliche Auftritte. Da der Mörder sein Ziel nicht erreicht hat, ist davon auszugehen, dass er es erneut versuchen wird. Welche Vorsichtsmaßnahmen haben Sie ergriffen?“
Die beiden schauten sich entsetzt an, die Antwort war klar. Offenbar hatten sie an diese Möglichkeit gar nicht gedacht.
„Werden Sie den Fall übernehmen, Mister Holmes?“, fragte Wendell-Hume. „Außer Ihnen dürfte niemand in der Lage sein, den Innenminister zu schützen und die mehr als peinliche Angelegenheit aufzuklären. Ihnen ist sicher klar, dass es zu einer Regierungskrise kommen könnte, sollte das Attentat bekannt werden. Der Minister steht bereits stark unter Druck.“
Er sagte wirklich peinlich. Nun, mir würden dazu einige andere Ausdrücke einfallen. Holmes hingegen rieb sich die Hände.
„Ich nehme an, Ihre Kutsche wartet unten? Es ist doch Platz für uns alle?“
* * *
Ein höchst unbefriedigender Besuch, gestand ich mir ein, und auch Holmes wirkte nicht gerade rundum aufgeklärt, ganz im Gegenteil.
Während ich im Büro des Innenministers seine Verletzung behandelte und den Totenschein für den armen Gordon Prentiss ausstellte, begann Holmes natürlich zahlreiche Fragen zu stellen. Bei der Schulterverletzung handelte es sich übrigens um ein ausgekugeltes Gelenk, hervorgerufen durch den Sturz und einen unglücklichen Aufprall. Nachdem ich das Gelenk eingerenkt hatte, waren die Atembeschwerden sofort verschwunden, und der Arm war beweglich. Einige Tage würde er noch Schmerzen haben und musste die linke Seite schonen, aber mit der Salbe, die ich dem Innenminister gab, und einem nicht sichtbaren Verband unter dem Hemd sollte niemand etwas davon bemerken.
„Haben Sie einen Verdacht, warum jemand Sie töten will?“ Eine Frage, die auch jeder Polizist stellen würde. Der Innenminister schüttelte energisch den Kopf.
„Politische Feinde oder gar Parteifreunde nehmen sicherlich oftmals zu unfairen Methoden Zuflucht, aber Mord gehört beileibe nicht dazu, es wäre – unbefriedigend“, erwiderte er.
„Dann könnte das Motiv im persönlichen Bereich zu suchen sein, Sir. Haben Sie eine Affäre – oder Ihre Frau, so dass der Nebenbuhler den Ehemann loswerden will?“
Das Gesicht des Mannes lief rot an. „Sir, Sie vergreifen sich entschieden im Ton. Weder ich noch meine Frau haben ein Verhältnis.“
Holmes zeigte sich von diesem Ausbruch wenig beeindruckt.
„Der Attentäter hat sich unter dem Namen Randolph Harris einen Termin erschlichen. Sie kennen Mister Harris persönlich?“
„Ja, er stammt aus meinem Wahlkreis und ist dort mit für die Einrichtung und den Unterhalt von Waisen-, Kranken- und Armenhäusern zuständig. Wir hatten gelegentlich Differenzen, kamen aber im Großen und Ganzen gut miteinander aus. Ein Besuch von Mister Harris war also nicht ungewöhnlich, auch wenn das bisher noch nicht vorgekommen ist, da wir meistens das Gespräch in meinem Büro zuhause geführt haben.“
„Demnach konnten Sie den Fremden augenblicklich als Betrüger erkennen“, stellte Holmes fest. „Könnte Mister Harris in seinem Namen jemanden beauftragt haben, den Mord durchzuführen? Stehen vielleicht Gesetzesvorhaben an, deren Auswirkungen ihn in seinen Rechten oder Möglichkeiten einschränken würden?“
„Selbst wenn es so wäre, würde Harris nie versuchen, jemanden umzubringen. Und nun haben Sie mir genug Fragen gestellt. Sie sind der Detektiv, finden Sie heraus, wer der Mörder ist und warum er mich töten will. Im Übrigen wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie Zwischenergebnisse an Commissioner Warner weitergeben, den ich bereits informiert habe. Er wird die Verschwiegenheit beachten. Sollten Sie tatsächlich noch Fragen haben, werden Curtis oder Wendell-Hume die Antworten geben. Guten Tag, Gentlemen. Ach, Doktor, Sie schicken mir die Rechnung bitte adressiert an Mister Curtis.“
Er wandte sich den sicher überaus wichtigen Papieren zu, die auf seinem Schreibtisch lagen, und beachtete uns nicht weiter.
Wendell-Hume zeigte ein verlegenes Lächeln, als er uns hinausbegleitete. „Nehmen Sie sein Verhalten bitte nicht persönlich, Gentlemen“, tat er. „Der Innenminister steht unter starkem Druck und hat viel zu tun.“
„Nun, damit steht er nicht allein“, bemerkte Holmes sarkastisch. „Ach, sagen Sie – welche Hobbys pflegt der Minister?“
Wendell-Hume schaute Holmes ratlos an. „Hobbys?“
„Ja, was tut er in seiner Freizeit, die wird es doch sicher ab und zu geben. Eine Freizeitbeschäftigung meine ich.“
„Ach, ich glaube, ich verstehe, Sir. Der Innenminister hat ein Faible für alte Gebäude, vornehmlich Kirchen. Ich glaube, er kennt die Entstehungsgeschichte jeder einzelnen in London, egal welcher Konfession.“
„Danke, Sir.“ Holmes war für den Augenblick fertig.
„Ein seltsames Hobby für einen Politiker“, stellte ich fest.
„Ich dachte mir bereits etwas Ähnliches. Ist Ihnen nicht aufgefallen, dass die Bilder an den Wänden Original-Baupläne der Temple Church waren? Nein, vermutlich nicht, Sie haben kein Auge für solche kleinen Details.“
Ich ärgerte mich längst nicht mehr über derartige Bemerkungen, das war nichts Persönliches und sollte auch keine Beleidigung sein, Holmes stellte lediglich Tatsachen fest.
„Inwiefern helfen uns die Baupläne der alten Kirche?“, fragte ich irritiert.
„Das weiß ich noch nicht, mein guter Watson, aber ich bin überzeugt, dass sie in irgendeiner Form damit zu tun haben. Genug davon. Wir sollten ein Gespräch mit dem echten Randolph Harris suchen. Vielleicht bietet er aufschlussreiche Informationen.“
Davon war ich längst nicht überzeugt, aber wenn Holmes das für notwendig hielt, wurde es auch getan.
* * *
Der Wahlkreis des Innenministers, den wir am nächsten Tag aufsuchten, lag in einem der Außenbezirke von London, eine Gegend, die vom sogenannten Mittelstand geprägt war. Hier wohnten hauptsächlich kleine Ladenbesitzer, wohlhabende Selbstständige und Freiberufler aller Art. Hauptsächlich, sage ich, denn neben gepflegten Häusern und Gärten gab es auch ein Viertel, in dem einfache Leute, Arbeiter, kleine Angestellte und auch Arbeitslose zu finden waren. Daraus konnten sich durchaus Probleme ergeben, denn die Gegensätze prallten hier aufeinander. Aber gerade für diese Klientel war Mr. Harris mitverantwortlich. Ein Gefängnis oder Krankenhaus gab es in dieser Gegend nicht, ein Waisenhaus wurde privat betrieben, und wie in praktisch jedem Stadtviertel gab es ein Armenhaus, in dem die obdachlosen Armen, die nicht für sich selbst sorgen konnten, versorgt wurden. Sie erhielten hier das Notwendigste zum Überleben – wenn man es so nennen wollte. Im Gegenzug waren sie verpflichtet, öffentliche Arbeiten wie zum Beispiel Straßen fegen durchzuführen.
Randolph Harris war etwa Anfang fünfzig, hatte einen beeindruckenden Backenbart in dem gleichen eisengrauen Farbton, wie es sein spärlicheres Haupthaar zeigte, und er trug einen beachtlichen Bauch vor sich her. Ganz offensichtlich hatte er die Wohltaten des Armenhauses noch nie zu kosten bekommen. Da das Attentat auf den Innenminister geheim bleiben sollte, würde Holmes eher allgemeine Fragen stellen müssen.
„Mister Holmes, Doktor Watson – wie komme ich zu der Ehre Ihrer Bekanntschaft, Gentlemen?“ Harris erhob sich etwas mühsam von seinem Stuhl hinter einem gewaltigen Schreibtisch, um uns zu begrüßen.
„Nun, Sir, wir ermitteln in einer äußerst delikaten Angelegenheit. Dabei sind einige Fragen aufgetaucht, die Sie als Unbeteiligter vielleicht besser beantworten können als ein Verdächtiger.“ Wieder einmal bewunderte ich die verschlungene Wortwahl, mit der Holmes den Fall umschrieb.
Harris fühlte sich regelrecht geschmeichelt. „Fragen Sie nur, Mister Holmes, fragen Sie.“
„Sie sind für die Ausstattung und den Unterhalt der gemeinnützigen Einrichtungen zuständig, Sir. Wer bewilligt diese Gelder?“
„Nun, der Stadtrat natürlich, aber den Rahmen legt die Politik fest, also der Innenminister. Ich habe dann die ehrenvolle Aufgabe, das Geld in sinnvoller Weise zuzuteilen.“
„Wie verläuft die Zusammenarbeit – aus Ihrer Sicht?“
„Nun, ich bin der Ansicht, dass der Innenminister ein wenig zu großzügig mit Steuergeldern umgeht, deswegen hatten wir auch schon mal Streit. Doch im Allgemeinen gestalten sich unsere Unterredungen höflich und zivilisiert. Ich weiß von Kollegen, die ähnlich denken.“
„Würde einer von ihnen ein Gewaltverbrechen in Betracht ziehen, um – sagen wir, den zuständigen Stadtrat oder gar den Innenminister in seinen Bestrebungen aufzuhalten?“
Harris schaute Holmes verblüfft an, dann begann er zu lachen, dass sein dicker Bauch nur so wackelte. „Ein guter Scherz, Mister Holmes, wahrlich ein guter Scherz. Aber eine solche Frage stellen Sie doch nicht ernsthaft, Sir? Politische Feindschaft gehört zum täglichen Leben, es ist üblich, dem Gegner zu schaden, ihn lächerlich zu machen, ihn bloßzustellen. Aber ein Gewaltverbrechen – ich nehme an, Sie meinen Mord, nein, Sir. Mord würde niemand in Erwägung ziehen, es wäre zutiefst – unbefriedigend.“
„Das war für den Moment auch schon alles, Mister Harris, ich danke Ihnen für Ihre überaus freimütigen Informationen.“
Harris quälte sich noch einmal vom Stuhl hoch und verabschiedete uns mit breitem Lächeln, er war mit sich selbst höchst zufrieden.
„Er hat den gleichen Ausdruck benutzt wie der Innenminister – unbefriedigend“, stellte ich fest.
„Sehr gut, Watson, das bedeutet, entweder haben sich die beiden abgesprochen, oder sie denken tatsächlich auf die gleiche Weise. In jedem Fall aber hat Mister Harris nichts mit dem Mordanschlag zu tun. Allerdings habe ich auch nichts anderes erwartet.“
„Sie meinen also, es müsste etwas Privates sein? Womit wir wieder bei der Freizeitbeschäftigung wären“, stellte ich bitter fest.
„Sie urteilen vorschnell, Watson, es besteht auch noch die Möglichkeit einer persönlichen Vendetta, eines Parteifreundes oder eben doch ein Verhältnis der Ehefrau mit nicht absehbaren Konsequenzen.“
„Daran glauben Sie selbst nicht einen Augenblick“, sagte ich ihm auf den Kopf zu.
„Sagen wir, ich präferiere eine Möglichkeit, ohne die anderen außer Acht zu lassen.“ Holmes lächelte. „Kommen Sie, Watson, ist es nicht so, dass eine derartige Parteifreundschaft längst zum Gesprächsthema der halben Stadt geworden wäre? Und die Gattin des Innenministers ist in der Tat eine treue Seele, während er gar keine Zeit für eine Geliebte hätte. Sehen Sie nun, worauf sich meine Deduktion begründet?“
„Wenn Sie es so erklären, haben Sie natürlich recht, aber …“