Sie wird dich finden - Freida McFadden - E-Book

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Freida McFadden

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Beschreibung

Wie gut kennst du deine Nachbarn wirklich?

Die Tage, in denen Millie die Häuser wohlhabender Menschen geputzt hat, liegen lange zurück. Ihr Traum von einem eigenen Haus in einer ruhigen Nachbarschaft, wo ihre Kinder spielen können, ist wahr geworden. Doch Millie wird das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmt. Sie fühlt sich beobachtet. Schließlich macht sie einen grausigen Fund, und ihre Vergangenheit holt sie mit voller Wucht wieder ein. Ist die Vorstadtidylle in Wahrheit eine tödliche Falle, aus der es kein Entkommen gibt? Nur eins ist sicher: Um ihre Familie zu schützen, würde Millie alles tun.

Die Housemaid-Reihe:

* Wenn sie wüsste - The Housemaid
* Sie kann dich hören - The Housemaid's Secret
* Sie wird dich finden - The Housemaid Is Watching

Jeder Teil ist auch einzeln lesbar.

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Seitenzahl: 439

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Zum Buch

Die Tage, in denen Millie die Häuser wohlhabender Menschen geputzt hat, liegen lange zurück. Ihr Traum von einem eigenen Haus in einer ruhigen Nachbarschaft, wo ihre Kinder spielen können, ist wahr geworden. Doch Millie wird das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmt. Sie fühlt sich beobachtet. Schließlich macht sie einen grausigen Fund, und ihre Vergangenheit holt sie mit voller Wucht wieder ein. Ist die Vorstadtidylle in Wahrheit eine tödliche Falle, aus der es kein Entkommen gibt? Nur eins ist sicher: Um ihre Familie zu schützen, würde Millie alles tun.

Zur Autorin

Freida McFadden ist im Hauptberuf Ärztin. Spannende Plots sind ihre Leidenschaft. Mit Wenn sie wüsste gelang ihr über Nacht der internationale Durchbruch als Autorin. Die Begeisterung über die unglaublichen Twists in ihrem Thriller war so groß, dass ihr Buch innerhalb kürzester Zeit sämtliche Rekorde brach und weltweit zum gefeierten Bestseller wurde. Darauf folgten mit Sie kann dich hören und Sie wird dich finden zwei weitere packende Thriller rund um Millie. Mit ihrer Familie und einer schwarzen Katze lebt Freida McFadden in einem jahrhundertealten Haus mit knarzenden Treppen und Blick auf das Meer.

Lieferbare Titel

Wenn sie wüssteSie kann dich hören

FREIDA MCFADDEN

SIEWIRDDICHFINDEN

THRILLER

Aus dem Amerikanischen von Astrid Gravert und Christina Hackenberg

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe The Housemaid Is Watching erschien erstmals 2024 bei Poisoned Pen Press, an imprint of Sourcebooks, Naperville, Illinois.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 11/2024

Copyright © 2024 by Freida McFadden

© 2024 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Lars Zwickies

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München, unter Verwendung von iStockphoto (JTGrafix), FinePic®, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-32318-9V002

www.heyne.de

Für meine Familie

PROLOG

Überall ist Blut.

Ich habe noch nie so viel Blut gesehen. Es dringt in den cremefarbenen Teppich, sickert in die Dielen und besprenkelt die Beine des Couchtisches. Ovale Tropfen haben es sogar bis auf den Sitz des hellen Ledersofas geschafft, und es läuft in Rinnsalen die Alabasterwand hinunter.

Es nimmt kein Ende. Wenn ich genau genug hinschaue, werde ich dann auch Blutflecken auf dem Auto in der Garage finden? Auf dem Rasen draußen? Im Supermarkt am anderen Ende der Stadt?

Das Schlimmste ist, dass meine Hände damit bedeckt sind.

Was für eine Schweinerei. Obwohl mir die Zeit dafür fehlt, habe ich das dringende Bedürfnis, alles zu beseitigen. Wenn irgendwo ein Fleck ist, besonders auf dem Teppich, sollte man ihn so schnell wie möglich entfernen – das wurde mir beigebracht. Sobald er getrocknet ist, geht er nicht mehr raus.

Aber sosehr ich auch schrubbe, es wird nichts daran ändern, dass mitten in der Blutlache eine Leiche liegt.

Ich überdenke die Situation. Okay, es sieht schlecht aus. Dass meine Fingerabdrücke im Haus sind, kann man erwarten, aber das Rot unter meinen Fingernägeln und in den Furchen meiner Handflächen ist nicht so leicht zu erklären. Der dunkler werdende Fleck vorne auf meinem Shirt ist nichts, was ich einfach abtun kann. Ich stecke in großen Schwierigkeiten.

Falls mich jemand erwischt.

Ich werfe einen prüfenden Blick auf meine Hände und überlege, was sinnvoller ist: das Blut abzuwaschen oder hier so schnell wie möglich zu verschwinden. Wenn ich meine Hände wasche, verschwende ich kostbare Zeit, in der ich erwischt werden könnte. Wenn ich sofort gehe, verlasse ich das Haus mit Blut an den Händen und beschmiere damit alles, was ich berühre.

Und dann klingelt es an der Tür.

Das Läuten hallt durchs Haus, und ich erstarre, wage kaum zu atmen. »Hallo?«, ruft eine vertraute Stimme.

Bitte geh. Bitte.

Im Haus ist es still. Die Person an der Tür wird denken, dass niemand zu Hause ist, und beschließen, ein anderes Mal wiederzukommen. Sie muss. Wenn nicht, bin ich erledigt.

Wieder klingelt es.

Geh. Bitte geh.

Ich bete sonst nicht, aber jetzt bin ich bereit, auf die Knie zu gehen. Also, ich würde es tun, wenn ich dabei meine Knie nicht mit Blut beschmutzen würde.

Die Person muss annehmen, dass niemand hier ist. Niemand klingelt häufiger als zwei Mal. Aber als ich gerade denke, dass ich vielleicht sicher bin, rüttelt es am Türknauf. Dann dreht er sich.

O nein. Die Tür ist nicht abgeschlossen. In ungefähr fünf Minuten ist die Person im Haus. Sie wird ins Wohnzimmer gehen, und dann wird sie …

Das sehen.

Die Entscheidung ist gefallen. Ich muss hier weg. Keine Zeit, mir die Hände zu waschen. Keine Zeit, mir Sorgen über blutige Fußspuren zu machen, die ich vielleicht hinterlasse. Ich muss hier raus.

Ich hoffe nur, dass niemand herausfindet, was ich getan habe.

TEIL I

1

Millie

Drei Monate früher

Ich liebe dieses Haus.

Ich liebe alles an diesem Haus. Ich liebe den riesigen Rasen vorne und den noch riesigeren hinten (auch wenn beide ein bisschen zu Braun tendieren). Ich liebe die Tatsache, dass das Wohnzimmer groß genug ist, um viele Möbelstücke darin unterzubringen, statt nur ein kleines Sofa und einen Fernseher. Ich liebe die Panoramafenster mit Aussicht auf die Umgebung, die, wie ich kürzlich in einer Zeitschrift gelesen habe, eine der besten Gegenden ist, um ein Kind großzuziehen.

Und am meisten liebe ich, dass es mir gehört. Locust Street Nummer 14 gehört mir. Na ja, in dreißig Jahren, wenn die Hypothek abbezahlt ist, wird es mir gehören. Während ich mit dem Finger über die Wand unseres neuen Wohnzimmers fahre und die brandneue Blumentapete aus der Nähe bewundere, muss ich erneut daran denken, was für ein Glück ich habe.

»Mom küsst wieder das Haus!«, kreischt jemand hinter mir.

Ich trete schnell von der Wand zurück, dabei ist es ja nicht so, als hätte mich mein neunjähriger Sohn mit einem Liebhaber erwischt. Ich schäme mich nicht dafür, dass ich das Haus liebe. Ich würde mich am liebsten aufs Dach stellen und es laut in die Welt hinausschreien. (Wir haben ein beeindruckendes Dach. Ich liebe dieses Haus.)

»Solltest du nicht auspacken?«, frage ich.

Nicos Kisten und Möbel wurden alle in sein Zimmer gestellt, er sollte also auspacken. Doch stattdessen wirft er immer wieder einen Baseball gegen die Wand – die mit der hübschen Blumentapete – und fängt ihn wieder auf. Wir wohnen noch keine fünf Minuten in diesem Haus, und er ist schon entschlossen, es zu zerstören. Ich kann es in seinen dunklen braunen Augen sehen.

Es ist nicht so, dass ich meinen Sohn nicht über alles liebe. Wenn ich mich zwischen Nico und diesem Haus entscheiden müsste, würde ich natürlich Nico wählen. Keine Frage.

Aber wenn er dieses Haus irgendwie beschädigt, bekommt er Hausarrest, bis er alt genug ist, um sich rasieren zu müssen.

»Ich packe morgen aus«, sagt Nico. Seine Maxime ist, dass alles morgen erledigt wird.

»Oder jetzt?«, schlage ich vor.

Nico wirft den Ball in die Luft, und er streift knapp die Decke. Wenn wir irgendetwas Wertvolles im Haus hätten, würde ich jetzt einen Herzanfall bekommen. »Später«, beharrt er.

Heißt nie.

Ich spähe die Treppe hinauf. Ja, wir haben eine Treppe! Eine richtige Treppe. Sie knarrt zwar bei jedem Schritt, und wenn man sich zu sehr am Geländer festhält, könnte es herunterfallen. Aber wir haben eine Treppe, und sie führt in ein weiteres Stockwerk.

Man merkt, dass ich zu lange in New York City gelebt habe. Nach der Sache, die das letzte Mal passiert ist, als ich hier gewohnt habe, zögerte ich, wieder nach Long Island zu ziehen. Aber das ist fast zwei Jahrzehnte her – in grauer Vorzeit.

»Ada?«, rufe ich nach oben. »Ada, kannst du mal kommen?«

Ein paar Minuten später steckt meine elfjährige Tochter ihren Kopf mit den dicken, welligen schwarzen Haaren ins Treppenhaus und blickt mit ihren dunklen Augen zu mir herunter. Sie haben dieselbe Farbe wie Nicos, es sind die Augen ihres Vaters. Im Gegensatz zu Nico hat Ada sofort nach unserer Ankunft damit begonnen, ihre Sachen auszupacken. Sie ist eine Einser-Schülerin – eine, die ihre Hausaufgaben macht, ohne dass man es ihr sagen muss.

»Ada«, sage ich. »Bist du mit Auspacken fertig?«

»Fast.« Keine Überraschung.

»Könntest du vielleicht Nico beim Auspacken helfen?«

Ada nickt, ohne zu zögern. »Klar. Los, komm, Nico.«

Nico sieht sofort die Chance, dass seine Schwester den Großteil der Arbeit macht. »Okay!«, stimmt er fröhlich zu.

Nico hört endlich auf, mich mit dem Baseball zu terrorisieren, und läuft, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, nach oben, um seiner Schwester in sein Zimmer zu folgen. Ich versuche ihr zu sagen, dass sie ihm nicht die ganze Arbeit abnehmen soll, aber das ist aussichtslos. Ich habe selbst noch ungefähr sechzig Kartons auszupacken und werde froh sein, wenn alles erledigt ist.

Wir hatten großes Glück, dieses Haus zu bekommen. Wir haben ein halbes Dutzend Bieterschlachten in Gegenden verloren, die weniger nett waren als diese. Ich hätte nicht gedacht, dass wir die geringste Chance haben würden, dieses urige ehemalige Farmhaus in einem Ort mit so gut bewerteten öffentlichen Schulen zu bekommen. Ich habe fast vor Freude geweint, als unsere Immobilienmaklerin mich anrief, um mir zu sagen, dass das Haus uns gehört. Zehn Prozent günstiger als der geforderte Kaufpreis!

Das Universum muss entschieden haben, dass wir etwas Glück verdienen.

Ich werfe einen Blick aus dem vorderen Fenster auf den Umzugswagen, der vor dem Haus steht. Wir wohnen in einer kleinen Sackgasse mit zwei weiteren Häusern, und am Fenster auf der gegenüberliegenden Seite sehe ich die Umrisse von jemandem. Mein neuer Nachbar, wie ich vermute. Ich hoffe, sie sind freundlich.

Aus dem Umzugswagen ist ein Gepolter zu hören, und ich reiße das Fenster auf, um zu sehen, was los ist. Als ich nach draußen laufe, taucht mein Mann gerade mit einem seiner Freunde, die uns helfen, aus dem Umzugswagen auf. Ich wollte eine Umzugsfirma beauftragen, aber er beharrte, er könne es mit seinen Freunden selbst machen. Ehrlicherweise müssen wir jeden Cent sparen, wenn wir die Hypothekenraten aufbringen wollen. Obwohl der Kaufpreis zehn Prozent unter dem ursprünglich geforderten lag, war unser Traumhaus nicht billig.

Mein Mann hebt eine Hälfte unseres Wohnzimmersofas hoch, und sein verschwitztes T-Shirt klebt an seinem Oberkörper. Mir ist nicht wohl dabei, denn er ist über vierzig, und das Letzte, was er gebrauchen kann, ist ein verrenkter Rücken. Ich habe ihm gegenüber diese Sorge geäußert, als wir den Umzug geplant haben, aber er hat sich benommen, als wäre es das Dümmste, was er je gehört hatte. Obwohl ich mir alle zwei Wochen den Rücken verrenke. Und zwar nicht vom Heben eines Sofas, sondern zum Beispiel vom Niesen.

»Sei bitte vorsichtig, Enzo«, sage ich.

Er sieht zu mir hoch, und als er grinst, schmelze ich dahin. Ist das normal? Bekommen andere Frauen, die seit mehr als elf Jahren verheiratet sind, auch noch manchmal weiche Knie, wenn sie ihren Mann sehen?

Nein? Nur ich?

Ich meine, das geschieht nicht jede Minute. Aber, o Mann, er haut mich immer noch um. Zumal er unerklärlicherweise Jahr für Jahr sexyer wird. (Während ich nur ein Jahr älter werde.)

»Ich pass auf«, sagt er. »Außerdem, dieses Sofa? Ist leicht! Wiegt fast nichts.«

Der Mann, der das andere Ende des Sofas hält, verdreht die Augen. Aber zugegebenermaßen ist es tatsächlich keine schwere Couch. Wir haben sie von IKEA, was eine Verbesserung gegenüber der davor ist, die wir vom Sperrmüll mitgenommen hatten. Enzo war der Meinung, dass es im Sperrmüll vor unserer Wohnung die besten Möbel gebe.

Seitdem sind wir ein bisschen erwachsener geworden. Hoffentlich.

Als Enzo und sein Freund das Sofa in unser schönes neues Haus bringen, blicke ich wieder zum Haus gegenüber. Locust Street Nummer 13. Es starrt immer noch jemand aus dem Fenster. Im Haus ist es dunkel, deshalb sehe ich nicht viel, aber die Gestalt ist immer noch am Fenster.

Jemand beobachtet uns.

Aber daran ist nichts Unheimliches. Die Leute sind unsere neuen Nachbarn und bestimmt neugierig, wer wir sind. Wenn ich früher einen Umzugswagen vor unserem Haus gesehen habe, dann habe ich auch immer durchs Fenster beobachtet, wer einzieht. Enzo hat immer gelacht und gesagt, ich solle aufhören zu gucken und stattdessen hingehen und mich vorstellen.

Das ist der Unterschied zwischen ihm und mir.

Na ja, nicht der einzige Unterschied.

Mit dem Vorsatz, mich zu ändern und wie mein Mann freundlicher zu sein, hebe ich eine Hand, um der Gestalt am Fenster zuzuwinken. Es ist okay, meinen neuen Nachbarn in Nummer 13 zu grüßen.

Aber die Person grüßt nicht zurück. Stattdessen gehen die Rollläden herunter, und die Gestalt verschwindet.

Willkommen in der Nachbarschaft.

2

Während Enzo die letzte Kiste ins Haus trägt, stehe ich, statt auszupacken, draußen auf dem spärlichen Rasen und stelle mir vor, wie er aussehen wird, nachdem mein Mann ihn verjüngt hat. Enzo ist ein Zauberer, was Rasen angeht – so haben wir uns kennengelernt. Dieser sieht mit den vielen braunen Stellen und der krümeligen Erde wie ein hoffnungsloser Fall aus. Aber ich weiß, in einem Jahr werden wir den schönsten Rasen in der Sackgasse haben.

Ich hänge noch meinen Träumen nach, als sich die Tür des Hauses neben uns – Locust Street 12 – öffnet. Eine Frau mit karamellfarbenem Bob erscheint in der Tür. Sie trägt eine taillierte weiße Bluse und einen roten Rock, dazu spitze High Heels, die aussehen, als könnte man jemandem damit die Augen ausstechen. (Warum denke ich immer an so etwas?)

Anders als die Nachbarn von gegenüber scheint sie freundlich zu sein. Sie hebt die Hand, winkt begeistert und überquert den kurzen kopfsteingepflasterten Weg, der unsere Häuser voneinander trennt.

»Hallo!«, sprudelt es aus ihr hervor. »Ich freue mich so, endlich unsere neuen Nachbarn kennenzulernen! Ich bin Suzette Lowell.«

Als ich den Arm ausstrecke und ihre manikürte Hand in meine nehme, werde ich mit einem schmerzhaft kräftigen Händedruck belohnt. »Millie Accardi«, sage ich.

»Schön, dich kennenzulernen«, sagt sie. »Ihr werdet es lieben, hier zu wohnen.«

»Ich liebe es jetzt schon«, sage ich ehrlich. »Das Haus ist toll.«

»Oh, das ist es.« Suzette nickt. »Es hat einige Zeit leer gestanden, da so ein kleines Haus schwer zu verkaufen ist. Aber ich wusste, irgendwann würde die richtige Familie kommen.«

Klein? Beleidigt sie etwa unser geliebtes Haus? »Also, mir gefällt es.«

»O ja. Es ist so gemütlich, nicht? Und …« Ihr Blick streift die Eingangsstufen, die schon leicht bröckeln, aber Enzo hat versprochen, dass er sie in Ordnung bringt. Nur eine auf einer langen Liste von Reparaturen, die wir vornehmen müssen. »Rustikal. So rustikal.«

Okay, sie beleidigt eindeutig das Haus.

Aber es ist mir egal. Ich liebe es trotzdem. Es kümmert mich nicht, was irgendeine hochnäsige Nachbarin denkt.

»Und arbeitest du, Millie?«, fragt Suzette, wobei sie ihre grünblauen Augen auf mein Gesicht richtet.

»Ich bin Sozialarbeiterin«, sage ich nicht ohne Stolz. Obwohl ich den Job nun schon viele Jahre mache, bin ich stolz auf meine berufliche Laufbahn. Ja, es kann anstrengend und aufwühlend sein, und die Bezahlung ist nicht gut, aber ich liebe es. »Was machst du?«

»Ich bin Immobilienmaklerin«, sagt sie mit ebenso viel Stolz. Das erklärt, warum sie unser Haus in Maklersprache beleidigt hat. »Der Markt steigt gerade.«

Ja, das stimmt. Ich frage mich, warum Suzette nichts mit dem Verkauf des Hauses zu tun hatte. Wie kommt es, dass ihre Nachbarn sie nicht damit beauftragt haben, wenn sie Immobilienmaklerin ist?

Enzo nähert sich mit weiteren Kartons vom Umzugswagen. Sein T-Shirt klebt immer noch an seiner Brust, und seine schwarzen Haare sind feucht. Ich erinnere mich, einen der Kartons mit Büchern gefüllt zu haben, und mache mir Sorgen, dass er zu schwer ist. Und jetzt trägt Enzo nicht nur diesen Karton, sondern hat noch einen weiteren obendrauf gestellt. Mein Rücken schmerzt allein vom Zusehen.

Suzette beobachtet ihn ebenfalls. Während sie ihm mit den Augen vom Umzugswagen zur Haustür folgt, breitet sich ein Lächeln auf ihren Lippen aus. »Ihr Möbelpacker ist wirklich heiß«, bemerkt sie.

»Das ist mein Mann«, erkläre ich.

Ihr bleibt der Mund offen stehen. Offenbar findet sie ihn beeindruckender als unser Haus. »Im Ernst?«

»Ja.« Enzo hat die Kartons im Wohnzimmer abgestellt und kommt aus dem Haus, um weitere zu holen. Woher nimmt er nur die Energie? Bevor er beim Umzugswagen ist, winke ich ihn herbei. »Enzo, begrüß unsere neue Nachbarin, Suzette.«

Suzette zupft an ihrer Bluse und schiebt eine Strähne ihrer karamellfarbenen Haare hinters Ohr. Wenn sie könnte, würde sie wahrscheinlich noch schnell einen Blick in ihren Taschenspiegel werfen und ihren Lippenstift auffrischen. Aber dazu ist keine Zeit.

»Hallo!«, sprudelt sie mit ausgestreckter Hand hervor. »Es ist so schön, dich kennenzulernen! Enzo, richtig?«

Er nimmt ihre Hand und zeigt ihr ein breites Lächeln, sodass sich Falten um seine Augen bilden. »Ja, ich bin Enzo. Und du bist Suzette?«

Sie kichert und nickt eifrig. Ihre Reaktion ist ein bisschen übertrieben, aber zugegebenermaßen lässt er seinen Charme spielen. Mein Mann lebt schon seit zwanzig Jahren in diesem Land, und wenn wir uns beim Abendessen unterhalten, ist sein Akzent relativ schwach. Aber wenn er versucht, charmant zu sein, kehrt er ihn stärker hervor, sodass er klingt, als käme er direkt vom Schiff. Oder, wie er sagen würde: »Direkt von Schiff.«

»Ihr werdet es hier lieben«, versichert uns Suzette. »Es ist eine ruhige kleine Sackgasse.«

»Wir lieben es jetzt schon«, erwidere ich.

»Und euer Haus ist so süß«, sagt sie und drückt damit erneut auf kreative Weise aus, dass unser Haus wesentlich kleiner ist als ihres. »Es ist perfekt für euch und eure Kinder, besonders da noch ein Kleines unterwegs ist.«

Bei den Worten sieht sie demonstrativ auf meinen Bauch, in dem ganz sicher kein kleines Kind ist. Es ist seit neun Jahren kein Kleines darin gewesen.

Das Schlimmste ist, dass Enzo ruckartig den Kopf dreht, um mich anzusehen. Eine Sekunde lang liegt ein freudiger Schimmer auf seinem Gesicht, obwohl er genau weiß, dass ich meine Eileiter während des Notfallkaiserschnitts mit Nico habe abklemmen lassen. Ich blicke auf meinen Bauch und bemerke, dass mein Shirt sich dort tatsächlich unvorteilhaft beult. Ich würde am liebsten im Boden versinken.

»Ich bin nicht schwanger«, sage ich an beide gerichtet.

Suzette schlägt die Hand vor ihren roten Mund. »Oh, das tut mir leid, meine Liebe! Ich habe angenommen …«

»Ist schon in Ordnung«, sage ich und schneide ihr das Wort ab, bevor sie es noch schlimmer macht. Ehrlich gesagt liebe ich meinen Körper. In den Zwanzigern war ich ein Strich in der Landschaft, aber jetzt habe ich endlich weibliche Kurven, und auch meinem Mann scheinen sie zu gefallen.

Dennoch werde ich dieses Shirt wegwerfen.

»Wir haben zwei Kinder.« Enzo legt einen Arm um meine Schultern, was Suzette offenbar kränkt. »Unseren Sohn Nico und unsere Tochter Ada.«

Enzo könnte nicht stolzer auf unsere beiden Kinder sein. Er ist ein großartiger Vater und hätte gerne noch fünf mehr gehabt, wenn ich nicht bei der Geburt unseres Sohnes beinahe gestorben wäre. Wir hätten gerne eines adoptiert oder in Pflege genommen, aber angesichts meiner Vergangenheit stand das nicht zur Debatte.

»Hast du Kinder, Suzette?«, frage ich.

Sie schüttelt mit einem erschrockenen Gesichtsausdruck den Kopf. »Nein. Ich bin nicht der mütterliche Typ. Mein Mann Jonathan und ich sind allein. Wir sind glücklich ohne Kinder.«

Ausgezeichnet – sie hat selbst einen Mann. Sie kann also die Finger von meinem lassen.

»Aber im Haus gegenüber von eurem wohnt ein kleiner Junge«, sagt sie. »Er ist in der dritten Klasse.«

»Nico ist auch in der dritten Klasse«, sagt Enzo eifrig. »Vielleicht können sie sich mal kennenlernen.«

Als wir hierhergezogen sind, mussten wir die Kinder mitten im Schuljahr aus der Schule nehmen. Wirklich – das Letzte, was man will, ist zwei Kinder im Grundschulalter aus ihrer Klasse reißen. Ich war von Gewissensbissen geplagt, aber wir konnten es uns nicht leisten, die Hypothekenraten und die Miete bis zum Ende des Schuljahres zu zahlen. Deshalb hatten wir keine Wahl.

Nico, der extrovertiert ist wie sein Vater, schien es nicht zu stören. Für Nico ist es ein lustiges Abenteuer, einen Raum voller neuer Kinder mit seinen Mätzchen zu beeindrucken. Ada nahm die Nachricht ruhig auf, aber später fand ich sie weinend in ihrem Zimmer. Sie war traurig darüber, ihre beiden besten Freundinnen zurücklassen zu müssen. Ich hoffe, dass unsere Kinder sich bis zum Herbst eingelebt haben und das Trauma, mitten im Schuljahr umziehen zu müssen, nur noch eine ferne Erinnerung sein wird.

»Ihr könnt versuchen, euch vorzustellen.« Suzette zuckt mit der Schulter. »Aber die Frau, die dort wohnt, Janice, ist nicht besonders freundlich. Sie verlässt fast nie das Haus, außer um ihren Sohn zur Bushaltestelle zu bringen. Meistens sehe ich sie nur am Fenster stehen und auf die Straße starren. So eine Wichtigtuerin.«

»Oh«, sage ich und frage mich, wieso Janice anscheinend nie das Haus verlässt, obwohl sie so neugierig ist.

Ich blicke hinüber zu Nummer 13. Die Fenster sehen alle dunkel aus, obwohl es mitten am Tag ist und die Bewohner zu Hause zu sein scheinen.

»Ich hoffe, ihr habt gute Jalousien für eure Fenster«, sagt sie zu mir. »Sie hat nämlich eine wirklich hervorragende Sicht auf euer Haus.«

Enzo und ich drehen gleichzeitig die Köpfe in Richtung unseres neuen Hauses, denn uns wird plötzlich klar, dass keines der Fenster im ganzen Haus Vorhänge oder Jalousien hat. Wie konnten wir das nicht bedenken? Niemand hat uns gesagt, dass wir Jalousien kaufen müssen! Jede Wohnung, in der wir bisher gewohnt haben, hatte bereits welche!

»Ich werde Jalousien kaufen«, raunt Enzo mir ins Ohr.

»Danke.«

Unsere Ahnungslosigkeit scheint Suzette zu amüsieren. »Euer Makler hat euch nicht darauf hingewiesen, dass ihr Jalousien kaufen müsst?«

»Ich schätze nicht«, murmele ich.

Wahrscheinlich will Suzette damit sagen, dass sie uns darauf aufmerksam gemacht hätte, wenn sie unsere Immobilienmaklerin gewesen wäre. Aber dazu ist es ein bisschen zu spät. Vorerst müssen wir ohne Jalousien auskommen.

»Ich kann eine sehr gute Firma empfehlen, die euch welche installiert«, sagt sie. »Sie haben es letztes Jahr bei uns gemacht. Im ersten und zweiten Stock haben sie diese wunderschönen Wabenjalousien angebracht und auf dem Dachboden diese herrlichen Rollläden.«

Ich will mir gar nicht ausmalen, was so etwas kostet. Auf jeden Fall weit mehr, als wir dafür übrig haben.

»Nein danke«, sagt Enzo. »Ich kann das machen.«

Sie zwinkert ihm zu. »Ja, ich wette, dass du das kannst.«

Ernsthaft? Ich habe langsam genug davon, dass diese Frau vor meinen Augen mit meinem Mann flirtet. Nicht, dass andere Frauen es nicht auch machen würden, aber Herrgott, wir sind Nachbarn. Kann sie nicht ein bisschen zurückhaltender sein? Ein Teil von mir ist versucht, etwas zu sagen, aber ich sollte mir nicht fünf Minuten nachdem wir hierhergezogen sind, eine Feindin machen.

»Also«, sagt sie. »Ich würde euch gerne zu uns zum Abendessen einladen. Euch beide natürlich, und … die Kinder können auch kommen.« Sie scheint nicht gerade begeistert von der Vorstellung, unsere Kinder in ihrem Haus zu haben. Dabei weiß sie noch nicht einmal von Nicos Neigung, innerhalb von fünf Minuten, nachdem er einen Raum betreten hat, etwas Teures kaputt zu machen.

»Klar, das wäre schön«, erwidert Enzo.

»Fabelhaft!« Sie strahlt ihn an. »Wie wär’s mit morgen Abend? Ich bin sicher, eure Küche ist bis dahin noch nicht aufgebaut und betriebsbereit, das würde euch ein bisschen den Stress nehmen.«

Enzo sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Er hat endlos Energie für gesellige Zusammenkünfte, während ich eher introvertiert bin. Deshalb schätze ich es, dass er sich an mich wendet, bevor er annimmt. Ehrlich gesagt hasse ich die Vorstellung, einen Abend mit dieser Frau zu verbringen. Sie scheint ein bisschen angeberisch. Aber sind wir nicht verpflichtet, uns mit den Nachbarn anzufreunden, wenn wir hier wohnen? Tun das nicht normale Vorstadtfamilien? Und vielleicht ist sie nicht so schlimm, wenn ich sie erst mal kennengelernt habe.

»Klar«, stimme ich zu. »Das ist wirklich nett. Wir kennen kaum jemanden in Long Island.«

Suzette wirft den Kopf zurück und lacht, wobei eine Reihe perlweißer Zähne sichtbar wird. »Oh, Millie.«

Ich sehe kurz zu Enzo hinüber, der mit der Schulter zuckt. Keiner von uns weiß anscheinend, was so lustig ist. »Was?«

»Du weißt nicht, wie das klingt«, kichert sie. »Niemand sagt ›in Long Island‹«.

»Nicht?«

»Nein!« Sie schüttelt den Kopf, als wäre ich einfach eine Zumutung. »Es heißt ›auf Long Island‹. Du bist nicht in einer Insel – das klingt so unwissend. Man befindet sich auf einer Insel.«

Enzo kratzt sich am Kopf. Er hat noch nicht ein graues Haar. Ich dagegen wäre ohne Clairol ziemlich grau, das bin ich seit Nicos Geburt. Enzo hat nur ein paar graue Strähnen in seinem Bart, wenn er ihn wachsen lässt. Als ich ihn darauf aufmerksam gemacht habe, hat er auf seinem Kopf so lange herumgesucht, bis er ein einzelnes graues Haar gefunden hat, und es mir gezeigt. Als ob das die Sache besser machen würde.

»Ich verstehe nicht«, sage ich. »Heißt das, die Leute sollten dann auch sagen, sie leben auf Staten Island?«

Das Lächeln verschwindet aus ihrem Gesicht. »Also, Staten Island ist ein ganz anderer Fall.«

Ich versuche Blickkontakt mit Enzo aufzunehmen, aber ihn scheint die ganze Sache zu amüsieren. »Na, wir sind jedenfalls froh, hier auf Long Island zu sein, Suzette. Und wir freuen uns darauf, morgen bei dir zu Abend zu essen.«

»Ich kann es kaum erwarten«, erwidert sie.

Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Soll ich irgendetwas mitbringen?«

»Oh.« Sie tippt sich mit dem Zeigefinger ans Kinn. »Bring doch ein Dessert mit!«

Toll. Jetzt muss ich mir überlegen, was ich zum Dessert mitbringen kann, das Suzettes Ansprüchen genügt. Ich glaube, eine Schachtel Oreos wird nicht ganz das Richtige sein. »Klingt gut!«

Während Suzette zurück zu ihrem eigenen, viel größeren Haus geht, klacken ihre Absätze bei jedem Schritt auf dem Gehweg, und ich habe ein seltsames Gefühl in der Magengrube. Ich habe mich so gefreut, als wir dieses Haus gekauft haben. Nachdem wir so lange beengt in einer winzigen Wohnung gewohnt haben, besitzen wir endlich unser Traumhaus.

Aber jetzt frage ich mich, ob es vielleicht ein schrecklicher Fehler war, hierherzuziehen.

3

Heute Abend essen wir vier an unserem Küchentisch. Was ein Küchentisch ist? Ein Tisch, der in unsere Küche passt. Ja, unsere Küche ist jetzt groß genug, um einen Tisch hineinzustellen. In unserer alten Küche war kaum genug Platz für eine Person.

Wir haben Essen bei einem chinesischen Restaurant bestellt, von dem eine Speisekarte in der Post war. Ich bin nicht besonders wählerisch, was Essen angeht, und Enzo auch nicht. Das Einzige, was er ablehnt, ist italienisches Essen. Er sagt, kein Restaurant bereitet es richtig zu und es ist immer eine Enttäuschung. Aber er isst Pizza vom Lieferservice. Denn das ist seiner Meinung nach eigentlich kein italienisches Essen.

Ada ist genauso unkompliziert, aber Nico ist äußerst wählerisch. Deshalb habe ich für meinen Sohn extra eine Schüssel weißen Reis mit einem Klacks Butter und viel Salz zubereitet, während wir anderen Lo-Mein-Nudeln und Rindfleisch mit Brokkoli futtern. Mittlerweile muss gebutterter Reis durch Nicos Venen fließen.

»Unser erstes Abendessen im neuen Haus«, verkünde ich stolz. »Wir weihen endlich unseren Küchentisch ein.«

»Warum sagst du das ständig, Mom?«, fragt Nico. »Warum sagst du ständig, dass wir alles einweihen?«

Ich weiß nicht, ob er das Wort »einweihen« schon vorher einmal aus meinem Mund gehört hat, aber in den letzten Stunden habe ich es mindestens fünf Mal benutzt. Als wir auf dem Sofa gesessen haben, habe ich gesagt, wir weihen das Wohnzimmer ein. Als wir mit seinem Baseball im Garten waren, habe ich gesagt, wir weihen unseren Garten ein. Und irgendwann könnte ich gesagt haben, dass ich die Toilette einweihen würde.

»Deine Mom ist einfach begeistert von dem Haus.« Enzo greift über den Tisch nach meiner Hand. »Und sie hat recht. Es ist ein schönes Haus.«

»Es ist irgendwie ganz nett«, gibt Nico zu. »Aber ich wünschte, es wäre rot gestrichen. Und hätte gelbe Rundbögen.«

Okay, mein Sohn will mir sagen, dass er bei McDonald’s wohnen will.

Es kümmert mich nicht. Wir haben das Haus für die beiden gekauft. In der Bronx haben wir sehr beengt in einer winzigen Wohnung gelebt, und Männer haben angefangen, Ada anzügliche Blicke zuzuwerfen, wenn sie nach Hause ging. Jetzt wohnen wir in einem sehr guten Schuldistrikt, haben einen Garten zum Spielen, und sie können in der Gegend herumlaufen, ohne Angst vor Überfällen haben zu müssen. Auch wenn sie es nicht zu schätzen wissen, es ist das Beste, was wir für sie tun konnten.

»Mom?« Ada schiebt Nudeln auf ihrem Teller herum, und ich bemerke, dass sie kaum etwas gegessen hat. »Fängt morgen die Schule für uns an?«

Sie hat ihre dunklen Augenbrauen zusammengezogen. Meine Kinder sehen beide ihrem Vater so ähnlich, dass es beinahe scheint, als wären sie Klone von ihm und ich nur der Brutkasten, der sie ausgetragen hat. Ada mit ihren pechschwarzen Haaren und braunen Augen, die die Hälfte ihres Gesichts einnehmen, ist wunderschön. Enzo sagt, sie sehe wie seine Schwester Antonia aus. Sie ist jetzt gerade am Übergang vom Kind zur Erwachsenen, und schon bald wird sie eine Frau sein, nach der man sich umdreht. Wenn das passiert, wird Enzo die ganze Zeit einen Baseballschläger bei sich haben. Er würde es nicht zugeben, aber er sieht sich ihr gegenüber in der Rolle des Beschützers.

»Fühlst du dich bereit für den Schulanfang?«, frage ich sie.

»Ja«, sagt sie, schüttelt aber gleichzeitig den Kopf.

»Die Frühjahrsferien sind zu Ende«, sage ich. »Die anderen Schüler haben sich alle eine Woche lang nicht gesehen. Sie werden sich wahrscheinlich gar nicht aneinander erinnern.«

Ada findet das anscheinend kein bisschen komisch, aber Nico kichert.

»Ich kann euch morgen fahren«, schlägt Enzo vor. »Wir könnten meinen Truck nehmen.«

Sie bekommt leuchtende Augen, denn sie liebt es, im Truck ihres Vaters zu fahren. »Kann ich vorne sitzen?«

Enzo sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Er verwöhnt sie gerne, aber ich schätze es, dass er es nicht ohne mein Einverständnis tut.

»Eigentlich bist du noch ein bisschen zu klein, um vorne zu sitzen, Schatz. Aber bald.«

»Ich will morgen mit dem Bus fahren«, erklärt Nico. Letztes Jahr wohnten wir zu nah bei der Grundschule, um mit dem Schulbus zu fahren. Deshalb bedeutet für ihn »mit dem Bus fahren« jetzt so viel, wie eine Schokoladenfabrik voller Umpa Lumpas zu besuchen. Er kann an nichts anderes denken. »Bitte, Mom!«

»Klar«, sage ich. »Und Ada, wenn du mit deinem Dad fahren willst …«

»Nein«, sagt sie entschieden. »Ich nehme mit Nico den Bus.«

Was immer man sonst über meine Tochter sagen kann, sie ist unglaublich fürsorglich gegenüber ihrem kleinen Bruder. Ich habe gehört, dass Kleinkinder sehr eifersüchtig sein können, wenn ein neues Baby ins Haus kommt, aber Ada hat Nico von Anfang an geliebt. Sie hat ihre Puppen links liegen lassen und sich stattdessen um ihn gekümmert. Ich habe einige hinreißende Fotos von Ada, wie sie Nico auf dem Schoß hat und ihm die Flasche gibt.

»Außerdem …« Nico schaufelt noch mehr Reis in seinen Mund, aber nur ungefähr achtzig Prozent davon passiert tatsächlich seine Lippen. Der Rest landet auf seinem Schoß und dem Fußboden unter ihm. »Kann ich ein Tier haben, Mom? Bitte.«

»Hm«, erwidere ich.

»Du hast gesagt, wenn ich älter und verantwortungsvoller bin, könnte ich ein Tier haben«, erinnert Nico mich.

Nun ja, er ist älter. Aber was das Verantwortungsgefühl angeht …

»Einen Hund?«, fragt Ada hoffnungsvoll.

»Wir müssen zuerst den Garten einzäunen, ehe wir an einen Hund denken können«, erkläre ich ihnen. Zudem würde ich gerne finanziell besser aufgestellt sein, bevor wir unserer Familie ein weiteres Mitglied hinzufügen.

»Dann vielleicht eine Schildkröte?«, schlägt Ada vor.

Ich erschaudere. »Nein, bitte keine Schildkröte. Ich hasse Schildkröten.«

»Ich will weder einen Hund noch eine Schildkröte«, sagt Nico. »Ich will eine Gottesanbeterin.«

Mir bleibt beinahe ein Brokkoliröschen im Hals stecken. »Eine was?«

»Das ist eigentlich ein gutes Haustier«, mischt Enzo sich ein. »Leicht zu versorgen.«

O mein Gott, Enzo weiß, dass Nico so ein schreckliches Ding ins Haus bringen will? »Nein, wir werden keine Gottesanbeterin kaufen.«

»Aber warum nicht, Mom?«, drängt Nico. »Die sind supercool. Sie wird nur in meinem Zimmer sein, du brauchst sie nie zu sehen, wenn du nicht willst.«

Er wirft mir sein liebenswertes Lächeln zu. Er hat gerade dieses hinreißende runde Gesicht und eine Zahnlücke. In sechs oder sieben Jahren wird er Herzen brechen wie sein Vater, bevor wir zusammen waren.

»Es spielt keine Rolle, ob ich sie sehe«, sage ich. »Ich weiß, dass sie da ist.«

»Wir werden sie in einer Box halten«, erklärt Enzo mir und lässt seine Version desselben Lächelns aufblitzen. Mein Mann sieht so verdammt gut aus.

»Was bekommt sie zu fressen?«, frage ich.

»Fliegen«, sagt Nico.

»Nein.« Ich schüttele den Kopf. »Nein. Kommt nicht infrage.«

»Keine Sorge«, sagt Nico. »Es sind Fliegen, die nicht fliegen können.«

»Es sind Läufer«, scherzt Enzo.

»Es kostet nicht mal was«, fügt Nico hinzu. »Wir werden die Fliegen selbst züchten.«

»Nein. Nein, nein, nein.«

Enzo greift unter den Tisch und drückt mein Knie. »Millie, wir haben die Kinder aus der Schule gerissen und sind mit ihnen hierhergezogen. Wenn Nico eine Gottesanbeterin will …«

Blödsinn. Er will auch eine Gottesanbeterin. Das gehört zu der Art von Dingen, die Enzo cool finden würde.

Ich sehe Hilfe suchend Ada an, aber sie ist vollkommen damit beschäftigt, Nudelhaufen auf ihrem Teller anzulegen. Normalerweise spielt sie nicht mit ihrem Essen, sie scheint sich also wirklich Sorgen zu machen.

»Wenn ich Ja sage«, erwidere ich, »wo würden wir eine Gottesanbeterin kaufen?«

Enzo und Nico klatschen sich ab, was irgendwie niedlich wäre, wenn mir nicht davor grauen würde, dass sie dieses Insekt ins Haus holen wollen.

»Wir können ein Ei von einer Gottesanbeterin kaufen«, erklärt Nico. Gott, wie lange sprechen sie schon darüber? Es scheint, als hätten sie bereits einen genauen Plan im Kopf. »Und dann schlüpfen daraus Larven, es können Hunderte sein.«

»Hunderte …«

»Aber das ist okay«, sagt Enzo schnell. »Sie fressen sich gegenseitig, sodass für gewöhnlich nur ein oder zwei übrig bleiben.«

»Und dann können wir sie taufen«, fügt Nico hinzu. »Okay, Mom?«

Ich stelle mir vor, wie entsetzt Suzette Lowell wäre, wenn sie wüsste, dass es eine Gottesanbeterin und eine Kolonie von flugunfähigen Fliegen in ihrer perfekten Sackgasse gibt. Was das einzig Komische an der ganzen Sache ist. Okay, gut, ich werde zustimmen. Aber ich schwöre, wenn überall in meinem schönen neuen Haus Fliegen herumkrabbeln, wird Nico ausziehen müssen.

4

Wenn ich noch eine weitere Kiste auspacke, übergebe ich mich.

Ich habe heute fünf Milliarden Kisten ausgepackt. Das ist eine vorsichtige Schätzung. Und jetzt stehe ich im großen Badezimmer und starre auf den Karton, auf den ich Badezimmer geschrieben habe. Ich kann mich einfach nicht aufraffen, ihn zu öffnen, obwohl wichtige Utensilien darin sind. Vielleicht kann ich mir heute Abend die Zähne mit den Fingern putzen.

Vor der Tür werden Schritte lauter, und im nächsten Moment steckt Enzo den Kopf ins Bad. Er lächelt, als er mich dort mit dem Karton stehen sieht.

»Was machst du?«, fragt er.

Ich lasse die Schultern hängen. »Auspacken.«

»Du packst schon den ganzen Abend aus«, sagt er. »Es reicht. Wir machen es morgen.«

»Aber wir brauchen diese Sachen. Sie sind fürs Badezimmer.«

Enzo sieht aus, als wollte er es mir ausreden, aber dann überlegt er es sich anders. Er greift in die Tasche seiner abgetragenen Jeans und zieht das Taschenmesser heraus, das er immer bei sich hat. Sein Vater hat es ihm geschenkt, als er ein Junge war, und seine Initialen sind eingraviert: EA. Das Messer ist fast vierzig Jahre alt, aber er sorgt dafür, dass es immer scharf wie eine Rasierklinge ist. Deshalb durchtrennt es spielend das Klebeband, mit dem der Karton verschlossen ist.

Wir packen die Sachen zusammen aus. Als ich diesem Mann zum ersten Mal begegnet bin, bekam ich weiche Knie und hätte mir nicht vorstellen können, dass wir einmal zusammen in einem Badezimmer stehen und Seifenstücke und klebrige Shampoo-Flaschen sortieren würden. Aber seltsamerweise hat Enzo Gefallen am Familienleben gefunden.

Wir lebten noch kein Jahr zusammen, als trotz gewissenhafter Verhütung meine Periode ausblieb. Ich hatte Angst, es ihm zu sagen, aber er war ganz aus dem Häuschen. Jetzt werden wir eine Familie sein!, jubelte er. Seine Eltern und Geschwister waren alle schon tot, und mir war nie klar gewesen, wie wichtig es ihm war, eine eigene Familie zu gründen. Einen Monat später haben wir geheiratet.

Und jetzt, zehn Jahre danach, führe ich ein Vorstadt-Familienleben, wie ich es mir nie hätte träumen lassen. Weder mit Enzo noch mit sonst jemandem. Manche würden es langweilig nennen, aber ich liebe es. Ich wollte immer nur ein normales, ruhiges Leben. Es hat bei mir nur länger gedauert als bei den meisten Menschen, bis ich es hatte.

Enzo nimmt die Rasierer aus dem Karton, und jetzt ist er leer. Wir sind fertig. Okay, es stehen noch fünf Milliarden Kisten im Haus, aber zumindest ist eine weitere ausgepackt, sodass es jetzt fünf Milliarden minus eine sind. Ich schätze, wir werden in den nächsten dreißig oder vierzig Jahren mit Auspacken fertig sein.

»Okay«, sagt Enzo. »Für heute sind wir fertig.«

»Ja«, stimme ich zu.

Er wirft einen Blick über die Schulter auf das frisch bezogene Queensize-Bett und sieht mich wieder grinsend an.

»Was?«, necke ich ihn. »Willst du das Bett einweihen?«

»Nein«, sagt er. »Ich will es entweihen.«

Ich lache, und er unterbricht mich dabei, indem er mich hochhebt und über die Schwelle unseres schönen Schlafzimmers trägt. Ich würde ihm ja sagen, dass er vorsichtig mit seinem Rücken sein soll. Aber da er heute schon Kisten geschleppt hat, die doppelt so schwer sind wie ich (hoffentlich), weiß er vermutlich, was er tut. Er hält nicht an, bis wir beim Bett sind, wo er mich auf die frischen Laken legt.

Enzo reißt sich das T-Shirt vom Leib, klettert auf mich und küsst meinen Hals. Aber sosehr es mir gefällt, mein Blick geht zu den beiden Fenstern direkt neben unserem Bett. Warum haben wir keine Jalousien gekauft? Welcher Idiot zieht in ein Haus, ohne dafür zu sorgen, dass die Fenster verhüllt sind?

Aus meiner Position im Bett habe ich eine ausgezeichnete Aussicht auf das Haus gegenüber. Die Fenster sind dunkel, aber es kommt mir so vor, als ob sich in einem der oberen Räume etwas bewegt.

Enzo bemerkt, dass ich wie erstarrt bin, und zieht sich zurück. »Was ist los?«

»Die Fenster«, murmele ich. »Man kann alles sehen.«

Er hebt den Kopf und späht durch unser Fenster zur Locust Street 13. »Das Licht ist aus. Sie schlafen.«

Als ich wieder hinübersehe, bemerke ich keine Zeichen von Bewegung. Aber eben habe ich etwas gesehen. Vor einer Sekunde. Ich bin ganz sicher. »Das glaube ich nicht.«

Er zwinkert mir zu. »Dann liefern wir ihnen eine Show.«

Ich starre ihn an.

»Gut«, grummelt er. »Was hältst du davon, wenn wir das Licht ausmachen?«

»Gut.«

Enzo krabbelt von mir runter, um das Licht auszuknipsen, und nun ist das Schlafzimmer in Dunkelheit getaucht.

Ich winde mich im Bett, unfähig, den Blick von den Fenstern loszureißen. »Fragst du dich nicht manchmal, warum wir das Haus so billig bekommen haben?«

»Billig?«, bricht es aus Enzo hervor. »Wir mussten unsere gesamten Ersparnisse für die Anzahlung aufbrauchen. Und die Hypothek ist …«

»Wir haben es für weniger bekommen als gefordert«, betone ich. »Sonst war nichts unter dem geforderten Preis zu haben.«

»Ist renovierungsbedürftig.«

»Das waren die anderen auch.« Ich stütze mich im Bett auf. »Und wir haben für keines davon den Zuschlag bekommen.«

Enzo wirft mir einen entnervten Blick zu. »Wir kaufen dir dein Traumhaus, und jetzt hast du Problem mit Traumhaus? Wir hatten Glück! Warum ist das so schwer zu glauben?«

Weil – sehen wir den Tatsachen ins Auge – ich nie Glück habe.

»Millie …«, sagt Enzo mit dieser heiseren Stimme, der ich, wie er weiß, nicht widerstehen kann. »Lass uns unsere erste Nacht in unserem Traumhaus genießen. Ja?«

Er klettert wieder neben mich ins Bett, und jetzt kann ich mich nicht mehr länger gegen seinen Charme wehren. Ich werfe aber noch einen letzten Blick durchs Fenster, und obwohl das Haus auf der anderen Straßenseite steht, bin ich mir sicher, ein Paar Augen zu erkennen, die auf meinem Körper ruhen.

Uns beobachten.

5

Heute haben die Kinder ihren ersten Tag an der neuen Schule.

Ada zieht das Kleid an, das ich ihr dafür ausgesucht habe. Es ist ärmellos und blassrosa. Wenn mein Sohn es tragen würde, wäre es wahrscheinlich mit Schmutz und Fett beschmiert, bevor er das Haus verlässt. Aber sie liebt es und wird es ganz sicher nicht vorzeitig schmutzig machen. Was Nico angeht, bin ich froh, dass er zumindest saubere Sachen ohne Löcher anhat.

Mir wurde gesagt, dass der Schulbus vor Locust Street 13 hält, deshalb gehe ich mit den Kindern an Suzettes Haus vorbei hinüber zum Haus der Nachbarin, die uns, davon bin ich überzeugt, seit gestern durch unsere unverhüllten Fenster beobachtet. Tatsächlich steht eine Frau mit einem Kind an der Bushaltestelle, aber sie entsprechen nicht meinen Erwartungen.

Zunächst mal ist die Frau älter, als ich erwartet habe. Ich bin nicht die jüngste Mutter unter den Eltern der Freunde meiner Kinder, aber diese Frau sieht alt genug aus, um meine Mutter zu sein. Sie ist knochendünn, hat drahtige graue Haare und spindeldürre Finger, die fast wie Krallen aussehen. Suzette sagt, ihr Sohn sei in Nicos Alter, aber der kleine Junge neben ihr sieht aus, als wäre er mindestens zwei Jahre jünger. Er ist genauso abgemagert wie seine Mutter, und obwohl es ein warmer Frühlingstag ist, trägt er einen dicken Wollpullover mit Rollkragen, der äußerst kratzig und unbequem aussieht.

Vielleicht ist sie auch nicht seine Mutter, sondern seine Großmutter. Sie sieht auf jeden Fall alt genug aus, um seine Großmutter zu sein. Aber ich würde sie niemals fragen. Ich bin schließlich nicht Suzette. Das gehört zu den Dingen, die man eine Person nicht fragt, der man zum ersten Mal begegnet, ähnlich wie »Sind sie schwanger?«. (Blödes ausgeleiertes T-Shirt.)

Als ich mich ihnen nähere, blickt mich die Frau mit zusammengekniffenen Augen durch ihre Hornbrille an. Ich bemerke die Silberkette an der Brille, etwas, das ich immer mit älteren Leuten verbinde. Aber eine von Adas Freundinnen in Boston trug auch eine, vielleicht ist es also gerade wieder angesagt.

»Hallo!«, sage ich fröhlich, entschlossen, mich mit dieser Frau anzufreunden. Schließlich würde ich gerne Freunde in Long Island finden. Ups, ich meine, auf Long Island.

Die Frau wirft mir ein halbherziges Lächeln zu, das eher eine Grimasse ist. »Hallo«, sagt sie in dem ausdruckslosesten Tonfall, den ich je gehört habe.

»Ich bin Millie«, sage ich.

Sie starrt mich mit leerem Blick an. Jetzt würden mir die meisten Menschen ihren Namen verraten, aber das hat sie anscheinend nicht mitbekommen.

»Und das sind Nico und Ada«, füge ich hinzu.

Sie legt schließlich eine Hand auf die Schulter des kleinen Jungen. »Das ist Spencer«, sagt sie. »Ich bin Janice.«

Der Junge bewegt sich plötzlich, und es wird so etwas wie ein Haken unten an seinem Rucksack sichtbar, an dem etwas befestigt ist, das die Frau festhält. O mein Gott – es ist eine Leine. Das arme Kind ist an der Leine!

»Schön, dich kennenzulernen«, sage ich. Oder sollte ich sagen, braver Hund? »Ich habe gehört, Spencer ist in … der dritten Klasse?«

Noch während ich es ausspreche, kommt es mir unmöglich vor. Der kleine Junge ist fast einen Kopf kleiner als Nico, der eine normale Größe für sein Alter hat. Aber der Junge namens Spencer nickt. »Ja«, bestätigt er.

»Cool!« Nico bekommt leuchtende Augen. »Ich habe Mrs. Cleary als Lehrerin. Wen hast du gekriegt?«

»Wen hast du bekommen«, korrigiert Janice ihn.

Nico sieht zu ihr hoch, blinzelt sie mit seinen dunklen Augen an. »Ich hab doch schon gesagt, ich habe Mrs. Cleary«, erwidert er langsam, als hielte er sie für dumm. Ich verkneife mir ein Lachen.

Bevor Janice klarstellen kann, dass sie versucht hat, seine Ausdrucksweise zu korrigieren, platzt Spencer heraus: »Ich auch! Ich habe auch Mrs. Cleary!«

Die Jungen beginnen aufgeregt miteinander zu reden, worüber ich glücklich bin. Nico ist so extrovertiert, er kann sich mit dem schüchternsten Kind anfreunden. Ich beneide ihn um diese Fähigkeit.

Ich werfe Janice ein verschwörerisches Lächeln zu. »Sieht so aus, als hätte Nico seinen ersten Freund hier gefunden.«

»Ja«, erwidert Janice mit deutlich weniger Begeisterung.

»Vielleicht können sie irgendwann mal zusammen spielen?«

»Vielleicht.« Sie runzelt die Stirn, und die Falten, die ihr Gesicht durchziehen, werden deutlicher. »Hat dein Sohn alle Impfungen bekommen?«

Alle öffentlichen Schulen verlangen den Nachweis der empfohlenen Standardimpfungen, und ich bin sicher, das weiß sie. Aber gut – ich tue ihr den Gefallen.

»Ja.«

»Einschließlich Grippe?«

Es ist noch nicht mal Grippesaison, aber wie auch immer. »Ja.«

»Man kann nicht vorsichtig genug sein, weißt du?«, sagt sie. »Spencer ist so anfällig.«

Zugegeben, der Junge sieht mit seiner blassen Haut und dem schmächtigen Körper, der in dem riesigen Wollpullover steckt, tatsächlich ein bisschen anfällig aus. Aber jetzt, da er mit Nico redet, haben seine Wangen ein bisschen Farbe bekommen.

»Ich würde mich freuen, alle Nachbarn kennenzulernen, da ich hier neu bin«, sage ich. »Mein Mann und ich essen heute bei Suzette zu Abend.«

»Oh.« Sie verzieht missbilligend die Lippen. »Ich würde mich vor der Frau vorsehen.« Sie wirft mir einen vielsagenden Blick zu. »Und ich würde besonders gut auf deinen gut aussehenden Mann aufpassen.«

Mir gefällt ihre Andeutung nicht. Ja, Suzette ist sehr attraktiv, und ja, sie hat ein bisschen übertrieben geflirtet. Aber ich vertraue meinem Mann – er wird mich nicht mit der Nachbarin betrügen. Ich bin nicht gerade begeistert davon, dass Janice sich anmaßt, so eine Bemerkung zu machen.

»Suzette scheint … nett zu sein«, sage ich höflich, obwohl ich nicht davon überzeugt bin.

»Nein, das ist sie nicht.«

Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll, aber zum Glück kommt in dem Moment der Schulbus, und Janice lässt ihr Kind von der Leine. (Aber ich bin sicher, er hat einen Mikrochip mit GPS in seinem Gehirn implantiert oder so.) Nico nimmt kaum wahr, dass ich mich von ihm verabschiede, so sehr ist er mit seinem neuen Freund beschäftigt. Er erlaubt mir, ihn auf die Stirn zu küssen, und besitzt den Anstand, den Kuss erst wegzuwischen, als er in den Bus steigt. Ada dagegen umarmt mich fest und klammert sich so lange an mich, dass ich sie am liebsten selbst direkt zur Schule bringen würde.

»Du wirst eine Menge Freunde finden«, raune ich ihr ins Ohr. »Sei einfach du selbst.«

Ada sieht mich skeptisch an. Uff, ich kann nicht glauben, dass ich das gesagt habe. Jemandem zu sagen, er solle er selbst sein, ist der schlechteste Rat, den es gibt. Ich habe es immer gehasst, wenn jemand das zu mir gesagt hat. Aber ich habe keinen besseren Rat. Wenn ich einen hätte, hätte ich mehr Freunde.

Ich wünschte, Enzo wäre hier. Er wüsste, was er sagen müsste, um sie zum Lächeln zu bringen. Aber er hat einen Gartenjob und schon früh das Haus verlassen, deshalb bin nur ich hier.

»Ich warte heute Nachmittag zu Hause auf euch!«, rufe ich ihnen nach. Ich werde heute nur den halben Tag arbeiten, um zu Hause zu sein, wenn sie kommen. Aber zukünftig werden sie wahrscheinlich eine halbe bis eine Stunde früher zu Hause sein als ich.

Die Türen des Busses schließen sich, er fährt weg und nimmt meine beiden Kinder mit. Mich überkommt augenblicklich dieses Angstgefühl, das ich immer habe, wenn ich von meinen Kindern getrennt bin. Wird sich das jemals ändern? Es war einfacher, als sie noch in meinem Bauch heranwuchsen. Mal abgesehen von der lebensbedrohlichen Präeklampsie, die ich im letzten Drittel der Schwangerschaft mit Nico bekam, was zu meiner Entscheidung führte, meine Eileiter abklemmen zu lassen.

Erst als der Bus aus der Sackgasse verschwunden ist, bemerke ich, dass Janice mich mit einem entsetzten Gesichtsausdruck anstarrt.

»Ist irgendetwas?«, frage ich so höflich wie möglich.

»Millie«, sagt sie. »Du willst sie doch nicht allen Ernstes allein nach Hause gehen lassen, oder?«

»Doch.« Ich deute auf unser Haus, das kaum einen Steinwurf entfernt ist. »Wir wohnen direkt dort.«

»Na und?«, entgegnet sie. »Wir wohnen direkt dort.« Sie zeigt auf ihr Haus, das buchstäblich direkt hinter uns steht. »Aber ich lasse mein Kind keine Sekunde aus den Augen. Wenn ein Triebtäter es auf dein Kind abgesehen hat, könnte er es sich mir nichts, dir nichts schnappen.«

Sie schnippt direkt vor meinem Gesicht mit den Fingern, um die Unmittelbarkeit der Bedrohung zu demonstrieren.

»Aber es ist doch eine ziemlich sichere Gegend«, sage ich zögernd, denn ich will dieser Frau nicht offen sagen, wie lächerlich ich es finde, dass sie ihren Sohn an der Leine hat.

»Trügerische Sicherheit«, spottet sie. »Weißt du, dass ein achtjähriger Junge vor drei Jahren direkt von der Straße verschwand?«

»Hier?«

»Nein, ein paar Städte entfernt.«

»Wo?«

»Ich sagte, ein paar Städte entfernt.« Sie sieht mich strafend an. »Seine Mutter hat seine Hand nur eine Sekunde losgelassen, und er wurde weggeschnappt. Spurlos verschwunden.«

»Wirklich?«

»Ja. Sie haben alles getan, was sie konnten, um ihn zu finden. Die Polizei gerufen, FBI, CIA, Nationalgarde und einen Hellseher. Selbst der Hellseher konnte ihn nicht finden, Millie.«

Ich kenne die Einzelheiten dieser angeblichen Entführung nicht, aber ich habe nie von so etwas in den Nachrichten gehört. Und es ist nicht mal hier in der Gegend passiert. Für Janice könnte einpaar Städte entfernt durchaus Kalifornien bedeuten. Ich weiß nicht, ob es hilfreich wäre, darauf hinzuweisen, dass statistisch gesehen fast alle Kindesentführungen von Familienmitgliedern begangen werden. Janice scheint sich eine Meinung gebildet zu haben. Spencer wird wahrscheinlich an der Leine bleiben, bis er dreißig ist.

»Na, irgendwann müssen sie allein nach Hause gehen«, sage ich. »Mein Mann und ich arbeiten beide, und wir können sie nicht jeden Tag abholen.«

Sie sieht mich erstaunt an. »Du arbeitest?«

»Hm, ja.«

Sie schnalzt missbilligend mit der Zunge. »Als mein Mann gestorben ist, hat er mir so viel Geld hinterlassen, dass ich nie mehr arbeiten muss.«

»Hm, das ist schön.«

»Es ist furchtbar traurig«, fährt sie fort, »dass deine Kinder keine Mutter haben, die zu Hause ist. Sie werden niemals die Liebe erfahren, die sie verdienen, von einer Mutter, die nicht von ihrer Seite weicht.«

Mir bleibt der Mund offen stehen. »Meine Kinder wissen, dass ich sie liebe.«

»Aber denk dran, wie viel du verpasst!«, ruft sie. »Macht es dich nicht traurig?«

Die Worte »Zumindest ist mein Kind nicht an der Leine« liegen mir auf der Zunge, aber wie durch ein Wunder gelingt es mir, den Mund zu halten. Meine Kinder wissen, dass ich sie liebe. Aber ich liebe auch meinen Job und tue Gutes für Menschen im Krankenhaus. Und selbst wenn es nicht so wäre, wir brauchen jeden Cent von unserem Einkommen, da Enzo sein Geschäft hier draußen ganz neu aufbauen muss.

»Wir kriegen es hin«, ist alles, was ich sage.

»Na, ich bin sicher, du tust dein Bestes in der wenigen Zeit, die du mit ihnen verbringst.«

Irgendwie habe ich das Gefühl, Janice und ich werden keine dicken Freundinnen. Ich habe mich so darauf gefreut hierherzuziehen, aber es scheint, als wäre ich in der unfreundlichsten Sackgasse der ganzen Stadt gelandet. Die eine Nachbarin macht sich an meinen Mann heran, und die andere kritisiert mein Engagement als Mutter.

Wieder frage ich mich, ob es ein schrecklicher Fehler war hierherzuziehen.

6

Die Schule war gut heute.

Als die Kinder aus dem Bus steigen, sprudeln sie vor Geschichten über ihren ersten Schultag förmlich über. Nico hat sich schon mit jedem Kind in der dritten Klasse angefreundet und in der Mittagspause Milch aus seiner Nase spritzen lassen. (Was er seit Monaten übt.) Ada ist weniger begeistert als ihr Bruder, versichert mir aber, dass sie sich mit einigen Kindern angefreundet hat. Mitten im Schuljahr die Schule zu wechseln, ist hart, und ich bin so stolz auf beide.

Und Ende der Woche sind die Testspiele für die Little League. Nico fragt: »Wann kommt Dad nach Hause? Er hat versprochen, mit mir zu trainieren.«

Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr. Suzette sagte, wir sollen um sechs Uhr zu ihr kommen, das ist in weniger als einer Stunde. Wie ich Enzo kenne, wird es bei ihm wieder äußerst knapp. »Ich hoffe, bald.«

»Wann?«, bedrängt er mich.

»Bald.« Da ihn die Antwort anscheinend nicht zufriedenstellt, füge ich hinzu: »Ich habe eine Idee. Warum gehst du nicht in den Garten und trainierst schon mal ein bisschen allein?«

Er bekommt leuchtende Augen. »Ich find’s gut, dass wir jetzt einen Garten haben.«

Ich auch.

Nico geht in den Garten, um dort allein zu trainieren, ein Luxus, den wir in der Stadt nicht hatten. Ich gehe nach oben ins Schlafzimmer, um mein Make-up aufzufrischen und die dunklen Ringe unter meinen Augen abzudecken, die jetzt ständig da sind. Dann trage ich Mascara auf, bekomme dabei einen Klacks ins Auge und muss alles abwaschen, weil meine Augen so tränen. Dann benutze ich etwas, das sich Nude Lipstick nennt und so aussehen soll, als würde man gar keinen Lippenstift tragen. Ich weiß nicht, warum so ein Produkt hergestellt wird, aber die richtige Frage ist wohl, warum habe ich es gekauft?