2,99 €
Kopfgeldjäger Tim Mullen ist wieder einmal beinahe vollkommen abgebrannt, als er in dem abgelegenen Städtchen White Hill statt einer üppigen Prämie nur eine Zahlungsanweisung für die Bank erhält, die ihm jedoch nicht ausbezahlt wird, da der Direktor der Bank ermordet wurde. Tim nimmt die Verfolgung des Mörders auf, bei dem es sich angeblich um einen dem Alkohol verfallenen Indianer handeln soll. Doch bald kommen Zweifel in Tim Mullen auf. Warum sollte ein Indianer den Direktor einer Provinzbank töten? Tim erkennt, dass viel größere Interessen im Spiel sind. Es geht um den Verlauf einer neuen Eisenbahnlinie. Doch inzwischen haben sich auch noch andere Kopfgeldjäger an die Spur des Indianers geheftet. Und diese interessiert die Frage nach Schuld oder Unschuld nicht, sondern nur die üppige Prämie, die auf seinen Kopf ausgesetzt wurde.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 162
Der schwarze Jäger
Der schwarze Jäger
Tim Mullen – Band 3
Alex Mann
Impressum
Copyright: Novo-Books im vss-verlag
Jahr: 2024
Lektorat/ Korrektorat: Peter Altvater
Cover: Hermann Schladt
Verlagsportal: www.novobooks.de
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie
Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.
Er schob die Flügeltüren beiseite und betrat den Saloon, der angenehm nach Tabakqualm und Whisky roch. Die Hälfte der Spieltische war unbesetzt und an der Bar lehnten lediglich zwei Cowboys, die ihre Hüte in den Nacken geschoben hatten und angestrengt auf ihre Gläser starrten. Es war erst Nachmittag, daher war es ruhig in dem Saloon. Doch es war diese Atmosphäre, die Tim Mullen am meisten behagte, wenn einfach nur ein paar Männer da waren, um Karten zu spielen und etwas zu trinken. Abends war es ihm meistens zu laut.
Er ging zur Theke. Der Barkeeper stützte sich vor ihm auf einen Ellbogen und zog fragend eine Augenbraue in die Höhe.
„Ich fang mit ´nem Bier an, würde ich sagen.“
„Macht fünfundzwanzig Cent.“
Während der Barkeeper das Bier zapfte, zog Tim Mullen eine frisch gedruckte Dollarnote aus seiner Westentasche und legte sie auf den Tresen.
„Wollen Sie raushaben?“, fragte der Barkeeper, als er das randvolle Glas vor ihm abstellte.
Tim Mullen schüttelte mit dem Kopf. „Nein. Es wird bestimmt nicht bei dem Glas bleiben.“
Er schaute in den großen Spiegel, der über der Bar hing, während er seinen ersten Schluck nahm. Dabei fiel ihm eine Gruppe Spieler ins Auge, die an einem der Tische direkt hinter ihm saß. Es waren vier Männer, aber Tims Aufmerksamkeit wurde vor allem von einem erregt, der ihm seine linke Seite zugewandt hatte. Das Gesicht kam ihm bekannt vor. Der Mann war ein Weißer mit strohblonden Haaren, einem Schnauzbart und auffällig blauen Augen. Er trug eine grüne Jacke und einen hohen weißen Stetson.
Tim Mullen griff in sein Jackett und holte ein Bündel Papiere heraus. Er faltete es auseinander. Es waren zwei Dutzend Steckbriefe, die er stets bei sich führte. Er blätterte darin und zog dann einen heraus. Steckbriefzeichnungen waren immer fürchterlich ungenau, da sie von schlechten Zeichnern nach wagen Erinnerungen angefertigt wurden. Aber manchmal war das Gesicht eines Gesuchten so auffällig, dass man es gar nicht so falsch wiedergeben konnte. Und dieses hier passte auffällig zu dem Mann, der da am Tisch saß und angestrengt in seine Karten starrte. „William C. Carter“, stand auf dem Steckbrief. 700 Dollar. Nicht viel, aber auch nicht wenig.
Die Beschreibungen unter den Zeichnungen waren oft sehr hilfreich. Strohblond, auffällig blaue Augen, etwa fünfeinhalb Fuß groß, ca. dreißig Jahre alt. Trägt eine grüne Jacke. Reitet einen Schecken.
Tim winkte den Barkeeper herbei.
Der Mann trottete heran und verschränkte die Arme vor der Brust. Er stellte keine Fragen, hob nicht einmal die Augenbraue, denn ein schneller Blick auf den Streckbrief hatte ihm verraten, dass Tim Mullen wohl kaum nach einem zweiten Bier fragen würde.
„Finden Sie nicht auch, dass der Mann, der da hinten am Tisch sitzt“, Tim wies mit dem Daumen über seine Schulter, „deutliche Ähnlichkeit mit diesem Meisterwerk besitzt?“
„Kann ich nicht einschätzen“, sagte der Barmann unterkühlt.
„Sie schauen ja auch gar nicht hin. Los schauen Sie sich den Steckbrief an und dann sagen Sie mir, was Sie denken.“
„Solche Steckbriefe sind nie sonderlich genau.“
„Ich finde, der hier ist eindeutig.“
Der Barkeeper seufzte schwer, stützte sich mit beiden Händen auf den Tresen und musterte abwechselnd erst den Steckbrief und danach den Spieler. Dann zuckte er mit den Schultern.
„Kann schon sein.“
„Kann schon sein? Schauen Sie doch. So schlecht ist das Bild doch gar nicht. Die Farbe der Haare, der Augen, die Größe, die Jacke. Wissen Sie, was er für ein Pferd reitet?“
„Nein. Interessiert mich auch nicht. Fragen Sie ihn doch selbst.“
„Das mache ich.“
„Sind Sie ein Kopfgeldjäger?“
„Naja, für siebenhundert Dollar kann man lange Bier trinken.“
Die Miene des Barkeepers verfinsterte sich. „Ich will hier aber keine Schießereien.“
Tim tippte auf den Steckbrief. „Da steht doch tot oder lebendig. Ist also seine Entscheidung.“
Im Spiegel sah Tim, wie der Mann, der ihm seine rechte Seite zuwandte, also dem gesuchten Bill Carter genau gegenübersaß, aufstand und zur Bar herüberkam.
Er faltete den Steckbrief zusammen, nahm sein Bier und ging zu dem Spieltisch, wo er sich auf den frei gewordenen Stuhl setzte. Die drei anderen Spieler, die bis jetzt immer noch angestrengt in ihre Karten gesehen hatten, schauten auf.
„Da ist besetzt“, sagte Bill Carter.
„Ich möchte auch nicht spielen. Ich habe eine Frage.“ Tim Mullen nahm einen Schluck von seinem Bier.
„Was?“, fragte Carter und sein gereizter Unterton verriet, dass er mit seinem Blatt nicht zufrieden war.
„Reiten Sie einen Schecken?“
Carters Augen verzogen sich zu Schlitzen, als er Tim Mullen ungläubig musterte.
„Wie kommen Sie darauf?“
Tim Mullen faltete den Steckbrief auseinander und warf ihn so in den Pott, dass Bill Carter ihn gut sehen konnte. „Passt vieles zusammen. Wenn Sie aufstehen, sind Sie bestimmt auch fünfeinhalb Fuß groß.“
Bill Carter wollte entsetzt aus dem Stuhl hochfahren und zu seiner Waffe greifen, doch Tim Mullen hob Einhalt gebietend die Hand.
„Warten Sie Bill – ich nehme an Sie sind Bill, auch wenn Sie meine Frage wegen dem Pferd noch nicht beantwortet haben – zwei Dinge sollten Sie bedenken. Erstens. Der dicke Mann, der da an der Bar das Bier ausschenkt, möchte hier ungern eine Schießerei haben.“
„Und zweitens?“, fragte Bill Carter mit zusammengebissenen Zähnen.
Tim Mullens Miene wurde ernst. „Zweitens ist mir das scheißegal, wenn Sie zu ihrer Kanone greifen. Dann puste ich Sie aus ihren Stiefeln.“
„Wir sind vier gegen einen!“
„Ja, aber ihre beiden Freunde hier halten immer noch angespannt ihre Karten umklammert. Und dabei sollten Sie es belassen. Der Mann, auf dessen Stuhl ich sitze, hat gerade in jeder Hand zwei Gläser Bier. Das heißt, es ist vollkommen klar, dass ich zuerst auf Sie schießen würde. Denken Sie, dass ihre Freunde dann noch nach ihren Colts greifen, wenn ich Sie umgepustet habe? Vielleicht denken Sie daran, danach zu greifen, aber ich hab´ dann ja meine Waffe schon in der Hand, also ist klar, dass noch mehr Männer sterben würden. Sinnlos sterben, denn wenn Sie versuchen würden, Sie zu rächen, macht Sie das ja auch nicht wieder lebendig. Die eine Frage lautet: Wissen ihre Freunde hier, dass Sie wegen Vergewaltigung und Mord an einem Mädchen gesucht werden oder ist ihnen diese Information neu? Und die andere Frage: Wollen Sie dafür lieber jetzt erschossen oder in ein paar Tagen gehängt werden?“
Anstatt zu antworten, zog Bill Carter seinen Revolver. Aber er hatte mit so etwas keine Erfahrung. Er war nicht gerade schnell.
Tim Mullen war sehr erfahren. Sehr schnell. Sehr ruhig. Und sehr präzise. Die anderen hatten kaum gesehen, wie er seinen Revolver gezogen hatte. Sie hörten nur das gewaltige Donnern, welches die Tischplatte regelrecht erbeben ließ.
Bill Carter schrie auf und knickte zur linken Seite weg. Der schwere Colt, den er gerade aus dem Holster gezogen hatte, polterte zu Boden. Tim Mullens Kugel hatte Carter die Kniescheibe zertrümmert, sodass er vor Schmerz jeglichen Gedanken aufgab, noch einmal zum Revolver zu greifen. Er wand sich am Boden und stieß wilde, schmerzerfüllte Flüche aus.
Tim Mullen legte seinen noch rauchenden Revolver auf den Tisch und packte den Steckbrief wieder weg, während ihn die Freunde Bill Carters ungläubig ansahen.
„Schätze, ihr könnt auch zu dritt weiterspielen“, sagte Tim, leerte sein Glas bis zur Hälfte, bevor er sich erhob und nach seinem Revolver griff. Er ging um den Tisch und stellte sich breitbeinig vor Bill Carter auf, der zwischen einem unterdrückten Schreien und einem Winseln hin und her schwankte. Tim Mullen kniete sich hin und suchte seine Taschen ab. In einer fand er ein nicht mehr ganz sauberes Taschentuch, das er auf die Schusswunde presste.
„Drück das da drauf und blute hier nicht alles voll. Weißt du, dass hat jetzt sicherlich sehr weh getan. Ich bin mir nicht sicher, ob du gezogen hast, weil du dem Strick entgehen wolltest, oder weil du dumm bist und dich für ´nen großen Revolverhelden gehalten hast. Jedenfalls bin ich kein Mörder und finde, dass einer, der kleine Mädchen vergewaltigt und umbringt, genügend Zeit haben sollte, um vor dem eigenen Tod Angst zu kriegen. Deswegen habe ich dir nur ins Knie geschossen. So und jetzt gehen wir zum Sheriff.“
„Ich kann nicht laufen, Arschloch!“, heule Bill Carter.
„Das gehört zu den vielen Sachen, die du vorher hättest abwägen sollen, Schwachkopf“, sagte Tim Mullen, packte den Mann und legte seinen Arm um dessen Schulter. „Aber ich bin ja kein Unmensch.“
Unter den ungläubigen Blicken der anderen verließ Tim Mullen mit seinem Gefangenen den Saloon.
Sheriff Jack McGunn genoss seinen Kaffee und seine Zeitung, als die Tür zu seinem Büro ohne Vorwarnung aufgestoßen wurde. Ein Mann in einem schwarzen Anzug kam herein. Er stützte einen zweiten Mann, einen blonden Cowboy mit einer grünen Jacke, der bei jedem Schritt vor Schmerz schrie.
Überrascht fuhr McGunn aus seinem Stuhl hoch.
„Was zum Teufel soll das?“
„Wo kann ich den ablegen, Sheriff?“, fragte Tim Mullen.
„Der Mann braucht einen Arzt.“
„Jaja, ich weiß. Aber das kann warten. Ich würde gern erst einmal die Formalitäten klären.“
Als Sheriff McGunn unsicher zögerte, ließ Tim Mullen Bill Carters Arm los. Der Cowboy sackte schreiend in sich zusammen.
Tim zog den Steckbrief aus seiner Tasche und hielt ihn dem Sheriff entgegen. McGunn nahm ihn, überprüfte das Bild und las sich sorgfältig die Beschreibung durch.
„Sind Sie sicher, dass er das ist?“
„Ich bitte Sie, Sheriff. Das ist doch wirklich mal ein eindeutiger Steckbrief. Außerdem, wenn der Kerl nicht Carter ist, hätte er ja nicht nach seiner Waffe greifen müssen, als wir uns unterhalten haben.“
„Sind Sie Bill Carter?“, fragte McGunn den stöhnend am Boden liegenden Cowboy.
„Jaja, verdammt. Ich bin´s. Und jetzt holen Sie einen Arzt!“
„Wenn´s Recht ist, würde ich erst einmal das Finanzielle klären“, sagte Tim Mullen kalt.
Der Sheriff warf einen letzten Blick auf den Steckbrief, faltete ihn dann zusammen und warf ihn auf seinen Schreibtisch.
„Egal, was der Mann getan hat. Jetzt hat er erst einmal ärztliche Hilfe verdient.“ Er ging zu seinem Schreibtisch, nahm einen Schlüsselring und reichte ihn Tim. „Ich hole den Doktor. Sie können ihn ja schon einmal in eine Zelle bringen.“ Damit verließ er das Büro.
Tim Mullen seufzte schwer und legte den Schlüsselring zurück auf den Schreibtisch. Dann griff er unter sein Jackett, holte Tabak und Papier hervor und begann, sich eine Zigarette zu drehen.
„Haben Sie nicht gehört?“, fragte Bill Carter. „Sie sollen mich in eine Zelle bringen. Auf ein Bett.“
„Dafür werde ich aber nicht bezahlt. Ist nicht mein Job“, sagte Tim Mullen mitleidslos und entzündete ein Streichholz auf der Tischplatte. „Um ehrlich zu sein, bin ich noch nicht mal für meinen eigentlichen Job bezahlt worden. Aber wenn du willst, gebe ich dir die Schlüssel und du suchst dir selbst eine Zelle aus.“
„Ich werde mich beim Sheriff beschweren.“
„Tu dir keinen Zwang an.“
Tim Mullen nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und langte nach der Zeitung des Sheriffs.
„Warum sind Sie nur so ein sadistisches Arschloch?“
Tim Mullen überflog die Titelseite und warf dann einen Blick auf Carter, der sich immer noch mit beiden Händen das angewinkelte Knie hielt.
„Ich habe eine Frage“, sagte er langsam und nahm einen weiteren Zug von seiner Zigarette. „Haben sie es getan?“
„Ja, verdammt!“
Tim zuckte mitleidslos mit den Schultern. „Und da regen Sie sich auf, wegen dem bisschen kaputten Knie? Ganz ehrlich. Ich hab´s grad schon mal gesagt. Es ist nicht mein Job, Sie einzusperren und es ist auch nicht mein Job, Sie zu verarzten. Die, die dafür bezahlt werden, sind unterwegs, also halten Sie die Klappe, sonst bekomme ich Lust, ihnen auch noch in ihr anderes Knie zu schießen.“
Damit widmete er sich wieder der Zeitung, die mit einer großen Überschrift verkündete, dass am Vortag der Direktor der hiesigen Bankfiliale ermordet worden war. Der Artikel schilderte dann in reißerischer Art und Weise, dass besagter Direktor, der ehrenwerte Charles G. Mayer an diesem Morgen im Wohnzimmer seines Hauses erstochen auf dem Sofa vorgefunden wurde. Das dafür benutzte Messer gehörte einem Indian Charly, einem im County bekannten Säufer.
„Hör dir das an“, sagte Tim Mullen. „Der Bankdirektor von dem Nest hier wurde ermordet und der Mörder ist auf der Flucht. Sieht so aus, als hätte ich bald den nächsten Job.“
„Das macht ihnen Spaß, oder?“
„Es wird gut bezahlt. Ich meine, Sie bringen siebenhundert. Hier geht´s wohl um einen Indianer, da machen Sie bestimmt die tausend voll. Obwohl ich das ziemlich makaber finde.“
„Was?“
„Naja, lebend misst man einem Indianer nicht viel Wert bei, aber wenn es darum geht, ein Kopfgeld auf Sie auszusetzen, ist man immer sehr spendabel. Ist mit Negern und Mexikanern übrigens ähnlich.“
„Ist eben minderwertiges Gesindel.“
„Ach ist das so?“, fragte Tim Mullen und faltete die Zeitung zusammen. „Ich glaube, dass Gott alle Menschen gleich geschaffen hat. Aber wenn es so etwas, wie eine Leiter der Evolution gibt, wie es die Anhänger dieses Darwin behaupten – wobei ich glaube, dass Darwin das selbst gar nicht so gemeint hat – dann steht sicher niemand, ob Neger, Mexikaner oder Rothaut auf einer so niedrigen Stufe, als das ein Mädchenschänder wie Sie noch auf ihn herabsehen könnte.“
„Immerhin bin ich ein Weißer.“
„Ja und der beste Beweis dafür, dass es auch unter denen nutzloses Gesindel gibt.“
Erschöpft und resignierend ließ Carter seinen Oberkörper auf den Boden fallen. Tim Mullen las weiter gelassen seine Zeitung, doch keine Nachricht war für ihn so interessant, wie die vom Mord am Bankdirektor, der ein baldiges Kopfgeld auf diesen Indian Charly in Aussicht stellte.
Nach nicht einmal fünf Minuten kehrte der Sheriff mit dem Doktor zurück. Als er sein Büro betrat, warf McGunn einen ungläubigen Blick auf den immer noch am Boden liegenden Carter.
„Hab ich ihnen nicht gesagt, Sie sollen ihn auf eine Pritsche legen?“
„Und ich habe ihnen gesagt, dass das nicht mein Job ist.“
„Der Mann verdient Hilfe.“
„Der Mann verdient nicht so viel Mitleid, wie Sie ihm schenken. Zum einen ist er ein Mädchenschänder. Zum anderen ist die Wunde nicht so schlimm.“
McGunn warf Tim Mullen einen finsteren Blick zu, den dieser aber gar nicht registrierte, da er immer noch die Zeitung durchblätterte. Zusammen mit dem Doktor trug er Carter in den Zellentrakt und kam dann wieder in sein Büro zurück.
„Das ist meine Zeitung“, sagte er, als er wieder an seinem Schreibtisch Platz genommen hatte.
Tim faltete die Zeitung zusammen und warf sie auf den Tisch. „Wollte mir nur die Zeit vertreiben. Sie schulden mir siebenhundert Dollar, Sheriff.“
Jack McGunn schniefte widerwillig. „Ich schulde ihnen gar nichts, aber ich fürchte, der Staat kommt nicht darum, ihnen ihr Blutgeld auszuzahlen.“
„Höre ich da eine gewisse Abneigung gegen meinen Berufsstand heraus?“
„Es ist eher was persönliches.“
„Gut. Damit kann ich leben. Dachte schon, Sie gehören zu denen, die Verbrecher lieber ins nächste County fliehen lassen, anstatt eine Belohnung auf sie auszusetzen.“
„Was geht Sie das an?“
„Ich habe gerade von diesem Indian Charly gelesen“, sagte er und zeigte auf die zusammengefaltete Zeitung auf dem Schreibtisch. „Haben Sie schon eine Ahnung, was er ihnen Wert ist?“
„Das ist meine Sache. Ich kümmere mich darum.“
„Sie wirkten nicht sehr beschäftigt, als ich hier hereinkam.“
„Auch das geht Sie nichts an. Sehen Sie zu, dass Sie möglichst schnell von hier verschwinden.“
„Das wiederum ist meine Sache. Und ohne meine siebenhundert Dollar gehe ich auf keinen Fall.“
McGunn zog eine Schublade auf, holte einen Vordruck hervor, füllte ihn aus und setzte dann eine hastige Unterschrift darunter, bevor er ihn über den Tisch schob.
Tim Mullen nahm den Schein, las ihn und runzelte die Stirn. „Was soll das sein?“
„Sehen Sie doch. Eine Zahlungsanweisung für die hiesige Bank.“
„Haben Sie kein Bargeld?“
„Warum soll ich hier eine solche Menge Bargeld lagern, wenn sich gleich gegenüber eine Bank mit einem exzellenten Tresor befindet. Da haben Sie ihre Anweisung. Einlösen müssen Sie sie selber.“
„Na wenn Sie meinen“, sagte Tim Mullen, faltete das Papier zusammen und steckte es in seine Westentasche. „Und was ist mit dem Indianer. Ich meine, für den Mörder einer so angesehenen Person sollte doch ein Tausender drin sein, denken Sie nicht?“
McGunn reinigte die Spitze seines Füllfederhalters an einen Tuch und legte ihn sorgfältig in eine kleine Holzbox zurück. „Das muss ich mit dem Bürgermeister besprechen.“
„Sie sind das Gesetz, Sheriff. Sie setzen die Prämie aus. Wenn die Stadt oder die Bank noch etwas drauf legen wollen, ist das deren Sache.“
„Nun, Mister Mullen. Wie sie gerade fest gestellt haben, verfüge ich über keinerlei Bargeld. Daher muss ich solche Sachen mit den Leuten absprechen, die es haben.“
„Verstehe. Na mit meinen siebenhundert halte ich es hier noch eine Weile aus. Wenn Sie wissen, was Indian Charly ihnen wert ist, finden Sie mich im Fast Horse.“
„Ich werde ganz sicherlich nicht den Botenjungen für Sie spielen. Wenn der Bürgermeister und ich zu dem Schluss kommen, dass wir ein Kopfgeld auf den Mann aussetzen, werden Sie irgendwann einen Steckbrief neben meiner Tür hängen sehen.“
„Ich warte darauf“, sagte Tim Mullen, erhob sich und tippte sich grüßend an den Hut. „Sheriff.“
Die Bank der kleinen Stadt war aus gemauerten Feldsteinen errichtet. Ihr Interieur mit Teppichen, Pflanzkübeln, Bildern und polierten Holzmöbeln wirkte edler, als das rohe Äußere vermuten ließen. Es gab zwei Schalter und als Tim Mullen die Bank betrat, wurden beide gerade frei.
Er trat an den linken, hinter dem ein schlanker junger Mann mit blonden Haaren, rasiertem Kinn und einem schlichten grauen Anzug stand.
„Guten Tag, Sir. Was können wir für Sie tun?“, fragte er mit einer freundlich, aber kaum ernsthaft interessiert klingenden Stimme.
Tim Mullen zog die Zahlungsanweisung aus seiner Westentasche, faltete Sie sorgfältig auseinander und reichte sie durch die kleine halbrunde Öffnung des messingfarbenen Gitters, das den Kassierer von ihm trennte. „Ich möchte abheben.“
Der junge Mann nahm das Papier auf, las es sorgfältig durch und legte die Stirn in Falten.
„Einen Moment bitte, Sir.“
Tim Mullen sah, wie der junge Kassierer zu seinem Kollegen hinüber ging. Er zeigte ihm die Zahlungsanweisung. Die beiden Männer steckten die Köpfe zusammen, warfen ihm dann gleichzeitig einen kurzen, abschätzigen Blick zu und dann wies der zweite Kassierer mit seinem Daumen über die Schulter.
„Ich bin gleich bei ihnen, Sir“, rief der blonde junge Mann und verschwand in einem Gang.“
Tim Mullen seufzte schwer und verschränkte die Arme.
Es vergingen mehrere Minuten, eher der Kassierer wieder auftauchte.
„Verzeihen Sie die Unannehmlichkeiten, Sir, aber der stellvertretende Bankdirektor möchte Sie gern sprechen“, sagte er.
Tim seufzte noch einmal und folgte dem Kassierer den Gang hinunter. Er hätte ihn gern gefragt, worin das Problem bestand, doch wenn der Kassierer ihm darüber Auskunft geben könnte, würde er ihn vermutlich nicht zum stellvertretenden Bankdirektor schleppen.
Sie gingen bis zum Ende des kurzen Gangs und hielten vor einer Tür, an der ein Messingschild mit der Aufschrift „Direktor“ stand. Der Kassierer öffnete die Tür und bedeutete Tim, einzutreten.
In dem Büro, dessen Wände mit Büchern und Aktenregalen vollgestellt war, lag der leichte Schleier von Zigarrenqualm. Hinter einem Schreibtisch saß ein Mann mit ordentlich pomadisierten schwarzen Haaren, einem gezwirbelten Schnurbart und einem grauen Anzug. Er war etwas kleiner und wohl auch etwas jünger als Tim und leicht korpulent.
Als Tim auf seinen Schreibtisch zutrat, wuchtete er seinen Körper mit einem leichten Schnaufen aus dem Armlehnstuhl und reichte ihm eine fleischige, rosafarbene Hand entgegen.