Wenn sie wüsste - Freida McFadden - E-Book
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Wenn sie wüsste E-Book

Freida McFadden

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Beschreibung

Wenn du glaubst, diese Geschichte zu durchschauen, fängt sie erst an

Millie kann ihr Glück kaum fassen, als die elegante Nina ihr die Stelle als Haushaltshilfe inklusive Kost und Logis bei ihrer Familie auf Long Island anbietet. Schließlich hat sie eine Vergangenheit, von der niemand etwas wissen soll. Doch kaum ist Millie eingezogen, zeigt Nina ihr wahres Gesicht: Sie verwüstet das Haus und unterstellt ihr Dinge, die sie nicht getan hat. Ihre verwöhnte Tochter behandelt Millie ohne jeden Respekt. Nur Ninas attraktiver Mann Andrew ist nett zu ihr. Wäre da nur nicht Ninas wachsende Eifersucht. Hat sie Millie nur eingestellt, um ihr das Leben zur Hölle zu machen? Oder hat auch sie ein dunkles Geheimnis, von dem niemand etwas erfahren darf?

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Seitenzahl: 419

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Das Buch

Millie kann ihr Glück kaum fassen, als die elegante Nina ihr die Stelle als Haushaltshilfe inklusive Kost und Logis bei ihrer Familie auf Long Island anbietet. Schließlich hat sie eine Vergangenheit, von der niemand etwas wissen soll. Doch kaum ist Millie eingezogen, zeigt Nina ihr wahres Gesicht: Sie verwüstet das Haus und unterstellt ihr Dinge, die sie nicht getan hat. Ihre verwöhnte Tochter behandelt Millie ohne jeden Respekt. Nur Ninas attraktiver Mann Andrew ist nett zu ihr. Wäre da nur nicht Ninas wachsende Eifersucht. Hat sie Millie nur eingestellt, um sie zu quälen? Oder hat auch sie ein dunkles Geheimnis, von dem niemand etwas erfahren darf?

Die Autorin

Freida McFadden ist im Hauptberuf Ärztin. Spannende Plots sind ihre Leidenschaft. Mit Wenn sie wüsste gelang ihr quasi über Nacht der internationale Durchbruch als Autorin. Die Begeisterung der Leser über die unglaublichen Twists in ihrem Thriller war so groß, dass das E-Book in den USA und in Großbritannien innerhalb kürzester Zeit sämtliche Rekorde brach, und zum gefeierten Bestseller wurde. Mit ihrer Familie und einer schwarzen Katze lebt Freida McFadden in einem jahrhundertealten Haus mit knarzenden Treppen und Blick auf das Meer.

FREIDA MCFADDEN

WENNSIEWÜSSTE

THRILLER

Aus dem Amerikanischen von Astrid Gravert und Renate Weitbrecht

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe The Housemaid erschien erstmals 2022 bei Bookouture, an imprint of Storyfire Ltd., London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 05/2023

Copyright © 2022 by Freida McFaddenCopyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlagin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenRedaktion: Lars ZwickiesCovergestaltung: zero-media.net, München, unter Verwendung von © Arcangel (Ildiko Neer); Getty Images (Jupiterimages); FinePic®, MünchenSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-30526-0V004

www.heyne.de

PROLOG

Wenn ich dieses Haus verlasse, dann nur in Handschellen.

Ich hätte weglaufen sollen, als ich noch die Möglichkeit hatte. Jetzt habe ich keine Chance mehr. Jetzt, da die Polizisten schon im Haus sind und entdeckt haben, was oben ist, gibt es kein Zurück.

In etwa fünf Sekunden werden sie mir meine Rechte vorlesen. Ich weiß nicht, warum sie es nicht schon getan haben. Vielleicht hoffen sie, dass ich ihnen etwas erzähle, das ich nicht erzählen sollte.

Viel Glück dabei.

Der Polizist mit den grau melierten Haaren sitzt neben mir auf dem Sofa. Er verändert die Position seines kräftigen Körpers auf dem karamellfarbenen italienischen Leder. Ich frage mich, was für ein Sofa er zu Hause hat. Es hat sicher nicht einen fünfstelligen Betrag gekostet wie dieses hier. Wahrscheinlich hat es eine geschmacklose Farbe wie Orange, rissige Nähte, und ist mit Tierhaaren bedeckt. Ich frage mich, ob er an sein Sofa zu Hause denkt und sich wünscht, er hätte eins wie dieses.

Aber wahrscheinlich denkt er gerade an die Leiche oben im Dachgeschoss.

»Also lassen Sie uns das Ganze noch mal durchgehen«, sagt der Polizist mit New Yorker Akzent. Er hat mir zuvor seinen Namen gesagt, aber ich habe ihn vergessen. Polizisten sollten signalfarbene Namensschilder tragen. Wie sonst soll man ihre Namen in stressigen Situationen behalten? Ich glaube, er ist ein Detective. »Wann haben Sie die Leiche gefunden?«

Ich schweige, frage mich, ob dies der richtige Zeitpunkt wäre, einen Anwalt zu verlangen. Müssten sie mir nicht einen anbieten? Ich bin aus der Übung, was diese Regeln angeht.

»Vor ungefähr einer Stunde«, antworte ich.

»Warum sind Sie überhaupt nach da oben gegangen?«

Ich presse die Lippen aufeinander. »Wie ich Ihnen schon sagte, ich hab ein Geräusch gehört.«

»Und …?«

Der Polizist beugt sich mit aufgerissenen Augen vor. Er hat Bartstoppeln am Kinn, als hätte er sich heute Morgen nicht rasiert. Seine Zungenspitze lugt zwischen den Lippen hervor. Ich bin nicht blöd – ich weiß genau, was er hören will.

Ich hab’s getan. Ich bin schuldig. Führen Sie mich ab.

Stattdessen lehne ich mich zurück. »Das ist alles. Das ist alles, was ich weiß.«

Enttäuschung macht sich im Gesicht des Detectives breit. Er spannt den Kiefer an, während er überlegt, welche Beweise bisher in diesem Haus gefunden wurden und ob sie schon ausreichen, um mir Handschellen anzulegen. Er ist sich nicht sicher. Wenn er sicher wäre, hätte er es schon getan.

»Hey, Connors!«

Es ist die Stimme eines anderen Polizisten. Ich sehe hinauf zum Treppenabsatz. Der andere, viel jüngere Polizist steht da und klammert sich mit seinen langen Fingern an das Geländer. Sein faltenloses Gesicht ist blass.

»Connors«, sagt der jüngere Polizist. »Sie müssen hier raufkommen – jetzt. Sie müssen sich das hier oben ansehen.« Selbst von hier unten sehe ich, wie sich sein Adamsapfel auf und ab bewegt. »Sie werden es nicht glauben.«

TEIL I

Drei Monate früher

1

Millie

»Erzählen Sie etwas über sich, Millie.«

Nina Winchester beugt sich auf dem karamellfarbenen Sofa vor und schlägt die Beine übereinander, sodass der Saum des weißen Seidenrocks knapp ihre Knie freilegt. Ich kenne mich mit Marken nicht besonders gut aus, aber es ist offensichtlich, dass alles, was Nina Winchester anhat, sündhaft teuer ist. Am liebsten würde ich die Hand ausstrecken, um den Stoff ihrer cremefarbenen Bluse zu befühlen, obwohl ein solcher Schritt bedeuten würde, dass ich keine Chance hätte, den Job zu bekommen.

Offen gesagt habe ich ohnehin keine Chance, den Job zu bekommen.

»Na ja …«, beginne ich, nach Worten suchend. Selbst nach all den Ablehnungen versuche ich es weiter. »Ich bin in Brooklyn aufgewachsen. Wie Sie meinem Lebenslauf entnehmen können, habe ich schon oft als Haushaltshilfe gearbeitet.« Mein sorgfältig frisierter Lebenslauf. »Und ich liebe Kinder. Und …« Ich blicke mich im Zimmer um und suche nach einem Hundespielzeug oder einem Katzenklo. »Ich liebe auch Tiere?«

In der Online-Stellenanzeige für eine Haushälterin war von Haustieren nicht die Rede. Aber lieber auf Nummer sicher gehen. Wer schätzt es nicht, wenn jemand Tiere mag?

»Brooklyn!« Mrs. Winchester strahlt mich an. »Ich bin auch in Brooklyn aufgewachsen. Wir sind praktisch Nachbarinnen!«

»Das sind wir!«, bestätige ich, obwohl nichts der Wahrheit ferner sein könnte. Es gibt viele begehrte Gegenden in Brooklyn, wo man ein Vermögen für ein winziges Reihenhaus zahlt. Da bin ich nicht aufgewachsen. Nina Winchester und ich könnten nicht verschiedener sein, aber wenn sie glauben möchte, dass wir Nachbarinnen sind, werde ich gerne zustimmen.

Mrs. Winchester schiebt eine Strähne ihrer goldblonden Haare hinters Ohr. Ihr Haar ist zu einem modischen Bob geschnitten, der ihr Doppelkinn kaschiert. Sie ist Ende dreißig und würde mit anderer Frisur und anderer Kleidung recht gewöhnlich aussehen. Aber sie hat ihren beträchtlichen Reichtum dazu genutzt, das Beste aus sich zu machen. Das muss ich unumwunden anerkennen.

Ich habe genau das Gegenteil getan, was mein Äußeres angeht. Ich bin ungefähr zehn Jahre jünger als die Frau, die mir gegenübersitzt, aber ich will auf keinen Fall, dass sie mich als Bedrohung ansieht. Deshalb habe ich für das Vorstellungsgespräch einen langen, dicken Wollrock gewählt, den ich in einem Secondhandladen gekauft habe, dazu eine weiße Polyesterbluse mit Puffärmeln. Meine dunkelblonden Haare sind am Hinterkopf zu einem strengen Knoten geschlungen, und auf der Nase habe ich eine viel zu große, völlig unnötige Hornbrille. Ich sehe professionell und extrem unattraktiv aus.

»Was die Arbeit angeht«, sagt sie, »die besteht hauptsächlich aus Putzen, und wenn Sie dazu bereit sind, etwas Leichtes zu kochen. Sind Sie eine gute Köchin, Millie?«

»Ja«. Mein Händchen fürs Kochen ist das Einzige in meinem Lebenslauf, bei dem ich nicht gelogen habe. »Ich bin eine gute Köchin.«

Ihre blassblauen Augen leuchten. »Das ist wundervoll! Ganz ehrlich, wir bekommen fast nie ein selbst gekochtes Essen.« Sie kichert. »Wer hat schon Zeit dafür?«

Ich verkneife mir eine Antwort. Nina Winchester arbeitet nicht, hat nur ein Kind, das den ganzen Tag in der Schule ist, und stellt jemanden zum Putzen ein. In dem riesigen Vorgarten sehe ich einen Mann, der die Gartenarbeit macht. Wie kann es sein, dass sie keine Zeit hat, Essen für ihre kleine Familie zu kochen?

Aber ich sollte nicht über sie urteilen. Ich weiß nichts über ihr Leben. Nur weil sie reich ist, muss sie nicht verwöhnt sein.

Ich würde jedoch hundert Dollar darauf wetten, dass Nina Winchester völlig verwöhnt ist.

»Und hin und wieder brauchen wir auch Hilfe mit Cecelia«, sagt Mrs. Winchester. »Sie müssten sie vielleicht mal zum Nachmittagsunterricht bringen oder zu einer Verabredung zum Spielen. Sie haben doch ein Auto, oder?«

Bei der Frage muss ich beinahe lachen. Ja, ich habe ein Auto – es ist alles, was ich im Moment besitze. Mein zehn Jahre alter Nissan verschandelt die Straße vor ihrem Haus, und ich wohne zurzeit darin. Alles was ich besitze, befindet sich im Kofferraum, und die letzten Monate habe ich auf dem Rücksitz geschlafen.

Wenn man einen Monat lang im Auto geschlafen hat, beginnt man die kleinen Dinge im Leben zu schätzen. Eine Toilette. Ein Waschbecken. Die Möglichkeit, beim Schlafen die Beine auszustrecken. Letzteres vermisse ich am meisten.

»Ja, ich habe ein Auto«, bestätige ich.

»Wunderbar!« Mrs. Winchester klatscht in die Hände. »Sie bekommen natürlich einen Autositz für Cecelia von mir. Sie braucht nur eine Sitzerhöhung, weil sie noch nicht ganz die Größe und das Gewicht hat, um ohne zu fahren. Der Berufsverband der Kinderärzte empfiehlt …«

Während Nina Winchester weiter über die Anforderungen an Autositze redet, sehe ich mich im Wohnzimmer um. Die Möbel sind supermodern, der größte Flachbildfernseher, den ich je gesehen habe, sicher hochauflösend, mit Surround-Sound-Lautsprechern in allen Ecken und Winkeln des Raumes, für ein optimales Hörerlebnis. In einer Ecke des Zimmers befindet sich ein anscheinend funktionierender Kamin, dessen Sims mit Fotos der Winchesters auf Reisen in alle Ecken der Welt übersät ist. Wenn ich aufschaue, sehe ich, wie die hohen Decken im Licht des funkelnden Kronleuchters glühen.

»Finden Sie nicht, Millie?«, sagt Mrs. Winchester gerade.

Ich blinzle sie an, versuche mich zu erinnern, was sie gerade gefragt hat. Aber es ist weg. »Ja?«, sage ich.

Worin auch immer ich ihr zugestimmt habe, es hat sie sehr erfreut. »Ich bin so froh, dass Sie derselben Meinung sind.«

»Absolut«, sage ich, diesmal mit mehr Entschiedenheit.

Sie stellt ihre etwas stämmigen Beine kurz nebeneinander, dann schlägt sie sie wieder übereinander. »Und natürlich«, fügt sie hinzu, »ist da noch die Frage der Bezahlung. Sie haben das Gehaltsangebot in meiner Anzeige gesehen, oder? Sind Sie damit einverstanden?«

Ich schlucke. Die Zahl in der Anzeige ist mehr als akzeptabel. Wenn ich eine Comicfigur wäre, dann wären in meinen Augäpfeln Dollarzeichen erschienen, als ich die Anzeige las. Das Gehalt hielt mich beinahe davon ab, mich für den Job zu bewerben. Niemand, der so viel bezahlen will und in einem Haus wie diesem lebt, würde auch nur im Traum daran denken, mich einzustellen.

»Ja«, bringe ich hervor. »Es ist in Ordnung.«

Sie zieht eine Augenbraue hoch. »Und Sie wissen, dass die Stellung inklusive Unterkunft ist, oder?«

Fragt sie gerade, ob es okay für mich ist, den Luxus meines Autorücksitzes aufzugeben? »Ja, ich weiß.«

»Wunderbar!« Sie zupft an ihrem Rocksaum und steht auf. »Sind Sie bereit für eine komplette Führung durchs Haus? Um sich anzusehen, worauf Sie sich einlassen?«

Ich stehe ebenfalls auf. Selbst mit ihren Absätzen ist sie nur ein paar Zentimeter größer als ich in meinen flachen Schuhen, aber es kommt mir vor, als wäre sie viel größer. »Klingt großartig!«

Sie führt mich durchs Haus und zeigt mir jedes kleinste Detail. Das geht so weit, dass ich mir Sorgen mache, die Anzeige falsch verstanden zu haben; vielleicht ist sie ja eine Maklerin und denkt, dass ich es kaufen will. Es ist ein schönes Haus. Wenn ich vier oder fünf Millionen Dollar übrig hätte, würde ich es mir schnappen. Außer dem Erdgeschoss mit dem riesigen Wohnzimmer und einer kürzlich renovierten Küche gibt es noch den ersten Stock mit dem Schlafzimmer der Winchesters, dem Zimmer ihrer Tochter Cecelia, Mr. Winchesters Homeoffice und einem Gästezimmer, das sich auch im besten Hotel Manhattans befinden könnte. Vor der nächsten Tür hält sie dramatisch inne.

»Und hier ist …« Sie reißt die Tür auf. »Unser Heimkino!«

Zusätzlich zu dem übergroßen Fernseher unten haben sie ein richtiges Kino in ihrem Haus. Mehrere Reihen von Klappsitzen sind auf eine Leinwand gerichtet, die von der Decke bis zum Fußboden reicht. In einer Ecke des Raumes befindet sich sogar eine Popcornmaschine.

Ich bemerke, dass Mrs. Winchester mich ansieht und eine Reaktion erwartet.

»Wow!«, sage ich, hoffentlich mit genügend Begeisterung.

»Ist es nicht wunderbar?« Sie zittert vor Freude. »Und dazu gibt es eine große Filmsammlung. Natürlich haben wir auch die normalen TV-Sender und Streamingdienste.«

»Natürlich«, erwidere ich.

Nachdem wir den Raum verlassen haben, kommen wir zur letzten Tür am Ende des Flurs. Nina zögert, die Hand am Türknauf.

»Ist das mein Zimmer?«, frage ich.

»Sozusagen …« Sie dreht den Knauf, der laut knarrt. Unwillkürlich bemerke ich, dass diese Tür viel dicker ist als die anderen. Dahinter befindet sich ein enges dunkles Treppenhaus. »Ihr Zimmer ist oben. Wir haben noch einen ausgebauten Dachboden.«

Die schmale Treppe ist nicht so glamourös wie der Rest des Hauses – und würde es sie umbringen, hier eine Glühbirne anzubringen? Aber natürlich bin ich nur die Hausangestellte. Ich erwarte nicht von ihr, dass sie so viel Geld für mein Zimmer verwendet wie für das Heimkino.

Am oberen Ende der Treppe liegt ein kleiner, schmaler Flur. Anders als im Erdgeschoss des Hauses ist die Decke hier gefährlich niedrig. Ich bin nicht groß, aber ich habe fast das Gefühl, ich müsste mich ducken.

»Sie haben ein eigenes Badezimmer.« Sie zeigt mit dem Kopf zur Tür links. »Und das hier wäre Ihr Zimmer.«

Schwungvoll öffnet sie die letzte Tür. Dahinter ist es vollkommen dunkel, bis sie an einer Schnur zieht und der Raum erhellt wird.

Das Zimmer ist winzig, keine Frage. Nicht nur das, die Dachschräge geht mir am unteren Ende nur bis zur Taille. Statt des riesigen King-Size-Betts im Schlafzimmer der Winchesters, mit Schrank und Schminktisch aus Kastanie, befinden sich in diesem Raum nur ein schmales Bett, ein halbhohes Bücherregal und eine kleine Kommode. Das alles wird von zwei nackten Glühbirnen erhellt, die von der Decke baumeln.

Es ist ein bescheidener Raum, aber das ist für mich in Ordnung. Wenn er zu schön wäre, hätte ich mit Sicherheit keine Chance, den Job zu bekommen. Die Tatsache, dass dieses Zimmer irgendwie schäbig ist, bedeutet, dass ihre moralischen Standards niedrig genug sind, damit ich vielleicht eine klitzekleine Chance habe.

Aber irgendetwas stimmt nicht mit diesem Zimmer. Irgendetwas stört mich daran.

»Ich gebe zu, es ist klein.« Mrs. Winchester runzelt die Stirn. »Aber Sie haben hier Ihre Ruhe.«

Ich gehe hinüber zum einzigen Fenster. Wie das Zimmer ist es sehr klein, kaum größer als meine Hand. Der Blick geht hinaus in den Garten. Unten schneidet ein Gärtner – derselbe, den ich eben vorne sah – mit seiner überdimensionalen Schere eine der Hecken.

»Was meinen Sie, Millie? Gefällt es Ihnen?«

Ich wende mich vom Fenster ab, um in Mrs. Winchesters lächelndes Gesicht zu sehen. Noch immer kann ich nicht genau sagen, was mich stört. Etwas an diesem Zimmer sorgt dafür, dass ich in meiner Magengrube einen Anflug von Furcht verspüre.

Vielleicht ist es das Fenster, das zur Rückseite des Hauses hinausgeht. Wenn ich in Not wäre und jemanden auf mich aufmerksam machen wollte, könnte mich niemand hier hinten sehen. Ich könnte rufen und schreien so viel ich wollte, niemand würde es hören.

Aber was soll’s? Ich würde mich freuen, in diesem Raum zu wohnen. Mit einem eigenen Badezimmer und einem richtigen Bett, in dem ich meine Beine vollständig ausstrecken kann. Das winzige Bett sieht verglichen mit meinem Auto so einladend aus, dass ich heulen könnte.

»Es ist perfekt«, antworte ich.

Mrs. Winchester scheint über meine Antwort entzückt zu sein. Sie führt mich wieder die dunkle Treppe hinunter in den ersten Stock des Hauses. Als ich aus dem engen Treppenhaus trete, atme ich aus. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Etwas an dem Zimmer war beängstigend, aber wenn ich es schaffe, den Job zu bekommen, werde ich mich daran gewöhnen. Leicht.

Schließlich entspannen sich meine Schultern, und ich will gerade eine weitere Frage stellen, als ich hinter uns eine Stimme höre: »Mami?«

Ich halte inne und drehe mich um. Ein kleines Mädchen steht hinter uns im Flur. Es hat dieselben hellblauen Augen wie Nina Winchester, nur noch ein bisschen blasser, die Haare sind weißblond. Das Mädchen trägt ein blassblaues Kleid mit Spitzenbesatz und starrt mich an, als könne es durch mich hindurchsehen. Durch meine Seele.

Es gibt diese Filme über unheimliche Kinder, die in Maisfeldern wohnen, Gedanken lesen können, den Teufel anbeten und so weiter. Dieses Mädchen würde mit Leichtigkeit eine Rolle darin bekommen. Sie müsste nicht mal dafür vorsprechen. Man würde sie nur kurz ansehen und sagen: Ja, du bist das unheimliche Mädchen Nummer drei.

»Cece!«, ruft Mrs. Winchester aus. »Du bist schon vom Ballettunterricht zurück?«

Das Mädchen nickt langsam. »Bellas Mama hat mich abgesetzt.«

Mrs. Winchester legt den Arm um die schmalen Schultern des Mädchens, aber seine blassblauen Augen sind unverwandt auf mein Gesicht gerichtet, ohne dass sich sein Gesichtsausdruck verändert. Stimmt irgendetwas nicht mit mir, dass ich befürchte, dieses neunjährige Mädchen könnte mich ermorden?

»Das ist Millie«, erklärt Mrs. Winchester ihrer Tochter. »Millie, das ist meine Tochter Cecelia.«

Die Augen der kleinen Cecelia sehen aus wie zwei kleine Ozeane. »Schön, dich kennenzulernen, Millie«, sagt sie höflich.

Ich würde sagen, es besteht eine fünfundzwanzigprozentige Chance, dass sie mich im Schlaf ermordet, wenn ich den Job bekomme. Aber ich will ihn trotzdem.

Mrs. Winchester küsst ihre Tochter flüchtig auf den blonden Kopf, und dann huscht das kleine Mädchen in sein Zimmer. Da hat sie bestimmt ein unheimliches Puppenhaus, in dem die Puppen nachts zum Leben erwachen. Vielleicht wird mich eine davon umbringen.

Okay, das ist lächerlich. Wahrscheinlich ist das kleine Mädchen absolut entzückend. Sie kann nichts dafür, dass sie mit dem Kleid aussieht wie ein viktorianisches Gespenst. Außerdem mag ich Kinder, auch wenn ich in den letzten zehn Jahren nicht viel Kontakt zu ihnen hatte.

Sobald wir wieder im Erdgeschoss sind, löst sich die Anspannung in meinem Körper. Mrs. Winchester ist recht nett und normal – für eine reiche Frau –, und während sie weiter über das Haus, ihre Tochter und den Job spricht, höre ich kaum zu. Ich weiß nur, dass es ein angenehmer Ort zum Arbeiten wäre. Und ich würde meinen rechten Arm geben, um den Job zu bekommen.

»Haben Sie noch irgendwelche Fragen, Millie?«, fragt sie mich.

Ich schüttele den Kopf. »Nein, Mrs. Winchester.«

Sie schnalzt mit der Zunge. »Bitte nennen Sie mich Nina. Ich würde mir albern vorkommen, wenn Sie mich Mrs. Winchester nennen.« Sie lacht. »Wie eine reiche alte Frau.«

»Danke … Nina«, erwidere ich.

Ihr Gesicht glänzt, das könnte aber auch an der Seetang- oder Gurkenmaske liegen oder was sich reiche Leute sonst so ins Gesicht schmieren. Nina ist die Sorte Frau, die regelmäßig zu Kosmetikbehandlungen geht. »Ich habe ein gutes Gefühl, Millie. Wirklich.«

Es ist schwer, sich nicht von ihrer Begeisterung mitreißen zu lassen. Keinen Hoffnungsschimmer zu spüren, als sie meine raue Hand mit ihrer babyweichen drückt. Ich will glauben, dass sie mich in den nächsten Tagen anruft und mir anbietet, in ihrem Haus zu arbeiten, damit ich endlich Casa Nissan räumen kann. Ich möchte es so gerne glauben.

Aber was auch immer man über Nina sagen kann, dumm ist sie nicht. Sie wird keine Frau einstellen, die in ihrem Haus arbeiten und wohnen und sich um ihr Kind kümmern soll, ohne ihre Vergangenheit zu überprüfen. Und sobald sie das tut …

Ich schlucke einen Kloß in meinem Hals hinunter.

An der Haustür verabschiedet sich Nina Winchester herzlich von mir. »Vielen Dank, dass du vorbeigekommen bist, Millie.« Sie streckt die Hand aus, um meine erneut zu drücken. »Ich verspreche, du wirst bald von mir hören.«

Das werde ich nicht. Dies wird das letzte Mal sein, dass ich den Fuß in dieses herrliche Haus setze. Ich hätte gar nicht erst herkommen sollen, sondern mich um eine Stelle bewerben, auf die ich eine Chance habe, statt meine und Ninas Zeit zu verschwenden. Vielleicht etwas in der Fast-Food-Branche.

Der Gärtner, den ich vom Dachfenster aus gesehen habe, ist wieder auf dem vorderen Rasen. Er hantiert immer noch mit dieser riesigen Schere herum und schneidet gerade eine der Hecken vorm Haus. Er ist groß, trägt ein T-Shirt, das seine beeindruckenden Muskeln zur Geltung bringt und die Tattoos auf den Oberarmen kaum bedeckt. Er rückt seine Baseballcap zurecht, sieht von der Schere auf, und der Blick aus seinen dunklen Augen begegnet meinem über den Rasen hinweg.

Ich hebe die Hand zum Gruß und sage: »Hi.«

Der Mann starrt mich an, ohne Hallo zu sagen. Er sagt auch nicht: »Hören Sie auf, meine Blumen zu zertrampeln.« Er starrt mich nur an.

»Schön, Sie kennenzulernen«, murmele ich leise.

Ich verlasse das eingezäunte Grundstück durch das elektrisch gesicherte Metalltor und trotte zu meinem Auto/Zuhause. Ich drehe mich noch einmal nach dem Gärtner um, der mich noch immer beobachtet. Etwas in seinem Gesichtsausdruck jagt mir einen Schauer über den Rücken. Dann schüttelt er beinahe unmerklich den Kopf. Fast als wollte er mich warnen.

Aber er sagt kein Wort.

2

Wenn man in seinem Auto lebt, beschränkt man sich aufs Wesentliche.

Zum einen lädt man niemanden zu sich ein. Keine Wein- und Käseabende, keine Pokernächte. Das ist in Ordnung, denn ich habe niemanden, den ich sehen möchte. Ein größeres Problem ist da schon das Duschen. Drei Tage nachdem ich meine Wohnung zwangsräumen musste, das war drei Wochen nachdem ich aus meinem Job gefeuert worden war, entdeckte ich eine Raststätte, die über Duschen verfügte. Ich weinte beinahe vor Freude. Zugegeben, die Duschen bieten wenig Privatsphäre und stinken nach Fäkalien, aber ich wünschte mir nur, sauber zu sein.

Jetzt esse ich auf dem Rücksitz des Autos zu Mittag. Für besondere Gelegenheiten habe ich eine Herdplatte, die ich in den Zigarettenanzünder stecken kann, aber meistens esse ich Sandwiches. Viele, viele Sandwiches. Ich habe eine Kühlbox, in der ich Aufschnitt und Käse aufbewahre, und einen Laib Supermarkt-Weißbrot für neunundneunzig Cents. Und dann natürlich Snacks. Tütenweise Chips. Cracker mit Erdnussbutter. Twinkies. Die Auswahl an ungesunden Dingen ist unendlich.

Heute esse ich Schinken und American Cheese, mit einem Klecks Mayonnaise. Bei jedem Bissen versuche ich, nicht daran zu denken, wie sehr ich Sandwiches satt habe.

Nachdem ich die Hälfte meines Sandwiches heruntergewürgt habe, klingelt das Handy in meiner Tasche. Ich habe eins von diesen Prepaid-Klapphandys, die die Leute benutzen, wenn sie ein Verbrechen begehen wollen. Aber ich brauche ein Handy, und ein anderes kann ich mir nicht leisten.

»Wilhelmina Calloway?«, sagt eine abgehackte Frauenstimme am anderen Ende.

Als sie meinen vollen Namen benutzt, zucke ich zusammen. Die Mutter meines Vaters, die schon lange tot ist, hieß Wilhelmina. Ich weiß nicht, was für Psychopathen ihr Kind Wilhelmina nennen, aber da ich nicht mehr mit meinen Eltern spreche (und sie auch nicht mehr mit mir), ist es ein bisschen spät, sie zu fragen. Jedenfalls war ich stets nur Millie und versuche, das den Leuten immer so schnell wie möglich klarzumachen. Ich habe jedoch das Gefühl, dass ich mit der Frau, die mich da gerade anruft, in naher Zukunft nicht per Du sein werde. »Ja …?«

»Miss Calloway«, sagt die Frau. »Hier ist Donna Stanton von Munch Burgers.«

Ach ja, richtig. Munch Burgers – der fettige Fast-Food-Laden, wo ich vor ein paar Tagen zum Vorstellungsgespräch war. Burger braten oder die Kasse bedienen. Aber wenn ich mich anstrenge, gibt es Aufstiegsmöglichkeiten. Dann hätte ich genug Geld, um aus meinem Auto auszuziehen.

Natürlich hätte ich am liebsten den Job bei den Winchesters. Aber seit meinem Treffen mit Nina Winchester ist bereits eine Woche vergangen. Es ist so gut wie sicher, dass ich meinen Traumjob nicht bekommen werde.

»Ich wollte Sie nur informieren«, fährt Miss Stanton fort, »dass wir die Stelle bei Munch Burgers anderweitig besetzt haben. Aber wir wünschen Ihnen Glück bei der weiteren Suche.«

Das Schinken-Käse-Sandwich kommt mir im Magen hoch. Ich hatte im Internet gelesen, dass Munch Burgers keine besonders strenge Einstellungspraxis haben. Selbst mit Vorstrafen hätte man eine Chance. Es ist das letzte Vorstellungsgespräch, das ich ergattern konnte, seitdem ich bei Mrs. Winchester war und sie mich nicht zurückgerufen hat – ich bin verzweifelt. Ich kann kein einziges Sandwich mehr im Auto essen. Ich kann einfach nicht.

»Miss Stanton«, platze ich heraus. »Könnten Sie mich nicht vielleicht in irgendeiner anderen Filiale einstellen? Ich kann wirklich hart arbeiten, bin sehr zuverlässig. Ich werde …«

Ich spreche nicht weiter. Sie hat bereits aufgelegt.

Ich umklammere mein Sandwich mit der rechten Hand, während ich das Handy in der linken halte. Es ist hoffnungslos. Niemand will mich einstellen. Jeder potenzielle Arbeitgeber betrachtet mich auf dieselbe Weise. Dabei will ich doch bloß einen Neustart. Und dafür würde ich alles tun.

Ich versuche, nicht zu weinen, obwohl ich nicht weiß, warum. Niemand wird mich hier auf dem Rücksitz meines Nissans heulen sehen. Es gibt niemanden, dem ich noch etwas bedeute. Meine Eltern wollten schon vor über zehn Jahren nichts mehr mit mir zu tun haben.

Wieder klingelt mein Handy und schreckt mich aus meinem Selbstmitleid auf. Ich wische mir mit dem Handrücken über die Augen und drücke auf den grünen Knopf, um den Anruf anzunehmen. »Hallo?«, sage ich mit heiserer Stimme.

»Hi? Ist da Millie?«

Die Stimme kommt mir irgendwie bekannt vor. Ich presse das Handy ans Ohr, mein Herz schlägt höher. »Ja …«

»Hier ist Nina Winchester. Du hast dich letzte Woche bei mir vorgestellt?«

»Oh.« Ich beiße mir auf die Unterlippe. Warum ruft sie jetzt erst zurück? Ich nahm an, dass sie schon jemanden eingestellt hat und es nicht für nötig hielt, mich darüber zu informieren. »Ja, natürlich.«

»Also, wenn du interessiert bist, würden wir dir den Job gerne anbieten.«

Ich spüre, wie mir das Blut in den Kopf schießt, sodass mir fast schwindelig wird. Wir würden dir den Job gerne anbieten. Ist das ihr Ernst? Es war zumindest denkbar, dass Munch Burgers mich einstellen würde, aber es schien absolut unmöglich, dass eine Frau wie Nina Winchester mich in ihr Haus lassen würde. Um dort zu wohnen.

Hat sie meine Unterlagen vielleicht gar nicht angesehen? Meine Vergangenheit nicht überprüft? Vielleicht ist sie so beschäftigt, dass sie nie dazu gekommen ist. Vielleicht gehört sie zu den Frauen, die sich etwas auf ihr Bauchgefühl einbilden.

»Millie? Bist du da?«

Mir wird bewusst, dass ich die ganze Zeit nichts gesagt habe. So perplex bin ich. »Ja, ich bin hier.«

»Und bist du interessiert an dem Job?«

»Ja, bin ich.« Ich versuche, nicht zu eifrig zu klingen. »Das bin ich definitiv. Ich würde gerne für dich arbeiten.«

»Mit mir arbeiten«, korrigiert mich Nina.

Ich lache gezwungen. »Ja, natürlich.«

»Wann kannst du anfangen?«

»Ähm, wann soll ich anfangen?«

»So bald wie möglich!« Ich beneide Nina um ihr ungezwungenes Lachen, das so ganz anders klingt als meines. Könnte ich doch mit den Fingern schnippen und mit ihr tauschen. »Wir haben Berge von Wäsche, die zusammengelegt werden muss.«

Ich schlucke. »Wie wär’s mit morgen?«

»Das wäre wunderbar! Aber brauchst du nicht Zeit, um deine Sachen zu packen?«

Ich will ihr nicht erzählen, dass alles, was ich besitze, bereits im Kofferraum meines Autos ist. »Ich kann schnell packen.«

Sie lacht wieder. »Deine Einstellung gefällt mir, Millie. Ich kann es kaum erwarten, dass du bei uns arbeitest.«

Während Nina und ich die Einzelheiten besprechen, frage ich mich, ob sie genauso über mich denken würde, wenn sie wüsste, dass ich die letzten zehn Jahre meines Lebens im Gefängnis verbracht habe.

3

Als ich am nächsten Morgen bei den Winchesters eintreffe, hat Nina Cecelia bereits in die Schule gebracht. Ich parke draußen vor dem Metalltor. Ich war noch nie in einem Haus, das durch ein elektrisches Tor geschützt ist. Und in einem gewohnt habe ich erst recht nicht. Aber in dieser schicken Gegend von Long Island scheinen alle Häuser ein solches Tor zu haben. In Anbetracht der niedrigen Kriminalitätsrate hier draußen kommt mir das übertrieben vor, aber wer bin ich, das zu beurteilen? Wenn ich die Wahl zwischen einem geschützten und einem ungeschützten Haus hätte, würde ich auch das geschützte nehmen.

Als ich neulich hier ankam, war das Tor offen, aber heute ist es geschlossen. Offensichtlich verriegelt. Ich stehe eine Weile da, stelle meine beiden Reisetaschen ab und überlege, wie ich hineinkomme. Es scheint keine Klingel oder Ähnliches zu geben. Aber der Gärtner ist wieder auf dem Grundstück und hockt mit einer Schaufel in der Hand am Boden.

»Entschuldigen Sie!«, rufe ich.

Der Mann blickt kurz über seine Schulter und fährt dann mit dem Graben fort. Sehr nett.

»Entschuldigung!« Ich versuche es wieder, so laut, dass er mich nicht ignorieren kann.

Diesmal steht er langsam, langsam auf. Er hat es absolut nicht eilig, als er über den riesigen Rasen zum Eingangstor schlendert. Dort angekommen zieht er die dicken Gummihandschuhe aus und sieht mich stirnrunzelnd an.

»Hi!«, sage ich und versuche, meinen Ärger über ihn zu verbergen. »Ich heiße Millie Calloway, und heute ist mein erster Arbeitstag hier. Ich muss da rein, Mrs. Winchester erwartet mich.«

Er sagt nichts. Aus der Ferne hatte ich nur gesehen, wie groß er ist – mindestens einen Kopf größer als ich, Bizeps vom Umfang meiner Oberschenkel –, doch aus der Nähe bemerke ich, dass er ziemlich attraktiv ist. Er sieht aus wie Mitte dreißig, hat tiefschwarze Haare, die feucht von der Anstrengung sind, olivfarbene Haut und ein markantes Gesicht. Aber am auffallendsten sind seine Augen. Sie sind sehr dunkel – so dunkel, dass ich die Pupille nicht von der Iris unterscheiden kann. Etwas an seinem Blick veranlasst mich, einen Schritt zurückzutreten.

»Also, ähm, können Sie mir helfen?«, frage ich.

Schließlich macht der Mann den Mund auf. Ich erwarte, dass er mich wegschickt oder meinen Ausweis verlangt, doch stattdessen stößt er einen Schwall italienischer Wörter aus. Zumindest glaube ich, dass es Italienisch ist. Ich kann nicht behaupten, auch nur ein Wort dieser Sprache zu kennen, aber ich habe mal einen italienischen Film mit Untertiteln gesehen, und es klang so ähnlich.

»Oh«, sage ich, als er seinen Monolog beendet hat. »Also, ähm … kein Englisch?«

»Englisch?«, fragt er mit so starkem Akzent, dass die Antwort klar ist. »Nein. Nichts Englisch.«

Großartig. Ich räuspere mich und überlege, wie ich ihm am besten begreiflich machen kann, was ich ihm sagen will. »Also, ich …« Ich tippe auf meine Brust. »Ich arbeite. Für Mrs. Winchester.« Ich zeige zum Haus. »Und ich muss … rein.« Jetzt zeige ich auf das Schloss am Tor. »Rein.«

Er sieht mich nur stirnrunzelnd an. Toll.

Ich will gerade mein Handy herausholen und Nina anrufen, als er zur Seite geht und einen Schalter betätigt, worauf sich das Tor wie in Zeitlupe öffnet.

Als das Tor offen ist, nehme ich mir einen Moment, um das Haus zu betrachten, das für die nächste Zeit mein Zuhause sein wird. Mit seinen zwei Stockwerken plus Dachgeschoss hat es die Länge eines kompletten Häuserblocks in Brooklyn und ist fast blendend weiß. Möglicherweise ist es frisch gestrichen. Der Baustil wirkt modern, aber was weiß ich schon? Ich weiß nur, dass die Leute, die hier wohnen, mehr Geld haben, als sie ausgeben können.

Bevor ich eine meiner Taschen aufhebe, nimmt der Mann ohne Murren beide und trägt sie für mich zur Haustür. Da die Taschen sehr schwer sind – sie enthalten buchstäblich alles, was ich außer meinem Auto besitze, – bin ich ihm sehr dankbar dafür. Ich folge ihm.

»Gracias«, sage ich.

Er sieht mich komisch an. Hm, das könnte Spanisch gewesen sein. Na ja.

Ich tippe mir auf die Brust. »Millie«, sage ich.

»Millie.« Er nickt verstehend und zeigt dann auf seine eigene Brust. »Ich bin Enzo.«

»Schön, dich kennenzulernen«, sage ich unbeholfen, obwohl er mich wahrscheinlich nicht versteht. Aber herrje, er wohnt und arbeitet hier, er muss doch ein bisschen Englisch gelernt haben.

»Piacere di conoscerti«, sagt er.

Ich nicke schweigend. So viel zur Bekanntmachung mit dem Gärtner.

»Millie«, sagt er wieder mit seinem starken italienischen Akzent. Offenbar will er mir etwas mitteilen, kämpft aber mit der Sprache. »Du …«

Er zischt ein Wort auf Italienisch, aber als sich die Haustür öffnet, eilt Enzo wieder dorthin, wo er zuvor gehockt hat, und fährt mit der Arbeit fort. Ich konnte das Wort, das er gesagt hat, gerade so verstehen. Pericolo. Was immer das bedeutet. Vielleicht bedeutet es, dass er etwas zu trinken will. Peri Cola – mit einem Schuss Zitrone!

»Millie!« Nina freut sich offensichtlich, mich zu sehen. So sehr, dass sie mich in die Arme nimmt und drückt. »Ich freue mich so, dass du dich entschieden hast, den Job anzunehmen. Ich hatte einfach das Gefühl, dass uns etwas verbindet. Verstehst du?«

Das dachte ich mir. Sie hatte ein Bauchgefühl, was mich angeht, und hat sich deshalb nicht die Mühe gemacht, sich zu informieren. Jetzt muss ich nur dafür sorgen, dass sie keinen Grund hat, mir nicht zu trauen. Ich muss die perfekte Angestellte sein. »Ja, ich weiß, was du meinst. Mir geht’s ganz genauso.«

»Komm herein!«

Nina nimmt meinen Arm und führt mich ins Haus, ohne sich darum zu kümmern, dass ich mit zwei Gepäckstücken kämpfe. Natürlich habe ich auch gar nicht erwartet, dass sie mir hilft. Das würde ihr nicht mal in den Sinn kommen.

Ich bemerke gleich, dass das Haus ganz anders aussieht als beim ersten Mal, als ich hier war. Völlig anders. Bei meinem Vorstellungsgespräch war das Haus der Winchesters makellos – ich hätte vom Fußboden essen können. Jetzt sieht es hier aus wie in einem Schweinestall. Auf dem Tisch vorm Sofa stehen sechs Tassen mit verschiedenen Mengen klebriger Flüssigkeiten, ungefähr ein Dutzend zerknüllter Zeitungen und Zeitschriften und ein zerbeulter Pizzakarton sind darauf verteilt. Im ganzen Wohnzimmer ist Müll und Kleidung verstreut, und auf dem Esstisch stehen noch die Reste des gestrigen Abendessens.

»Wie du siehst«, sagt Nina, »bist du keinen Moment zu früh gekommen!«

Nina Winchester ist also eine Chaotin – das ist ihr Geheimnis. Ich werde Stunden brauchen, um das Haus in einen ordentlichen Zustand zu bringen. Vielleicht Tage. Aber das ist in Ordnung – ich brenne darauf, gute, ehrliche, harte Arbeit zu leisten. Und es gefällt mir, dass sie mich braucht. Wenn ich mich unersetzlich mache, wird sie mich wahrscheinlich nicht feuern, wenn sie die Wahrheit herausfindet.

»Lass mich nur mein Gepäck wegbringen«, sage ich. »Dann räume ich hier überall auf.«

Nina seufzt glücklich. »Du bist ein Wunder, Millie. Vielen Dank. Außerdem …« Sie greift nach ihrer Handtasche auf dem Küchentresen, durchwühlt sie und holt schließlich das neueste iPhone heraus. »Habe ich dir das hier gekauft. Ich habe gesehen, dass du ein sehr veraltetes Handy benutzt. Es ist mir lieber, du hast ein verlässliches Kommunikationsmittel, falls ich dich erreichen muss.«

Zögernd nehme ich das brandneue iPhone in die Hand. »Wow. Das ist wirklich großzügig von dir, aber ich kann mir keinen Vertrag …«

Sie winkt ab. »Ich hab dich unserem Familienvertrag hinzugefügt. Es kostet fast nichts.«

Fast nichts? Ich habe das Gefühl, ihre Definition dieser beiden Wörter unterscheidet sich stark von meiner.

Bevor ich noch länger protestieren kann, ertönen Schritte hinter mir auf der Treppe. Ich drehe mich um, und ein Mann in grauem Businessanzug kommt herunter. Als er mich im Wohnzimmer sieht, bleibt er auf der untersten Stufe, als würde ihn meine Anwesenheit erschrecken. Seine Augen werden noch größer, als er mein Gepäck bemerkt.

»Andy!«, ruft Nina aus. »Komm, begrüß Millie!«

Das muss Andrew Winchester sein. Als ich die Familie Winchester gegoogelt habe, traute ich meinen Augen nicht, als ich sah, wie vermögend der Mann war. Nachdem ich all die Dollarzeichen gesehen hatte, waren das Heimkino und der Sicherheitszaun ums Grundstück ein bisschen verständlicher. Er hatte das florierende Unternehmen seines Vaters übernommen und die Umsätze seitdem verdoppelt. Aber sein überraschter Gesichtsausdruck verrät, dass er seiner Frau fast alle Haushaltsangelegenheiten überlässt. Und offensichtlich hat sie vollkommen vergessen, ihm zu erzählen, dass sie eine Haushälterin eingestellt hat, die im Haus wohnen wird.

»Hallo …« Mr. Winchester tritt stirnrunzelnd ins Wohnzimmer. »Millie, richtig? Tut mir leid, ich wusste nicht …«

»Andy, ich hab dir doch von ihr erzählt!« Sie neigt den Kopf zur Seite. »Ich sagte, ich muss jemanden einstellen, der beim Putzen und Kochen und mit Cecelia hilft. Ich bin ganz sicher, dass ich es dir erzählt habe.«

»Ja, dann.« Sein Gesicht entspannt sich schließlich. »Willkommen, Millie. Wir können auf jeden Fall Hilfe brauchen.«

Andrew streckt mir die Hand entgegen. Schwer zu übersehen, dass er ein unglaublich gut aussehender Mann ist. Stechende braune Augen, volles mahagonifarbenes Haar und ein sexy Grübchen im Kinn. Auch schwer zu übersehen, dass er um einiges attraktiver ist als seine Frau, selbst mit ihrem makellosen Äußeren, was mir ein bisschen merkwürdig vorkommt. Der Mann ist schließlich stinkreich. Er könnte jede Frau haben, die er will. Es nötigt mir Respekt ab, dass er sich kein zwanzigjähriges Supermodel als Lebenspartnerin ausgesucht hat.

Ich stecke das neue Handy in die Tasche meiner Jeans und gebe ihm die Hand. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Winchester.«

»Bitte.« Er lächelt mich freundlich an. »Nennen Sie mich Andrew.«

Als er das sagt, flackert etwas in Nina Winchesters Gesicht auf. Ihre Lippen zucken, und ihre Augen werden schmal. Ich weiß jedoch nicht, warum. Sie hat mir schließlich ebenfalls das Du angeboten. Und es ist auch nicht so, als würde Andrew Winchester mich von oben bis unten mustern oder so. Sein Blick ist respektvoll auf meine Augen gerichtet und wandert nicht einmal unterhalb des Halses. Nicht dass da viel zu sehen wäre – zwar habe ich mir heute nicht die Mühe mit der falschen Hornbrille gemacht, trage aber ansonsten nur eine farblose Bluse und Jeans.

»Na ja«, unterbricht Nina uns. »Musst du nicht ins Büro, Andy?«

»O ja.« Er rückt seine graue Krawatte zurecht. »Ich habe um halb zehn ein Meeting in der Stadt. Ich sollte mich beeilen.«

Andrew küsst Nina innig auf die Lippen und drückt ihre Schulter. Soweit ich sehen kann, sind sie glücklich verheiratet. Und Andrew wirkt ziemlich bodenständig für einen Mann, der ein achtstelliges Vermögen besitzt. Süß, wie er seiner Frau von der Haustür einen Luftkuss zuwirft – er ist ein Mann, der seine Frau liebt.

»Dein Mann scheint nett zu sein«, sage ich zu Nina, als die Tür ins Schloss fällt.

Wieder ist da der dunkle, misstrauische Blick in ihren Augen. »Findest du?«

»Also, ja«, stammele ich. »Ich meine, er scheint … Wie lange seid ihr schon verheiratet?«

Nina sieht mich nachdenklich an. Aber statt zu antworten, fragt sie: »Wo ist deine Brille?«

»Was?«

Sie zieht eine Augenbraue hoch. »Bei deinem Vorstellungsgespräch hast du eine Brille getragen, oder etwa nicht?«

»Oh.« Ich winde mich, weil ich nicht zugeben will, dass die Brille Verkleidung war – ein Versuch, intelligenter und seriöser auszusehen, und auch weniger attraktiv und bedrohlich. »Ich … äh, trage meine Kontaktlinsen.«

»Wirklich?«

Ich weiß nicht, warum ich gelogen habe. Ich hätte einfach sagen sollen, dass ich die Brille nicht so dringend brauche. Stattdessen habe ich jetzt sogar noch Kontaktlinsen erfunden, die ich nicht trage. Ich spüre förmlich, wie Nina prüfend meine Pupillen ansieht und danach sucht.

»Ist … ist das ein Problem?«, frage ich schließlich.

Ein Muskel unter ihrem rechten Auge zuckt. Einen Moment lang fürchte ich, dass sie mich auffordert zu verschwinden. Aber dann entspannen sich ihre Gesichtszüge. »Natürlich nicht! Ich fand nur, dass die Brille so süß bei dir aussah. Sehr apart – du solltest sie öfter tragen.«

»Ja, gut …« Ich greife mit zitternder Hand nach einer der Reisetaschen. »Ich sollte jetzt vielleicht meine Sachen nach oben bringen, damit ich anfangen kann.«

Nina klatscht in die Hände. »Hervorragende Idee!«

Wieder bietet Nina mir nicht ihre Hilfe beim Tragen an, als wir die zwei Treppen zum Dachgeschoss hinaufgehen. Auf der Hälfte fühlen sich meine Arme an, als würden sie jeden Moment abfallen, aber Nina marschiert unbarmherzig weiter. Erleichtert atme ich auf, als ich die Taschen in meinem neuen Zimmer absetzen kann. Nina zieht an der Schnur, um die beiden Glühbirnen einzuschalten, die meinen winzigen Wohnraum erleuchten.

»Ich hoffe, es ist okay«, sagt Nina. »Ich dachte mir, du würdest lieber hier oben etwas Privatsphäre und ein eigenes Badezimmer haben.«

Vielleicht hat sie ein schlechtes Gewissen, dass ihr riesiges Gästezimmer leer steht, während ich hier oben in einem Raum wohne, der kaum größer ist als ein Besenschrank. Aber es ist in Ordnung. Alles, was größer ist als der Rücksitz meines Autos, kommt mir vor wie ein Palast. Ich kann es kaum erwarten, heute Nacht hier zu schlafen. Ich bin unglaublich dankbar.

»Es ist perfekt«, erwidere ich ehrlich.

Zusätzlich zu Bett, Kommode und Regal bemerke ich noch etwas, das ich vorher nicht gesehen habe. An der Wand steht ein Minikühlschrank, ungefähr dreißig Zentimeter hoch, der rhythmisch brummt. Ich hocke mich hin und öffne ihn.

Darin gibt es zwei Ablagen, und auf der oberen stehen drei winzige Wasserflaschen.

»Ausreichend Flüssigkeit ist sehr wichtig«, sagt Nina ernst.

»Ja …«

Als sie meinen verwirrten Gesichtsausdruck sieht, lächelt sie. »Es ist dein Kühlschrank, und du kannst hineintun, was du willst. Ich wollte dir nur etwas für den Anfang reinstellen.«

»Danke.« Im Grunde ist es nicht ungewöhnlich. Manche Leute legen Bonbons aufs Kopfkissen. Nina stellt kleine Wasserflaschen bereit.

»Na ja …« Nina reibt die Hände an den Oberschenkeln, obwohl ihre Hände makellos sauber sind. »Ich lass dich mal auspacken, und dann kannst du anfangen, das Haus sauber zu machen. Ich werde mich auf das ELA-Meeting morgen vorbereiten.«

»ELA?«

»Eltern-Lehrer-Ausschuss.« Sie strahlt mich an. »Ich bin die Vizepräsidentin.«

»Das ist wunderbar«, erwidere ich, weil sie das hören will. Nina ist sehr leicht zufriedenzustellen. »Ich packe nur schnell aus und mach mich dann gleich an die Arbeit.«

»Ich danke dir.« Ihre Finger berühren kurz meinen nackten Arm – sie sind warm und trocken. »Du bist meine Rettung. Ich bin so froh, dass du hier bist.«

Ich lege meine Hand auf den Türknauf, während Nina sich zum Gehen wendet. Und da bemerke ich es. Was mich vom ersten Moment an gestört hat. Ein ungutes Gefühl überkommt mich.

»Nina?«

»Hm?«

»Warum …«, ich räuspere mich. »Warum ist das Türschloss für dieses Zimmer außen statt innen angebracht?«

Nina blickt auf den Türknauf hinunter, als bemerke sie es zum ersten Mal. »Oh! Das tut mir leid. Wir haben diesen Raum früher als Abstellraum benutzt und wollten ihn deshalb natürlich von außen abschließen können. Nachdem ich dann ein Zimmer für Hausangestellte daraus gemacht habe, hab ich nie das Schloss gewechselt, fürchte ich.«

Wenn jemand wollte, könnte er mich hier einfach einsperren. Und es gibt nur das kleine Fenster, das nach hinten hinausgeht. Dieses Zimmer könnte zur Todesfalle werden.

Aber warum sollte mich jemand hier einsperren wollen?

»Könnte ich den Schlüssel für das Zimmer haben?«

Sie zuckt mit den Achseln. »Ich weiß nicht mal, wo er ist.«

»Ich hätte gern einen Nachschlüssel.«

Sie kneift ihre hellblauen Augen zusammen, als sie mich ansieht. »Warum? Willst du etwas in deinem Zimmer aufbewahren, von dem wir nichts wissen sollen?«

Mir bleibt der Mund offen stehen. »Ich … Natürlich nicht, aber …«

Nina wirft den Kopf zurück und lacht. »Ich mache nur Spaß. Es ist dein Zimmer, Millie! Wenn du einen Schlüssel willst, besorge ich dir einen. Versprochen.«

Manchmal habe ich das Gefühl, dass Nina eine gespaltene Persönlichkeit hat. Sie wechselt blitzschnell von heiß auf kalt. Dann behauptet sie, sie habe nur Spaß gemacht, aber da bin ich mir nicht so sicher. Es spielt jedoch keine Rolle. Ich habe nichts anderes in Aussicht, und dieser Job ist ein Segen. Ich werde alles dafür tun, dass es funktioniert. Egal was. Ich werde dafür sorgen, dass Nina Winchester mich liebt.

Nachdem Nina das Zimmer verlassen hat, schließe ich die Tür hinter ihr. Ich würde gerne abschließen, aber das kann ich nicht. Offensichtlich.

Dann bemerke ich Spuren im Holz. Dünne Linien, die ungefähr ab Höhe meiner Schulter senkrecht über die gesamte Länge der Tür verlaufen. Ich fahre mit den Fingern über die Vertiefungen. Sie wirken fast wie …

Kratzer. Als hätte jemand an der Tür gekratzt.

Hätte versucht rauszukommen.

Nein, das ist albern. Ich bin paranoid. Altes Holz ist manchmal zerkratzt. Das bedeutet nichts Unheilvolles.

Das Zimmer erscheint mir plötzlich unerträglich heiß und stickig. In der Ecke steht ein kleiner Ofen, der im Winter sicherlich für angenehme Wärme sorgt. Doch es gibt hier nichts, um das Zimmer in den warmen Sommermonaten zu kühlen. Ich muss einen Ventilator kaufen, den man vors Fenster stellen kann. Obwohl der Raum viel größer ist als mein Auto, ist er doch recht klein – es wundert mich nicht, dass sie ihn als Abstellkammer benutzt haben. Ich schaue mich um, öffne die Schubladen, um zu sehen, wie groß sie sind. Der kleine Wandschrank bietet kaum genug Platz, um meine wenigen Kleider darin aufzuhängen. Bis auf ein paar Bügel und einen kleinen blauen Eimer in der Ecke ist er leer.

Ich versuche, das kleine Fenster zu öffnen, um ein bisschen frische Luft zu schnappen, aber es rührt sich nicht. Ich kneife die Augen zusammen, um es mir genauer anzusehen und fahre mit den Fingern den Rahmen entlang. Es sieht aus, als wäre es verklebt.

Ich habe ein Fenster, aber es lässt sich nicht öffnen.

Ich könnte Nina danach fragen. Aber ich will nicht, dass sie denkt, ich würde mich beklagen. Schließlich habe ich heute erst angefangen, hier zu arbeiten. Vielleicht kann ich es nächste Woche mal erwähnen. Ich denke, es ist nicht zu viel verlangt, ein funktionierendes Fenster zu haben.

Der Gärtner Enzo ist jetzt im Garten hinter dem Haus und mäht den Rasen. Er bleibt einen Moment stehen, um sich mit seinem muskulösen Unterarm den Schweiß von der Stirn zu wischen, und blickt dann hoch. Als er mein Gesicht hinter dem kleinen Fenster sieht, schüttelt er den Kopf, genau wie bei unserer ersten Begegnung. Ich erinnere mich an das italienische Wort, das er gezischt hat, bevor ich ins Haus ging. Pericolo.

Ich hole mein brandneues Handy aus der Hosentasche. Das Display erwacht zum Leben, füllt sich mit Symbolen für Textnachrichten, Anrufe und das Wetter. Diese Handys waren damals bei meiner Inhaftierung noch nicht verbreitet, und als ich wieder draußen war, konnte ich mir keins leisten. Aber ein paar von den Mädchen in den Rehabilitationszentren, in denen ich zunächst war, hatten eins. Und daher weiß ich halbwegs, wie sie funktionieren.Ich weiß, welches Symbol ins Internet führt.

Ich tippe ins Browserfenster: pericoloÜbersetzung. Der Empfang muss hier im Dachgeschoss schlecht sein, denn es dauert lange. Fast eine Minute ist vergangen, als die Übersetzung von pericolo schließlich auf dem Display erscheint:

Gefahr.

4

Die nächsten sieben Stunden verbringe ich mit Putzen.

Das Haus könnte nicht schmutziger sein. Jedes Zimmer ist verdreckt. Der Pizzakarton auf dem Couchtisch enthält noch zwei Stücke Pizza, und irgendetwas faulig Riechendes ist am Boden ausgelaufen. Es ist durchgesickert, sodass der Karton am Tisch klebt. Ich muss alles eine Stunde lang einweichen und dreißig Minuten kräftig schrubben, um es sauber zu kriegen.

In der Küche ist es am schlimmsten. Zusätzlich zu der vollen Mülltonne befinden sich dort zwei überquellende Müllbeutel. Da einer davon am Boden einen Riss hat, fliegt der Inhalt in alle Richtungen, als ich sie hinausbringe. Es riecht mehr als unangenehm, und ich muss würgen, behalte aber das Mittagessen bei mir.

Im Spülbecken türmt sich das Geschirr, und ich frage mich, warum Nina es nicht einfach in ihren supermodernen Geschirrspüler stellt – bis ich ihn öffne und feststelle, dass er ebenfalls randvoll mit schmutzigem Geschirr ist. Diese Frau hält offenbar nichts davon, Speisereste von Tellern zu entfernen, bevor sie sie in die Spülmaschine stellt. Oder den Geschirrspüler einzuschalten. Ich lasse drei Ladungen durchlaufen, bevor ich fertig bin. Töpfe und Pfannen wasche ich separat ab, an den meisten kleben noch alte verkrustete Essensreste.

Am Nachmittag habe ich die Küche zumindest wieder einigermaßen bewohnbar gemacht. Ich bin stolz auf mich. Ich habe den ersten harten Arbeitstag hinter mir, seitdem ich aus meinem Job in der Bar gefeuert wurde (vollkommen zu Unrecht, aber so ergeht es mir momentan eben recht häufig), und fühle mich großartig. Alles was ich will, ist weiter hier zu arbeiten. Und vielleicht ein Fenster in meinem Zimmer, das sich öffnen lässt.

»Wer bist du?«

Eine zarte Stimme schreckt mich auf, als ich gerade die letzte Ladung Geschirr wegräume. Ich drehe mich um – Cecelia steht hinter mir, und ihre blassblauen Augen durchbohren mich. Sie trägt ein weißes Rüschenkleid, in dem sie aussieht wie eine kleine Puppe. Und mit Puppe meine ich natürlich die unheimliche sprechende Puppe in The Twilight Zone, die Leute umbringt.

Ich habe gar nicht bemerkt, dass sie hereingekommen ist. Nina ist nirgends zu sehen. Wo kommt sie überhaupt her? Wenn ich jetzt herausfinde, dass Cecelia seit zehn Jahren tot und ein Geist ist, kündige ich.

Na ja, vielleicht auch nicht. Aber ich könnte eine Gehaltserhöhung verlangen.

»Hi, Cecelia«, sage ich fröhlich. »Ich bin Millie. Ich werde von jetzt an bei euch im Haushalt arbeiten – sauber machen und auf dich aufpassen, wenn deine Mama das möchte. Ich hoffe, wir haben Spaß zusammen.«

Cecelia blinzelt mich mit ihren blassen Augen an. »Ich habe Hunger.«

Ich muss mich selbst daran erinnern, dass sie nur ein normales kleines Mädchen ist, das hungrig und durstig und mürrisch sein kann und die Toilette benutzt.

»Was willst du essen?«

»Ich weiß nicht.«

»Na, was isst du denn gerne?«

Ich beiße die Zähne zusammen. Cecelia hat sich von einem unheimlichen kleinen Mädchen in ein nerviges kleines Mädchen verwandelt. Aber wir haben uns gerade erst kennengelernt. In ein paar Wochen sind wir bestimmt die besten Freunde. »Okay, ich mach dir schnell eine Kleinigkeit.«

Sie nickt und klettert auf einen der Stühle an der Kücheninsel. Es kommt mir immer noch so vor, als würde sie mich mit den Augen durchbohren – als könnte sie alle meine Geheimnisse lesen. Ich wünschte, sie würde ins Wohnzimmer gehen und sich auf dem riesigen Fernseher Zeichentrickfilme ansehen, statt mich zu beobachten.

»Was guckst du dir gerne im Fernsehen an?«, frage ich in der Hoffnung, dass sie den Wink versteht.

Sie runzelt die Stirn, als hätte ich sie beleidigt. »Ich lese lieber.«

»Das ist toll! Was liest du gerne?«

»Bücher.«

»Was für Bücher?«

»Solche mit Wörtern.«

Das sind ja schöne Aussichten, Cecelia. Gut, wenn sie nicht über Bücher reden will, wechsele ich eben das Thema. »Bist du gerade aus der Schule gekommen?«, frage ich sie.

Sie blinzelt mich an. »Wo soll ich sonst hergekommen sein?«

»Aber … wie bist du nach Hause gekommen?«

Cecelia schnauft genervt. »Lucys Mama hat mich vom Ballett abgeholt und nach Hause gebracht.«