Sicilia Nuova - Alex Mann - E-Book

Sicilia Nuova E-Book

Alex Mann

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Beschreibung

Die Politik akzeptiert uns. Manche bezeichnen uns als Schattenstaat. Aber in schizophrener Weise geht ein guter Teil des neuen Glanzes in diesem Land von unserem Schatten aus. In Italien ist man dumm genug, die Gesellschaft zu bekämpfen. Man versucht, ihre Macht einzuschränken und ihre Gelder zu konfiszieren. Diese Idioten werden nie verstehen, dass sie sich damit vor allem selbst schaden. Der neue Osten ist anders. Er ist frei. Und für uns ist diese Freiheit am schönsten. Es ist eine neue Heimat. Ein neues Sizilien.Joseph Petri ist ein hochrangiges Mitglied der sizilianischen Mafia. Er hat maßgeblich dabei geholfen, deren Machtstrukturen nach der deutschen Wiedervereinigung auch auf die neuen Bundesländer auszudehnen. Doch nach dem Mord an Richter Giovanni Falcone bekommt er es wie viele Mafiosi mit der Angst zu tun und stellt sich eines Abends der Polizei.In einem kleinen Verhörzimmer erzählt er dem ehemaligen Volkspolizisten Frank Henschel seine Lebensgeschichte. Henschel, ohnehin geschockt von den neuen Formen der Kriminalität und Gewalt, die nach der Wende über den Osten hereingebrochen sind, hört ihm ungläubig zu. Vor ihm sitzt ein charismatischer Mann, ein liebender Familienvater, der ihm ganz selbstverständlich berichtet, wie die Mafia den Staat unterwandert, mit brutalen Mitteln die Konkurrenz aus dem Weg räumt und Kritiker zum Schweigen bringt.

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Alex MannSICILIA NUOVA

In dieser Reihe bisher erschienen

7001 Stefan Melneczuk Marterpfahl

7002 Frank W. Haubold Die Kinder der Schattenstadt

7003 Jens Lossau Dunkle Nordsee

7004 Alfred Wallon Endstation7005 Angelika Schröder Böses Karma

7006 Guido Billig Der Plan Gottes7007 Olaf Kemmler Die Stimme einer Toten

7008 Martin Barkawitz Kehrwieder7009 Stefan Melneczuk Rabenstadt

7010 Wayne Allen Sallee Der Erlöser von Chicago

7011 Uwe Schwartzer Das Konzept7012 Stefan Melneczuk Wallenstein

7013 Alex Mann Sicilia Nuova

Alex Mann

SICILIA NUOVA

THRILLER

Diese Reihe erscheint als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2021 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckRedaktion: Jörg KaegelmannTitelbild: Alexander EisfeldtUmschlaggestaltung: Mario HeyerSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-322-3Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!

Eins

„Das war für uns damals wie der Oklahoma Land Rush für die Amis. Wissen Sie, was der Oklahoma Land Rush war? Kennen Sie den Film Cimarron? Nein? Müssen Sie sich mal ansehen. Ein cooler Western mit Glenn Ford. Ein genialer Film.

Jedenfalls für uns, also die ehrenwerte Gesellschaft, war der Fall der Mauer das gleiche wie für die amerikanischen Siedler die Freigabe Oklahomas. Der Osten bot riesige Investitionsmöglichkeiten, und er war besiedelt mit sechzehn Millionen Dummköpfen, die ganz betrunken waren vor Freude, ein Teil der westlichen Welt zu sein. Die haben doch noch immer keine Vorstellung, was diese westliche Welt wirklich ist. Das wissen ja nicht einmal die Wessis.

Die dummen Ossis setzten sich also in ihre niedlichen Trabis, fuhren an die gefallene Grenze, bekamen ihre hundert D-Mark als Begrüßungsgeld und hatten sie nach einer Stunde auf der anderen Seite für irgendwelchen Mist ausgegeben. Wir haben die freie Spur der Autobahn genutzt, sind in Honis ehemaliges Reich gefahren und hatten säckeweise dreckiges Geld im Kofferraum. Sie wissen schon, Geld aus Drogengeschäften, illegalem Glücksspiel, Prostitution, das haben sie ja vielleicht auch alles schon in Filmen gesehen. Mit dieser Kohle sind wir rüber gefahren und haben für ´nen Appel und nen Ei gekauft, was an der DDR noch wertvoll war, Gebäude und Grundstücke. Und schon hatten wir sauberes Geld. Wir kauften Miethäuser auf, eröffneten Restaurants, vergaben Kredite zu überteuerten Zinsen an die sterbende Wirtschaft. Im Prinzip war das moderner Merkantilismus. Die Regierung gab den Ossis Geld, damit sie konsumieren konnten. Westwaren natürlich. Aber ein guter Teil des Geldes landete bei uns. Ihr Ossis habt doch alles gekauft, was aus dem Wesen kam. Unsere Restaurants mussten nicht einmal gut sein. Sie waren italienisch. Exotisch. Also lief der Laden. Wir haben hier drüben Kohle gemacht, wie blöd.

Das war Phase eins.

In der Phase zwei musste Westdeutschland irgendwie auch in den neuen Ländern Fuß fassen. Das heißt, drittklassige Beamte, Juristen und Politiker, die in der alten Heimat nie eine Chance auf eine große Karriere gehabt hätten, kamen als zweite Besiedlungswelle ins Land der ehemals roten Männer. Es waren Leute, die alles dafür tun würden, um in ihren Jobs irgendwie aufzusteigen und zu Geld zu kommen. Kurzum, es waren natürlich die allerbesten Partner für uns. Es waren Menschen, die mehr vom Leben wollten, als sie auf legalem Wege erreichen konnten. Und die Gesellschaft wollte auch mehr. Mehr Macht. Und die erlangt man am besten, indem man die Menschen kauft, die sie besitzen. Sie glauben gar nicht, mit was für erbärmlichen Kreaturen wir es da teilweise zu tun bekamen. Die wussten gar nicht, dass sie mächtig waren, oder verstanden gar nicht, wie man sie benutzt, die Macht. Für diese dummen Wessis war die Macht wie für die Ossis ein Westfernseher mit Fernbedienung. Sie haben gar nicht kapiert, was sie da alles hatten. Also haben sie sie verkauft.

Und jetzt waren wir richtig dick im Geschäft drin. Drüben, vor allem im Pot, sind wir nie über Geldwaschanlagen in Form von Pizzerien hinaus gekommen. Hier im Osten besaßen wir innerhalb von Monaten Grundstücke und Immobilien, die billigsten Kneipen und die nobelsten Hotels. Diese Gebäude waren goldene Grabsteine für schmutzige Lire, und sie schissen tonnenweise schöne, saubere D-Mark. Wir konnten uns die Welt nicht schöner vorstellen.

Wenn Sie jetzt da raus schauen, dann sehen Sie eine triste, graue Stadt an einem verseuchten Fluss. Aber Sie sehen auch Handwerker, die überall ihre Brötchen verdienen, die verwitterten Fassaden neu streichen. Sie sehen riesige Betonmischer und Kräne über den Gruben, aus denen sich neue Gebäude erheben, Gewerbehallen, Bürokomplexe, Luxusappartements, selbst Regierungsgebäude. Nur für diese protestantische Trümmerkirche werden wir nicht eine Lira geben, sollten sie die je wieder aufbauen wollen. Sie sehen Menschen, die in ihrer typisch grummeligen deutschen Art zufrieden damit sind, vernünftig Kohle zu verdienen, sich allen möglichen Luxus zu leisten – diese Ossis wissen dabei doch gar nicht, was Luxus ist, die halten VWs und Peugeots für tolle Autos. Sie wollen samstags zum Fußball gehen und im Sommer für ein bis zwei Wochen die Welt erkunden, die ihnen jetzt offen steht. Alle sind glücklich. Aber das Geld kommt nicht nur von der neuen Regierung. Oh nein. Es ist mailändischen Studenten für Heroin abgeknöpft, neapolitanischen Pizzabäckern als Schutzgeld geraubt und von albanischen Nutten in sizilianischen Puffs verdient worden. Es ist schmutziges Geld, mit dem hier eine neue Welt aufgebaut wird. Und deswegen verschließen sogar die wenigen Menschen in Politik und Justiz, die von der Existenz der ehrenwerten Gesellschaften wissen und sie deswegen nicht schätzen, ihre Augen davor. Warum? Weil ein guter Teil der Ossis damit ihr Brot verdient. Als Handwerker auf Baustellen, als Verwalter in Wohnungsgenossenschaften und als Kellner und Köche in unseren Restaurants. Wenn wir diese Arbeitsplätze nicht schaffen würden, dann müsste der Staat dafür Geld in die Hand nehmen. Und bei aller Liebe. Das Geld hat selbst das mächtige, wiedererstarkte Deutschland nicht. Ich meine, Kohl hat doch den Osten nicht dazu geholt, weil es sich der Westen leisten konnte, sondern weil er selbst pleite gegangen wäre, wenn er seinen Binnenmarkt nicht um sechzehn Millionen Hohlköpfe vergrößert hätte.

Die Politik akzeptiert uns. Manche bezeichnen uns als Schattenstaat. Aber schizophrenerweise geht ein guter Teil des neuen Glanzes in diesem Land von unserem Schatten aus. In Italien ist man so dumm zu versuchen, die Gesellschaft zu bekämpfen, ihre Macht einzuschränken und ihre Gelder zu konfiszieren. Diese Idioten werden nie verstehen, dass sie sich damit vor allem selbst schaden. Der neue Osten ist anders. Er ist frei. Und für uns ist diese Freiheit am schönsten. Es ist eine neue Heimat. Ein neues Sizilien.

Es wird noch Jahre dauern, bis die gewaltige Narbe, die die alte Mauer dargestellt hat, wirklich verheilt, bis der Osten so stark ist wie der Westen. Wenn er es überhaupt schafft. Aber dieser Heilungsprozess hängt ganz wesentlich davon ab, dass wir uns weiter daran beteiligen. Deswegen wird man die ehrenwerte Gesellschaft hier nie ernsthaft bekämpfen.

Verstehen Sie mich, Herr Kommissar? Sie schauen so … so überrascht-schockiert. Ich wette, Sie glauben mir nicht einmal fünf Prozent von dem, was ich Ihnen eben gesagt habe. Soll mir egal sein. Selbst wenn Sie mir glauben. Ein kleiner Beamter wie Sie wird gar nichts ändern können. Sie brauchen Erlaubnisse, Genehmigungen, Befehle. Und die, die ihnen diese Papiere unterzeichnen, das sind die Leute, von denen ich gerade eben geredet habe. Das sind die Menschen, die uns ihre Macht verkauft haben. Das heißt, Sie müssen die ehrenwerte Gesellschaft erst fragen, was Sie mit ihnen tun sollen. Sie tun gut daran, Herr Kommissar, so dumm zu schauen. Bleiben Sie dumm und ungläubig. Dann überleben Sie. Versuchen Sie nicht, den neuen Falcone zu spielen. Sie sehen ja, was dabei herauskommt.“

Zwei

Kommissar Frank Henschel drückte seine Zigarette, von der er gerade einmal zwei schnelle Züge genommen hatte, in dem neben ihm bereitstehenden Plastikaschenbecher aus. Seine Linke massierte nervös die blasse Haut seiner Schläfe, und seine stahlgrauen Augen musterten das Gesicht seines Gegenübers.

Giovanni Petri, der sich ihnen nur als Joe der Fisch vorgestellt hatte, saß in seinem Stuhl und sah den Kommissar mit einem amüsierten Grinsen an. Joe war von kleiner, gedrungener Statur. Er hatte leicht abstehende Elfenohren, einen schmalen Mund mit sanftem Überbiss, einem goldenen Eckzahn und eine krumme Nase. Alles in allem war er kein sehr ansehnlicher Kerl. Was Henschel am meisten irritierte, waren seine in unterschiedlichen Farben schillernden Augen. Das rechte war von einem intensiven Braun, während das linke eine seltsame Mischung von Grün- und Blautönen aufwies.

„Eins müssen Sie mir mal erklären“, brach Henschel das Schweigen und ließ die linke Hand auf die Tischplatte knallen. „Wollen Sie mich irgendwie verarschen? Haben Sie getrunken? Oder wollen Sie sich nur über die Polizei lustig machen? Wollen Sie mal schauen, ob man einen dummen Ossi an der Nase herumführen kann?“

Petri ließ ein Lächeln aufblitzen. Eigentlich war das einzige, was an seiner Kauleistenfront noch blinkte, der Goldzahn, der einen der Eckzähne ersetzen sollte. Er lachte. „Ich sagte doch, Sie glauben mir kein Wort. Zu doof, was? Aber für Sie wahrscheinlich das Beste.“

Henschel schloss die Augen und schüttelte wild seine beiden Hände, um Petri davon abzuhalten, noch mehr wirre Verschwörungstheorien von sich zu geben. „Nur noch mal für mein Verständnis. Sie sind Mitglied einer ehrenwerten Gesellschaft“, seine Hände deuteten Gänsefüßchen an, „und Sie stellen sich und wollen auspacken. Sie erzählen mir, dass diese Gesellschaft, diese … Mafia, unseren Staat unterwandert hat, Politiker und Richter gekauft hat und einen Staat im Staat errichtet hat?“

Petri wog den Kopf hin und her. „So ähnlich. Ich sehe, Sie versuchen wenigstens zu begreifen.“

„Aber wenn diese ehrenwerte Gesellschaft so ­mächtig ist – und wenn ich Sie richtig verstanden habe, steht Macht bei ihr ja höher im Kurs als Geld, richtig?“

„Ja. Macht und Geld sind auch keine Synonyme.“

„Jaja. Jedenfalls besaßen Sie dies alles als Teil dieser Gesellschaft. Und Sie sind überzeugt, dass diese Gesellschaft ein wichtiger Motor unserer am Boden liegenden Wirtschaft sei. Warum pinkeln Sie dann Ihren Freunden an die Haustür?“

Petri kicherte. „Sehr gut, sehr gut, Herr Kommissar. Ihre Sprache gefällt mir. Hihihi. An die Haustür pinkeln. Der war gut.“

Henschel fand seine eigenen Worte kaum lustig. „Beantworten Sie die verfluchte Frage!“

Petri tat, als würde er sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischen und wurde sofort wieder ernst. „Die ­hätten das mit Falcone nicht tun sollen.“

Henschel stützte seinen Kopf auf beide Hände. „Sie machen es mir wirklich schwer, Sie überhaupt ernst nehmen zu können. Wollen Sie behaupten, der Mord an Giovanni Falcone wurde von hier aus organisiert?“

„Ach, Dottore, erzählen Sie doch nicht so einen Schwachsinn. Falcone wurde direkt von den scheiß ­Corleonesis umgelegt. Das Problem ist, ich bin Sizilianer. Ich komme aus Racalmuto. Meine ganze Familie lebt noch da, meine Frau, meine Kinder. Ich arbeite zwar hier, aber ich würde gerne nach Hause. Jetzt, wo dieser Idiot Riina den Richter hat umlegen lassen, läuft einen Haufen Mafiosi zur Polizei über und lässt sich als Kronzeugen registrieren …“

„Wer ist Riina?“

Petri machte eine weitere wegwerfende Handbewegung. „Ich sehe schon, Dottore, Sie wissen gar nichts über die Gesellschaft. Salvatore Totò Riina ist der capo dei capi, der Boss der Bosse. Wenn sie die Gesellschaft als Schattenstaat ansehen, dann wäre er sozusagen der Präsident. Nicht jeder ist mit der Politik des Präsidenten einverstanden. Anscheinend hat Riinas Schattenstaat vor wenigen Monaten dem echten Staat Italien den Krieg erklärt. Und weil viele unserer Mitglieder um ihr Leben und ihre Familien fürchten – ich glaube, es wäre besser, Riina einen Diktator zu nennen, denn er wendet seine Macht eben auch gegen die eigene Familie – ähm“, Petri holte einmal Luft und versuchte kurz, seinen eben verlorenen Gesprächsfaden wieder zu finden. „Ähm, jedenfalls haben wir momentan so viele Pentitos wie noch nie.“

„Was ist ein Pentito?“

„Ein Überläufer, ein Verräter, einer, der die Omertà – das ist unser Schweigegebot – bricht und sich an die Bullen verkauft.“

„Also sind Sie ein Pentito?“

Es war erstaunlich, was dieses Wort bei Petri bewirkte. Zum ersten Mal konnte Henschel seinen Redefluss stoppen. Das Gesicht des kleinen Italieners verfinsterte sich, und er presste seine Lippen fest aufeinander. Sein Blick senkte sich auf die Finger seiner rechten Hand, die nervös auf der Tischplatte zu trommeln begannen. Dann richteten sich die bunt schillernden Augen für den Bruchteil einer Sekunde auf den Kommissar, und der Kopf zuckte in einer Art, die wohl ein Nicken darstellen sollte.

„Daher noch einmal meine ursprüngliche Frage. Warum tun Sie das?“

„Ich wollte es Ihnen gerade erklären, Herr Kommissar. Ich bin ein Teil dieser Gesellschaft, deren Macht sich überwiegend darauf stützt, dass die Menschen sie unterstützen oder ignorieren, aber vor allem darauf, dass die, die sie bekämpfen wollen, nichts über sie erfahren. Das ist ja das Prinzip einer Schattengesellschaft. Dieses Prinzip des Schweigens und Nichtwissens – also der Omertà – garantiert den Schutz eines jeden einzelnen Mitgliedes. Jetzt, wo hunderte unserer Mitglieder zu den Carabinieri gehen, müssen die, die der Gesellschaft die Treue halten, sich fragen, wann ein Spezialkommando ihnen die Tür eintritt. Ich bin oft daheim, aber die meiste Zeit meines Lebens verbringe ich hier. Die Dinge in Sizilien verändern sich gerade rasend schnell. Ich muss jedes Mal damit rechnen, dass sie mich auf dem Flughafen hochnehmen. Und wenn die rausbekommen, wer ich bin, dann gehe ich für den Rest meines Lebens in den Knast, wenn Riina das zulässt.“

„Wie meinen Sie das, wenn Riina das zulässt?“

„Etliche Pentitos, oder solche, von denen Riina befürchtete, dass sie es werden könnten, haben nicht einmal die U-Haft überlebt.“

Henschel zuckte mitleidlos mit den Schultern. „Ich schätze, dass das ein normales Risiko für das Mitglied einer Schattengesellschaft darstellt.“

„Ich habe Familie, Dottore. Und auch wenn das für einen Deutschen, besonders einen deutschen Polizisten, schwer zu verstehen ist, ich liebe meine Frau, und ich liebe meine Kinder. In Italien werde ich über kurz oder lang festgenommen, da es nur wenige Wege ins Land gibt. Die Bosse dort können sich leicht in den Bergen verstecken, aber ich muss über einen Flughafen oder Hafen ins Land. Ich habe also die Wahl zwischen Knast oder Verrat. Werde ich in Italien zum Verräter, kann mich niemand schützen. Glauben Sie mir, ich stehe zwar nicht an der Spitze der Gesellschaft, aber hoch genug, damit Riina alles unternehmen würde, um mich aus dem Weg zu räumen. Hier ist das was anderes. Wir haben zwar in der Bundesrepublik, gerade im Osten, gut Fuß fassen können, aber hier gibt es noch Möglichkeiten für die Polizei, mir Schutz zu gewähren. Deswegen komme ich zu Ihnen.“

„Sie wollen also in ein Zeugenschutzprogramm, um gegen diese ehrenwerte Gesellschaft auszusagen?“

„Richtig.“

„Solche Zusagen kann ich Ihnen gar nicht geben. Dazu müssen wir einen Staatsanwalt heran- ziehen.“

„Vergessen Sie das ganz schnell. Alle bedeutenden Staatsanwälte würden mich sofort an Don Tonino verraten.“

„Wer ist denn jetzt Don Tonino?“

Petri warf zwei verschwörerische Blicke nach links und rechts, musterte für einen Moment den Wachtmeister, der in seiner sackähnlichen Uniform vor der Wand stand, in Wahrheit lehnte er sanft dagegen, und vergewisserte sich, dass sein Blick ehrliches Desinteresse ausdrückte. „Don Tonino ist der Capo hier vor Ort. Der Boss der Familie, die die Stadt in der Hand hat.“

„Aha“, sagte Henschel mit einer Stimme, die immer noch deutlich machte, dass er der gesamten Geschichte des Pentito misstraute. „Nun, egal, wie sie das sehen. Ich muss mich an bestimmte Protokollfragen halten. Ich weiß noch nicht, ob sie mir die Wahrheit erzählen oder einen gewaltigen Bären aufbinden wollen. Aber wenn ich Ihnen den Schutz des Staates versprechen soll, dann will ich ehrlich sein und muss das von einem Staatsanwalt genehmigen lassen.“

Petri rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her. „Kann ich eine rauchen?“

Henschel griff unter sein blaues Jackett und holte eine Schachtel Zigaretten hervor, aber Petri grinste schief und wedelte abwehrend mit der rechten Hand. „Danke für das Angebot, Herr Kommissar, aber ich habe meine eigenen. Diese Ostblockstengel kann ich nicht rauchen.“

Er holte eine Packung Pall Mall hervor, zündete sich eine an und blies blauen Rauch an die im Dunkel liegende Decke. „Ich denke, ich kann Ihnen trauen, Herr Kommissar. Aber ich traue deswegen noch niemandem, dem Sie trauen. Sie wussten bis eben nichts von der Gesellschaft, und Sie wissen definitiv nicht, wer von Ihren Vorgesetzten und den Kollegen in der Justiz von uns gekauft wurde. Nein, nein, da könnte ich mir gleich ein Säurebad einlassen.“

Henschel legte seine Schachtel auf den Tisch, zog sich auch sorgsam eine Zigarette heraus und zuckte mit den Schultern, während er sie anzündete. „Mir sind da die Hände gebunden. Sie kennen doch den Ruf der Deutschen. Sture, unflexible Beamte. Wer immer das behauptet. Er hat Recht.“

Petris Finger tippelten nervös auf der Tischplatte. „Können Sie meinen Namen da raus halten?“

„Ich muss Sie ihm vorstellen.“

„Dann vergessen Sie das.“ Er beugte sich vor und zerdrückte die eben begonnene Zigarette in dem Plastikaschenbecher, den Henschel in die Mitte des Tisches geschoben hatte.

Der Kommissar massierte seine Schläfe mit dem Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand, zwischen die er die Zigarette geklemmt hatte, und betrachtete seinen Zeugen, der jetzt enttäuscht den schmalen Mund verzogen hatte und zur Seite auf die Wand starrte.

„Also gut“, meinte Henschel schließlich. „Passen Sie auf. Ich habe einen Freund bei der hiesigen Generalstaatsanwaltschaft. Ich rufe ihn an und bitte ihn hierher, um ihm Ihr Anliegen zu erläutern. Dann frage ich meinen Freund, ob er Ihnen diese Zusage geben kann, ohne dass er Ihren Namen erfährt oder weiß, worum es genau geht. Ich schildere Ihren Fall so allgemein wie möglich.“

„Sie können ihn nicht ganz heraus halten?“ Die bunt schillernden Augen richteten sich wieder auf Henschel.

„Wie ich schon sagte, das geht nicht.“

„Dann tun Sie, was Sie für richtig halten.“

Henschel nickte und verließ den Raum.

Drei

„Was ist das denn für ein Spinner?“, wollte Kommissar Schieber wissen, der mit Henschel im Justizgebäude zurück geblieben war.

„Das muss ich noch heraus finden“, erwiderte der Kommissar, der sich immer noch nicht sicher war, was er von dem eben Gesagten glauben sollte. „Kannst du mir einen Gefallen tun? Kannst du meine Frau anrufen und ihr sagen, dass ich wohl heute die ganze Nacht hier bleibe?“

Henschel warf einen Blick auf die Uhr, die am Ende des Ganges über einer Tür hing. Es war 19 Uhr 45.

„Mache ich. Und du?“

„Ich rufe Jan Klimowsky an. Der Kerl möchte in ein Zeugenschutzprogramm.“

„Im Austausch für was?“

„Informationen.“

„Informationen über was?“

„Das kann ich dir nicht sagen. Nicht einmal ­Klimowsky. Ich bin mir noch nicht einmal darüber im Klaren, was das alles wert ist.“

„Der Typ verarscht dich doch. Der hatte ordentlich was auf dem Kessel, als er heute hier ankam.“

Henschel ging zu seinem Büro, während Schieber ihm folgte. An der Tür drehte sich der Kommissar mit immer noch nachdenklichem Gesicht zu seinem Kollegen um. „Erklär mir das noch mal. Er ist heute am frühen Nachmittag betrunken hier aufgetaucht und hat gesagt, dass er aussagen möchte.“

„Ja. Er wollte gleich mit dem Polizeipräsidenten sprechen. Der Alte hat sich ihn dann mal angesehen, aber da ist er fast auf seinem Stuhl eingeschlafen, so hacke, wie er war. Also haben wir ihn in eine Zelle gelegt und ausnüchtern lassen. Der Alte meinte dann, du sollst mal mit ihm reden und ihn dann rausschmeißen, weil er vermutlich ein Spinner ist.“

„Er machte auf mich keinen sehr betrunkenen Eindruck. Wenn er so voll war, wie du sagst, dann müsste er jetzt ordentlich verkatert sein. Aber auf mich wirkte er eher nervös und leicht aufgeputscht.“

„Wir haben ihn auch seit halb sieben mit schwarzem Kaffee abgefüllt.“

„Hmm. Trotzdem … Egal, ruf bitte Susi an. Ich finde schon noch raus, was hinter diesem Kerl steckt. Und macht noch mehr Kaffee. Ich könnte nämlich auch welchen brauchen.“

Damit öffnete er die Tür und schaltete das Licht in ­seinem Büro an. Es war ein unangenehmes, grelles Licht.

Henschel ließ sich in seinen unbequemen Drehstuhl fallen und griff zum Telefonhörer. Aus einer der Schubladen seines Schreibtisches zog er ein kleines, grün eingebundenes Büchlein hervor und suchte nach der privaten Telefonnummer von Jan Klimowsky. Er wählte und lauschte dem gleichmäßigen, langem Tuten.

„Klimowsky“, sagte eine jugendlich wirkende Stimme.

„Hendryk“, fragte der Kommissar, der in der Stimme den Sohn des Staatsanwalts erkannte. „Ist dein Vater da?“

„Ja, einen Moment.“

Zwei Momente später. „Ja, bitte?“

„Hallo Jan. Hier ist Frank.“

„Henschel, Frank?“

„Ja.“

„Grüß dich.“

„Ich weiß, es ist spät, aber könntest du mir unter Umständen einen wahnsinnigen Gefallen tun und ins Justizgebäude kommen?“

„Jetzt noch? Was ist denn so dringend?“

„Ich habe hier einen Kerl, der sich freiwillig gestellt hat. Er will gegen eine kriminelle Organisation aussagen und dafür einen Handel mit uns abschließen.“

„Und wie soll dieser Handel aussehen?“

„Das hat er noch nicht so genau gesagt. Aber zumindest will er staatlichen Schutz vor seinen ehemaligen Freunden.“

„Hat das nicht bis morgen Zeit?“

„Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht, wie ernst wir das nehmen können, was er da gerade von sich gibt. Vielleicht verarscht er uns auch nur. Aber wenn nur ein Teil von dem stimmt, was er mir bisher erzählt hat, dann sollten wir keine Zeit verlieren und uns die Informationen besorgen, die er uns geben will, ehe er sich anders entscheidet.“

„Weißt du, wie viel ich zu tun habe? Ich bin seit einer halben Stunde zu Hause, habe gerade gegessen, und jetzt willst du mich wieder in die Stadt locken, um Deals mit irgend so einem Spinner abzuschließen, der dich gerade verschaukelt.“

„Ich lasse mich auch von diesem Spinner im Büro festhalten. Und ich habe auch Frau und Kind zu Hause, die darüber nicht unbedingt begeistert sein werden.“

Ein schwerfälliges Schnauben tönte durch den Hörer. „Also gut. Weil du ein Freund bist. Wie heißt denn der Kerl?“

„Das kann ich dir nicht sagen. Ich erzähle dir hier, was ich weiß, was er von uns fordert und was er uns bieten kann. Und dann brauche ich mehr oder weniger eine Blankovollmacht von dir.“

„Du weißt, dass du eine andere Uniform trägst als noch vor drei Jahren. Die Zeit der Blankovollmachten für eigensinnige Ermittlungen sind vorbei.“

„Lass dir von mir den Fall schildern und triff dann deine Entscheidung, einverstanden?“

„Kannst du mir wenigstens sagen, was das für eine kriminelle Organisation ist oder sein soll?“

„Wenn ich das richtig verstanden habe, handelt es sich um die sizilianische Mafia.“

Für drei Sekunden herrschte Stille. Dann brach Klimowsky in schallendes Gelächter aus. „Du arbeitest zu viel, Franky. Du wirst betriebsblind. Ich würde sagen, schmeiß den Penner raus und geh nach Hause. Oder nimm dir endlich mal Urlaub. Aber da du das gerade ohnehin nicht hören willst, komme ich zu dir.“

„Ich danke dir.“

„Vor allem schuldest du mir was. In Ordnung, ich bin in einer halben Stunde da. Versuche in der Zeit mal auszuloten, was er eigentlich haben will.“

„Mache ich. Bis gleich.“

Henschel ließ den Hörer in die Gabel sinken und massierte sich beide Schläfen. Hatte Klimowsky recht? War er überarbeitet und unfähig, echte Verbrecher von Trittbrettfahrern zu unterscheiden? Die letzten drei Jahre waren für ostdeutsche Polizeibeamte nicht einfach gewesen. Zunächst wurden sie von den Kollegen aus dem Westen, die die Schlüsselstellen in der Polizei übernommen hatten, unter den Generalverdacht gestellt, alle Spitzel des MfS gewesen zu sein. Henschel hatte eine blütenweise Akte. Er hatte immer seine Arbeit getan und regelmäßig die obligatorischen Verdienstkreuze, Kinkerlitzorden und Urkunden bekommen. Ein verdienter Mitarbeiter der DDR. So einer konnte nur ein Kommunist sein.

Auf der anderen Seite kippte so nach und nach sein Weltbild. Wie in keinem anderen Beruf hatte er die Schattenseiten der Demokratie kennen gelernt. Eine Flut von Drogen hatte den Osten überschwemmt, und viele der alten Kollegen stürzten sich vor allem zuerst auf die Konsumenten und behandelten sie wie Schwerverbrecher. Nur wenige verstanden, dass dahinter skrupellose Händler standen, die vor allem die Naivität und Experimentierfreudigkeit der Menschen ausnutzten. Auf der anderen Seite hatten sich überall in der ehemaligen DDR rechte Zellen und Organisationen herausgebildet. Der Zusammenbruch der alten Wirtschaft hatte zu massiver Arbeitslosigkeit geführt. Gleichzeitig strömten Ausländer in die ostdeutschen Städte. Der Staat zahlte ihnen hier die gleichen sozialen Stützen, nur waren sie im Osten mehr wert, da die Lebenshaltungskosten bedeutend niedriger waren als in den alten Ländern. Die Neonazis und die Migranten ergaben eine explosive Mischung. Dazu kam die alltägliche Kriminalität. Jugendliche überfielen alte Menschen und Ausländer, Wohnungseinbrüche nahmen massiv zu, wertvolle Autos wurden bei helllichtem Tag gestohlen, und vor allem die Zahl sexueller Straftaten stiegen sprunghaft an. Henschel war zu lang bei der Polizei gewesen, um nicht zu wissen, dass es auch in der DDR Männer mit gestörter Psyche gab. Aber die ­wenigen Fälle, die ihm bekannt waren, wurden totgeschwiegen, die Männer weggesperrt. Und so manche anfällige Type unterdrückte ein Leben lang seine Neigungen. Ihm kam es so vor, als wären mit dem Fall der Mauer auch sämtliche Hemmschwellen in den kaputten und zerstörten Menschen zum Einsturz gebracht worden, als bedeute die Freiheit des Westens die Freiheit, Frauen zu vergewaltigen und Kinder zu missbrauchen.

Die DDR war vielleicht ein Staat der begrenzten Freiheit, aber sie war ein Staat der maximal möglichen Sicherheit für alle, die sich mit dieser begrenzten Freiheit arrangieren konnten. Henschel hatte sich persönlich noch nicht mit dieser neuen Bundesrepublik anfreunden können. Diese demokratische Regierung erschien ihm wie ein ohnmächtiger Staat. Sicherlich brachten die neuen Freiheiten vielen ehemaligen DDR-Bürgern, vor allem ihren Ingenieuren, Wissenschaftlern, Ärzten neue Entfaltungsmöglichkeiten. Aber wer jetzt in diesen neuen Staat hinein wuchs, der konnte nicht sicher sein, ob er auch einmal bis zur Rente in dem Beruf würde arbeiten können, in dem er ausgebildet wurde. Henschel hatte es bequem, er war verbeamtet. Aber selbst die teuren Studenten konnten sich ihrer Zukunft nicht sicher sein. Es war durchaus vorstellbar und denkbar, dass Menschen empfänglich wurden für einen Schattenstaat im Staat.

Je mehr Henschel darüber nachdachte, desto logischer und realistischer erschien ihm die Geschichte von Joe dem Fisch. Und sie war nur eine weitere Bestätigung für die Ohnmacht dieser Bundesrepublik.

Er warf einen Blick aus dem Fenster. Der Abend­himmel über der immer noch verstümmelten Kulisse der Stadt schillerte in kräftigen Rot-, Violett- und Blautönen. Aus Westen trieb der Wind verstörend schöne Gewitterwolken in den Talkessel. Wahrscheinlich würde es mit Einbruch der Dunkelheit anfangen zu regnen. Es war sehr still. Nur das Tuckern eines Schiffsmotors rauschte mit dem Wind heran, als sich ein Lastkahn unter den Brücken der Stadt hindurch arbeitete. An seinem Heck flatterte eine kleine tschechische Flagge.

Es klopfte an der Tür.

„Herein“, sagte Henschel, wandte aber den Blick nicht vom Fenster.

Schieber öffnete die buchenholzfarbene Tür ein wenig und schob seinen Kopf durch den Spalt.

„Ich habe deine Frau angerufen. Du sollst dich noch einmal bei ihr melden.“

„Wenn ich das wollte, hätte ich sie doch schon angerufen.“

„Ja, ich glaube, das hat sie erraten. Wird ein nettes Telefonat. Ich wünsch dir viel Spaß.“

Henschel stieß einen tiefen Seufzer aus, drehte sich wieder zu seinem Tisch um und bedeutete Schieber mit einem Wink, das Zimmer zu verlassen. Dann wählte er seine eigene Telefonnummer und ließ es klingeln.

„Hier bei Henschel“, meldete sich eine freundliche Männerstimme. Sie gehörte Christian Koch, seinem Schwager.

„Ja ich bin‘s. Frank. Ist Susi da?“

„Sie bringt gerade die Kinder ins Bett. Was ist denn los bei euch?“

„Viel zu tun im Moment.“

„Bei dir ist immer viel zu tun.“

„Nimmst du deiner Schwester jetzt die Moralpredigt ab?“ Henschel reinigte seiner Fingernägel an der Schreibtischauflage.

„Versteh mich doch. Ich beobachte das schon eine Weile. Ich sehe, wie es Susanne nervt. Ich sehe aber auch, dass du unzufrieden bist. Du verkrümelst dich vor deiner eigenen Familie.“

„Es ist jetzt wirklich nicht der Moment, um das zu ­bereden.“

„Würdest du vielleicht mal ein Bier mit mir deswegen ­trinken?“

„Wenn ich mal Zeit habe“, meinte Henschel, konzen­trierte sich aber mehr auf eine schwarze Stelle unter dem Nagel seines rechten Ringfingers.

„Versprich es mir einfach.“

Henschel nickte langsam, ehe ihm einfiel, dass sein Schwager diese Geste gar nicht sehen konnte. Also brummte er ein zustimmendes Hmm.

„Ich nerv dich deswegen nochmal. So, Susanne kommt, glaube ich.“

Der Kommissar hörte unverständliches Gemurmel, ehe es still in der Leitung wurde. Er räusperte sich, um seiner Frau zu bedeuten, dass er bereit war, sein verdientes Donnerwetter entgegenzunehmen.

„Wann kommst du nach Hause?“ Es war eine schlichte Frage. Ohne Wertung

„Ich weiß nicht. Kann sehr lang werden.“

„Was ist denn los?“

„Das kann und darf ich dir so gar nicht sagen. Ich … ich erzähle es dir morgen. Es ist jedenfalls sehr suspekt, und ich will es auf keinem Fall Schieber überlassen. Ich habe sogar Jan angerufen und ihn von zu Hause weggeholt“, Henschel beglückwünschte sich insgeheim zu diesem exzellenten Argument. „Ich bin da eventuell an was Großem dran und muss schnell sein.“

„Letzte Woche war es ein Student, der Drogen aus der Tschechei geschmuggelt hat. Vor drei Wochen war es ein polnischer Zuhälter. Und wenn es das mal nicht ist, bist du froh, dass du dir Zeit nehmen kannst, um deinen Papierkram zu erledigen.“

„Du glaubst ja gar nicht, wie der Verwaltungskram zugenommen hat, seit …“

„Seit die Mauer gefallen ist. Hältst du mich für doof, Frank? Ich arbeite auch. Denkst du, in der Medizin hat der Papierkram nicht zugenommen? Ich habe den Posten als Stationsschwester angenommen, weil ich verantwortungsvollere medizinische Aufgaben übernehmen wollte, stattdessen bin ich die Stationssekretärin und stehe kaum noch im OP. Es ist für uns alle neu und anders. Aber auch im Westen haben sie kleine Kinder zu Hause sitzen und nehmen sich Zeit für sie.“

„Im Westen arbeiten die Frauen nicht.“

„Das ist zum einen Quatsch, zum anderen kein Argument. Höchstens für mich, um dir vorzuhalten, dass du dich seit Monaten fast gar nicht mehr um die Erziehung deiner Kinder kümmerst.“

„Ich … wir machen einen schönen Urlaub. Im Sommer. Vielleicht in Spanien oder Südfrankreich.“

„Und dann? Willst du mich nicht verstehen? Es geht nicht darum, zwei, drei Mal im Jahr Papa und Ehemann zu spielen.“

„Aber es wäre eine Chance, damit wir uns endlich mal neu sortieren können, Pläne machen können, wie vor allem ich mich in Zukunft besser schlagen kann.“

Susanne Henschel seufzte am anderen Ende der Leitung tief auf. „Ich kann dich ja jetzt doch nicht bewegen, etwas zu ändern.“

„Pass auf. Wenn das hier vorbei ist, feiere ich ein paar Überstunden zurück, und dann ziehen wir dieses Gespräch auf Ende der Woche vor.“

„Versprichst du mir das?“

„Natürlich.“

„Ehrenwort?“

„Gegeben.“

„Dann pass auf dich auf.“

„Mach ich. Gib den Jungs einen Kuss von mir.“

„Die schlafen schon.“

„Dann behalt ihn für dich.“

Damit legte er auf und drehte sich wieder zum Fenster herum. Das Rot war aus den Wolken verblichen. Die Sonne versank im Westen und schickte letzte goldene Strahlen über die Stadt. Erste schwarz-blaue Regenschleier krochen die Hügel hinab.

Vier

Mit zwei Tassen dampfenden Kaffees ging Henschel zurück in das Verhörzimmer und nahm auf seinem verwaisten Stuhl Platz. Er schob eine der Tassen, die das Siegel der Landespolizei trug, zu Joe Petri rüber, griff in die Tasche seines Jacketts und holte ein Näpfchen Kaffee­sahne heraus, welches er dem Italiener über den Tisch zuwarf.