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Yvonne Hofstetter

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Beschreibung

Hochaktuelles Debattenbuch über die totalitäre Tendenz von Datensystemen

Die Snowden-Enthüllungen schreckten weltweit auf. Big Data heißt das neue Geschäftsmodell der Überwachung – haben wir die Kontrolle über unsere Daten längst verloren? Yvonne Hofstetter, Expertin für künstliche Intelligenz, klärt auf: Die unvorstellbaren Datenmassen, die sekündlich abgeschöpft werden und durchs weltweite Netz fluten, sind allein noch kein Risiko. Denn die Gefahr für die freiheitliche Gesellschaft geht von intelligenten Algorithmen aus. Sie analysieren, prognostizieren und berechnen uns neu, um uns zu kontrollieren – autonom, schnell, überall und immer. Sie verbreiten sich als selbstlernende Haustechnik, vernetzte Autos oder elektronische Armbänder. Hofstetter fordert dazu auf, das einzige Supergrundrecht unserer Gesellschaftsordnung, die Menschenwürde, gegen die digitale Revolution zu verteidigen. Sie plädiert für eine neue Gesetzgebung, eine Ethik der Algorithmen und eine gesellschaftliche Debatte darüber, was der Mensch in Zukunft sein will.

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Yvonne Hofstetter

SIE WISSEN ALLES

Wie intelligente Maschinen in unser Leben eindringen und warum wir für unsere Freiheit kämpfen müssen

C. Bertelsmann

1. Auflage

© 2014 by C. Bertelsmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: buxdesign, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-13739-7www.cbertelsmann.de

»Ich stelle nur aufgrund von Naturbeobachtungen eine Theorie (…) auf. Diese Theorie schreibe ich in der Sprache der Mathematik nieder und erhalte mehrere Formeln. Dann kommen die Techniker. Sie kümmern sich nur noch um die Formeln. (…) Sie stellen Maschinen her, und brauchbar ist eine Maschine erst dann, wenn sie von der Erkenntnis unabhängig geworden ist, die zu ihrer Erfindung führte. So vermag heute jeder Esel eine Glühbirne zum Leuchten bringen – oder eine Atombombe zur Explosion.«

Friedrich Dürrenmatt, Die Physiker

FÜR CHRISTIAN

Ich danke den Weggefährten, die dieses Buch ermöglicht haben:Johannes Jacob, Eva Rosenkranz, Michael Gaeb

Inhalt

Vorwort

Demokratie in Gefahr

Big Data? Intelligente Maschinen!

Nicht ohne Kollateralschäden

Die Buchidee

Eins. Genesis

Von fehlenden Daten, falscher Information und 290 Toten

Kann Software töten?

Big Data am Himmel: die AWACS-Story

AWACS E-3A, eine deutsche Erfolgsgeschichte?

Zwei. Die intellektuelle Emanzipation der Maschinen

Das Big-Data-Rezept

Von Superdatenbanken und Supercomputern

Rechnen mit Ziffern: die Kunst der Zahlenzauberer

Big Data, der Treibstoff künstlicher Intelligenz

»Ein Sack voller Methoden«

Gemeinsam schlau: Intelligenz durch Kooperation

Drei. Big Data, Big Money

Welterschütterung

Die neue Heimat der Vertriebenen

Globale Irrwege: Finanzialisierung und Wirtschaftsnobelpreise

Wird die Mathematik zur schmutzigen Wissenschaft?

Nach der Krise ist vor der Krise: Big Data Finance 2.0

Vier. Diktatur

Schizophrenie

Big-Data-Evolution

Der Angriff auf den Menschen

Der Mensch und seine Daten, das unbekannte Verhältnis

Mensch ohne Vergangenheit? Vom Recht auf Vergessen

Big-Data-Diktatur

Der Konflikt des Jahrhunderts: persönliche Daten gegen Kapital

Fünf. Aufbruch

Update der Gesellschaft

Die Aufgaben des Einzelnen

Die Aufgaben des Staates

Die Aufgaben der Technologen

Liebes Deutschland: Florian Mayhoff korrespondiert

Nachwort

Register

Vorwort

Der Skandal ist ungeheuerlich. Er ist von einem journalistischen und gesellschaftlichen Ausmaß, wie ihn die globalisierte Welt bisher noch nicht gesehen hat. Er betrifft uns alle, aber ein Einzelner hat seine Familie, seine Heimat, Muttersprache, sein ganzes Leben für die Wahrheit riskiert, sprichwörtlich. Bis dahin waren wir Begeisterte, Vertrauensselige.

»Ich brauche Ihre Kreditkartendetails.«

»Bitte geben Sie uns Ihr Geburtsdatum bekannt.«

»Auf gar keinen Fall!«, würden Sie protestieren, wenn man Sie im direkten Gespräch um diese fast intimen Daten bitten würde. Doch die Fragesteller sind schlau. Sie schalten kleine elektronische Vermittler ein. Angepriesen werden uns die bunten, spielerisch wirkenden Gadgets als neueste »It-Teile«. Wer »in« sein will, braucht die jüngste Smartphone-Generation und das bunteste elektronische Armband. Sonst verpassen wir die digitale Revolution. Das jedenfalls wird uns eingeredet. Unsere Gadgets lieben wir. Wir lieben sie so sehr, dass unsere Ehemänner, Ehefrauen, Lebensgefährten voll Eifersucht auf unsere elektronischen Begleiter schielen. Denn den wir lieben, dem vertrauen wir alles an.

Alles.

Trotz der Enthüllungen Edward Snowdens entblößen wir uns unbekümmert weiter. Doch wir werden dabei abgehört. Online einkaufen, chatten, skypen, e-mailen ist zum Spießrutenlauf geworden. Ausnahmslos alles, was wir unseren elektronischen Helferlein anvertrauen, erzählen sie weiter. An den Handel, die Industrie und die Geheimdienste. Wir sind nicht nur vollkommen gläsern geworden, wir haben uns auch erpressbar und manipulierbar gemacht. Wir sind anfällig geworden für Beutelschneider, für Kriminelle, für Umstürzler. Nicht nur jeder Einzelne von uns, sondern unsere gesamte freiheitlich-demokratische Gesellschaft. Wenn du mit deinen Gadgets spielst, spielst du mit dem Feuer. Du vertraust jedem und gibst alles – und setzt damit alles aufs Spiel.

Demokratie in Gefahr

Der Kapitalismus ist von höchst wandelbarer Natur. Glaubten wir noch bis zum Fall des Warschauer Pakts, dass der Kapitalismus der beste Begleiter der Demokratie sei und ihrem Pluralismus bevorzugt entspräche, werden wir jetzt eines Besseren belehrt. Die Ehe bröckelt, die Partner haben die Scheidung eingereicht. Und der Scheidungsgrund hat einen Namen: Big Data. Big Data läutet einen neuen Bund ein: Es ist der Bund zwischen Kapitalismus und Diktatur mit der Verheißung neuer, profitabler Geschäftsmodelle der totalen Überwachung. Als Informationskapitalismus etabliert Big Data die Diktatur von Informationseliten, weil sie über unsere Daten und über Schlüsseltechnologien zu deren Analyse verfügen. Es ist die uralte menschliche Wurzelsünde, die den Datendurst jener neuen Geschäftsmodelle pausenloser Observation nährt, der Drang, wissen zu wollen, um Macht und Reichtum durch Kontrolle zu erlangen. Umso tragischer ist unsere bürgerliche Gleichgültigkeit gegenüber einer exzessiv gewordenen Datensammelwut jeder Art von Einrichtung, sei sie staatlicher oder privater Provenienz, die längst über alle wissenschaftliche Leidenschaft für einen forschungsmäßigen Erkenntnisgewinn hinausgeht. Denn Big Data, Algorithmen, mathematische Modelle und künstliche Intelligenz sind Themen, die uns zu abstrakt und komplex erscheinen, als dass wir uns damit beschäftigen wollen. Gehen sie nicht nur Mathematiker und quantitative Analysten an, einige wenige Wissenschaftler mit abstrusen Gedankengängen, die ergebnisoffen forschen und deren bizarre, theoretische Ideen es in den seltensten Fällen zu lebensnahen Ergebnissen bringen?

Lassen Sie sich nicht täuschen. Was der moderne Sammelbegriff Big Data heute zusammenfasst, beschreibt eine technologische Revolution bisher ungekannten Ausmaßes. Sie wurde erprobt, gewogen und für gut befunden, seit sie ihren Anfang vor über zwei Jahrzehnten beim Militär nahm und schon zu Beginn des neuen Jahrtausends in ein algorithmisches Wettrüsten der Finanzindustrie mündete. Seitdem tritt sie aus dem industriellen Umfeld heraus, um vollends alles und jeden mithilfe des Internets sprichwörtlich überall zu erfassen und zu vermessen, indem sie auf die Letzten der Wertschöpfungskette abzielt: auf Bürger und Konsumenten. Was uns wie in einem Sog mitreißen wird, der enorme strukturelle Veränderungen unserer Gesellschaft, unserer Rechts- und Staatssysteme mit sich bringen wird, sind intelligente Maschinen, die selbständig in der Lage sind, aus riesigen, global verfügbaren Datenmengen eine detaillierte Lageanalyse zu erstellen, die in Echtzeit beschreibt, was wir tun, denken oder wünschen. Und in einer Feedbackschleife erhalten wir die Antwort dieser Maschinen, wiederum über das Internet: einen Dreiklang aus Informations-, Gefühls- und Verhaltenskontrolle. Was für Mathematiker, Physiker oder wissenschaftliche Programmierer eine vollkommene Terz aus Daten, mathematischen Modellen und künstlicher Intelligenz ist, die aus immer mehr Daten immer präzisere Information über uns und unser tägliches Leben ableitet, kann für unsere Gesellschaften zur Risikotechnologie mutieren. Und zwar dann, wenn sie zur Aufhebung unserer Freiheitsrechte und demokratischen Staatsformen führt und zum Machtinstrument jener neuen Elite wird, die nicht mehr die von uns gewählten, demokratisch legitimierten Volksvertreter sind.

Mit Big Data dämmert die Vorherrschaft der Mathematik am Horizont unserer gesellschaftlichen Zukunft, in der die Diktatur privatisiert wird, wenn Wirtschaftsunternehmen unser Leben mithilfe unserer Daten quantifizieren, um uns zu vermessen und uns neu zu berechnen. Nicht immer ist ihren Wissenschaftlern bewusst, zu welchem Werkzeug sie geworden sind. Ihre Mathematiker und Physiker sind nicht a priori wirtschaftlich interessiert, sondern folgen ihrem Drang nach vertiefter Erkenntnis unserer Welt. Die Verzerrung ihrer Forschung erfolgt durch findige Unternehmer und Investoren, und ein Treiber des neuen Geschäftsmodells »Abhören und steuern« ist, wie schon häufig in der jüngeren Vergangenheit, die Finanzialisierung: der Wunsch, neue Profitquellen zu erschließen für höhere Renditen und steigende Unternehmenswerte ohne Rücksicht darauf, wer den bleibenden Schaden davonträgt.

Big Data? Intelligente Maschinen!

Die NSA-Affäre hat es ans Licht gebracht: Im Verborgenen und unbemerkt von weiten Kreisen der Bevölkerung, unsere politischen Eliten eingeschlossen, hat sich eine technologische Revolution vollzogen. In wenigen Jahren sind Computer auf ganz neue Weise leistungsfähig geworden. Dass moderne Rechner der Menge der von uns heute erzeugten Daten nicht Herr würden, ist sehr menschlich gedacht, denn das genaue Gegenteil ist der Fall: Je mehr Daten zur Verfügung stehen, desto intelligenter kann eine Maschine agieren. Wenn intelligente Maschinen der Motor des Informationskapitalismus sind, ist Big Data ihr Treibstoff und das Internet ihr Chassis. Ihre Sensoren kommen daher als Apps, mobile Geräte und immer häufiger als die Dinge unseres Alltags, die sich vernetzen und deren universelle Sprache die Mathematik ist. Daten zwischen den Sensoren und ihren intelligenten Maschinen werden kabellos oder in der Cloud, der globalen »Rechnerwolke«, ausgetauscht. So formt sich ein emergentes System, neue Organisationsstrukturen, die sich spontan durch die elektronische Kommunikation seiner einzelnen Elemente herausbilden. Denn ursprünglich für die Vernetzung von Computern gebaut, die über mehrere Orte verteilt waren, hatten wir Menschen für einige Jahre das Internet zum Mailen, Bloggen oder Onlineshopping gekapert und uns so einen Kollateralnutzen geschaffen. Heute erobern die Maschinen »ihr« Netz zurück als das »Internet der Dinge« oder das Industrial Internet. Bis 2017 sollen etwa dreimal so viele Geräte ein IP-Netzwerk nutzen, wie es Bewohner auf unserem Globus gibt.1

Was aber heißt »intelligente Maschine« und worin besteht ihre Intelligenz? Intelligente Maschinen sind nicht mehr auf die Eingabe einer Handlungsanweisung durch den Menschen angewiesen, sondern agieren zunehmend selbstständig. Als Optimierer lernen sie, optimale Entscheidungen unter Unsicherheit zu treffen. Als verteilteSoftware-Agenten zerlegen sie komplexe Probleme unseres Alltags in einfachere Subprobleme und lösen sie durch Kooperation und Kommunikation miteinander. Als emergentes System vernetzen sich unabhängige Programme zu einer maschinellen Parallelwelt, die kein Programmierer je programmiert oder getestet hat und deren Dynamik wir weder kennen noch ohne Weiteres analysieren können.

Sie ahnen es. Wir sprechen von anderen Maschinen als denen, die Ihnen täglich unterkommen, es sei denn, Sie arbeiten für das Militär oder die Finanzindustrie. Drei sind uns geläufig, seit Edward Snowden ihre Namen gelüftet hat. Beim Geheimdienst heißen sie PRISM, XKeyscore und Tempora, alle drei gebaut zur Überwachung und Analyse massenhaft gesammelter Daten Millionen unverdächtiger Bürger. In der Finanzindustrie entsprechen ihnen Aladdin oder Corsair. In beiden Industrien sind intelligente Maschinen schon viele Jahre im Einsatz. Als Aufklärer, Minenspürer oder Drohnen jeglicher Machart, von aggressiven Aufklärungsdrohnen wie der Hawk-Serie bis hin zu Micro Aerial Vehicles, den »Mikrodrohnen« in Insektengröße mit Tötungsauftrag, übernehmen sie Aufgaben des Soldaten. Als gigantische Datenanalysesysteme liefern sie internationalen Großinvestoren globale Risiko- und Investmentinformationen und als Hochfrequenzalgorithmen, wohl weniger intelligent als schnell, machen sie die Börsenplätze unsicher, mit nicht abschätzbarem Risiko für die globale Wirtschaft. Wenn wir wissen wollen, wohin die Reise geht, sollten wir unsere Augen besonders auf die Finanzindustrie richten. Denn intelligente Maschinen werden immer öfter tägliche Arbeiten auch für uns erledigen und erwecken so den Anschein moderner Heilsbringer. Größere Bequemlichkeit, ein schöneres, besseres, optimiertes Leben setzt voraus, dass uns intelligente Maschinen sehr gut kennen müssen. Und das ist der Preis, den wir zahlen werden: Bevor uns intelligente Maschinen optimieren und steuern können, werden sie in unser Denken eindringen. Ihr Bindeglied zu uns ist das Internet, die global verfügbare Kommunikationsinfrastruktur, mit deren Hilfe sie uns zu ihren Dienstleistern machen, von denen Daten und Aktionen ohne Unterlass und überall abgefragt werden dürfen. Intelligente Rechner werden uns vereinnahmen, indem sie unser Tun »beobachten«, monitor, »abwägen«, evaluate, und optimieren und »steuern«, control. Tatsächlich lernen sie aus unseren Daten, was unsere Vorlieben sind und wie wir uns verhalten. Im Kreislauf des geschlossenen Regelkreises werden sie für uns deshalb genau die Information auswählen und bereitstellen, die uns scheinbar nützlich ist. Oder etwa doch nicht? Wir sollen uns informiert fühlen, sind es aber nicht. Wo wir umgarnt werden mit dem Versprechen der schönen neuen Welt, sind wir schon längst der Manipulation unterlegen.

Nicht ohne Kollateralschäden

Revolution zieht immer den Umsturz bestehender Werte oder Rechtssysteme nach sich, zumeist gewaltsam und selten in aller Stille. Doch beinahe geräuschlos sind Bürger und Konsumenten in den Informationskapitalismus hineingeraten, der die Grundfesten unseres Wertesystems ins Wanken bringen wird. Nein, eigentlich nicht geräuschlos – vielmehr in einem Rausch, im Rausch von Mobile Moments und SocialNetworking mit noch mehr Inhalten, noch mehr Daten, noch mehr Nutzenmaximierung für unseren neuen Lifestyle Hypertasking, in dem wir jeden Moment maximal auskosten, in einer Konzentration auf das Machbare, das größtmöglichen Eigennutz verspricht. Hedonismus ist gut. Subjektivismus ist gut. Egoismus ist gut. »Wir optimieren dich!«, ist die Marketingbotschaft intelligenter Maschinen, und weil uns Menschen die Eigenliebe näher ist als andere Eigenschaften, hören wir die Botschaft gerne und verdrängen die Risiken, die damit verbunden sind, die andere Seite der Medaille eines optimierten Lebens.

Tatsächlich faszinieren uns intelligente Maschinen, und das trifft besonders auf ihre Schöpfer zu. Doch ihre rasche Ausbreitung wird nicht ohne soziale und gesellschaftliche Folgen bleiben. Sie kosten uns viel, sehr viel, und das nicht nur in pekuniärer Hinsicht. Als Technologie sind sie »disruptiv«, in der Sprache des Marketings vollziehen sie »kreative Zerstörung«. Haben wir immer mehr mit intelligenten Maschinen zu tun, wird das unseren Alltag verändern, unseren Umgang miteinander, unser Werte- und Rechtssystem und auch unsere Staatsformen. Warum ist das so? Die ihnen zugrundeliegenden mathematischen Modelle – mächtig und doch eine vereinfachte Darstellung der Welt – verkürzen uns Menschen aus ihrer Sicht auf ein Objekt, das optimiert werden kann. Damit geht unser Subjektcharakter verloren, der eine Errungenschaft unserer europäischen Geschichte ist, die den einzelnen Menschen als Person respektiert, die Träger von Rechten und Pflichten ist. Die Ausbreitung intelligenter Maschinen wird zu strukturellen Veränderungen führen, die nicht allein technischer Natur sind, sondern auch uns Menschen transformieren. In Gefahr sind unsere Rechtssysteme – unsere Demokratien, Grundrechte oder Informations- und Konsumautonomie –, doch auch der Mensch selbst mit seinen Seelenkräften Verstand, Gefühl und freier Wille.

Jene Industrien, die Big-Data-Produkte mit eingebauter Totalüberwachung zur Marktreife bringen, haben keine Gewissensbisse und sind taub für die mahnende Stimme. Zu groß ist der Jubel und überschäumend die Begeisterung für aufstrebende intelligente Maschinen mit ihrem augenscheinlich unermesslichen Profitpotenzial. Alles, was technisch möglich ist, wird angedacht und umgesetzt, häufig ohne Reflexion der Folgen. Dasselbe gilt auch für viele von uns, weshalb wir nicht nur Opfer der neuen Überwachungskultur sind, sondern auch Mittäter. Solange wir glauben, intelligente Maschinen zielten nur auf Optimierung unseres Lebens ab, sind wir blind für die Risiken und die alte Weisheit: Wissen ist Macht. Stattdessen kehren wir freiwillig und bedenkenlos, ja fast naiv, unser Innerstes nach außen und übersehen dabei: Niemand wird unsere Daten primär dazu nutzen, um uns ein besseres und schöneres Leben zu ermöglichen. Stattdessen werden unsere Daten im Informationskapitalismus zu einem Gewinn nur für denjenigen, der sich mit ihrer Hilfe ein genaues Bild von uns macht, um langfristig die Freiheit unseres Denkens und Fühlens abzuschaffen. Und dazu tragen wir höchstpersönlich bei, wenn wir als Dienstleister den maximalen Datenhunger unserer »smarten« Computer und Mobilgeräte stillen und fleißig daran mitwirken, unbekannten Dritten größtmögliche Einsicht in unser Leben zu gewähren. Wir tun dies mit einem Schulterzucken und der lapidaren Bemerkung, das sei eben so.

Doch es gibt Skeptiker aus den Reihen der Wissenschaftler, die intelligente Maschinen entwickeln und deren Möglichkeiten und Beschränkungen am besten einschätzen können. Sie werden von den Anhängern des Shareholder Value, den »vorbildlich innovativen« Unternehmen der Informationsökonomie, und selbst von vielen Nutzern spöttisch belächelt. Dabei liegt die Gefahr, dass Big Data in die Autonomie des Einzelnen eingreift, ganz offensichtlich auf der Hand. Der Angriff auf die Solidarität in der Gesellschaft hat begonnen, die Gefahr der Spaltung der Gesellschaft in die Gruppe der Konsumenten, die sich gerne rund um die Uhr überwachen lassen, um einen Vorteil für sich zu erwirken, und in »die anderen«, die Überwachung ablehnen und dadurch in den Zustand der Dauerrechtfertigung geraten, ist immens. Die neue Zeitrechnung, in der Big Data auf eine Zukunft ohne Regeln stößt, erlaubt alles, was technisch machbar ist; und Technik, glauben Sie es ruhig, hat heute keine Grenzen mehr. Was ist mit dem Arbeitgeber, der mittels Smartphone das Stressniveau seiner Mitarbeiter überwacht? Eine schöne Vorstellung, dass sich ein Unternehmen um seine Angestellten sorgt. Doch die Lebenserfahrung belehrt uns eines Besseren; jede Neuerung bringt immer auch das Potenzial eines Missbrauchs mit sich oder wenigstens des Exzesses, falls Sie den Begriff des Missbrauchs für zu polemisch halten. Wir müssen damit rechnen, dass findige Männer und Frauen unmittelbar nach der Erfindung und Einführung einer Innovation deren ursprüngliche Idee verzerrt umsetzen. Gestresste Mitarbeiter zu identifizieren heißt, einen sicheren Entlassungsgrund mehr zu haben, sich der Schwachen zu entledigen und langfristig nur die Starken zu fördern. Deshalb trägt die Präsentation eines Herstellers einer Software für die Mitarbeiterüberwachung den verräterischen Titel: HR Management Entscheide – dank Echtzeitdaten über das Wohlbefinden und den Stressstatus Ihrer Mitarbeiter.2

Kurzum: Wir haben einen Wendepunkt in der Industriegeschichte erreicht. Mit Big Data sind unsere technologischen Fähigkeiten grenzenlos geworden. Regeln für die Informationsökonomie bestehen bislang nicht, genauso wenig eine politische oder gesamtgesellschaftliche Strategie für den künftigen Umgang mit intelligenten Maschinen. Es herrscht Goldgräberstimmung, man schürft nach Profit ohne Rücksicht auf die gesellschaftlichen Folgen und setzt sich dabei selbst über bestehendes Recht hinweg. Während unsere Rechte auf Privatsphäre, Geheimnis und informationelle Selbstbestimmung bereits außer Kraft gesetzt scheinen, bewegen sich die neuen Geschäftsmodelle mit ihren intelligenten Maschinen aktuell auf einen quasi-rechtsfreien Raum zu.

Die Buchidee

Die technologische Entwicklung lässt sich nicht aufhalten und fasziniert besonders dort, wo wir intelligente Alltagsoptimierung und -automatisierung erreichen, ohne dass wir auf persönliche Daten zurückgreifen müssen. Das ist im Industrial Internet, der »Industrie 4.0«, der Fall. An der intelligenten Überwachung von Maschinen wie Flugzeugturbinen wird überdeutlich, dass Big Data nicht nur Gefahren birgt, sondern große Chancen dort, wo es uns gelingt, die Zukunft des Mensch-Maschine-Verhältnisses verantwortlich und positiv zu gestalten.

Zu einer solchen Reflexion lädt dieses Buch ein. Es spannt bewusst einen ganz weiten Bogen von den hoheitlichen Anfängen von Big Data über die Technologien, die ein Werkzeug in eine intelligente Maschine verwandeln, und betrachtet die Finanzindustrie eingehend, die Big Data schon länger einsetzt und deshalb tiefe Einsichten in den Umgang mit Big Data geben kann. Einige philosophische Überlegungen runden das Buch ab. Ohne technologiefeindlich zu sein, tritt das Buch leidenschaftlich für den Menschen und seine Rechte ein und gibt Anregungen für die neue Ära des Informationskapitalismus, immer bedacht darauf, Kompetenzen nicht zu überschreiten. Bewusstsein schaffen, zum Nachdenken anregen und Impulse für das positive Mensch-Maschine-Verhältnis geben, soll das Anliegen dieses Buches sein.

Im ersten Teil, Genesis, greift das Buch die Entstehungsgeschichte von Big Data auf und blickt zurück dorthin, wo wir den Faden von Big Data erstmals zu fassen bekommen. Denn Big Data ist nicht neu, frühere Bezeichnungen dafür lauteten anders, meinten aber dasselbe, so der Begriff »Multi-Sensor-Datenfusion«. Der Bedarf an Big Data, wie sollte es anders sein, entstand zunächst im staatlich-militärischen Umfeld. Dort entwickelten sich schon vor Jahrzehnten leistungsfähige Maschinen mit erheblicher Intelligenz, die sich bis heute in militärischen Systemen und im operativen Einsatz bewährt haben. Es ist also kein Zufall, dass gerade eine staatliche Behörde wie der amerikanische Heimatschutz (NSA) besonders hochgerüstet für die Auswertung großer Datenmengen ist, denn das Know-how dafür war schon lange originär beim Staat vorhanden. Doch welche Fertigkeiten sollen das sein? Davon erzählt Teil zwei, Die intellektuelle Emanzipation der Maschinen. Er erklärt, was sich hinter dem Begriff Big Data technologisch verbirgt, und beschreibt den wissenschaftlichen Big-Data-Werkzeugkasten. Wo das Buch Mathematik in Geschichten und Anekdoten erzählt, erhebt es keinen Anspruch auf die Fields-Medaille, sondern verallgemeinert im Dienst einer besseren Verständlichkeit. Wenn Sie ein mathematisch gebildeter Leser sind, lassen Sie bitte Gnade walten, wo Spezial- und Sonderfällen keine Rechnung getragen wird. Sonst müsste Teil zwei in Formelsprache geschrieben sein, und selbst dann käme es sicher noch zum Disput. Teil drei, Big Data, Big Money, beschäftigt sich mit den ersten kommerziellen Anwendungen von Big Data in der Finanzindustrie – wenn wir wissen wollen, welcher Schaden entstehen kann, auch gesellschaftlich, die Finanzindustrie des ersten Jahrzehnts unseres Jahrtausends ist lehrreiches Beispiel dafür. Sie absorbierte die erste Kommerzialisierungswelle von Big Data für neue Investmentmöglichkeiten, und wir sehen uns näher an, was daraus geworden ist. Teil vier, Diktatur,betrachtet die zweite Kommerzialisierungwelle; jetzt geht es um Big Data rund um den Konsumenten und Bürger. Womit müssen wir rechnen, was haben Big-Data-Anwendungen mit uns vor, und wo sind wir als Gesellschaft und als Einzelne gefährdet? Teil fünf, Aufbruch, bietet experimentelle Lösungswege an, denn eine einzige Strategie oder sogar Erfahrung von Politik und Gesellschaft im Umgang mit Big Data existieren bislang nicht. Jede Art von Vermeidungsstrategie, die Nostalgie oder das bloße konservative Festhalten an Werten, wird an Big Data und seiner Dynamik scheitern. Im Umgang mit intelligenten Maschinen sind alle gefordert, Staat, Technologen und jeder Einzelne von uns. Damit bietet Big Data eine große Chance, eine Chance für den intensiven Austausch und die Zusammenarbeit von Politik, Technik und Zivilgesellschaft. Wenn wir sie nutzen, kann Big Data ein großer Wurf für Wachstum und Wohlstand der Zukunft werden.

1 Cisco. 2013. Cisco Visual Networking Index: Forecast and Methodology, 2012–2017. S. 6. San Jose, CA: Cisco.

2 Huber, Johann. 2013. HR Management Entscheide dank Echtzeitdaten über das Wohlbefinden und den Stressstatus Ihrer Mitarbeiter. Präsentation vom 4.12.2013 anlässlich der Konferenz: Algorithmus – Wie nutzen wir die Datenflut? London: Soma Analytics.

Eins. Genesis

Von fehlenden Daten, falscher Information und 290 Toten • Kann Software töten? • Big Data am Himmel: die AWACS-Story

Von fehlenden Daten, falscher Information und 290 Toten

Morgen ist amerikanischer Unabhängigkeitstag.

Die Sonne brennt hell über dem Persischen Golf und lässt das Wasser himmelblau leuchten. Seine Azurfarbe verführt geradewegs dazu, kopfüber einzutauchen in die Wellen, um nach Luft schnappend wieder an der Oberfläche aufzutauchen und sich dann vom Meer sanft tragen und schaukeln zu lassen wie ein Kind im Bauch seiner Mutter, das dem Leben voller Hoffnung entgegenblickt.

Ganz anders als die vielen Leichen, die kopfüber auf der Wasseroberfläche treiben.

Es ist Sonntag, der 3. Juli 1988, im letzten Kriegsjahr zwischen dem Iran und dem Irak, die, wie sich später zeigen sollte, einen sinnlosen Krieg begonnen hatten. Nur einen Monat später, im August 1988, würde er ohne Sieger, stattdessen mit vielen Hundertausenden von Toten, zu Ende gehen. Doch bis es soweit war, sollte die Situation weiter eskalieren. Seit einigen Jahren griffen die Kriegsgegner immer wieder zivile Öltanker an, die den Persischen Golf mit ihrer wertvollen Fracht passieren mussten. Mit der Bitte Kuwaits an die Vereinigten Staaten, Geleitschutz zu gewähren, wurde der Konflikt ab November 1986 endgültig zum internationalen Geschehen. Als im Sommer 1987 die amerikanischen Tankereskorten einsetzten, waren im Persischen Golf bereits die Marinen von sechs NATO-Staaten involviert und räumten den Schifffahrtsweg und sein Nadelöhr, die Straße von Hormus, von Minen frei.

Während Großbritannien an jenem denkwürdigen Sonntag das größte Rüstungsgeschäft seiner Geschichte mit Saudi-Arabien abschloss, schien sich der Tag für die amerikanischen Kriegsschiffe im Golf nicht von anderen Einsätzen zu unterscheiden. Dass iranische Schnellboote, bewaffnet mit Maschinengewehren und Raketen, Handelsschiffe angriffen, war hässliche Routine des Tankerkrieges. Üblicherweise tauchten sie nahe der Meerenge auf und versuchten, Schaden anzurichten. Die Fregatte USS Elmer Montgomery, die sich im nördlichen Persischen Golf aufhielt, hatte an diesem Morgen schon sieben, dann dreizehn Angreifer gezählt und beobachtet, wie sie sich einem pakistanischen Frachter näherten.

»Bitte bestätigen Sie: Benötigen Sie Hilfe?«

Die Montgomery hatte einen Funkspruch an den Frachter abgesetzt.

Die Antwort des pakistanischen Frachters schien nicht weiter beunruhigend.

»Negativ. Wir haben keinen Notruf abgesetzt. Wir werden nicht belästigt.«

Weiter nördlich explodierte etwas. Schnell folgte ein zweiter Knall.

Kraftvoll durchschnitt der schlanke Kreuzer USS Vincennes die türkisfarbenen Wellen in Richtung Straße von Hormus. Wie andere Kreuzer seiner Klasse war die darauf ausgelegt, Angriffe kleiner iranischer Schnellboote und Minen abzuwehren, und mit Lenkflugkörpern ausgestattet, um Ziele auf Land und imWasser anzugreifen. Doch die war noch mehr: Ähnlich deutschen Fregatten war sie auf Luftverteidigungsaufgaben spezialisiert. Dazu führte die ein vollständiges Luftabwehrsystem aus modernsten Radars, umfangreicher Flugabwehrbewaffnung und einer eigenen Luftabwehrzentrale mit. Die Hochtechnologie an Bord hatte ihr einen sehr zutreffenden Spitznamen eingebracht: , der »kreuzende Roboter«. Unaufhörlich blinkten in ihrem Kontrollraum, dem abgedunkelten (), Bildschirme blau-weiß und schwarz-grün. Das gehörte zum fortschrittlichsten High-Tech-Radarsystem seiner Zeit, dem man den Namen verliehen hatte, eine Anspielung auf den Schild des griechischen Gottes Zeus. Das elektronische Warn- und Feuerleitsystem der amerikanischen Kriegsmarine war seit 1983 im Einsatz und hatte die Aufgabe, komplexe Luftkämpfe zu überwachen, die sich über hunderte Quadratkilometer erstrecken konnten. In Echtzeit zeichnete das System Flugdaten auf, verarbeitete und interpretierte sie und zeigte die Einzelheiten des Luftkampfs auf einem riesigen Display im Kontrollraum an. Um das , so die Verniedlichung der Militärs für »Luftkampf«, wirklichkeitsgetreu wiederzugeben und dabei gleichzeitig die große Anzahl potenzieller Ziele wie Aufklärer oder Raketen zu überwachen, musste in der Lage sein, bis zu zweihundert Flugzeuge gleichzeitig nachzuverfolgen – keine leichte Aufgabe für ein System, das zu seiner Zeit nicht annähernd über die Rechnerleistung heutiger Big-Data-Systeme mit ihren leistungsfähigen Parallelrechnern und miniaturisierten Speichern verfügte. Die vielen Computer, Displays und Datensammler des -Systems waren deshalb hinter den großen Phased-Array-Antennen des -1-Radars des Kreuzers untergebracht.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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