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Nai hat sich ihr ganzes Leben darauf vorbereitet, den Platz als Anführerin ihres Rudels einzunehmen. An der Alpha Academy, einer Eliteschule, soll sie nun die dafür nötige Elementar-Magie erlernen. Die vier Wächter, die sie dorthin eskortieren, entpuppen sich jedoch als jene Männer, die Nai vor langer Zeit zu ihren Erzfeinden erklärt hat. Als auf ihrer Haut plötzlich magische Runen erscheinen und ausgestoßene Gestaltwandler die Schule angreifen, scheint Nais Lage verzwickter denn je.
Doch dann trifft sie auf einem Maskenball ihren Mate - ihre große Liebe, vom Schicksal vorherbestimmt. Und er sieht nicht nur unverschämt gut aus - er ist auch unter allen Umständen verboten ...
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Seitenzahl: 415
Cover
Weitere Titel der Autorin
Titel
Impressum
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Danksagung
Celestial City – Akademie der Engel: Jahr 1
Celestial City – Akademie der Engel: Jahr 2
Celestial City – Akademie der Engel: Jahr 3
Celestial City – Akademie der Engel: Jahr 3,5
Celestial City – Akademie der Engel: Jahr 4
The Last Dragon King – Die Chroniken von Avalier 1
The Broken Elf King – Die Chroniken von Avalier 2
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Michael Krug
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Midnight Kisses (Shifter Island Book 1)«
Für die Originalausgabe:
Copyright ® 2020 by Leia Stone and Raye Wagner
Published by arrangement with Bookcase Literary Agency
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright ® 2024 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Textredaktion: Stephanie Röder, Remscheid
Umschlaggestaltung: Cigdem Bilge
Umschlagmotiv: © Neo Poetra/Shutterstock; Instaphics/Shutterstock; Croisy/Shutterstock; RV ART AND DESIGN/Shutterstock; Didik12/ Shutterstock; Daniel Sperindeo/Pexels
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 978-3-7517-6169-7
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Für alle Mütter und Väter, die ihre Kinder dazu erziehen, an sich zu glauben.
Die für Montana ungewöhnlich heiße, trockene, spätsommerliche Brise wehte über mich hinweg und beugte das hohe Gras. Der Moschusgeruch meines Vaters stieg mir in die Nase, vermischt mit dem Duft von Lavendel und Flieder. Gleich darauf folgte das Geräusch seiner schweren Schritte. Ich hatte mich nach einem Lauf durch den Wald in menschliche Gestalt zurückverwandelt. Meine Haut kribbelte, weil meine innere Wölfin noch dicht unter der Oberfläche weilte.
Lächelnd setzte ich mich auf und drehte mich ihm zu. »Hallo, Vater.«
Kaum hatte ich seinen düsteren Gesichtsausdruck gesehen, rutschte mir das Herz in den Magen. »Was ist los?« Ohne eine Antwort abzuwarten, sprang ich auf und entsandte meine Macht als Alpha-Erbin. Ich versuchte zu erspüren, ob jemand aus dem Rudel schwer verletzt oder umgekommen war.
Nichts fühlte sich ungewöhnlich an. Warum also wirkte er so ... betroffen? »Vater?«
Er setzte ein gezwungenes Lächeln auf, das jedoch seine Augen nicht erreichte. »Der Alpha-König verlangt nach dir. Es ist so weit.«
Mein Blick fiel auf das steife weiße Papier in seiner Hand. Geprägte Buchstaben tänzelten in goldenen Wirbeln über die Seite. Das Symbol war unverkennbar – ein großes A über einer Insel, die schneebedeckte Spitze umgeben von sich kräuselnden Wellen. Wir alle kannten das Symbol am Kopf der Seite. Es handelte sich um eine offizielle Erklärung des Alpha-Königs. Ich bemühte mich, ruhig zu atmen, während mein Herz aus der Brust auszubrechen versuchte.
»Schon?«
Mühsam schluckte ich den Kloß im Hals hinunter und blinzelte, fest entschlossen, nicht zu weinen. Tränen gehörten sich nicht für die Tochter eines Alphas. Niemand wollte Anführer, deren erster Instinkt ein Gefühlsausbruch war. Ich musste stark sein, für mich und mein Rudel.
Aber bevor ich mich bremsen konnte, sprudelten Worte aus mir heraus. »Ich dachte, ich hätte noch ein Jahr zu Hause.«
»Ich auch«, erwiderte mein Vater, und seine Nasenflügel blähten sich. Auch in seinen Augen loderte eine Gefühlsregung. Angst? Wut? Kaum hatte ich es bemerkt, zügelte er es. Natürlich musste ein Gestaltwandler seine Gefühle jederzeit im Griff haben, um sich nicht in seinen tierischen Instinkten zu verlieren. »Aber du bist volljährig.«
Er streckte mir den Brief entgegen, als könnte er es nicht ertragen, ihn noch länger zu berühren. In meiner Kehle bildete sich ein Schluchzen.
Diese Berge, der blaue Himmel, die unser Land bedeckenden Bäume ... Beim Gedanken, meine Heimat verlassen zu müssen, durchzuckte mich heftiger Schmerz. Ich war an diesem Ort geboren worden und mit der Erde verbunden wie jeder in unserem Rudel. Auf die Alpha-Insel zu reisen, meine Leute zu verlassen ... Der Gedanke drehte mir den Magen um. Vier Jahre lang würde ich niemanden von daheim sehen oder sprechen dürfen, lediglich in Form von Briefen – und selbst das nur, wenn ich jemanden fände, der sie ins Reich der Sterblichen brächte, wo unser Rudel in der Verbannung lebte. So selten, wie wir Besuch bekamen, sah es dafür nicht gut aus.
Zornig über die Ungerechtigkeit des Systems riss ich ihm das Papier aus der Hand. »Die können unseren Clan noch nicht mal leiden. Das wissen wir alle! Ich finde es mies, dass wir trotzdem nach ihren Regeln spielen müssen.«
Mein Vater runzelte über meinen Gefühlsausbruch die Stirn. »So ist es nun mal für Alphas, und unser Rudel braucht dich als Anführerin. Wenn du deine Magie nicht schulst, wirst du nicht bereit sein, die Nachfolge anzutreten, wenn ich mal sterbe.«
Ich verzog das Gesicht zu einer Grimasse, als ich an die andere Möglichkeit dachte. Wer sich weigerte, der Ladung auf die Alpha-Insel zu folgen, wurde als Verräter an seinem Rudel und seinem Blut eines Alpha-Erben zum Tod verurteilt. Dazu würde es mit Sicherheit nicht kommen.
Mein Vater räusperte sich. »Das Rudel wird starke Führung brauchen, wenn ich nicht mehr bin. Und du brauchst diese Ausbildung. Zeig den anderen Rudeln, dass wir genug Macht besitzen, um ihren Respekt zu verdienen.«
Nur zu gern hätte ich protestiert oder geschmollt. Aber als neunzehn Winter alte Tochter des Alphas musste ich mich zusammenreißen.
Also atmete ich tief durch, verdrängte meine Gefühle, um mich später damit auseinanderzusetzen, und nickte. »Ich werde den Crescent-Clan mit Stolz erfüllen.«
Er breitete die Arme aus, und ich brauchte einen peinlichen Moment, bis ich die Geste verstand. Mein Vater hatte es sonst nicht so mit unnötigen Zuneigungsbekundungen. Er hatte mir beigebracht, immer stark zu sein und niemals Schwäche zu zeigen, es sei denn, es erfüllte einen Zweck. Ich selbst hatte manchmal Mühe, mich an seine strenge Überzeugung zu halten, doch ich wusste, für ihn war es etwas Außergewöhnliches, mich in eine steife Umarmung zu ziehen. Als sich seine Arme um mich legten, spürte ich, wie der Kloß in meinem Hals anschwoll. Ich schaute auf und sah ihm in die Augen, genauso hellblau wie meine – das Einzige, was ich von ihm geerbt hatte. Nur brannten mir Tränen in den Augen, während seine hart wie Kristalle funkelten.
»Hättest du lieber einen Sohn?«, flüsterte ich.
Er strich mir das silbrig-weiße Haar aus dem Gesicht und schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall. Du bist mein größtes Geschenk von deiner Mutter gewesen.«
Diesmal liefen mir die Tränen über die Wangen, bevor ich sie wegblinzeln konnte. Ich dachte an die Geschichten, die mein Vater mir über die Frau erzählt hatte, die bei meiner Geburt gestorben war, und schenkte ihm ein verhaltenes Lächeln. Er sprach selten über meine Mutter. Vermutlich wühlte es ihn zu sehr auf. Ich war als einziger Teil von ihr geblieben. Die Befehlshaber meines Vaters hatten ihn gedrängt, sich nach ihrem Tod eine Fortpflanzungsgefährtin zu nehmen und zu versuchen, einen männlichen Erben zu zeugen, aber er hatte sich geweigert. Deshalb gab es nur mich. Meinen Vater und mich.
»Zeig ihnen, aus welchem Holz du geschnitzt bist, Nai.« Er tippte mir gegen das Kinn, und schlagartig fühlte ich mich zu den Übungskämpfen meiner Kindheit zurückversetzt. Dasselbe hatte er zu mir vor jedem Einzelnen davon gesagt.
Ich hob die Hand und fuhr auf seiner Stirn die weiße Mondsichel nach, das Alpha-Zeichen unseres Clans. Meine Finger vibrierten dabei vor Energie. Seine Verbindung zur Magie unseres Rudels verursachte bei mir immer ein leichtes Kribbeln, wenn ich damit in Berührung kam. Sein Zeichen sah genau wie das auf meiner Stirn aus.
Ich musste so stark sein, wie er mich erzogen hatte. Ungeachtet der Gerüchte über die anderen Rudel. Ungeachtet der Geschichten darüber, wie es auf der Alpha-Insel zuging. Ungeachtet der Tatsache, dass ich ihn vier Jahre lang nicht sehen würde.
»Halt die Stellung, während ich weg bin«, sagte ich und löste mich von ihm. »Ehe du dich versiehst, bin ich wieder da – als Alpha-Erbin, die bereit ist, ihrem Clan zu dienen.« In der Hoffnung, die Stimmung aufzulockern, salutierte ich mit einem albernen Grinsen vor ihm.
Er schürzte die Lippen und räusperte sich. »Pass einfach auf dich auf, Nai. Den anderen Erben wird eine weitere Wölfin vom Crescent-Clan auf der Insel nicht schmecken.«
Ich winkte ab und gab mich selbstbewusster, als ich mich fühlte. »Ich komme schon klar.«
Allerdings wussten wir beide, dass die Insel selbst so gefährlich war wie die Prüfungen.
Wir gingen zusammen den Trampelpfad entlang in Richtung der Haupthütte. Dabei zügelte mein Vater zum ersten Mal die langen Schritte und lief synchron mit mir, als wären wir Gleichgestellte. Die Mitglieder des Rudels hielten inne und neigten respektvoll die Köpfe, als wir sie passierten. Ich ging mit hoch erhobenem Kinn, das Papier in der Faust umklammert. Nach außen hin tat ich so, als wäre ich nicht nervös, innerlich nagte Beklommenheit an mir.
Wir bogen um die Ecke der Blockhütte, die als Hauptquartier des Rudels diente. Dann geriet ich außer Tritt, als ich vier Wächter der Alpha-Akademie erblickte. Sie trugen identische schwarze Shirts mit dem Inselsymbol links auf der Brust eingestickt wie das Logo einer dämlichen Studentenverbindung. Und sie standen neben einem glänzenden schwarzen SUV.
Schlitternd kam ich zum Stehen und musste mich zusammenreißen, um ihre massigen Körper nicht mit offenem Mund anzustarren. So groß wurden Männer höchstens, wenn sie Dominanten waren. Alle vier ragten weit über 1,85 Meter hoch auf und trugen schwarze Baseballmützen. Das wirkte dubios – vor allem, wenn sie damit Zeichen auf ihrer Stirn verdecken wollten. Womöglich stammten sie sogar vom Midnight-Rudel. Bei dem Gedanken züngelten feurige Ranken heißer Wut durch meine Brust. Das herrschende Rudel könnte mich vielleicht beißen, aber ...
Langsam ging ich weiter, während ich meine ausgefranste abgeschnittene Jeans und mein Tanktop mit ihren schicken Klamotten verglich. Auch wenn ich eine Landpomeranze aus Montana war, musste ich bei der Ankunft auf der Insel nicht wie eine aussehen.
Die Wächter standen alle regungslos wie Statuen da. Keiner sprach ein Wort, als mein Vater und ich uns ihnen näherten.
»Muss ich sofort los? Also jetzt gleich?«, murmelte ich und hoffte, dass ich mich irrte. Ich senkte den Blick auf meine blassen Füße und die bis zu den Knöcheln hinauf staubige Haut. Leider war ich nicht Aschenputtel. Ich würde nicht zu einem Ball fahren, und diese Fleischklopse waren definitiv nicht meine gute Fee. Ein anderes Outfit würde auf keinen Fall schaden.
Mein Vater nickte knapp und sah die Wächter voll Abscheu an. »Lona packt nur ihre Sachen und kommt dann gleich.«
Verdammt. Verdammt. Verdammt.
Sie hätten uns wenigstens einen Tag einräumen sollen. Wie sollte ich mich von Callie und Mack verabschieden? Beide befanden sich auf der Jagd und würden die Neuigkeit erst erfahren, wenn ich längst weg wäre.
Ich schnaubte. »Na schön.«
»Vergiss nicht, dein Cousin ist dort«, flüsterte Dad. »Er wird versuchen, deine Schwächen aufzudecken.«
Stöhnend schüttelte ich den Kopf über die unnötige Erinnerung. Nolan hatte schon immer ausschließlich etwas an sich selbst gelegen. Außer, wenn er einer Frau hinterherlief, als wäre Paarungszeit. Seine Mutter und mein Vater redeten nach einem Zerwürfnis nicht mehr miteinander. Aber sie trug Alpha-Blut in sich. Theoretisch könnte sie daher das Rudel übernehmen. Und dasselbe galt für ihren Sohn.
»Wird schon schiefgehen«, sagte ich, weil ich meinen Vater nicht beunruhigen wollte.
Lona kam mit meinem abgewetzten Seesack zur Tür heraus. Die ausgebleichte grüne Tasche war beinah so groß wie sie. Tränen liefen ihr über das runzlige Gesicht, als sie die Veranda überquerte und die Treppe herabstieg.
»Lon.« Ich rannte zu meinem Kindermädchen, als sich Beschützerinstinkte für die zierliche Frau in mir regten. »Wir haben alle gewusst, dass es dazu kommen würde. Ich schaffe das schon.«
Anscheinend musste ich das an diesem Tag ständig betonen.
Sie nickte und schniefte, als sie mir meine Sachen reichte. »Früher hat man uns vorgewarnt – mindestens ein paar Wochen. Ich hätte ein schönes Abendessen machen können ...«
Lona zeigte ihre Liebe durch Essen, und niemand, auch nicht mein Vater, beschwerte sich darüber. Sie kochte fantastisch.
Indem sie mich in eine lange Umarmung zog, zwang sie mich, den riesigen, gerade entgegengenommenen Seesack fallen zu lassen. Durch ihre Zuneigung schwoll die Mischung aus Angst und Traurigkeit in meiner Brust an und stieg mir in die Kehle. Wenn ich nicht schleunigst aufbräche, würde ich mit Sicherheit vor allen heulen. Durch die Bindung konnte ich spüren, wie sich der Clan näherte. Und tatsächlich, als ich zu dem SUV herumwirbelte, einem Land Rover, drängte sich das gesamte Rudel auf der Wiese zwischen den alten Pick-ups und Geländemotorrädern. Sämtliche Mitglieder des Crescent-Clans sanken auf ein Knie und hoben die rechte Faust an die Brust.
Das taten sie sonst nur für meinen Vater bei Gelegenheiten, die besonderen Respekt verlangten.
Ich würde so was von die Kontrolle über mich verlieren.
Schwer schluckend verneigte ich mich vor meinen Leuten. »Es wird mir eine Ehre sein, euch zu dienen.«
Mein Vater verkörperte die Alpha-Verbindung für die Magie unseres Volks – dank seiner Feuermagie überlebte es in der bitteren Kälte Montanas. Mit seinem Tod würde die Verbindung des Crescent-Rudels auf mich übergehen – sofern mir der Abschluss der Ausbildung auf der Alpha-Insel gelänge. Ich war noch nicht bereit für die Verantwortung und den Respekt, der damit einherging, Alpha zu sein. Das musste man sich verdienen.
Mein Vater beugte sich zu mir und flüsterte mir ins Ohr. »Hüte dich vor dem Alpha-König und seinen Erben. Sie wollen nur die Macht bewahren, und dafür ist ihnen jedes Mittel recht.«
Als ob ich diese Warnungen bräuchte. Der Midnight-Clan war der Grund, warum man mein Rudel aus dem Reich der Magie in die Welt der Sterblichen verbannt hatte. Dreckige, schleimige Hochmagier. Mit denen würde ich mich nie und nimmer einlassen. Zähneknirschend nickte ich und spürte, wie mich wilde Entschlossenheit erfüllte.
Ich war das einzige Kind des Alphas des Crescent-Clans. Also würde ich auf die Insel reisen und dort um meinen Platz, für mein Volk und darum kämpfen, dass unsere Magie stark bleiben würde.
Ich hievte mir die Segeltuchtasche über die Schulter und marschierte zu den Wächtern, die darauf warteten, mich wegzubringen. Unterwegs musterte ich sie genauer. Sie sahen identisch aus. Total. Die vier waren praktisch Kopien voneinander – Vierlinge. Oder wie auch immer man vier Leute nannte, die einander glichen wie ein Ei dem anderen. Brüder? Offensichtlich. Gleiche Größe, gleicher Körperbau, sogar der gleiche verkniffene, angewiderte Gesichtsausdruck, den ihre identischen Sonnenbrillen nicht verbergen konnten. Was hatten sie für ein Problem? Sie schauten drein, als wäre ich die Beleidigende.
Ja, ich kann euch auch nicht ausstehen.
Ihre Aufmachung wies sie als Wächter des Königs aus. Alles, was mit dem Midnight-Rudel zu tun hatte, hasste ich schon aus Prinzip leidenschaftlich.
Dunkle Haare lugten unter den Mützen hervor. Mein Blick strich über fein geschnittene Kieferpartien, dann über muskulöse Arme. Natürlich sahen sie verdammt gut aus. Taten Arschlöcher immer.
Je näher ich ihnen kam, desto gereizter wurde ich, bis meine Haut kribbelte und ich die Zähne zusammenbeißen musste, um nicht nach ihnen zu schnappen. Für wen hielten die sich eigentlich? Vier Wächter, um mich abzuholen wie eine Verbrecherin! Bei Nolan war es nur einer gewesen. Das war durch und durch respektlos.
Offensichtlich standen sie nicht allzu weit oben in der Nahrungskette, sonst wären nicht sie als Eskorte für mich ins Reich der Sterblichen entsandt worden. Aber warum vier? Das war nicht normal. Glaubte man etwa, bei mir bestünde ein Fluchtrisiko? Ich atmete durch die Nase ein und knurrte, als ich ihre Dominanz witterte – bei allen. Aus der Nähe strömte ihr erdiger Moschusgeruch zusammen. Er brannte mir zugleich in der Nase und köderte mich. Zumindest einer von ihnen roch richtig gut, aber ich verdrängte den Gedanken und versuchte, ihn zu ignorieren.
Einer legte den Kopf schief und verzog die Mundwinkel zu etwas, das ein verschwörerisches Grinsen sein mochte. Er löste sich von seinen Klonbrüdern und ging zur Fahrerseite des SUV. Der, neben dem der Fahrer gerade noch gestanden hatte, wirkte, als könnte er jeden Moment vor Wut explodieren, so angespannt waren seine Muskeln. Er blähte die Nasenflügel und senkte kurz die Sonnenbrille, um mir darüber hinweg mit grünen Augen einen giftigen Blick zuzuwerfen.
Was zum Teufel sollte das? Wie konnte er es wagen, mich auf meinem Land herauszufordern?
Soll ich ihm eine scheuern? Oder es ihm durchgehen lassen?
»Rage, hör auf«, herrschte ihn der Fahrer an und warf eine halb leere Wasserflasche, die den, der mich so finster anstarrte, an der Brust traf.
Der Kerl rührte sich nicht, glotzte mich nur weiter bösartig an.
Ha! Er hieß tatsächlich Rage? Rasende Wut? Wie passend.
Der Wächter zu seiner Rechten stupste ihn mit dem Ellbogen an, bevor er auf den Beifahrersitz kletterte. Nachdem er die Tür geschlossen hatte, setzte sich Rage in Bewegung und öffnete die hintere Tür auf der Beifahrerseite. Den Kopf ließ er dabei meinem Clan zugedreht. Man wandte sich nie von einer Bedrohung ab ... Es war, als traute er uns nicht.
Wie ein stummer Wachposten stand er da und wartete darauf, dass ich ins Auto stieg. Ich knurrte. Der letzte Klonbruder hinkte hinten um das Fahrzeug herum, bevor er einstieg. Dabei schonte er eindeutig das linke Bein.
Ich warf einen letzten Blick zu meinem Vater, Lon und dem Rest des Rudels und nickte ihnen zu. Einen großen Abschied würde es nicht geben. So lief das nun mal nicht.
Wir sehen uns in vier Jahren ... falls ich überlebe.
»Ich muss meine Tasche hinten reinpacken«, raunte ich Rage zu. »Vor allem, wenn ihr von mir erwartet, mich zwischen zwei von euch Klopsen zu zwängen.« Ich deutete mit der Hand auf die großen Kerle, die bereits im Auto saßen. Warum musste ich mich zu vier Hünen quetschen?
Einer von ihnen grunzte etwas, und der Kofferraumdeckel klappte auf, wahrscheinlich von dem Klon auf dem Beifahrersitz aktiviert.
Ich warf meine Tasche hinein, bevor ich einstieg und zur Mitte der Rückbank aus Leder rutschte. Dann wurde ich gegen Klon Nummer drei gequetscht, als Rage mir in den Wagen folgte. Als er die Tür schloss, rempelte er mich derart heftig mit der Schulter an, dass ich gegen den stummen Kerl zu meiner Linken stieß.
»Entschuldige dich gefälligst«, verlangte ich knurrend von Rage und warf ihm einen vernichtenden Seitenblick zu.
Da brauchte jemand dringend eine Aggressionsbewältigungstherapie.
Er zog eine Augenbraue über die verspiegelte Sonnenbrille hoch und sagte: »Hoppla.«
Seine raue tiefe Stimme entfachte etwas Merkwürdiges in meinen Eingeweiden. Allerdings keine Schmetterlinge. Definitiv nicht. Eher mordlüsterne Hornissen.
Sobald sich der Riesenarsch zu meiner Rechten auf dem Sitz niedergelassen hatte, rammte ich ihm den Ellbogen in die Rippen. »Hoppla«, schoss ich zurück.
»Das reicht«, meldete sich der auf dem Beifahrersitz zu Wort.
Der Geruch von Leder und Lufterfrischer wirbelte durch das Fahrzeug, wurde aber rasch von Eau de Wolf überwältigt. Das Schlimmste, was man einer dominanten Wölfin wie mir antun konnte, war, sie in ein Fahrzeug zu einem Haufen anderer Dominanter zu sperren. Ich könnte von Glück reden, wenn ich die Fahrt überstünde, ohne jemandem den Kopf abzureißen.
Mit dem Vorsatz, meine nervigen Begleiter zu ignorieren, stählte ich mein Herz und lehnte mich vor, um aus dem Fenster zu schauen. Mein Blick landete auf meinem Vater. Aber seine stoische Miene und das Wissen, dass er mich nicht sehen konnte, hielten mich davon ab, ihm zu winken.
Der Motor des SUV erwachte schnurrend zum Leben, unheimlich leise im Vergleich zu unserem grollenden alten Pick-up. Unwillkürlich fragte ich mich, ob der Wohlstandsunterschied etwas mit der Verbannung unseres Rudels aus dem magischen Reich zu tun hatte. Ich schloss die Augen und ließ den Kopf gegen die Rückenlehne sinken, um mich schlafend zu stellen.
Oh Muttermagierin, hilf mir, die Fahrt zu überstehen, ohne zur Mörderin zu werden.
Mit geschlossenen Lidern ließ ich die Gedanken wandern. Was erwartete mich? Das magische Gelübde, das mein Vater vor Jahrzehnten als Teenager vor dem Betreten der Insel abgelegt hatte, hielt ihn davon ab, mir genau zu beschreiben, was mir bevorstand. Ich hatte mich mein Leben lang auf Kampf, Anstand und ein Dasein als Alpha vorbereitet. Aber da man uns aus dem Reich der Gestaltwandler verbannt hatte, als ich noch ein Baby war, hatte ich den Nachteil, nicht zu wissen, was sich hinter dem Schleier verbarg. Jedenfalls war ich mir ziemlich sicher, dass Amazon dorthin nicht lieferte. Meine blankliegenden Nerven verknoteten mir den Magen. Falls ich kotzen müsste, würde ich mit Sicherheit auf Rage zielen.
Ich trommelte mit den Fingern auf den nackten Knien, während der Fahrerklon den Wagen die kurvige Straße entlanglenkte, den einzigen Weg ins Crescent Valley und hinaus. Bei dem Fahrzeug handelte es sich eindeutig um einen Luxusschlitten. Zumindest redeten die jungen Männer meines Clans, die von derlei Dingen träumten, so von solchen SUVs. Die mit Schlaglöchern übersäte Straße sollte Besucher abschrecken. Ich entspannte mich und ließ mich von den schaukelnden Bewegungen in einen halbwachen Dämmerzustand lullen.
Sobald wir die gepflasterte Fahrbahn erreichten, schlug mein Herz schneller.
»Hast du heute schon gegessen, Welpe?«, fragte der Bruder auf dem Beifahrersitz.
Rage, der Miesepeter zu meiner Rechten, schnaubte darüber. »Sie ist wohl kaum ein Welpe, Justice.«
Justice? Wie Gerechtigkeit? Und Rage? Was waren das für Namen?
Ich ignorierte die herrische Frage, öffnete die Augen und starrte auf die beiden Köpfe vor mir. Doch nicht identisch. Der Fahrer hatte glattes Haar, das sich nur um den Kragen seines Shirts herum leicht kräuselte. Beim Beifahrer – Justice – hingegen war es gewellt. Ich warf einen Blick auf den schweigsamen Bruder zu meiner Linken, der aus dem Fenster starrte.
Nach einem trockenen Schlucken drehte ich den Kopf Rage zu.
Bei ihm kämpften die dunklen, unter der Mütze hervorlugenden Locken gegen das Produkt an, mit dem er sie zu bändigen versucht hatte. Sein Profil ähnelte seiner Persönlichkeit, lauter harte Ecken und Kanten – bis auf seine Lippen. Unwillkürlich errötete ich und zwang mich, die Aufmerksamkeit tiefer zu lenken – zu seinem Hals, wo sein Herzschlag zwischen angespannten Muskeln pulsierte. Seine prallen, konturierten Arme spannten den Stoff des Shirts. Er war eindeutig Dauergast im Fitnessstudio. Und warf wahrscheinlich haufenweise Steroide ein.
Der Fahrer legte den Kopf schief und murmelte: »Ich weiß ihren Namen nicht mehr.«
Wie nett. Ich hatte also Tweedledee, Tweedledum, Rage und Justice als Begleiter. Sosehr es mir widerstrebte, schon so früh in Selbstmitleid zu versinken, aber – warum ich? Kurz ließ ich mir den Gedanken durch den Kopf gehen, doch mir wurde schnell klar, dass es nichts brachte. Niemand sonst konnte meinen Platz einnehmen. So verhasst mir unser System war, ich hatte gewusst, was mir blühte. Ich hatte bloß gedacht, mir würde mehr Zeit bei meinem Vater und unserem Rudel bleiben.
»Wen juckt schon, wie sie heißt, Noble? Und wen kratzt es, ob sie Hunger hat, Justice? Sie ist vom Crescent-Clan.« Gegen Ende der Worte klang Rages Stimme mehr animalisch als menschlich.
Ach verdammt, nein.
»Weniger reden, Kumpel. Du gehst mir auf die Nerven.« Zur Betonung funkelte ich Rage irritiert an und wurde mit einem wilden Blick belohnt.
Als er knurrte, verlängerten sich seine Eckzähne.
Was hat er für ein Problem?
»Reiß dich zusammen, Rage«, herrschte ihn der Bruder zu meiner Linken an und streckte den Arm hinter mir vorbei, um den Oberarmleuchter in die Schulter zu knuffen. »Wenn du dich hier drin verwandelst, reißt du uns alle mit.«
Mein Mund wurde trocken. Doch bevor ich mir das Grauen ausmalen konnte, mit vier dominanten Wölfen in einem SUV gefangen zu sein, stupste mich der Typ zu meiner Linken in die Rippen.
»Mein Bruder hat dir ’ne Frage gestellt. Ist unhöflich, nicht darauf zu antworten. Hast ... du ... gegessen?«
Ich hatte gewusst, dass sie Brüder waren – die Ähnlichkeit war schlichtweg zu frappierend.
»Na?«, bohrte er nach und klappte hörbar den Mund zu.
»Ich bin nicht hungrig«, brummelte ich und erwiderte seinen finsteren Blick. Das stimmte nicht, und mein prompt laut knurrender Magen stempelte mich als Lügnerin ab. Wölfe und ihr Drang, Wölfinnen zu füttern, waren mehr als sexistisch und nervtötend. Eher würde ich verhungern, als Essen von ihnen anzunehmen. Das zielte auf Machtgewinn ab, und dabei würde ich nicht mitspielen.
Der Bruder zu meiner Linken seufzte. Ich schaute zur Decke und verdrehte die Augen. Meine Aufmerksamkeit richtete sich auf all die Knöpfe und Tasten vorn, und ich fragte mich, was sie alle bewirkten. War das ein Fernsehbildschirm? Ich würde diese Idioten während des gesamten Wegs zur Insel einfach ignorieren!
Der Fahrer schüttelte den Kopf. »Hör mal, Welpe, ich kann keine hungrige Wölfin auf die Insel bringen. Wir haben eine Stunde Fahrt vor uns, bevor wir die Zivilisation erreichen.«
Auf meinem Schoß landete eine grün-goldene Verpackung.
»Zieh dir als Übergangslösung ’nen Müsliriegel rein«, sagte Justice vom Beifahrersitz.
Rage klatschte ihm gegen den Hinterkopf. »Warum bist du nett zu ihr? Lass sie doch hungern.«
»Beruhig dich.« Der Fahrer klang sanfter als die anderen. Eindeutig die Stimme der Vernunft.
Der Bruder zu meiner Linken schaute zu ihm nach vorn. »Noble, willst du ihr vielleicht auch noch Erfrischungen anbieten?«
Der Fahrer umklammerte das Lenkrad so verkrampft, dass seine Knöchel weiß hervortraten. »Leck mich, Honor!«
Noble? Rage? Justice? Honor? Was für ausgeflippte Namen waren das bitte?
Ich richtete den mürrischen Blick auf Rage und beugte mich zu ihm. Dann legte ich ihm den Müsliriegel auf den Schoß. »Danke für das Angebot, aber danke nein – in jeder Hinsicht.«
Der Fahrer – Noble – lachte leise. »Ein Welpe mit Krallen.«
Wenn sie die Klappe hielten, mochte ich sie lieber.
»Wie heißt du, Welpe?«, fragte Noble, während er um die Schlaglöcher auf der Straße herumsteuerte.
Ach, auf einmal wollten sie freundlich werden?
Ich starrte über den Innenspiegel auf meine Reflexion in seiner Brille und wünschte, ich könnte sie ihm vom Gesicht reißen. »Ich bin kein Welpe.«
Immerhin war ich neunzehn, und sie konnten keinen Tag älter als einundzwanzig sein. War das sein Ernst?
»Was dann?« Rage knurrte.
»Für dich Alpha-Erbin, Kumpel.« Konnte nicht schaden, diesen Vollpfosten gleich die Grenzen aufzuzeigen. Kein Inselwächter würde so von oben herab mit mir reden, und wenn er noch so dominant sein mochte.
Alle vier lachten über meine Worte. Dann erfasste mich ein kalter Luftzug, als die Klimaanlage eingeschaltet wurde. »Sei nett, Welpe«, kam knurrend von Justice. »Sonst werden die nächsten vier Jahre echt scheiße für dich.«
War das eine Drohung?
Schäumend vor Wut beugte ich mich vor und drehte die Lüftungsschlitze von mir weg, lenkte die frostige Luft stattdessen auf Rage und Honor. Was fiel ihnen eigentlich ein?
Beruhig dich, Nai. Nie grundlos Schwäche zeigen. Mit dem Rat meines Vaters im Kopf schloss ich die Augen und atmete tief durch.
»Was hat es mit den Namen auf sich? Hat man euch nach Tugenden oder so benannt?« Dabei fiel mein finsterer Blick auf Rage, dessen Name wohl kaum auf eine Tugend hinwies. Eher auf seine Persönlichkeit. Aber die anderen hießen Honor, Noble und Justice – Ehre, Edelmut und Gerechtigkeit.
Justice grunzte. Mehr bekam ich nicht als Antwort.
»Wie lautet deine Geschichte?«, fragte Rage und verzog die Lippen. »Hat der Crescent-Clan nicht schon letztes Jahr seinen Erben geschickt?«
Nolan.
Ich reckte das Kinn. »Nolan ist der Ersatz.«
Bevor Rage antworten konnte, schlingerte der Land Rover, und ich wurde nach vorn geschleudert, als Noble heftig auf die Bremse trat.
Was ...
»Runter! Abtrünnige!«, blaffte Noble.
Das Wort jagte Eis durch meine Adern.
Rage packte meinen Kopf und drückte mich am Nacken so weit nach unten, dass ich nicht mehr durch die Windschutzscheibe sehen konnte.
Fell spross an meinen Armen, und ich versuchte, meine Wölfin zu bändigen. Sie wollte ausgerechnet in dem Moment heraus? Knurrend wirbelte ich herum und schnappte nach Rages Handgelenk – in der vollen Absicht, ihn zu beißen. Er zog die Hand gerade noch rechtzeitig zurück, und ich setzte mich abrupt auf, um nach draußen zu spähen. »Verdammt!«
McCain und seine Leute.
Abtrünnige Wölfe ähnelten verwilderten Katzen. Sie hatten ihre Rudel verlassen beziehungsweise waren in der Regel nach wiederholten Vergehen verstoßen worden. Solche Typen besaßen null Sozialkompetenz, waren mehr Wölfe als Menschen. Und McCain war der Schlimmste. Seines Rudels und seiner Magie beraubt, wollte er immer Blut – für ihn die einzige Möglichkeit, an die durch unsere Adern fließende Magie heranzukommen.
Worauf zum Teufel wartete Noble? Auf Friedensgespräche?
»Überfahr ihn!«, brüllte ich.
McCain stand mit seinem abgerissenen Pseudo-Rudel aus sechs Wölfen auf der Straße und versperrte uns den Weg.
»Ich ... kann nicht«, stammelte Noble. »Das ist gegen das Gesetz der Wolfsgestaltwandler. Sie müssen zuerst angreifen.«
Sollte das ein Scherz sein? Ich prustete über den schieren Wahnsinn seiner Äußerung. »Scheiß auf das Gesetz! Ich hab gesehen, wie der Typ einem erwachsenen Mann das Fleisch schneller von den Knochen genagt hat als ein Schwarm Piranhas. Fahr den Abtrünnigen über den Haufen, bevor wir ...«
Ein schweres Pochen auf dem Dach ließ mich abrupt verstummen, und ich erstarrte. Ich sehnte mich danach, mich in Wolfsgestalt zu verwandeln, nur unter Stress zierte sich meine Wölfin. Eine echt lahme Eigenschaft für eine Alpha-Erbin.
Ich wirbelte nach rechts und starrte auf einen vollständig verwandelten Werwolf unmittelbar vor unserem Fenster.
»Noble, los!«, rief Justice auf dem Beifahrersitz, und endlich gab der erträglichere der Brüder Gas.
Ein lautes Schrammen knirschte von oben über Metall und hallte durch das Auto. Ich schaute auf und sah, wie sieben Zentimeter lange Werwolfkrallen das Dach durchdrangen.
Bevor ich mir etwas einfallen lassen konnte, warf sich Rage gegen mich. Sein Gesicht traf meine Brust, und er drückte mich auf Honors Schoß.
»Runter von mir!«, stieß ich grunzend hervor.
Rage rollte sich zur Seite, und ich beobachtete mit staunend aufgerissenen Augen, wie er eine kompakte schwarze Pistole zum Autodach richtete.
Mit einem leisen Schnapplaut blitzte die Mündung auf, als ein Silberprojektil aus dem Lauf schoss, gefolgt von zwei weiteren. Zum Glück hatte die Waffe einen Schalldämpfer, sonst wären wir alle die nächste Stunde lang taub gewesen. Trotzdem klingelte es in meinen Ohren ein wenig.
Ein dumpfer Aufprall erschütterte den Wagen, als Noble durch die Gruppe der Abtrünnigen pflügte. Leises Geheul drang an meine Ohren, bevor es verschwand.
Meine Aufmerksamkeit wanderte von den Löchern im Dach zu dem riesigen Dominanten über mir.
Blinzelnd sah ich ihn an, und meine Lippen teilten sich.
Diese Augen!
Er hatte die Brille verloren. Meine Gedanken wirbelten durcheinander, während ich ihn anstarrte. Feuer tänzelte über meine Haut. Hitze breitete sich durch meine Brust aus und sickerte schmelzend in mein Innerstes.
Seine verblüffenden grünen Augen der Farbe von Frühlingsgras hielten mich einen Atemzug lang in ihrem Bann. Aber die Wärme in meinem Bauch zeugte nicht davon, dass ich mich zu ihm hingezogen fühlte. Sicher nicht. Also verdrängte ich sie und hielt mir vor Augen, was für ein Idiot – und Arsch – dieser Typ war. Allerdings ... war ich nicht dafür gewappnet, wie heiß ein totaler Armleuchter sein konnte. Umwerfend und einzigartig schienen mir dafür unzulängliche Adjektive zu sein ...
Was?
Meine Nasenflügel blähten sich. Abrupt schloss ich den Mund. Die Baseballmütze war ihm vom Kopf gerutscht, und zwischen dem zerzausten Haar lugten die Umrisse eines Vollmonds auf seiner Haut hervor. Das Zeichen der Midnight-Königsfamilie auf der Stirn.
Keine gewöhnlichen Wächter. Von allen Rudeln müssen sie ausgerechnet meinem Erzfeind angehören.
Midnight.
Knurrend schob ich Rage weg und versuchte, mich vollständig unter ihm hervorzuwinden.
»Runter von mir, Midnight!«, fauchte ich.
Dabei hätte ich wissen müssen, dass sie es sein würden. Natürlich hatte der Alpha-König den Midnight-Clan geschickt, um mich abzuholen. Um es mir unter die Nase zu reiben.
Aber gleich Mitglieder der Königsfamilie?
Man schickte keine Erben – und schon gar nicht vier. Die meisten Clans hatten mindestens zehn bis zwanzig Erben. So sollte sichergestellt werden, dass einer stark genug wurde, um das Rudel zu übernehmen, wenn der Alpha starb. Über das Midnight-Rudel wusste ich nicht viel, nur dass es unseren Clan aus den magischen Ländern vertrieben hatte. Wenn der König diese Jungs aus seiner Familie geschickt hatte, um mich abzuholen, mussten sie Ersatzerben weit unten auf der Liste sein, nicht mal würdig genug, um sie an der Alpha-Akademie anzumelden.
Seine Augen weiteten sich, als hätte ich ihn geschlagen. Dann knurrte er zurück. »Ich sagte, bleib ... unten!« Sein Blick schnellte zu meinen Lippen, und er leckte sich über die eigenen.
Mit trockenem Mund blinzelte ich dumm zu ihm hoch.
»He, Rage«, sagte Honor. Seine Stimme trieb von oben zu mir herab. »Ist wieder alles gut. Keine Gefahr mehr.« Er räusperte sich. »Geh von ihr runter, damit sie runter von mir kann. Bitte.«
Ich lag praktisch auf Honors Schoß.
Peinlich.
Rage stemmte sich hoch. Sein rechter Arm keilte mich auf der einen Seite ein, die Brust seines Bruders auf der anderen.
Mein Blick schnellte hin und her, um dem Dominanten über mir zu entkommen. Ich erschlaffte vor Erleichterung, als ich nur noch die ramponierte Decke über mir sah ... und Honor, der auf mich herabstarrte.
Er zog die Brauen hoch. Dabei bemerkte ich, dass seine Augen haselnussbraun waren, nicht grün wie Frühlingsgras.
»Du solltest dich aufsetzen – und dir den Geifer vom Kinn wischen«, schlug er mit einem dreisten Grinsen vor.
Ich schoss so schnell hoch, dass mir die Haare ins Gesicht fielen. Natürlich prallte ich dabei versehentlich gegen Rage.
Diese verdammte Karre war zu klein für diese Hünen!
»Aua«, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und schob die Haare zurück.
Honor lachte leise. Ohne nachzudenken, riss ich den rechten Ellbogen zurück und drehte gleichzeitig den Körper, um noch mehr Schwung hineinzulegen. Ich spürte, wie ich sein Schlüsselbein traf und ihm ein gedämpftes Grunzen entlockte, was mich zum Grinsen brachte.
Das hatte er verdient, und es war nicht schlimmer, als was ich Mack angedeihen ließ, wenn er sich danebenbenahm.
Ein Wirbel brauner Haaren wehte mir vors Gesicht, und ich sah mich erneut Rage von Angesicht zu Angesicht gegenüber.
»Schlag meinen Bruder nicht«, herrschte er mich an.
Ich holte scharf Luft und bemühte mich, die Retourkutsche runterzuschlucken, die mir auf der Zunge lag. Die drei anderen meldeten sich gleichzeitig zu Wort.
»Ruhig Blut, Rage.«
»Mir fehlt nichts«, fügte Honor hinzu.
»Lass die Kleine zufrieden«, sagte Noble vom Fahrersitz. »Sie will sich nur behaupten.«
Justice schaffte nur: »Im Ernst, Rage, wenn ...«
Dann explodierte ich. »Verpiss dich vor meinem Gesicht, wenn du nicht eins dieser hübschen grünen Augen verlieren willst!«
Ich legte die Hände mit gespreizten Fingern auf die steinharten Muskeln seiner Brust und stieß ihn mit einem Knurren gegen die Tür. Dann rappelte ich mich auf die Knie und beugte mich vor – diesmal drang ich in seinen persönlichen Freiraum ein. »Wenn du das nächste Mal den Alpha spielen willst, denk dran, zu welchem Clan du gehörst – und zu welchem nicht.« Ich versetzte ihm einen weiteren Stoß, bevor ich hinzufügte: »Ich bin dir nicht unterstellt, also spar dir das Machogehabe.«
Mein Herz pumpte Adrenalin durch mich, als mein Verstand zu meinen Handlungen aufschloss.
Nicht klug, Nai.
Rages Miene zeugte von purer Mordlust. Seine Augen leuchteten orange. Ich konnte fühlen, wie nah sein Wolf war. Schwarzes Fell tauchte seinen Arm entlang auf, bevor es wieder unter der Haut verschwand.
Ich rang mir ein verkniffenes Lächeln ab und strich sein Shirt glatt. »Äh, also, das Auto ist recht klein für uns alle. Das ... war jetzt vielleicht ein bisschen heftiger als nötig.«
Jäh riss ich die Hände zurück, als mir klar wurde, dass ich ihn praktisch befummelte. Mit lodernden Wangen ließ ich mich auf meinen Sitz nieder und schnallte mich an.
Die drei anderen Männer starrten mich an.
Ich verschloss die Augen vor ihnen und unterdrückte den Drang zur Flucht – ich hätte ohnehin nirgendwohin gekonnt.
»Vielleicht sollten wir ... äh ... noch mal von vorn anfangen«, meinte Noble. »Ich bin Noble vom Midnight-Clan.«
Blinzelnd schlug ich die Augen auf.
Bevor ich fragen konnte, zeigte er auf den Beifahrer. »Das ist mein Bruder Justice.« Dann deutete er auf den Kerl zu meiner Linken. »Und Honor.«
Ja, die Namen hatte ich bereits mitbekommen. Aber um nett zu sein, spielte ich mit.
Ich drehte mich Rage zu. »Heißt du wirklich Rage?« Wenig überraschend verzog er nur die Lippen, statt zu antworten, also schaute ich zurück zu Honor. »Heißt er so?«
Denn wenn ihre Mutter drei von ihnen nach Tugenden und einen nach einer Sünde benannt hatte ...
»Eigentlich ist sein Name Courage, aber ...« Noble schaute nach vorn, legte den Gang ein und fuhr weiter.
Kopfschüttelnd schnaubte ich, bevor ich murmelte: »Rage passt eindeutig besser.«
Noble und Honor lachten leise, und Justice grunzte, aber mir entging keineswegs, dass mir keiner widersprach.
Ich blieb auf der freundlichen Schiene. »Also, ich bin Nai.«
Alle nickten, schwiegen jedoch.
Na super.
Die nächste Stunde kroch dahin.
Die Spannungen zwischen mir und den drei Tugendbrüdern ließ nach – ein wenig. Zumindest ausreichend, dass ich ein paar Fragen loswerden und ihren gutmütigen Sticheleien untereinander lauschen konnte. Der Vierte, Rage, saß nur neben mir, angespannt wie eine zum Zustoßen gewappnete Schlange. Ich erfuhr, dass sie auf der Insel aufgewachsen waren, und bohrte nach.
»Leben alle drei Clans auf der Insel oder nur Midnight?«, fragte ich. Die magischen Länder waren so groß wie die Vereinigten Staaten und beherbergten alle möglichen Arten von Gestaltwandlern und Magiern. Aber auf der Alpha-Insel, auf der sich die Schule befand, hielten sich nur die königlichen Erben jeder Linie während ihrer Ausbildung auf. Mich interessierte, wo der Rest der Rudel lebte. Soweit ich wusste, gehörten zum Midnight-Rudel über tausend Wölfe. Konnten sie alle auf einer Insel untergebracht sein? Falls ja, wie groß war sie?
Justice presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. »Echt jetzt, das weißt du nicht?«
»Alle Wolfsrudel leben auf der Alpha-Insel – außer dem Crescent-Clan und den Abtrünnigen«, warf Noble ein, bevor sein Bruder und ich in Streit geraten konnten.
Ich wusste, dass man das Rudel meines Vaters aus irgendeinem Grund exkommuniziert hatte, aber nicht, ob unser Rudel in den magischen Ländern oder auf der Alpha-Insel selbst gelebt hatte, bevor wir vertrieben und gezwungen worden waren, unter Menschen zu weilen.
»Leben dort noch andere Gestaltwandler?« Vor langer Zeit hatte ich gehört, dass alle dort waren.
»Die Alpha-Insel ist nur für Werwölfe«, antwortete Justice grollend.
Ich runzelte die Stirn. »Ach ja?«
Soweit mein Vater es mir hatte erzählen können, waren auf der Insel früher alle Mitglieder von Königsfamilien gestattet gewesen, die durch ihre Magie gestaltwandeln konnten. Nicht nur Werwölfe.
»Wann genau ist das passiert? Dass sie nur für Werwölfe ist?«, stellte ich mein Glück auf die Probe.
»Redest du immer so viel?« Knurrend stopfte sich Rage die Finger in die Ohren.
Ich ignorierte den Idioten zu meiner Rechten. Als mir niemand antwortete, beschloss ich, es anders zu versuchen.
»Könnt ihr mir etwas darüber sagen, wie es in der Schule abläuft?«, lenkte ich das Gespräch in andere Gefilde.
»Die Alpha-Akademie wird von Hochmagie geschützt«, sagte Honor.
»Die Magie bindet einen. Dadurch kann man nicht verraten, was man dort erlebt hat«, kam es von Noble, der mich dabei im Innenspiegel mit wackelnden Augenbrauen ansah. »Ist streng geheim.«
»Von der Bindung habe ich gewusst.« Davon wusste jeder, aber ich hatte gehofft, diese Kerle würden mir vielleicht einen kleinen Krümel hinwerfen.
»Wenn du’s gewusst hast, warum fragst du dann?« Justice stöhnte vorn.
Herrje, waren diese Vollpfosten unhöflich!
Die klobige Masse zu meiner Rechten rührte sich. Der Sitz sank ein, und ich rutschte gegen Rage.
»Tut mir leid«, murmelte ich.
Tut’s nicht, Arschloch.
Ich zupfte am ausgefransten Saum meiner abgeschnittenen Jeans und versuchte, mir genau zu erklären, warum ich so irritiert war. Als dominante Frau so dicht umgeben von dominanten Kerlen eines rivalisierenden Clans zu sein ... regte meine innere Wölfin dermaßen auf, dass es sich anfühlte, als wollte sie sich durch meine Haut krallen.
Ich zog einen Schlussstrich darunter, nett zu sein. Mein neues Ziel bestand darin, so viele nervige Fragen wie möglich zu stellen, um herauszufinden, wie lange es dauern würde, bis Rage wieder in die Luft ging.
»Mein Cousin hatte keine vier Leute vom Midnight-Clan als Eskorte. Wie kommt’s?« Als Nolan letztes Jahr gegangen war, hatte man einen dürren Kerl geschickt, um ihn abzuholen. Wurde ich als so große Bedrohung angesehen? Falls ja, wäre das ziemlich krass.
Rage murmelte etwas Unverständliches vor sich hin, abgesehen von dem Kraftausdruck am Ende, mit dem er es betonte.
Friedensstifter Noble schüttelte den Kopf und knurrte. »Krieg dich ein, Rage.«
Plötzlich drehte sich mir Justice auf dem Sitz zu und sah mich mit den gleichen grünen Augen wie Rage an. »Wir sind nicht das übliche Team zum Abholen von Erben. Man hat uns damit beauftragt, die Erbin des Crescent-Clans abzuholen, und wir befolgen Befehle, ohne Fragen zu stellen, verstanden?«
Hm. Warum sollte jemand von der Akademie wollen, dass mich ausgerechnet diese Alpha-Truppe abholte?
»Klar, ich verstehe deine Sprache bestens. Schönen Dank auch.« Ich ignorierte sein Schnauben und packte die nächste Frage aus. »Wer hat euch beauftragt?«
Das Sprichwort, dass Neugier der Katze Tod wäre, traf auf Wölfe nicht zu. Ich war unheimlich neugierig und fürchtete den Tod nicht.
Rage klatschte sich die Hände auf die Ohren. »Heilige Magierin, hörst du überhaupt je auf zu reden?«
Was für ein Baby! Als ich mir das letzte Mal die Ohren so zugehalten hatte, war ich fünf. Vielleicht hatte er ein unbewältigtes Kindheitstrauma und als Welpe an Lack geleckt oder nicht genug Liebe von seiner Mama bekommen. Woran es auch liegen mochte, es war nicht mein Problem. Mit dem süßesten Lächeln, das ich mir abringen konnte, löste ich eine seiner Pranken von seinem Kopf.
»Nö.« Damit ließ ich seine Hand los. Alle Wölfe im Auto grinsten – na ja, fast alle.
»Ich mag sie«, verkündete Noble.
Justice meldete sich auf dem Beifahrersitz zu Wort. »Lieber nicht. Sie gehört nicht zu unserem Rudel.«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust, insgeheim dankbar für die Erinnerung. Auf keinen Fall durfte ich unachtsam werden. »Verdammt richtig. Und ich werde Midnights Verrat nie vergessen.«
Alle vier zogen die Augenbrauen hoch. »UNSEREN Verrat?«
Zum ersten Mal grinste Rage, und heilige Magierin aller Schönheit, dadurch wurde er tatsächlich noch heißer.
Mistkerl.
»Man hat sie belogen.« Rage schüttelte den Kopf. In seiner Stimme lag ein Hauch von Mitleid.
Meine Sicht wurde rot, und ich schnappte nach Luft. »Gar nicht wahr! Der König hat eurem Clan den Angriff befohlen. Eure Leute haben mein halbes Rudel ermordet, darunter meinen Onkel, bevor sie den Rest von uns vertrieben haben – und wofür? Ein triftiger Grund ist nie genannt worden!«
Meine Wölfin hämmerte gegen ihren Kerker und verlangte, entfesselt zu werden. Wessen glorreiche Idee war es gewesen, uns auf so engen Raum zusammenzupferchen? Und warum wollte meine Wölfin auf Biegen und Brechen auf der Stelle heraus? Vielleicht hatte jemand vor, mich umzubringen.
»Nai.« Honor tätschelte zart meinen Oberschenkel. Rages Blick fiel auf seine Hand, und er blähte die Nasenflügel. »Dein Onkel ist vom Rat der Hochmagier wegen eines Schwerverbrechens verurteilt worden. Unser Alpha hat nur ihre Befehle befolgt.«
Verblüffung brach über mich herein. Einen Moment lang stand mein Hirn still. Schwerverbrechen? Niemand aus meinem Rudel würde vorsätzlich die Hochmagier beleidigen ...
Mein Vater hatte mir nie verraten, was genau sein Bruder getan hatte. Nur, dass er unserem Rudel damit Ärger eingebrockt hatte. Bestimmt hätte er es mir gesagt, wenn es ein Schwerverbrechen gewesen wäre ... oder? Die fünf Hochmagier regierten über alles, sowohl im Reich der Sterblichen als auch in der magischen Welt. Bei uns, den Werwölfen, begnügten sie sich meist damit, die Herrschaft dem Alpha-König zu überlassen. Trotzdem wussten wir alle, dass niemand, auch nicht der Alpha-König, einen Befehl der Hochmagier verweigern konnte.
Dass mein Onkel ein Schwerverbrechen begangen hatte, konnte nicht stimmen. Sie mussten lügen – natürlich logen sie. Immerhin gehörten sie zum Midnight-Clan. Ich würde nicht zulassen, dass sie einen Keil zwischen meinen Vater, mein Rudel und mich treiben.
Netter Versuch.
»Wie du meinst. Aber tatsächlich hat man wohl eher euch belogen.« Damit verschränkte ich die Arme vor der Brust und schwieg.
Verdammt, diese langweilige Fahrt nahm kein Ende. Ich beugte mich vor und schaute auf die Uhr. Zehn Minuten? Oh Mann. In dem Fall sollte ich besser mit den Fragen fortfahren.
»Und was sind eure Aufgaben auf der Insel? Lasst mich raten. Sicherheitsdienst?« Wenn sie unter zehn bis zwanzig Geschwistern die letzten in der Thronfolge wären, würden sie die Schule nicht mal besuchen. Man würde sie bloß für einfache Aufgaben im Umfeld des Alpha-Königs einsetzen, beispielsweise als Sicherheitskräfte, Kriegsberater oder als Zuchtwölfe für Frauen guter Abstammung.
Im Grunde genommen also entbehrlich.
Die vier wechselten Blicke, die ich nicht zu deuten vermochte.
»So ähnlich«, sagte Justice, bevor wieder Stille im Auto einkehrte.
Nach einer Weile unterhielten sich die Tugendbrüder wieder untereinander über irgendwelchen Männerkram. Ich blendete sie aus und lehnte den Kopf wieder zurück. Auch bei Rage bemühte ich mich, ihn bestmöglich zu ignorieren. Was jedoch leichter gesagt als getan war. Jedes Mal, wenn er sich bewegte, sank der Sitz ab, und ich rutschte zu ihm. Achtzehn Mal in sechzig Minuten. Aber wer zählte schon mit? Der Typ musste ADHS für Werwölfe haben.
Und ich musste wohl eingenickt sein. In einem Moment hatte ich die Augen geschlossen und den Kopf an der Rückenlehne aus Leder, im nächsten erwachte ich ruckartig und fand mich an den wohl leckersten Mann geschmiegt, mit dem zu paaren sich eine Wölfin wünschen konnte. Wenn der Mann nicht beim verräterischsten Clan der Welt wäre.
Oh ... du ... meine ... Magierin.
Ich atmete tief ein und hätte beinah aufgestöhnt, bevor ich wieder klar denken konnte. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Meine Wölfin wollte herausfinden, ob Rage so gut schmeckte, wie er roch. Das war völlig verkehrt. Mitglieder gegnerischer Rudel sollten widerlich miefen. Nicht wie dieser wandelnde Pheromon-Zerstäuber.
Meine Wölfin und ich mussten uns einig werden, und zwar schleunigst. Mit einem Ruck entfernte ich den Kopf von seiner Schulter und murmelte: »Mm-ff-tt-s ... ’tschuldigung.«
Oh Mann.
Ich hatte das Gefühl, krebsrot anzulaufen, und biss mir auf die Zunge. Wenigstens war am Ende meines unverständlichen Gebrabbels eine Entschuldigung herausgedrungen, also sollte es wohl zählen.
Als er auf mich herabblickte, sammelte sich Hitze in meinem Unterleib.
Nein.
Mit einem so steinharten Blick, dass man damit hätte Diamanten schneiden können, sagte er: »Schon gut. Ist nicht das erste Mal, dass ’ne Frau bei mir eingeschlafen ist.«
Meine Wangen loderten, als seine Brüder leise lachten.
»Wird auch nicht das letzte Mal sein.« Justice streckte den Arm für eine Ghettofaust aus. Ich schlug seine Hand weg.
»Werd erwachsen«, schnauzte ich. »Bei dir schläft ’ne Frau eher vor Langeweile ein, nicht vor Erschöpfung.«
»Sie ist wie die Schwester, die wir nie hatten«, meinte Noble schmunzelnd, als er den Wagen unter das Blätterdach von Bäumen lenkte.
»Pfui Teufel.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Da sterbe ich lieber.«
Ich setzte mich aufrechter hin. Es handelte sich nicht um irgendeinen Baldachin. Ein gleißender Schimmer flackerte darin, und mir krampfte sich vor Anspannung der Magen zusammen.
Es war das Portal zu den magischen Ländern.
»Fünf Mäuse, dass sie kotzt«, sagte Justice und verengte die Augen zu Schlitzen. »Tun die Schwachen immer.«
Ich zeigte ihm den Stinkefinger. Könnt ihr euch abschminken, Jungs. Ich würde mich nicht übergeben.
Das Auto kroch im Schneckentempo vorwärts. Zwischen den Bäumen erschien ein Regenbogennebel.
Meine Beklommenheit wich Aufregung. Das Gefühl pulsierte durch mich hindurch. Ich quiekte und hopste auf dem Sitz wie eine Irre. »Das Portal! Es gibt das Portal wirklich.«
Als ich merkte, dass wir uns nicht mehr bewegten, schaute ich zu den Männern – die mich alle anstarrten.
Aus Honors stirnrunzelnder Miene sprach Mitleid. »Du hast wirklich dein gesamtes Leben in der Menschenwelt festgesessen, was?«
Meine Güte.
»Ja, wegen eures Al...«
Rage klatschte mir eine Hand auf den Mund. »Hör auf zu reden.«
Rage war für meinen Geschmack etwas zu zudringlich. Der Kerl brauchte dringend eine Lektion. Ich riss mich von seiner Hand los, hob den Arm und drückte ihm meinerseits mit einem höhnischen Grinsen die Hand auf den Mund.
Hoppla.
Er hatte die Lippen noch geteilt, und kaum hatte seine Zunge meine Haut berührt, raste mir ein elektrisierendes Knistern die Wirbelsäule entlang. Meine Gedanken zerfransten und verschwanden. Was hatte ich gerade gesagt?
Ich hatte vergessen, was ich getan hatte.
Warum leckte er an mir?
Ach ja, richtig.
»Fühlt sich nicht so gut an, was?«, fragte ich und riss die Hand zurück.
Oh Mann. Warum klang meine Stimme so atemlos?
Rage hatte die grünen Augen weit aufgerissen. Sie spiegelten meinen eigenen Schock wider. Er schluckte schwer. In seiner rauen Stimme schwang ein warnender Unterton mit. »Ich wollte, dass du aufhörst zu reden – damit du dich konzentrieren kannst.« Er schluckte erneut. »Sonst könntest du in zwei Teile gerissen werden.«
Wie bitte?
Meine Augen drohten aus den Höhlen zu quellen. Warum hat mein Vater davon in seinem kurzen Gespräch über Portale nichts erwähnt? »Und wie kann ich das verhindern? Scheint mir keine unwesentliche Information zu sein, die ihr mir vielleicht geben solltet.«
»Beruhig dich einfach und konzentrier dich auf deine Atmung«, riet Honor mir schmunzelnd, und plötzlich hatte ich das Gefühl, ohnmächtig zu werden.
Noble fasste zu mir nach hinten. »Einladung zur Alpha-Insel.«
Ach, das Gekritzel, das mein Vater mir an diesem Morgen überreicht hatte. Das gehörte mit zum Übergang durch das Portal?
Ich zog das Papier aus der Gesäßtasche und faltete es auseinander. Noble sah Rage an. »Ladung der Erbin vom Crescent-Clan.«
Rage hielt seinem Bruder einen weiteren dicken Zettel hin. Ich reckte den Hals, um zu lesen, was darauf stand. Zu spät. Ich erhaschte nur einen Blick auf magische, schnörkelige Buchstaben und dasselbe eingeprägte Symbol.
Noble ließ das Fenster runter.
»Was passiert ... Oha!« Mit offenem Mund starrte ich auf einen Mann, der aus dem Nichts auftauchte. Zack. In der einen Sekunde befand sich weit und breit nichts, in der nächsten ... schwebte drei Meter vor dem Auto dieser Typ in der Luft. Ich schaute genauer hin. Kein gewöhnlicher Mann. Ein Hochmagier.
Mein Körper erstarrte, meine Haut kribbelte. Ich hatte noch nie zuvor einen gesehen.
Honor tippte mir ans Kinn. »Es ist unhöflich, so zu starren.«
Heilige Scheiße.
Ich zog den Kopf ein, verbarg das Gesicht halb hinter Rages Arm, lugte jedoch halb darüber, um eines der Wesen zu betrachten, die über uns alle herrschten.
Ziemlich ... furchterregend. Zumindest konnte ich mir niemand Furchterregenderen vorstellen.