Sicher bist du nie - Sandra Brown - E-Book

Sicher bist du nie E-Book

Sandra Brown

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Beschreibung

Ein Jahrmarktbesuch, der ein schreckliches Ende findet, und die verzweifelte Suche nach Gerechtigkeit: der neue atemberaubende Thriller von SPIEGEL-Bestsellerautorin Sandra Brown!

Ein Jahrmarkt mitten im ländlichen Texas. Elle Portman genießt den Nachmittag mit ihrem zweijährigen Sohn Charlie. Als die beiden sich Richtung Ausgang aufmachen, geschieht das Unfassbare: In der fröhlichen Menge fallen Schüsse.
Calder Hudson ist eher zufällig auf dem Rummel, doch auch sein Leben verändert sich grundlegend durch die Schießerei. Als er im Krankenhaus aufwacht und erfährt, welch schreckliche Folgen der Amoklauf hatte, will er nur eins: Gerechtigkeit.
Elle und Calder schwören sich, die Tat nicht ungesühnt zu lassen, und ihre gemeinsame Mission lässt sie bald mehr füreinander empfinden. Aber ihre Gefühle machen sie gefährlich verwundbar für einen Killer, der nichts mehr zu verlieren hat ...

Von spannenden Thrillern bekommen Sie nie genug? Dann lesen Sie auch die anderen Meisterwerke von SPIEGEL-Bestsellerautorin Sandra Brown wie »Vertrau ihm nicht« oder »Dein Tod ist nah«.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 479

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Buch

Ein Jahrmarkt mitten im ländlichen Texas. Elle Portman genießt den Nachmittag mit ihrem zweijährigen Sohn Charlie. Als die beiden sich Richtung Ausgang aufmachen, geschieht das Unfassbare: In der fröhlichen Menge fallen Schüsse.

Calder Hudson ist eher zufällig auf dem Rummel, doch auch sein Leben verändert sich grundlegend durch die Schießerei. Als er im Krankenhaus aufwacht und erfährt, dass der Schütze noch auf freiem Fuß ist, will er nur eins: Rache.

Elle und Calder schwören sich, den Täter nicht ungeschoren davonkommen zu lassen, und ihre gemeinsame Mission lässt sie bald mehr füreinander empfinden. Aber ihre Gefühle machen sie gefährlich verwundbar für einen Killer, der nichts mehr zu verlieren hat …

Autorin

Sandra Brown arbeitete als Schauspielerin und TV-Journalistin, bevor sie mit ihrem Roman »Trügerischer Spiegel« auf Anhieb einen großen Erfolg landete. Inzwischen ist sie eine der erfolgreichsten internationalen Autorinnen, die mit jedem ihrer Bücher die Spitzenplätze der »New York Times«-Bestsellerliste erreicht! Ihr endgültiger Durchbruch als Thrillerautorin gelang Sandra Brown mit dem Roman »Die Zeugin«, der auch in Deutschland zum Bestseller wurde. Seither konnte sie mit vielen weiteren Romanen ihre Leser und Leserinnen weltweit begeistern. Sandra Brown lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Texas und South Carolina.

Von Sandra Brown bereits erschienen (Auswahl)

Ihr zweiter Tod Vertrau ihm nicht – Dein Tod ist nah – Sein eisiges Herz – Verhängnisvolle Nähe – Stachel im Herzen – Tödliche Sehnsucht – Sanfte Rache - Blinder Stolz – Eisige Glut – Kalter Kuss

Sandra Brown

Sicher bist du nie

Thriller

Deutsch von Christoph Göhler

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »Out Of Nowhere« bei Grand Central Publishing, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright der Originalausgabe © 2023 by Sandra Brown Management, Ltd.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2024 by Blanvalet in der

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: René Stein

Covergestaltung und -motiv: © www.buerosued.de

BSt · Herstellung: CS

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-32176-5V001

www.blanvalet.de

Vorbemerkung

Sicher bist du nie handelt nicht vom Sterben. Es handelt vom Überleben.

Zwei Fremde treffen in einem unfassbar tragischen Moment aufeinander. Ohne dieses unvorhersehbare, unerklärliche Ereignis wären sich Elle und Calder wohl nie begegnet. Doch durch eine grausame Laune des Schicksals kreuzen sich ihre Lebenswege.

Ehrlich gesagt hätte ich meine Geschichte lieber anders begonnen als mit einem Attentat. Tatsächlich würde ich dieses Thema lieber meiden. Ich reagiere auf Nachrichten über einen weiteren Amoklauf mit Bestürzung, Abscheu und tiefer Trauer – so wie Sie sicher auch, so wie wir alle. Ich will mir gar nicht vorstellen, was jemand durchmacht, der sich in einer so unfassbar grausamen Situation wiederfindet.

Und doch habe ich es als leidenschaftliche Geschichtenerzählerin getan. Es mir vorgestellt, will ich damit sagen.

Ich habe versucht, mir vorzustellen, wie Menschen, die ein so grauenvolles, traumatisches Ereignis überlebt haben, damit zurechtkommen. Wie nimmt so jemand sein Leben wieder auf, wie findet so jemand in eine Art von Normalität zurück, nachdem so viel zerstört wurde oder unwiederbringlich verloren gegangen ist?

Noch während ich an dieser Geschichte schrieb, wurde mir klar, dass sich das seelische und psychische Leid, das Elle und Calder ertragen müssen, unmöglich in Worte zu fassen ist.

Ich möchte all jene, die etwas Ähnliches durchleben mussten wie meine Hauptfiguren, dafür um Verzeihung bitten, dass ich so tue, als könnte ich nachvollziehen, was sie empfinden. Das kann ich nicht. Aber ich habe mein Bestes getan, um so authentisch und mitfühlend wie möglich zu beschreiben, wie die Betroffenen darum kämpfen, nach so einer Katastrophe nicht unterzugehen.

In den Nachrichten sind die Worte »ein weiterer Amoklauf« inzwischen zu einem so vertrauten Refrain geworden, dass wir sie viel zu leicht ausblenden, viel zu schnell den Namen der Schule, der Stadt, des Gotteshauses, des Einkaufszentrums oder Veranstaltungssaals oder Geschäftsgebäudes vergessen, in denen Leben ausgelöscht und andere zerstört wurden. Dennoch dürfen wir uns als Gesellschaft und als Individuen niemals damit abfinden.

Also, noch einmal: Was hat mich motiviert, diese Geschichte zu schreiben? Ich denke, ich wollte die Opfer ehren. Und dazu zähle ich auch die Überlebenden.

Sandra Brown

Prolog

Fürs Protokoll …

Sollte ich wider Erwarten irgendwann gefasst werden, werden alle behaupten, ich sei wahnsinnig.

Das trifft es sogar, aber nur wenn man wahnsinnig als Synonym für wütend verwendet.

Um einen Plan wie den meinen in die Tat umzusetzen, darf man geistig nicht fragil sein. Ich bin vollkommen zurechnungsfähig. Ich handle rational. Meine Tat wird nicht geisteskrank wirken, denn das bin ich nicht.

Ich bin einfach nur wütend.

In mir brodelt heißer Zorn. Und das schon lange. Andere, die etwas Ähnliches planen wie ich, sind so dumm, ihr Vorhaben anzukündigen. Sie machen ihrem Groll in den sozialen Medien Luft, vertrauen ihre morbiden Gedanken vermeintlichen Freunden an, bannen ihre manischen Fantasien auf Papier, entwerfen gespenstische Szenen von Tod und Zerstörung. Sie füllen Notizbuchseiten mit hingekritzeltem Unfug, den Psychologen und FBI-Profiler im Nachhinein zu entziffern versuchen, weil sie hoffen, ein Motiv für eine Tat zu finden, die gemeinhin als »sinnlos« beschrieben wird.

Sinnlos ist allenfalls der Versuch, sie zu analysieren. Damit werden nur Zeit und Steuergelder vergeudet. Ein Individuum, das so eine Tat begeht, ist nicht notwendigerweise psychisch krank, es muss nicht von einem persönlichkeitsverändernden Tumor befallen sein, unter einer selten hormonellen Schieflage leiden oder mit ungezügelter Triebhaftigkeit geschlagen sein.

Nein. Gut möglich, dass dieser Mensch einfach nur stinkwütend war.

So wie ich. Ich bin stinkwütend, aber gesund. Und ich werde meiner Wut auf eine Art und Weise Luft machen, an die man sich noch lange und unter Wehklagen erinnern wird. Aber ich werde nicht den Fehler begehen, das vorab anzukündigen. All die Idioten, die zu ungeduldig sind, werden festgenommen oder von einem Sondereinsatzkommando liquidiert, wenn sie nicht von eigener Hand sterben.

Ich habe nicht vor, so zu enden. Ich weiß genau, dass ich nicht gefasst werde.

Ich werde diese Waffe benutzen. Sie kann unmöglich zurückverfolgt werden. Dafür habe ich gesorgt. Sie wurde noch nie bei einem Verbrechen verwendet. Sie ist leicht zu transportieren und zu verbergen, dabei aber nicht weniger tödlich als ein AR-15 Sturmgewehr.

Wie man sieht, habe ich alles bedacht.

Es bleibt nur ein winziges Problem, ein einziger, leicht beunruhigender Haken: Ich weiß nicht, wann und wo ich meinen Plan in die Tat umsetzen werde. Ich muss notgedrungen einen günstigen Augenblick nutzen, sobald er sich bietet und wie er dann auch aussehen mag.

Aber ich bin nicht blöd. Wenn mir etwas komisch vorkommt oder zu viel Polizei vor Ort ist oder etwas anderes nicht stimmt, blase ich die Sache ab und verschiebe mein Vorhaben auf einen anderen Tag.

Schon mehrmals musste ich solche bedauerlichen Rückschläge hinnehmen. Mehrere Male erschienen die Umstände anfangs ideal, und ich dachte: Heute passiert’s Doch dann kam jedes Mal irgendetwas dazwischen, was mich davon abhielt, den entscheidenden Schritt zu tun. Einmal war es ein Gewitter. Ein anderes Mal waren die Bedingungen optimal, doch dann bekam ein alter Mann einen Schlaganfall. Wer hätte das gedacht? Plötzlich war alles voller Sicherheitskräfte und Sanitäter. Es wäre dumm gewesen, an meinem Plan festzuhalten.

Diese Rückschläge sind frustrierend und ärgerlich und hinterlassen einen bitteren Nachgeschmack.

Es ist zwar ein Nachteil, dass ich Zeit und Ort nicht selbst bestimmen kann, doch diese Unberechenbarkeit hat auch Vorteile. Ich kann mich nicht durch eine unbedachte Bemerkung verraten, ich kann nicht aus Versehen einen Hinweis geben, der jemanden auf mich aufmerksam machen oder Misstrauen erregen könnte.

Spontan zu handeln ist auch insofern von Vorteil, als ich dadurch nicht groß Zeit habe, nervös zu werden oder Skrupel zu entwickeln, wenn sich endlich eine günstige Gelegenheit bietet und alle Systeme auf Start stehen. Dann muss ich zielstrebig und ohne Zögern zuschlagen.

Deshalb bin ich allzeit bereit. Ich bin wachsam. Ich kann jederzeit loslegen. Ich werde es wissen, wenn der Zeitpunkt gekommen ist. Und dann werde ich handeln.

Und das Beste daran? Niemand wird mich verdächtigen.

Kapitel 1

»Sie haben nicht gelogen, als Sie behauptet haben, Sie seien der Beste.« Der CEO von John Zimmerman Industries überreichte ihm strahlend lächelnd einen Überweisungsbeleg. »Vor einer Stunde wurde Ihr Honorar auf Ihr Konto überwiesen zusammen mit sämtlichen angefallenen Bonuszahlungen.«

»Danke.« Calder Hudson kontrollierte die Zahlen auf dem Beleg. Die Kontonummer war korrekt, und die Summe vor dem Komma setzte sich aus sechs fetten schwarzen Ziffern zusammen.

»Scheint in Ordnung zu sein.« Calder faltete den Beleg zusammen, schob ihn in die Brusttasche seines Maßanzugs und lächelte die versammelte Geschäftsleitung an. »Es war mir ein Vergnügen, meine Damen und Herren. Darf ich JZI als Referenz angeben?«

Der CEO sprach im Namen aller Anwesenden, als er sagte: »Natürlich, natürlich. Wir werden Ihnen eine exzellente Bewertung geben.«

Calder zog eine Braue hoch. »Mit besonderem Augenmerk auf Diskretion.«

Die Gruppe lachte leise.

»Versteht sich«, sagte der CEO.

Calder nickte zufrieden, bedankte sich bei der Gruppe im Ganzen und ging dann mit gemessenen Schritten den Kreis ab, wobei er jedem Einzelnen die Hand drückte wie ein Segen spendender Geistlicher. Er wünschte allen einen schönen Abend, nahm seinen Aktenkoffer und verließ den Konferenzraum.

Bis zum Aufzug behielt er seinen trügerisch entspannten Gang und die lockere Körperhaltung bei, doch in seinem Kopf feierte er jetzt schon Mardi Gras, Baby, und er allein führte die Karnevalsparade an.

Es war eine lange Aufzugfahrt vom obersten Stockwerk des Wolkenkratzers aus Glas und Stahl im Herzen von Dallas bis in die Tiefgarage, doch noch beim Aussteigen kribbelten Calders Adern so vor Selbstverliebtheit, dass er sich mit einem Faustpumpen gratulieren musste. Sein Triumphschrei hallte durch die leere Betonhöhle.

Wie gewünscht war sein Jaguar auf einem VIP-Stellplatz in der ersten Reihe abgestellt. Mehr als drei Monate war er in einem Mietwagen herumgegurkt und darum überglücklich, wieder in seinem geliebten Sportwagen sitzen zu können.

Er küsste seine Fingerspitzen und klopfte damit aufs Autodach. »Hi, Süße. Hast du mich vermisst?« Dann streifte er den Mantel ab, legte ihn zusammen mit dem Aktenkoffer auf den Beifahrersitz, startete den Motor und lauschte mit einem wohligen Schauer dem leisen, gefährlichen Grollen, das er so vermisst hatte.

Er setzte rückwärts aus dem Parkplatz und nahm die scharfen Kurven der Auffahrt so rasant, dass die Reifen quietschten. »Bahn frei für den König der Straße«, flüsterte er und schoss mit einem süffisanten Lächeln aus der Tiefgarage.

Die Rushhour war schon vorbei, der Berufsverkehr abgeflaut. Aber es hätte ohnehin kein Autofahrer gewagt, ihm den Weg abzuschneiden. Nicht heute. Er schoss an mehreren Innenstadtkreuzungen über gelbe Ampeln und bog schließlich auf die Rampe zum Freeway.

Die untergehende Sonne färbte den Himmel mit blutorangeroten Streifen, und er setzte die Sonnenbrille auf, bevor er Shauna über die Freisprechanlage anrief.

Sie antwortete beim zweiten Läuten. »Hallooo, schöner Mann.«

»Hallooo, meine Schöne.«

»Wie ist es gelaufen?«

»Also, ich kann nicht für alle sprechen, aber für mich lief es super.«

»Ich hör es an deiner Stimme. Sie trieft nur so vor Einbildung.«

»Ich reiße mich wirklich zusammen, aber du weißt …«

»Ja, ich weiß. Ich kenne das zur Genüge, und ich finde es unerträglich.«

Er grinste. »Du erträgst es aber trotzdem, oder?«

»Nicht so hochnäsig, bitte! Wo bist du?«

»Auf dem Weg nach Hause. Und du?«

»Nach Hause? Du solltest doch hierherkommen.«

Calders gute Laune kühlte schlagartig um einige Grad ab, als ihm einfiel, dass Shauna heute Abend arbeiten sollte. Ihm wollte nur nicht einfallen, wo sie ihren Einsatz hatte. »Bist du noch im Studio?«

»Nein, wir sind schon auf dem Festgelände. Ich schlage im Übertragungswagen die Zeit tot, während die Crew alles für das Interview vorbereitet.« Sie schnaufte genervt. »Du hast es vergessen, habe ich recht? Ehrlich, Calder. Du hast versprochen, dass du kommen würdest.«

Das Volksfest. Richtig. »Ich habe gesagt, ich würde es mir überlegen.« Wobei es nichts zu überlegen gegeben hatte. Schon während seiner Antwort hatte er gewusst, dass er sich drücken würde. Er würde auf gar keinen Fall auf einen Jahrmarkt fahren. »Wie lange wirst du brauchen?«

»Wir machen das Interview eine Stunde vor Konzertbeginn. Ich will das Backstage-Flair vor dem Auftritt einfangen. Auch wenn ich nicht bis zum Ende bleiben muss, eine Weile bin ich bestimmt noch hier.«

Nichts von dem, was sie sagte, gefiel ihm. »Ich habe gerade meinen größten Auftrag abgeschlossen. Ich bin über hundert Riesen reicher, und die großen Tiere haben mir praktisch die Füße geküsst, weil sie mich bezahlen durften. Das will ich feiern, und zwar gleich.«

»Wir werden das feiern. Aber erst in ein paar Stunden, weil der Produzent in letzter Sekunde das Interview in die Zehn-Uhr-Nachrichten eingeschoben hat.«

Ein paar Stunden? »Wer ist denn so wichtig? Ist der Präsident in der Stadt?«

»Besser: Bryce Conrad.«

»Wer?«

»Nur der strahlendste Superstar am Country-Himmel.« Sie versuchte gar nicht erst, ihre Begeisterung zu verhehlen.

»Nie von ihm gehört.«

»Und ob! Ich habe dir erzählt, dass er normalerweise wahnsinnig kamerascheu ist, aber dass er mir ein Interview geben will. Wir haben mindestens zehn Minuten darüber geredet.« Eine Pause, dann: »Aber du hast nicht zugehört, war ja klar.«

»Setz mir nicht so zu, okay? Ich musste mich auf meinen Job konzentrieren. An diesem Wochenende stand für mich eine Menge auf dem Spiel.«

»Für mich auch, Calder«, fuhr sie ihn an. »Wenn du zugehört hättest, wüsstest du, dass dieses Interview mit Bryce Conrad ein echter Coup ist. Ein Riesencoup. Heute Nachmittag hat Entertainment Tonight angerufen. Sie bringen am Wochenende ein Feature über ihn und wollen ein paar Ausschnitte aus meinem Interview reinschneiden. Du bist also nicht der Einzige, der einen Supertag hatte, okay? Und danke der Nachfrage übrigens.«

Wenn sie so weitermachten, würde sein Höhenflug in einem Absturz enden. Er wollte sich seine Laune nicht durch einen Streit über einen dahergelaufenen Countrysänger vermiesen lassen. Also musste er wohl oder übel gut Wetter machen. »Na schön, tut mir leid. Ich hätte besser zuhören sollen. Das mit ET ist genial.«

Besänftigt erwiderte sie: »Selbst wenn sie mein Interview nicht verwenden, haben sie mich immerhin auf dem Radar.«

»Ein Grund mehr, heute Abend zu feiern. Wann bist du ungefähr zu Hause? Dann stelle ich den Champagner kalt.«

»Kannst du wirklich nicht herkommen wie abgemacht?«

»Auf einen Rummelplatz?« Er schnaubte. »Ernsthaft, Shauna.«

»Gut, es ist ein bisschen weit draußen, trotzdem …«

»Shit, das ist praktisch in Oklahoma.«

»Es sind fünfundvierzig Minuten, wenn du den Expressway nimmst. Bitte. Es wird bestimmt spaßig.«

»Verglichen womit? Einer Darmspiegelung? Außerdem musst du arbeiten, während ich dumm rumstehe und Taschenbillard spielen darf.«

»Bis du hier ankommst, bin ich mit dem Interview wahrscheinlich schon durch. Komm schon. Es ist so ein schöner Abend.«

»Shauna …«

»Ich hinterlege am Nordeingang, da gibt es auch reservierte Parkplätze, einen VIP-Pass für dich. Schreib mir, wenn du da bist, dann sage ich dir, wo du mich findest. Wir bleiben nur ein paar Songs, danach verschwinden wir, versprochen.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, worauf ich heute Abend weniger Bock hätte als auf einen Provinzrummel. Viel Glück mit deinem Interview. Wir sehen uns später zu Hause. Bis dann.«

Calder legte auf. Seine Euphorie hatte sich in Groll und Enttäuschung aufgelöst. Er drehte das Radio lauter, ärgerte sich über den Song, der gerade lief, und schaltete es aus.

Er hatte sich in seinem Erfolgsrausch ausgemalt, wie ihn zu Hause Shaunas heißer Körper und eine Flasche eiskalter Champagner auf den Seidenlaken erwarten würden. Ein überlaufenes, verdrecktes Festgelände war das Gegenteil dieser Fantasie. Er hatte jedes Recht, eingeschnappt zu sein.

Aber nach ein, zwei Meilen auf dem Freeway nahm er den Fuß vom Gas und gestand sich zähneknirschend ein, dass er ihren Einsatz heute Abend tatsächlich verschwitzt hatte. Offenbar war dieses Interview ein Meilenstein in ihrer Karriere, und die war ihr extrem wichtig.

Sie würde schmollen oder ihn sogar mit eisigem Schweigen strafen, wenn sie heimkam. Ihm stand ein Abend in der Beziehungstiefkühltruhe bevor. An Sex wäre nicht zu denken. Ganz ohne Frage.

Und wenn er stattdessen unerwartet auf dem Volksfest auftauchte? Sie überraschen? Er würde sich entschuldigen: Ich war ein Esel. Tut mir leid. Was zwar nicht die Wahrheit wäre, trotzdem konnte er nach einer Entschuldigung auf Tauwetter hoffen und damit seine Chancen, sie flachzulegen, deutlich erhöhen, und dieser Punkt hatte oberste Priorität.

Alles in allem …

Er schwenkte direkt vor einem Sattelschlepper über dessen Spur und wurde dafür mit lautem Hupen bestraft. Calder zeigte dem Fahrer den Mittelfinger, trat wieder aufs Gas und steuerte mit seinem Jaguar die Ausfahrt an.

***

»Charlie, schau hierher, Charlie. Schau Mommy an!«

Elle schaffte es, mit ihrer Handykamera ein sabberiges, breites Strahlen einzufangen, als ihr Sohn auf dem Minikarussell an ihr vorbeiglitt. Bei der nächsten Runde konnte sie dank Glendas hilfreicher Unterstützung sogar ein mehrere Sekunden langes Video mit einem winkenden Kind aufnehmen. Glenda hatte großherzig angeboten, eine Runde mitzufahren; es war bereits Charlies fünfte Fahrt.

Als das Karussell langsamer wurde und anhielt, stieg Glenda mühsam ab und versuchte dabei gleichzeitig, den zappelnden Zweijährigen festzuhalten, der um jeden Preis auf seinem lackierten Pony sitzen bleiben wollte. Sie schleppte Charlie zu Elle, die ihr den Jungen abnahm.

»Danke«, sagte Elle. »Noch eine Runde auf dem Ding und ich hätte mich übergeben müssen.«

Glenda lachte. »Weil dir schwindlig war oder wegen der Musik?«

»Beides. Diese Drehorgel wird mir noch tagelang in den Ohren klingen.«

»Mir auch, aber ich hätte um nichts auf der Welt auf einen Ausritt mit meinem Lieblingscowboy verzichten wollen.« Glenda tätschelte Charlies Wange. Sein Gesicht klebte vor Zuckerwatte, aber Glenda überging Elles Entschuldigung mit einem Lachen. »Kein Thema, aber ich muss jetzt los. Die Mädels haben mir geschrieben. Sie sitzen drüben im Biergarten bei einem Pitcher Frozen Margarita, der angeblich laut nach mir ruft.«

»Dann zisch ab«, sagte Elle, die gerade versuchte, Charlie im Kinderwagen festzuschnallen. Er streckte den Rücken durch, um sie daran zu hindern. »Ich wollte sowieso nicht so lange bleiben und sollte schleunigst verschwinden. Ich habe das Gefühl, dass mir ein Übermüdungstobsuchtsanfall bevorsteht.«

Sie fischte Charlies Schlappohrhasen »Bun« aus der Tasche hinten am Kinderwagen und drückte ihn ihrem Sohn in die Hand. Kurzzeitig besänftigt, stopfte er sich das Stofftier unter den Arm.

Glenda meinte bedauernd: »Zu schade, dass du nicht mit uns aufs Konzert gehen kannst.«

»Finde ich auch, aber das war ein spontaner Ausflug. So kurzfristig ist kein Babysitter zu finden.«

Nach einem Vormittag mit Wäschewaschen und ein wenig Haushalt hatte sie sich zum Arbeiten in ihr Homeoffice zurückgezogen, wo sie Charlie mit seinen Spielsachen, Büchern und mehreren Paw-Patrol-Videos beschäftigt hatte.

Im Lauf des Nachmittags war er allerdings grätig geworden und hatte ihre Aufmerksamkeit eingefordert, die er auch verdient hatte, nachdem er den ganzen Tag eingesperrt gewesen war. Also hatte sie mitten in einer kreativen Hochphase den Computer heruntergefahren, Charlie auf ihren Schoß gehoben und ihn zwischen zahllosen kleinen Küssen gefragt, ob sie Glenda anrufen sollten. »Das Volksfest ist nur noch heute. Wir könnten sie fragen, ob sie mitkommen möchte.«

Charlie verstand zwar nur »Glenda« und »kommen«, aber Elle musste trotzdem nicht zweimal fragen.

Glenda war nur zu gern bereit, in ihrer Immobilienfirma früher Schluss zu machen. »Das passt perfekt! Ein paar Freundinnen aus meinem Pilateskurs haben heute einen Mädelsabend geplant. Wir wollen aufs Konzert gehen. Ich leiste dir und Charlie Gesellschaft und stoße später zu ihnen.«

Sie hatten eine Uhrzeit und einen Treffpunkt am Nordeingang vereinbart. Glenda, ihres Zeichens Immobilienmaklerin und CEO von Foster Real Estate, war bei ihrem Eintreffen gekleidet wie ein Model für eine Westernmode-Edelboutique: langer Jeansrock, Cowboystiefel mit Silberbeschlag, Fransenlederjacke und türkisfarbene Perlenketten.

»Neben dir fühle ich mich absolut underdressed«, hatte Elle mit einem selbstironischen Lächeln bemerkt. »Und grauenvoll altbacken.«

Glenda hatte sie von oben bis unten gemustert. »Wenn du deine Jeans eine Nummer kleiner tragen würdest, hättest du einen Mörderhintern.«

»Wohl kaum.«

»Ich würde meinen Allerwertesten jederzeit gegen deinen eintauschen und von deinen Haaren will ich gar nicht erst anfangen. Das ist einfach unfair. Aber dein Shirt könnte ein Upgrade vertragen und dir fehlt ein bisschen Glitter.«

Elle lachte. »Glitter passt total in mein Leben.«

Während der nächsten beiden Stunden hatten die beiden Freundinnen abwechselnd Charlies Kinderwagen durch die Menge manövriert. Sie hatten den Streichelzoo, den Weihnachtsmarkt und mehrere Verkaufsausstellungen besucht, bevor sie schließlich, als die Sonne schon unterging und sich der Himmel violett färbte, in die Straße mit den Fahrgeschäften gebogen waren.

Die blinkenden bunten Lichter waren gerade angegangen und Charlie war überwältigt. Elle hatte mit ihm im Kleinkinderbereich ein paar Fahrten absolviert, und Glenda hatte mit ihrem Handy Fotos gemacht, die sie Elle später schicken wollte. Charlies Lieblingsattraktion war mit Abstand das Karussell gewesen. Es war der perfekte Abschluss.

Während Elle ihre Freundin zum Abschied umarmte, erklärte ihr Glenda: »Hier sind unglaublich viele süße Typen unterwegs. Du solltest dich nicht so rarmachen, Elle.«

»Ich habe schon einen süßen Typen.« Elle beugte sich vor und wuschelte durch Charlies dunkle Locken.

»Da kann ich nicht widersprechen«, sagte Glenda. »Ein wahrer Schatz. Fahr vorsichtig. Hab dich lieb.«

»Ruf mich morgen an und erzähl mir, wie das Konzert war.«

»Mache ich.« Glenda hauchte ihnen einen Kuss zu und schlängelte sich durch die Menge in Richtung Biergarten.

Kurz war Elle neidisch auf ihre ungebundene Freundin und deren unterhaltsamen Freitagabend. Aber sie hatte vor drei Jahren eine Entscheidung gefällt, die sie seither noch keine Sekunde bereut hatte.

Sie sah auf Charlie, der gerade herzhaft gähnte, und ihr ging das Herz über. Sie beugte sich über ihn und vergrub ihr Gesicht in seinem Nacken. »Mommy hat dich so, so lieb. Fahren wir nach Hause?«

Er trat gegen die Fußstütze in seinem Kinderwagen. »Fahn!«

»Ich fürchte, es wird eher ein Schleichen werden.« Sie wendete den Kinderwagen so geschickt wie nur möglich, ohne jemanden dabei anzurempeln.

Das Gedränge wurde immer dichter, je näher sie dem Nordeingang kamen. Es gab zwar unterschiedliche Drehkreuze für den Ein- und Ausgang, aber dort, wo die beiden Menschenströme aufeinandertrafen, bildeten sich zwei Schlangen, die sich wie in Zeitlupe aneinander vorbeischoben. Da Elle und Charlie gegen den Strom der Neuankömmlinge anschwimmen mussten, bewegten sie sich schließlich nur noch zentimeterweise vorwärts.

»Sieht aus, als würde es heute Abend noch mal richtig voll werden.«

Das kam von dem Gentleman, der neben ihr herschlurfte. Er hatte ein rundes, gerötetes Gesicht und ein Hufeisen aus grauem Haar umringte seine große, glänzende Glatze. Auf seiner Nase saß eine Drahtbrille, in deren Gläsern sich das Riesenrad spiegelte. Er hätte das griesgrämig und missmutig sagen können, aber er hatte im Gegenteil gut gelaunt geklungen.

Elle lächelte ihn an. »Bryce Conrad ist eben ein Zugpferd.«

»Stimmt.« Er zwinkerte ihr zu. »Ich glaube, wir entkommen gerade noch rechtzeitig.«

Sie erwiderte sein Lächeln und wandte sich im nächsten Moment wieder Charlie zu, der gerade aus dem Kinderwagen zu klettern versuchte.

»Nein, Charlie. Nein, du kannst jetzt nicht raus.«

Er widersetzte sich ihren Versuchen, ihn in den Sitz zurückzudrücken, und wollte sich nicht auf ihre Erklärung einlassen, warum er angeschnallt bleiben musste. Schließlich hatte sie die Schlacht gewonnen, richtete sich wieder auf und blickte sehnsüchtig zum Ausgang, während sie abzuschätzen versuchte, wie lange sie noch durchhalten konnte, bevor Charlie einen Tobsuchtsanfall bekam.

»Verzeihung.«

Das gereizte Murmeln kam von Elles anderer Seite, wo jemand sie angerempelt hatte, der in der Gegenrichtung unterwegs war. Sie wollte etwas erwidern, aber der Mann war schon weitergegangen. In seiner Baumwollhose und dem Anzughemd hob er sich von den anderen Besuchern ab. Irgendein Geschäftsheini, dachte sie.

Das war Elles letzter Gedanke vor dem Knall.

Einem Schlag aus heiterem Himmel.

Im ersten Moment hielt sie es für einen Soundeffekt aus einem der Fahrgeschäfte. Beim zweiten Knall dachte sie an ein Feuerwerk. Aber das war für nach dem Konzert angesetzt.

Verwirrt drehte sie sich zu dem älteren Mann um, mit dem sie gesprochen hatte. Er presste sich die Hand auf die Kehle. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor, das wie aus einem Geysir auf Elle spritzte.

Er taumelte, fiel auf sie und stieß sie dadurch nach hinten. Sie hielt sich mit der linken Hand am Griff des Kinderwagens fest und streckte die rechte aus, um ihren Sturz abzubremsen. Doch beim Aufprall auf dem Asphalt gab ihr Ellbogen nach. Sie kam so schmerzhaft auf, dass sie sich auf die Zunge biss und Blut schmeckte. Gleichzeitig löste sich ihre linke Hand vom Kinderwagen.

Der ältere Mann kippte gegen den Kinderwagen und schubste ihn damit nach vorne. Der Wagen kullerte los und gegen mehrere Menschen, die inzwischen wie wild auseinanderstoben.

Jemand schrie: »Ein Amokläufer!«

Elle brauchte einen Sekundenbruchteil, um zu begreifen, dass tatsächlich das Undenkbare geschah. »Charlie!«

Sie warf sich nach vorne und streckte verzweifelt die Hand nach dem Kinderwagen aus, doch der war schon außer Reichweite und rollte immer weiter. Zwischen ihr und ihrem Sohn lag der ältere Mann reglos und mit dem Gesicht nach unten in einer sich ausbreitenden Blutlache.

In einem noch funktionierenden, abgeschotteten Teil ihres Gehirns begriff Elle, dass er tot war. Gleichzeitig krabbelte sie, ohne nachzudenken und ohne eine Sekunde zu zögern, über seinen Körper hinweg, auch wenn ihre Hände und Schuhe dabei im Blut ausrutschten. Sie schaffte es einfach nicht, wieder aufzustehen. Irgendwas stimmte nicht mit ihrem rechten Arm.

Der Kinderwagen wurde in der wilden Stampede der Flüchtenden hin und her geschleudert. Er entfernte sich immer weiter von Elle, die keine Chance mehr hatte, zu Charlie, zu ihrem Kind zu gelangen.

Direkt vor ihr stürzte ein Mann mit einer Schusswunde am Bein zu Boden. Vor Schmerz brüllend, schlug er auf dem Asphalt auf. Elles Schreie gingen in denen der Menschen um sie herum unter, die genauso in Panik und Todesangst waren. Trotzdem hörte sie deutlich das Weinen ihres Kindes. Charlie schrie wie am Spieß.

»Ich komme, Charlie! Mommy kommt schon! Char-lie!«

Ein Flüchtender mit einer Baseballkappe stieß gegen den Kinderwagen und kippte ihn mit einem Knie seitlich an.

Hilflos und entsetzt beobachtete Elle, wie der Kinderwagen auf zwei Rädern weiterrollte.

Der gut gekleidete Mann, der kurz zuvor mit Elle zusammengestoßen war, stürmte seitlich in ihr Blickfeld, streckte den Arm nach dem Kinderwagen aus und bekam den Griff zu fassen.

Doch der Wagen kippte unaufhaltsam weiter zur Seite und riss den Mann dabei mit.

Er fiel über den Kinderwagen.

Elle schrie hysterisch auf.

Sie hörte die verstörten Schreie anderer Opfer. Der Boden vibrierte unter hundertfachem Getrampel.

Elle Portman verfolgte das grausame Chaos wie einen Horrorfilm in Zeitlupe.

Weshalb sie hinterher dazu verflucht war, sich mit brutaler, gnadenloser Klarheit an jedes Detail zu erinnern.

Kapitel 2

»Mr. Hudson?«

Calder wünschte sich, die verfluchte Stimme würde verstummen und ihn in Ruhe lassen. Er hatte höllische Kopfschmerzen.

Er war umgeben von Geräuschen und Aktivitäten, die er nicht einordnen konnte und auch nicht einordnen wollte. Er hörte lautes Gerede. Unerträglich grelles Licht drang durch seine geschlossenen Lider. Die hyperaktiven Reize ließen sich ebenso wenig ausblenden wie ein Tornado. Dabei verzehrte sich sein Herz nach Stille, Ruhe, Dunkelheit, Vergessen.

»Mr. Hudson? Können Sie mich hören? Sie können jetzt aufwachen. Die Operation ist überstanden.«

Er ahnte eine Bewegung, spürte, wie die sture Kreatur – es war eine weibliche Stimme – sich näherte, gegen die Oberfläche stieß, auf der er lag, sie zum Schaukeln brachte und damit den Schmerzpegel in seinem Schädel über jede Skala hinausjagte. Sein rechter Arm wurde angehoben, er fühlte einen festen Druck, und als er wieder nachließ, sagte die Unbekannte: »Ich heiße Cindy. Ich werde mich in den nächsten Stunden um Sie kümmern. Der Arzt wird bald nach Ihnen sehen. Möchten Sie Eis?«

Es war ihm gleich, wie sie hieß. Wer war sie und wovon redete sie?

»Ich werde Ihren Kopf leicht anheben. Sagen Sie Bescheid, falls Ihnen dabei schlecht wird.«

Sie hob seinen Kopf keineswegs »leicht« an. Sie katapultierte ihn aus der Horizontale in die Vertikale. Eine Dynamitstange explodierte unter seiner Schädeldecke. Sein Magen zog sich zusammen, und er musste würgen.

»Hier ist ein Brechbeutel.«

Ein harter Plastikring wurde gegen seinen Mund gedrückt. Er würgte heftig, wieder und wieder versuchten seine Eingeweide, alles aus ihm rauszupressen, doch in seinem Mund landete nur etwas saure Flüssigkeit, die er ausspuckte, ohne zu wissen oder zu kontrollieren, ob er dabei in den Brechbeutel traf oder nicht.

Als die Krämpfe endlich nachließen, fragte sie: »Ist es jetzt besser? Sagen Sie Bescheid, wenn Sie sich noch einmal übergeben müssen.«

Er versuchte, den Arm zu heben und nach der Hexe Cindy zu schlagen, die ihn aus diesem köstlichen Zustand der Selbstvergessenheit in die Hölle geschleudert hatte, aber offenbar hatte er keine Kontrolle über seine Bewegungen.

Erschrocken und entsetzt öffnete er die Lider und blinzelte mühsam gegen das gleißende Licht an. Eine Gestalt schwamm in sein Blickfeld und verschwand wieder, schwamm erneut herein und verschwand wieder, bis ihm erneut übel wurde, aber schließlich bekamen seine Augen seine Foltermagd zu fassen.

Eine junge Frau mit Dutzenden geflochtenen Zöpfen fuchtelte an einem Infusionsbeutel herum. Offensichtlich lag er in einem Krankenhausbett.

Sein Blick wanderte am Infusionsschlauch abwärts zu seinem rechten Handrücken, wo mit Pflasterstreifen ein Shunt befestigt war. An seinem Zeigefinger klemmte ein rot leuchtender Aufsatz. Mit Sicherheit wurde damit irgendetwas kontrolliert. Ihm wurde bewusst, dass ihm Sauerstoff über eine Nasensonde verabreicht wurde.

Die junge Frau schaute über ihre Schulter und lächelte ihn an. »Gut. Sie sind bei uns. Wird es besser mit der Übelkeit?«

Er versuchte zu sprechen, brachte aber nur ein Krächzen heraus. Sein Mund war staubtrocken, und in seiner Kehle brannte die widerliche Flüssigkeit, die er erbrochen hatte. Er setzte neu an und brachte diesmal ein Flüstern zustande. »Bin ich im Krankenhaus?«

»Im Aufwachraum nach der OP.«

»OP?«

»Ist alles gut gegangen.« Cindy tätschelte seine rechte Schulter, dann trat sie an einen Rollwagen mit einem Laptop und begann zu tippen.

Was für eine OP? Warum fühlte er sich so durch und durch beschissen? Was war verflucht noch mal mit ihm passiert?

Seine Erinnerung setzte anfangs nur verzögert ein, doch dann blitzten immer mehr Bilder auf, wenn auch nicht unbedingt in chronologischer Reihenfolge. Er ordnete sie mühsam, bis er den zeitlichen Ablauf nach seiner Abfahrt aus dem Bürogebäude im Zentrum von Dallas rekonstruiert hatte, und zwar bis zu seiner Ankunft auf dem Volksfestplatz einer Vorortgemeinde in einem nahe gelegenen County.

Er hatte Shauna überraschen wollen. Wie nicht anders zu erwarten hatten sich Menschenmassen zwischen den Ständen gedrängt. Er hatte …

Plötzlich hörte er wieder Schüsse und wurde von surrealen Bildern und Geräuschen überwältigt. Schreiende Menschen, die in Panik auseinanderstoben, die zu Boden stürzten, bluteten.

Er erinnerte sich, dass er umgestoßen worden war. »Wurde ich getroffen?« Ihn durchfuhr ein schrecklicher Gedanke, der erklären würde, warum sich seine Gliedmaßen so schwer und unbeweglich anfühlten. »Bin ich gelähmt?«

Die Krankenschwester hörte auf zu tippen und kehrte an sein Bett zurück. »Sie sind nicht gelähmt, Mr. Hudson. Sie wurden am Arm getroffen und Sie bekommen intravenös Schmerzmittel. Sie können sich bewegen; es ist im Moment nur zu anstrengend für Sie.«

Erst jetzt bemerkte er den straffen Verband um seinen linken Arm und die Schulter. Er sah wieder die Krankenschwester an, und offenbar erkannte sie die nackte Angst in seinem Blick. Sie tätschelte ihn noch mal und sagte: »Alles wird gut.«

»Werde ich meinen Arm wieder bewegen können?«

»Alles wird gut, Mr. Hudson.«

Am liebsten hätte er sie angeschnauzt, dass sie aufhören solle, ihn zu beruhigen. Sah er etwa so aus, als wäre alles gut? Er legte so viel Nachdruck wie nur möglich in seine zittrige Stimme. »Ich will mit dem Arzt sprechen. Der mich operiert hat.«

»Er wird gleich bei Ihnen sein.«

Er schüttelte den Kopf und löste damit Landminen von Schmerz in seinem Schädel aus. »Ich will ihn jetzt sprechen.«

»Er ist nicht abkömmlich, er operiert weitere Opfer des Amoklaufs.«

Calder öffnete den Mund, um noch etwas zu sagen, schloss ihn aber gleich wieder. Wieder rollte die Übelkeit in einer mächtigen Welle über ihn hinweg, aber ihm gelang es, die ätzende Flüssigkeit in seinem Mund hinunterzuschlucken. »Wie viele waren es?«

»Das ist mir nicht bekannt.«

Sie log, aber er hatte nicht die Kraft, sie zur Rede zu stellen. »Sind Menschen gestorben?«

»Ich hole Ihnen ein Ginger Ale. Wenn das nicht gegen die Übelkeit hilft, können wir Ihnen auch ein Medikament geben.«

Ihre ausweichende Antwort genügte ihm. Es waren Menschen gestorben.

Sie verschwand durch einen windigen Vorhang, der sein Bett notdürftig von den anderen abschottete. Draußen herrschte hektischer Betrieb. Angestellte hasteten durch den Gang, brachten dies, holten jenes. Ein Mann schob einen Putzeimer wie einen Tanzpartner über das Linoleum. Eine Krankenschwester kam mit einem klappernden Wagen auf quietschenden Rädern vorbei. Eine junge Frau im Arztkittel eilte mit angespannter Miene vorüber. Ein Telefon klingelte unaufhörlich, ohne dass jemand reagierte. Außerhalb seines Blickfeldes schrie jemand vor Angst oder Schmerz, ohne dass er das Alter oder Geschlecht bestimmen konnte.

Das musste ein Albtraum sein. Das Szenario war zu bizarr, um real zu sein. Menschen wie Calder Hudson wurden nicht auf einem Volksfest niedergeschossen. Menschen wie er gingen auf kein Volksfest.

Doch als er den Kopf vorsichtig auf das Kissen zurücksinken ließ und die Augen gegen das grelle Deckenlicht schloss, musste er sich eingestehen, dass das alles viel zu real war.

Abgesehen von seinem dröhnenden Kopf hatte er keine großen Schmerzen, aber ihm war klar, dass sich das ändern würde, sobald die Narkose nachließ und die Dosis an Schmerzmitteln runtergefahren würde.

Vorerst waren sein linker Arm und seine linke Hand angenehm betäubt und viel zu schwer, als dass er sie anheben konnte; außerdem hatte er nicht die geringste Lust, sondern eher Angst, auch nur die kleinste Bewegung zu wagen. Cindy hatte ihm versichert, dass er nicht gelähmt sei, dass alles gut würde, aber konnte er ihr trauen? Vielleicht hatte sie nur verhindern wollen, dass er in Panik geriet.

Immerhin war er am Leben.

Er hätte so leicht tot sein können.

Er hätte sterben können. Heute.

Tief in seiner Brust baute sich stärker werdender Druck auf, bis er fürchtete, dass sein Brustbein unter der Belastung platzen könnte. Seine Kehle wurde so eng, dass es schmerzte. Wilde, aber ganz klare Erinnerungen blitzten in seinem Kopf auf.

Er ballte die rechte Hand zur Faust, um das Zittern zu unterdrücken. Tränen rannen aus seinen Augenwinkeln und rollten über seine Schläfen. Obwohl er eisern versuchte, sich zu beherrschen, kam ein Schluchzer über seine Lippen.

***

»Mr. Hudson?«

Calder hatte nicht gemerkt, dass er eingeschlafen war. Eigentlich hatte er wach bleiben wollen. Das müssen die Medikamente sein, dachte er.

Oder sein Gehirn hatte ihm einen Gefallen getan und sich abgeschaltet, damit er wenigstens vorübergehend den Amoklauf vergessen konnte, den er – im Gegensatz zu anderen – durch eine glückliche Fügung des Schicksals überlebt hatte.

Er wollte nicht darüber nachdenken, warum er wider jede Wahrscheinlichkeit mit dem Leben davongekommen war. Die Frage war zu heikel und zu komplex, als dass er sie jetzt beantworten wollte. Oder jemals.

»Mr. Hudson?«

Er begriff, dass er das Aufwachen nicht länger hinauszögern konnte, und öffnete blinzelnd die Augen.

Er blickte in das Gesicht eines Mannes. »Ich bin Dr. Montgomery, Chefarzt der Chirurgie. Ich habe Sie in der Notaufnahme behandelt, aber daran erinnern Sie sich wahrscheinlich nicht. Später habe ich die Operation an Ihrem Arm überwacht, die meiste Arbeit haben allerdings andere aus unserem Team gemacht. Wie fühlen Sie sich?«

Der Arzt trug einen sauberen Kittel, kam also nicht direkt aus dem Operationssaal, aber er sah so aus, als hätte er lange, schwere Stunden darin verbracht. Er wirkte unendlich müde. Sein schütteres Haar war von grauen Strähnen durchzogen, und Calder tröstete sich mit dem Gedanken, dass der für seine Operation verantwortliche Arzt wenigstens kein Grünschnabel gewesen war.

»Dumme Frage, wie?« Montgomery lächelte spröde. »Wie fühlen Sie sich unter den gegebenen Umständen?«

Calder räusperte sich. »Was ist mit meinem Arm?«

»Die Kugel ist hier eingedrungen.« Er deutete auf einen Punkt zwei Fingerbreit über Calders Ellenbeuge. »Sie hat Ihren Oberarmknochen gestreift und ist auf der Rückseite knapp unter der Schulter wieder ausgetreten. Das Gelenk wurde nicht getroffen, insofern können Sie sich glücklich schätzen. Wir haben alle Knochensplitter mit der Pinzette entfernt. Unser Gefäßchirurg musste eine größere Arterie flicken, um die Blutzufuhr in Ihren Unterarm und zur Hand wiederherzustellen. Für eine Schussverletzung haben Sie wirklich Glück gehabt. Ihre Kopfverletzung hat uns mehr Sorgen bereitet.«

»Kopfverletzung?«

»Offenbar sind Sie mit dem Kopf auf dem Boden aufgeschlagen. Ungebremst. Als Sie eingeliefert wurden, haben Sie zwar reagiert, aber Sie waren bewusstlos. Wir haben ein CT gemacht, um mögliche Blutungen, Frakturen oder eine Gehirnquetschung auszuschließen. Wir haben nichts gefunden. Sie haben eine schwere Gehirnerschütterung, und Ihr Gehirn ist leicht angeschwollen, aber nicht dramatisch. Das lässt sich mit Medikamenten und zusätzlichem Sauerstoff behandeln.« Er zeigte auf die Kanüle.

»Ich habe höllische Kopfschmerzen.«

Der Arzt nickte. »Das ist kaum zu vermeiden, aber die werden vergehen. Der zuständige Neurologe wird später vorbeischauen und Ihr Reaktionsvermögen testen, aber Sie machen keinen verwirrten Eindruck. Ihre Sprache ist nicht beeinträchtigt. Sehen Sie verschwommen?«

»Nicht mehr seit dem ersten Aufwachen. Aber ich brauche jedes Mal ein paar Sekunden, bis ich scharfsehe.«

»Auch das ist normal.« Der Chirurg hob Calders linke Hand an. »Können Sie Ihre Finger bewegen? So, als würden Sie Klavier spielen.«

Calder trippelte mit den Fingerspitzen auf der Hand des Arztes und wurde plötzlich daran erinnert, wie er mit den Fingern ungeduldig auf seinen Oberschenkel getrommelt hatte, während er in der Schlange stand, um das Drehkreuz am Eingang zum Festplatz zu passieren.

Wäre er nicht angeschossen worden, wenn er sich nicht verspätet hätte? Oder wäre er sogar gestorben, wenn er sich ein paar Sekunden länger verspätet hätte? Welche Unwägbarkeit des Schicksals hatte dafür gesorgt, dass er von einer Kugel getroffen wurde? Und was hatte ihn davor bewahrt, dass die Kugel statt seines Oberarms sein Herz durchschlagen hatte?

Sichtlich zufrieden, dass Calder seine Finger wie angewiesen bewegen konnte, legte der Arzt seine Hand wieder auf dem Bett ab. »Weder ich noch der Neurochirurg konnten größere Nervenschäden feststellen, aber sagen Sie sofort Bescheid, wenn sie irgendwo im Arm ein Taubheitsgefühl oder Kribbeln spüren. Zur Sicherheit machen wir morgen noch ein CT. Wir behalten Sie zur Kontrolle ein paar Tage hier und geben Ihnen über den Tropf ein Antibiotikum, damit es zu keiner Infektion kommt, aber danach können wir Sie hoffentlich nach Hause schicken, wo Sie Ihren Arm schonen und ausheilen lassen sollten. Wenn keine weiteren Komplikationen auftreten, wird Ihnen der Orthopäde anschließend ein paar Wochen Physiotherapie verordnen, um den Muskelaufbau und die Beweglichkeit zu fördern. Sie sind siebenunddreißig?«

»Achtunddreißig in einem Monat.«

»Also, Ihr allgemein guter Gesundheitszustand spricht für Sie. Abgesehen von der Verletzung sind Sie fit. Ihr Blutbild war einwandfrei. Sie werden Narben an den Eintritts- und Austrittswunden zurückbehalten, aber ansonsten werden die Verletzungen ausheilen. In ein paar Monaten sollte Ihr Arm so gut wie neu sein.«

»Das erleichtert mich sehr. Danke.«

Der Arzt schwieg eine Sekunde, dann sagte er: »Später wird eine Psychologin für ein Gespräch vorbeikommen.«

»Das ist nicht nötig.«

»Das wird grundsätzlich so gehandhabt, wenn ein Patient ein traumatisches Ereignis durchlebt hat.«

»Aber ich handhabe das anders. Ich will nicht über das Ereignis sprechen. Ich will es vergessen.«

Der Arzt schaute ihm in die Augen, bis es Calder unangenehm wurde, und erklärte dann ruhig: »Die Schwellung in Ihrem Gehirn wird in ein, zwei Tagen zurückgehen. Aber was dieses Gehirn gespeichert hat, wird Sie tagtäglich für den Rest Ihres Lebens begleiten. Sie haben sich während der Krise sehr tapfer verhalten, Mr. Hudson. Seien Sie jetzt nicht feige. Sprechen Sie mit der Psychologin.«

***

Calder verlor jedes Zeitgefühl. Krankenhausangestellte rotierten durch sein Krankenzimmer wie Zirkusclowns auf einem Miniaturauto. Seine Temperatur wurde gemessen. Ihm wurde Blut abgenommen. Einmal pro Stunde musste er sich aufsetzen und in ein Spirometer pusten.

Nachdem er das Ginger Ale wieder erbrochen hatte, wurde ihm ein Mittel gegen Übelkeit angeboten. Doch als die Krankenschwester mit einem Zäpfchen ankam, stellte er sich stur. Lieber würde er seinen Mageninhalt bis zu den Zehennägeln erbrechen.

Eine Schwester, die aussah, als wäre sie zwölf Jahre alt, überprüfte seinen Katheter und maß nach, wie viel Urin sich im Beutel angesammelt hatte. Er wäre vor Verlegenheit fast gestorben.

Zwischen den ständigen Unterbrechungen versuchte er zu schlafen; er sehnte sich zurück in die Bewusstlosigkeit, aber sein verletzter Arm hatte zu pochen begonnen, als wäre er ein eigenständiges Lebewesen mit eigenem Puls. Seine Kopfschmerzen explodierten bei all der Hektik um ihn herum.

Er bekam mitgeteilt, dass man seine Freundin nicht zu ihm gelassen habe, weil er noch nicht von der Polizei befragt worden war. Wer auch immer Shauna abgewiesen hatte, tat ihm leid. Garantiert war sie an die Decke gegangen. Shauna Calloway aus dem preisgekrönten Nachrichtenteam bei Channel Seven war es nicht gewohnt, abgewiesen zu werden.

Aber insgeheim war er erleichtert, dass man ihr den Besuch verwehrt hatte. Denn er hätte sich nicht nur geschämt, wenn sie ihn in diesem erbärmlichen Zustand gesehen hätte, sie hätte sich auch bekümmert, dankbar, mitfühlend und beflissen gezeigt. Sie neigte zum Drama. Und im Moment hatte er nicht die Kraft für überbordende Gefühle.

Außerdem wäre sie neugierig gewesen. Sie hätte nach Informationen geforscht, ihn auf alle Details hin ausgehorcht und bohrende Fragen gestellt, die er nicht beantworten konnte oder wollte.

Und so legte sich ein beklemmendes Gefühl wie ein eisernes Kettenhemd auf ihn, als zwei Unbekannte sein Zimmer betraten und sich als Detectives vom CID des Sheriff’s Office vorstellten.

Kapitel 3

Die männliche Hälfte des Paares war dem Augenschein nach in den Fünfzigern. Der Detective war durchschnittlich groß, durchschnittlich schwer und auch in jeder anderen Hinsicht durchschnittlich – abgesehen von den Charakterzügen, die man einem Detective gewöhnlich zuschreiben würde.

Sein Gesicht wirkte zwar leicht verdrießlich, aber er hatte nichts Kantiges oder Zähes, nichts Verhärtetes an sich. Er hätte auch Calders Steuererklärung bearbeiten können. Sein Nachname lautete Perkins, den Vornamen bekam Calder nicht mit.

Seine Partnerin hingegen war in keiner Hinsicht durchschnittlich. Sie hatte eine gigantische Frisur, gigantische Zähne und gigantische Brüste, die gegen die Knöpfe der hellblauen Bluse unter ihrem dunkelblauen Blazer drängten. Sie hieß Olivia Compton. Sie war nicht so alt wie Perkins, wirkte aber entschieden durchsetzungsstärker. Trotz ihres mütterlichen Busens war sie durch und durch sachlich.

»Wie fühlen Sie sich, Mr. Hudson?«, fragte sie ihn jetzt.

»Wie Hundescheiße. Und Sie?«

Eine bleistiftdünne Braue wanderte nach oben. Sie warf Perkins einen kurzen Blick zu, doch ihr Partner zeigte keine Reaktion. Sie sah wieder Calder an und sagte: »Ich glaube, diese Antwort bedarf keiner weiteren Erläuterung.«

»Wofür steht CID?«

»Criminal Investigations Division.«

»Sie wollen mich zu dem Amoklauf befragen?«

»Das lässt sich leider nicht vermeiden. Perkins und ich verstehen, wie schwer das für Sie sein muss.«

»Warum muten Sie mir es dann jetzt schon zu?«

»Das hier ist nur eine Vorbefragung. Wir werden es kurz halten.«

Calder nickte knapp. Er wollte die beiden so schnell wie möglich loswerden, aber seit er aufgewacht war, quälte ihn eine Frage: »Wie viele Opfer gab es?«

»Zwölf Verletzte, davon drei in kritischem Zustand. Fünf Todesopfer, darunter der Verdächtige. Er starb noch am Tatort. Durch eine selbst zugefügte Schussverletzung.«

Gut, dachte Calder, sprach es aber nicht aus. »Wer war er? Was hat ihn dazu getrieben?«

»Sein Name bleibt vorerst unter Verschluss, weil er noch minderjährig war.«

»Minderjährig?«

»Sechzehn.«

»Scheiße.«

»Aber er wurde schon zweimal wegen Einbruchs verhaftet, einmal wegen Diebstahls und einmal, weil er seinen Schulfreunden Gras verkauft hatte. Er saß zweimal im Jugendgefängnis ein und hat letztes Jahr die Highschool ohne Abschluss abgebrochen. Er wurde vorgestern auf dem Volksfest eingestellt und sollte an einem der Stände in der Budenstraße arbeiten.«

Perkins meldete sich zum ersten Mal zu Wort und fügte quasi als Fußnote an: »Wir versuchen noch herauszufinden, was ihn dazu getrieben hat.«

»Vielleicht brauchte er gar keinen Anlass«, meinte Calder zornig. Der Junge klang nach einem Verlierer, der nach Res-pekt und Anerkennung gierte und deshalb Amok gelaufen war, wobei er mindestens vier Menschen getötet hatte. Calder hätte dem Hurensohn liebend gern bei lebendigem Leib die Haut von den Knochen gezogen. »War er auf Drogen?«

»Das wird die Autopsie zeigen«, sagte Compton. »Aber er musste einen Drogentest machen, bevor er eingestellt wurde.«

»Der lässt sich manipulieren.«

Die Polizisten nickten ernst und Compton fuhr fort. »Wir versuchen sein Motiv zu ermitteln, deshalb müssen wir mit jedem sprechen, der etwas gesehen oder gehört haben könnte, was uns einen Hinweis liefern kann. Zum Beispiel, ob Sie ihn zuvor in irgendeiner Auseinandersetzung beobachtet haben.«

»Ich bin gar nicht bis zur Budenstraße gekommen und ich habe keine Auseinandersetzung beobachtet.«

»Das war nur als Beispiel gedacht«, sagte sie. »Schildern Sie uns, was Sie erlebt haben.«

»Jetzt?«

»Wir halten es kurz.«

Das hatte sie schon einmal gesagt, dabei dauerte ihm schon diese Vorbesprechung zu lange. Sein Kopf brachte ihn um, sein Arm auch, und sein Magen drohte immer noch zu rebellieren. Vielleicht hätte er sich doch das Zäpfchen geben lassen sollen.

Er hasste es, so hilflos zu sein. Doch die beiden Ermittler hielten die Zügel in der Hand, sie hatten die Macht, und ihre Mienen waren so unnachgiebig wie die Felsgesichter am Mount Rushmore, also war es vielleicht am besten, wenn er wiedergab, was ihm im Gedächtnis geblieben war, damit sie ihn endlich in Ruhe ließen.

»Als ich auf das Gelände kam …«

Perkins unterbrach ihn. »Erst hätten wir gern etwas über Sie erfahren.«

»Was denn?«

»Alles, was wir nicht von Ihrem Führerschein ablesen konnten. Stimmt die angegebene Adresse?«

»Ja.«

»Sind Sie verheiratet?«

»Nein, aber ich lebe mit meiner Freundin zusammen.«

»Wie heißt sie?«

»Shauna Calloway?«

Die beiden hörten auf, in ihre kleinen Notizbücher zu kritzeln, und sahen erst ihn, dann einander und dann wieder ihn an. »Die Shauna Calloway von Channel Five?«, fragte Compton.

»Channel Seven, aber ja.«

»Hm. Wussten Sie, dass Sie ein Interview …«

»Ja. Wir wollten uns dort treffen und gemeinsam das Konzert anhören.«

»Es wurde abgesagt«, tröstete ihn Perkins.

»Haben Sie seit dem Amoklauf mit Ms. Calloway gesprochen?«, fragte Compton. »Weiß Sie, dass Sie verletzt wurden?«

»Ich habe noch nicht mit ihr gesprochen, aber sie hat irgendwie erfahren, dass ich angeschossen wurde. Ein Pfleger hat mir erzählt, dass sie im Krankenhaus war, dass man sie aber nicht zu mir lassen wollte, weil Sie noch nicht mit mir gesprochen hatten.«

»Da sie mit ihrem Aufnahmeteam schon vor Ort war, konnten sie die Story als Erste bringen«, fuhr Compton fort. »Schon wenige Minuten nach dem Vorfall berichtete sie live vom Tatort.«

Shauna hätte sich eine solche Gelegenheit um nichts in der Welt entgehen lassen, dachte Calder. Eigentlich hätte er sich für sie freuen sollen. Stattdessen empfand er unerklärlichen Groll.

»Bei wem sind Sie beschäftigt, Mr. Hudson?«, fragte Perkins.

»Ich bin selbstständig.«

»Und was machen Sie?«

Er entschied sich für die unverbindlichste Antwort. »Ich bin Berater.«

»Und wen beraten Sie?«

»Unternehmen.«

Seine unverbindlichen Antworten kamen bei Compton nicht gut an. »Und in welchem Bereich, Mr. Hudson?«

»Das hängt von meinen Auftraggebern ab.« Er massierte mit der rechten Hand seine Schläfe. »Hören Sie, mir platzt gleich der Schädel. Kann das nicht warten?«

»Nur noch ein paar Fragen«, antwortete sie. »Die Schüsse fielen direkt hinter dem Nordeingang.«

»Ja, ich hatte ihn gerade passiert.«

»Waren Sie allein?«

»Wenn man von der Menschenmenge absieht, die zusammen mit mir auf das Gelände wollte … Shauna hatte angeboten, mir eine Eintrittskarte zu hinterlegen, aber ich hatte nicht fest zugesagt, also habe ich mich in die Schlange gestellt und eine Karte gekauft. Nachdem ich es durch das Drehkreuz geschafft hatte, musste ich mich durch die Menschenmenge kämpfen, die zum Ausgang drängte. Es war der Wahnsinn.«

»Wir haben die Aufzeichnungen der Überwachungskameras angesehen«, bestätigte Perkins.

»Der Schütze hätte keine bessere Stelle für einen Amoklauf finden können«, sagte Calder. »Die Leute standen so dicht, dass er auf jeden Fall innerhalb kürzester Zeit mehrere Menschen treffen musste. Obwohl es mir wie eine Ewigkeit vorkam, als es wirklich passierte.«

»Hier ist ein Polizeifoto des Verdächtigen. Können Sie sich erinnern, ob Sie ihn gesehen haben?« Compton zog ein Foto aus der Tasche ihres Blazers und reichte es ihm.

Der Typ sah so aus, wie Calder es erwartet hatte: die Augenlider auf halbmast, lange, ungewaschene Haare und eine Miene, die »Fick dich!« sagte. Innerhalb weniger Minuten hatte er es vom Totalversager zum Massenmörder gebracht. Glückwunsch, du Arschloch.

Angewidert gab Calder das Bild zurück. »Ich kann mich nicht erinnern, ihn gesehen zu haben, aber ich kann es auch nicht ausschließen. Es war ein brutales Gedränge.«

»Was taten Sie, als Sie den ersten Schuss hörten?«

»Da kämpfte ich mich gerade durch die Menge. Shauna hatte mir gesagt, dass sie hinter der Bühne sein würde. Ich überlegte gerade, wie ich am schnellsten zu ihr kommen würde.«

»Und was dachten Sie, als Sie die ersten Schüsse hörten?«

»Ich dachte, irgendein kranker Irrer schießt auf uns.«

Erneut wechselten die Ermittler einen Blick und sahen dann wieder ihn an. »Wir überprüfen, ob bei dem Verdächtigen eine Vorgeschichte an psychischen Erkrankungen vorlag«, erklärte Compton.

»Falls bisher nichts vorlag, dann spätestens jetzt.«

Compton ließ das unkommentiert. »Sie wussten sofort, dass Sie einen Schuss gehört hatten?«

»Ja. Mein Dad ist Sportschütze und besitzt mehrere halb automatische Waffen. Heute nicht mehr ganz so viele wie früher, aber als ich jung war, war ich oft mit ihm auf dem Schießstand. Wir trugen immer Ohrenschützer, trotzdem weiß ich, wie es sich anhört, wenn eine Waffe abgefeuert wird. Was hat der Typ benutzt?«

»Eine Glock 34.«

Calder kannte die halb automatische Neun-Millimeter, die auch bei Gesetzeshütern beliebt war.

»Mit einem Magazin für achtzehn Schuss«, ergänzte die Ermittlerin. »Es war leer.«

Also hatte er sich die letzte Kugel in den Schädel gejagt, dachte Calder.

»Besitzen Sie eine Waffe, Mr. Hudson?«, fragte Compton.

»Nur ein Jagdgewehr, aber ich gehe kaum noch jagen. Das letzte Mal war vor ein paar Jahren. Seither wurde die Waffe nicht mehr abgefeuert.«

»Wir haben auf den Überwachungskameras gesehen, wie Sie sofort in die Hocke gingen und den Mann neben Ihnen am Ärmel packten«, meinte Perkins, »um ihn ebenfalls zu Boden zu ziehen.«

»Wirklich? Ich kann mich nicht erinnern.«

»Er schon.« Compton zog wieder die Braue hoch.

»Hat er überlebt?«

»Dank Ihnen.«

Calder fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Das war nicht mein Verdienst. Es war ein Impuls.«

»Man sieht, wie Sie den Menschen etwas zurufen und ihnen Zeichen geben, sich zu ducken.«

»Ich kann mich wirklich nicht erinnern.«

»Haben Sie eine militärische Ausbildung?«

»Nein. Ich habe nie gedient.« Er versuchte, sich bequemer hinzulegen, aber unter all den Schläuchen war er praktisch gefesselt. »Ich habe Schmerzen und bin müde. Ich kann mich an kaum etwas erinnern. Ich habe spontan reagiert. Das reicht doch, oder nicht?«

»Können Sie sich erinnern, einem Kinderwagen nachgerannt zu sein?«

Er schloss die Augen. Sobald er nachzudenken versuchte, verschlimmerten sich seine Kopfschmerzen. »Erst jetzt. Wo Sie es sagen.«

»Kannten Sie das Kind?«

»Nein.«

»Die Eltern?«

»Nein. Ich war an dem Kinderwagen vorbeigekommen …«

Jetzt fiel ihm wieder ein, dass er sich über das unförmige Ding geärgert hatte, das ihm den Weg versperrte, und dass er sich gefragt hatte, wie jemand mit einem Funken Verstand sein Kind dieser bakterienverseuchten Menge aussetzen und versuchen konnte, ein Ungetüm wie diesen Kinderwagen durch ein so dichtes Gedränge zu manövrieren.

»Mr. Hudson?«, fragte Compton. »Was wollten Sie gerade sagen?«

»Ich …« Was hatte er sagen wollen? »Ach ja, kurz bevor der erste Schuss fiel, musste ich ihm ausweichen. Dem Kinderwagen.« Dabei hatte er eine Frau angerempelt, vermutlich die Mutter des Kindes.

Die beiden Ermittler sahen ihn an, als warteten sie auf eine ausführlichere Erklärung. »Als ich, äh, in die Hocke ging, drehte ich mich um und schaute in Richtung Ausgang. Wahrscheinlich wollte ich abschätzen, wie weit es bis dorthin war. Ob ich ein leichtes Ziel abgeben würde, wenn ich losrennen würde. So ungefähr. Allerdings weiß ich nicht, ob ich all das wirklich gedacht habe, es war eher … keine Ahnung. Wir reden hier von Sekundenbruchteilen. Jedenfalls sah ich in diesem Moment einen Mann gegen den Kinderwagen laufen. Ich dachte, diese Dinger wären so konstruiert, dass sie nicht umfallen können, aber dieser Mann prallte so heftig dagegen, dass der Wagen zu kippen drohte. Er rollte los, durch die Leute hindurch, brachte sie zum Stolpern.« Er sah nacheinander die beiden Ermittler an. »Ich reagierte rein instinktiv und jagte ihm hinterher.«

»Sie versuchten, den Kinderwagen aufzuhalten, und der riss Sie mit zu Boden, als Sie getroffen wurden. Auf dem Video ist deutlich Ihr schmerzverzerrtes Gesicht zu sehen.«

Calder stellte sich Comptons durchdringendem Blick und bemühte sich, diese Information zu verarbeiten. »Ich kann mich nur an einen Schlag erinnern und danach an nichts mehr.«

»Sie wollten den Kinderwagen festhalten, trotzdem kippte er um, als Sie getroffen wurden. Sie fielen darüber und schlugen mit dem Kopf auf den Asphalt.«

»Das erklärt die Gehirnerschütterung.«

Compton sah ihren Partner an. Perkins erwiderte den Blick völlig regungslos, trotzdem hatten sie sich wohl ausgetauscht, denn gleich danach richtete sie sich zu ihrer vollen Größe auf und steckte ihr Notizbuch ein. »Die Ärzte haben uns nur fünf Minuten gegeben«, sagte sie. »Wir verabschieden uns jetzt, aber wahrscheinlich kommen wir morgen noch einmal vorbei. Ein Schlag gegen den Kopf wie bei Ihnen beeinträchtigt in den meisten Fällen das Erinnerungsvermögen und löst eine temporäre Amnesie aus. Vielleicht fällt Ihnen in den nächsten Stunden noch etwas ein, was Ihnen bis jetzt entfallen war. An den Kinderwagen haben Sie sich auch erst erinnert, als ich ihn erwähnt habe. Bitte rufen Sie uns sofort an, falls Ihnen irgendetwas in den Sinn kommt.« Sie legte eine Visitenkarte auf seinen Nachttisch. »Wir brauchen so viele Informationen wie möglich, um das Motiv des Täters eingrenzen zu können.«

»Tut das denn noch irgendwas zur Sache?«

»Durchaus, wenn er mit jemandem zusammengearbeitet hat, der noch frei herumläuft.« Sie ließ ihre Worte nachwirken und ermahnte ihn zum Abschied: »Ruhen Sie sich aus, Mr. Hudson.«

Während sich das Duo abwandte, verabschiedete Calder sich murmelnd und fragte dann: »Was ist mit dem Kind im Kinderwagen?«

Die beiden Ermittler drehten sich wieder um. »Ein zweijähriger Junge. Charlie Portman.«

»Wurde er verletzt, als das Ding umfiel? Ist ihm etwas passiert?«

Zum ersten Mal, seit sie sein Zimmer betreten hatte, ließ sie ihre unnahbare Maske fallen und sah ihn mit tiefem Gefühl an. »Nein. Er wurde getroffen.«

Calders Herz krampfte sich zusammen. Er schaute die Ermittlerin bitterlich flehend an, doch sie ergänzte erbarmungslos: »Er starb noch am Tatort.« 

Kapitel 4

»Das überlebe ich nicht, Glenda.« Elle beugte sich vor, vergrub ihr Gesicht in dem Plüschhasen auf ihrem Schoß und weinte in den genoppten Stoff, der immer noch nach Charlie roch.

Glenda legte eine Hand auf ihren Rücken und ließ sie tröstend kreisen. »Ich weiß, du denkst, dass du das nicht überleben wirst, aber du kannst es. Einen winzigen Schritt nach dem anderen.«

Elle weinte so heftig, dass sie nicht mitbekam, wie Glenda den Motor abstellte, ausstieg und ihr die Beifahrertür aufhielt, bis sich ihre Freundin schließlich ins Auto beugte und ihr heraushalf.

Elle blieb neben dem Auto stehen und starrte auf ihre Haustür. Ihr graute vor dem Augenblick, in dem sie diese Tür öffnen würde, denn sie wusste, dass in diesem Moment all die schrecklichen Ereignisse, seit sie das Haus am Nachmittag zuvor verlassen hatte, über sie hereinbrechen würden. Vielleicht war es mehr, als sie ertragen konnte.

»Schritt für Schritt«, flüsterte Glenda. »Jetzt komm.«

Ohne Glenda hätte Elle den Weg niemals geschafft, aber gemeinsam gelangten sie bis zur Haustür. Glenda zauberte irgendwo einen Hausschlüssel hervor, obwohl Elle sich nicht erinnern konnte, ihn ihr gegeben zu haben. Sie schloss auf und führte Elle sanft ins Haus.

Auf dem Tisch gleich hinter der Tür stand Charlies Feuerwehrauto, das sie dort abgestellt hatte, bevor sie zum Volksfest aufgebrochen waren und nachdem sie ihn mühsam überzeugt hatte, dass es zu groß für ihre Tasche war und er es ganz bestimmt nicht für alle Zeiten zurücklassen würde, so wie er es mit dem Verstand eines Zweijährigen empfand. Sie hatte versprochen, dass es dort auf ihn warten würde, wenn sie zurückkämen.

Das Feuerwehrauto stand wie versprochen dort. Doch Charlie würde nicht zurückkehren.

Sie schluchzte. Ihre Knie knickten ein. Glenda hakte sich bei ihr unter und führte sie ins Wohnzimmer zu einem breiten Sessel. Elle sackte wie eine Lumpenpuppe in die Polster.

Vom Sessel aus sah sie unter dem Sofa an der Wand gegenüber einen von Charlies Turnschuhen liegen. Der Turnschuh war vor ein paar Tagen verschwunden, und sie hatte ihrer Meinung überall danach gesucht; nun ja, außer offenbar unter dem Sofa.

Sie durfte nicht vergessen, ihn später hervorzuholen, aber im Moment hatte sie nur noch die Kraft, wie gelähmt dazusitzen und mit tränenverhangenen Augen auf den kleinen, verwaisten Schuh zu starren.

Glenda ging vor ihr in die Hocke. »Möchtest du irgendwas?«

»Ja. Ich möchte aufwachen und feststellen, dass alles nur ein schrecklicher Traum war.«

»Was kann ich für dich tun, Elle?«

»Die Zeit zurückdrehen?«

»Ich wünschte von ganzem Herzen, ich könnte es. Aber das kann ich nicht.«

»Dann nichts. Außerdem hast du schon genug getan. Du bist sicher vollkommen erschöpft. Fahr nach Hause.«

»Kommt nicht infrage.«

»Du brauchst nicht hierzubleiben.«

»Ich bin hier und ich bleibe hier.«

Glenda stand auf, ging zum Sofa, setzte sich darauf und zog die Cowboystiefel aus. Dann folgten die Fransenjacke und schließlich die Perlenstränge um ihren Hals.

Glenda trug immer noch dieselben Sachen wie bei ihrer Ankunft auf dem Volksfest. Irgendwann in den letzten zwölf Stunden – wann, konnte Elle nicht mehr genau sagen – hatte jemand, an den sie sich nicht erinnern konnte, ihre blutverschmierte Kleidung gegen einen Krankenhauskittel und ein Paar Gummilatschen getauscht. Das Blut auf ihrer Kleidung stammte von dem älteren Mann, mit dem sie geredet hatte – und von Charlie.

Ihr gesunder Sohn hatte einen festen kleinen Körper gehabt. Sie hatte ihn oft geneckt, indem sie ihn spielerisch in den Bauch gepikt hatte. Doch er hatte sich unendlich klein, schutzlos und zerbrechlich angefühlt, als sie ihn an ihre Brust gedrückt und flehentliche Gebete zum Himmel geschickt hatte, einen Atemzug oder ein Weinen hören oder einen Herzschlag spüren zu dürfen. Sein süßer Körper, der sonst so energisch und so willensstark herumgetobt war, war schlaff und reglos geblieben. Leblos.

Sie schluchzte wieder.