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Die aktuelle Weltlage ist gefährlicher denn je. Weil sich Strategien und Formen der Kriegsführung aufgrund der Digitalisierung radikal ändern, nehmen die Spannungen zwischen den Supermächten zu. Die renommierte KI-Expertin Yvonne Hofstetter legt für alle politisch Interessierten offen, wie die Digitalisierung einst stabile Machtverhältnisse untergräbt, die Angst vor einem neuen Wettrüsten schürt und das Weltgeschehen unberechenbar macht. Die Sicherheit im 21. Jh. ist extrem gefährdet, der Frieden, in dem wir leben, fragil. Grund dafür ist die digitale Revolution. Strategisch genutzt, ermöglicht sie die geopolitische Neuordnung der Welt: USA, Russland und China kämpfen um die Vorherrschaft, Europa ringt um seine Rolle zwischen den Großmächten. Basierte das strategische Gleichgewicht zwischen den Staaten vormals auf Verteidigung, verschiebt es sich heute zugunsten der Offensive. Denn in einer vernetzten Welt wird der Code zur vernichtenden Waffe, mit dem hochsensible Daten ausspioniert, kritische Infrastrukturen sabotiert und die Bevölkerung durch Fake News aufgehetzt werden – ohne dass es eine offizielle Kriegserklärung gäbe. Yvonne Hofstetter schildert diese alarmierende Lage anhand von realen Beispielen, die das Weltgeschehen massiv beeinflussen, beleuchtet die Verteidigungsstrategien der Großmächte und legt dar, warum der Westen vor Angriffen ungeschützter ist als der Osten. »Yvonne Hofstetter weiß dank ihrer enormen IT- und KI-Kenntnisse die geopolitischen Risiken der Digitalisierung profund zu beleuchten.« Siegmar Mosdorf, Unternehmensberater und Parl. Staatssekretär a.D. »Dieses Buch gehört nicht nur in jede Uniformtasche, sondern auch auf den Nachttisch der Politiker, damit sie wach werden!« Prof. Dr. Wolfgang Koch, Universität Bonn und Fraunhofer FKIE
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Seitenzahl: 397
Yvonne Hofstetter
Wie eine neue Dimension der Kriegsführung die globale Stabilität bedroht
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Die weltweiten Konflikte haben längst zu einem neuen Rüstungswettlauf geführt. Ein entscheidender Faktor in allen Konflikten sind digitale Waffen, die neue Strategien der Kriegsführung und operative Taktiken ermöglichen. Die renommierte Expertin für digitale Rüstung Yvonne Hofstetter legt offen, wie elektronische Feuerkraft einst stabile Machtverhältnisse untergräbt und das Weltgeschehen zunehmend unberechenbar macht. Sie schildert diese alarmierende Lage anhand von realen Beispielen, die das Weltgeschehen massiv beeinflussen, beleuchtet die Verteidigungsstrategien der Großmächte und legt dar, warum der Westen vor Angriffen ungeschützter ist als Russland und China.
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Warnung
[Vorwort] »Zeitenwende«
Mittel und Methoden moderner Kriegsführung
Der Krieg der Drohnen
Immer mehr technische Autonomie
Software Defined Defense: Wenn Software mehr wert ist als Hardware
Die Zukunft der Werte
[Eins] Code als Waffe
Sicherheitslücken
Zwei Wege zur Macht
Dem Frieden verpflichtet
Der Staat und die Macht
Die Asymmetrie der globalen Ordnung
Ohne uns: auf der Suche nach Ersatz
Schlachtfeld Umgebungsintelligenz
Hybride Kriegsspiele
Wahlgeheimnisse
Aus Mangel an Beweisen
Datendiebe
Kritische Infrastruktur in Gefahr
Im Visier hybrider Angriffe
[Zwei] Informationskrieg
Nichts wie es war: das neue Normal
Wenn Kapitalismus wie Demokratie aussieht
Wer Misstrauen sät, wird Umbruch ernten
Mit der Lüge zum Erfolg
Wenn Narrative Politik machen
Die Kosten der Medienpräsenz
Zensur im Internet
Das Spiel von Reiz und Antwort
Netzwerk-Krieger
In der Gummizelle
Die Organisation der Meinungsmasse
Welle der Angst
Ich vertraue nur meinesgleichen
Zwischen Wahrheit und Märchen
Das Ende der Aufklärung
Achtung, Sprache! Provokation und Extremismus
Wie weiter? Nach der Medienarbeit
[Drei] Das Wettrüsten der künstlichen Intelligenz
Krieg ohne Krieger?
Angriff der Drohnen
Vor dem Angriff: Wahrnehmen
Killer Roboter stoppen!
Automatisch oder autonom?
Im Einklang mit dem humanitären Völkerrecht?
Streng geheim: der elektronische Kampf
Die Ferse des Achill: das elektromagnetische Spektrum
Elektronische Gegenmaßnahmen
Sicher im Netz mit künstlicher Intelligenz
[Vier] Hack Back
Rechtslücken: das unvollkommene Völkerrecht
Ius ad bellum: das Gewaltverbot
Mit der Energie einer Explosion
Auf der Suche nach dem Aggressor
[Fünf] Der Kampf um die Vorherrschaft
Amerika und die Logik des Profits
Chinas Systemalternative: die Logik der Rente
Die Putinisierung: Make Russia great again
Der chinesische Traum
Singularität auf dem Schlachtfeld
[Sechs] »Nur bedingt abwehrbereit«
An der Front
Eine Reise ohne Ziel
Mut zur entschiedenen Demokratiepolitik
Voraussetzungen hegemonialer Macht
Technologie für Frieden und Sicherheit in Europa
Mehr Sicherheit bei der Umgebungsintelligenz schaffen
Die Verteidigung ausbauen
»Sie haben keine Angst vor uns«: abschrecken und eskalieren
Resilienz schaffen mit verteilten Infrastrukturen
Die Gesellschaft gegen Angriffe impfen
Der Grund für Attraktivität: Innovation
[Schlusswort] Wenn der Anspruch auf die Realität trifft
Danksagung
Bibliografie
Triggerwarnung
Dieses Sprachwerk enthält Informationen zu
politischer Macht und militärischer Gewalt,
die beim Leser Angst oder Empörung
auslösen können.
»Zeitenwende«
Zucker ist heute gefährlicher als Schießpulver.1
YUVAL NOAH HARARI
Deutschland lebt nicht im Frieden.
Wenige Autostunden von der deutsch-polnischen Grenze entfernt im Osten tobt ein unbarmherziger hybrider, ein sichtbarer und zugleich unsichtbarer Krieg. Geführt wird er mit scharfen Waffen – und mit Cyberangriffen und mit Propaganda.
Was am 24. Februar 2022 auf den Aufmarsch von mehr als 150000 russischen Soldaten und über 1000 Kampfpanzern entlang der ostukrainischen Grenze folgte2, war ein Schock für die Weltgemeinschaft. Wieder ist Krieg in Europa. Er zieht auch an Deutschland nicht spurlos vorbei. Mit einem Angriff Moskaus auf Kiew und dem dann einsetzenden heißen Abnutzungskrieg, einer schrecklichen Reminiszenz an den Ersten Weltkrieg, hatte niemand gerechnet, denn: »Einen Großen Vaterländischen Krieg wird es nicht mehr geben«, lautet noch im Herbst 2021 die Einschätzung eines Top-Managers der deutschen Verteidigungsindustrie.3
Nach zwei Jahren Krieg veröffentlichte das Büro des Hohen Kommissars für Menschenrechte bei den Vereinten Nationen einen ersten Bericht über das Leiden und Sterben der Ukrainer.4 Im Krieg, so das Kriegsvölkerrecht, sind Zivilisten ausdrücklich zu verschonen. Doch die nüchterne Statistik erzählt eine andere Geschichte: Bis März 2024 beliefen sich die identifizierten und bestätigten Opfer unter ukrainischen Zivilisten – Männer, Frauen und Kinder – auf 30457, darunter 10582 Tote und 19875 Verletzte.5 Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher sein.
Zu den ärmsten Kreaturen, die auch im Krieg leiden, gehören die Mitgeschöpfe des Menschen, die Tiere. Im Bombenhagel auf Kiew entliefen Tiere oder wurden von flüchtenden Menschen zurückgelassen, weil Evakuierungsbusse die Mitnahme von Haustieren nicht erlaubten.6 Andere ließen ihre Tiere zurück in der festen Überzeugung, »die Flucht ist nur kurz und vorübergehend«7. In menschenverlassenen Tierheimen versuchten allein gelassene Hunde verzweifelt und in Todesangst vor den Explosionen, sich in den Betonboden ihres Zwingers einzugraben. Weil sie nicht mehr versorgt wurden, verhungerten sie. Ihr Leiden und Sterben ist erbarmungswürdig; allein, sie haben keine Stimme, die sich unter die des menschlichen Elends des Krieges mischt.
Seit fast 1000 Tagen terrorisieren nicht nur die ungerichteten Angriffe russischer Raketen und Killerdrohnen die ukrainische Zivilbevölkerung. Mit dem gezielten völkerrechtswidrigen Beschuss der Stromversorgung will Russland die Bevölkerung von der Energieversorgung abschneiden. Auch die Zerstörung von Wärmekraftwerken soll die Ukrainer empfindlich treffen. Die Schäden am ukrainischen Energiesystem belaufen sich nach Angaben der Weltbank auf mindestens 12 Milliarden US-Dollar.8 Doch neben dem wirtschaftlichen Schaden stehen immer mehr Menschenleben auf dem Spiel. Denn mit jedem weiteren russischen Treffer droht im nächsten Winter eine humanitäre Katastrophe.
Dieser heiße, sichtbare Krieg Moskaus gegen die Ukraine wird sekundiert durch weithin unsichtbare Aktivitäten im Informationsraum. Nach nicht unabhängig überprüfbaren Angaben des ukrainischen Ministers für digitale Transformation, Mykhailo Fedorov, führte Russland bereits mehr als 5000 Cyberangriffe gegen die Ukraine aus. Ein Blick auf die weltweite erste Kartierung von Cyberkriminalität erklärt Russland »mit einem Indexwert von 58,4 [zur] Hauptquelle aller (…) Cyberattacken. Auf Russland folgen die Ukraine (vor Kriegsbeginn), China und die USA mit Werten zwischen 25 und 36.«9
Unter großen Mühen versucht die Ukraine, mit Russland weiter Schritt zu halten, und rekrutiert weltweit Unterstützer für den Kampf gegen Russlands Cyberattacken. Mit Unterstützung westlicher Cyber-Militärteams und privater Sicherheitsunternehmen, finanziert durch Millionen von Spendendollars, wurden Freiwillige mobilisiert, die heute die ukrainische IT-Armee mit rund 200000 Angehörigen bilden.10 Sie reagiert auf russische Angriffe mit DDoS-Attacken und Wiper-Aktivitäten, stört den Betrieb von Servern und löscht Daten. Zu ihren Angriffszielen gehören die russische Regierung, Mediensysteme, Finanzinstitutionen, Verteidigungsobjekte und zivile Infrastruktur. Dem stehen auf russischer Seite psychologische Operationen und Desinformationskampagnen zur Legendenbildung gegenüber, um die ukrainische Zivilbevölkerung zu verunsichern und Vertrauen zu untergraben. Schon unmittelbar vor der Invasion Russlands hatten sich Erzählungen über vermeintliche Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine gehäuft, darunter die der Kreuzigung eines Jungen oder auch die von Moskau kolportierten Meldungen über die Diskriminierung russischsprachiger Ethnien. Es waren mediale Inszenierungen, die die russische Intervention legitimieren und Moskaus Ansprüche untermauern sollten.
Als der Krieg aufflammte und Russlands Panzerarmee mit Gerät des letzten Jahrhunderts tagelang im Schlamm um den Antonow-Flughafen bei Hostomel stecken blieb11, wunderte sich der Westen: Wer solche taktischen Fehler macht und Panzer aus den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts ausgerechnet in der Tauwetterperiode einsetzt, der muss seine Spitzentruppe wohl zurückhalten. Denn noch 2018 hatten Medien berichtet, dass Russland Syrien als Testfeld für neue Waffensysteme nutze.12 Doch als die Einsätze jener neuen Waffen in der Ukraine ausblieben, rekurrierten manche Experten auf das Narrativ der Nationalsozialisten von der »Wunderwaffe«, die bis zur Kapitulation Deutschlands 1945 nur in der deutschen Propaganda existiert hatte. Doch die Sorgen vor solchen »Wunderwaffen« sind gewachsen, seit Russland 2024 zum ersten Mal hypersonische Raketen, die mit einer Geschwindigkeit von mindestens 5 Mach ihr Ziel in Minuten erreichen können, gegen die Ukraine eingesetzt hat.
Auch die Ukrainer kämpften anfangs mit historischen Waffensystemen, zunächst ebenfalls aus alten sowjetischen Beständen. Dass der Kampfhubschrauber der Feind des Panzers ist, mussten sie schnell erleben, als die Russen mit Mi-24 und Mi-28 Kampfhubschraubern zu Angriffen auf ukrainische gepanzerte Fahrzeuge übergingen. Über die fliegerischen Angriffstaktiken russischer Kampfhubschrauber kann sich übrigens jedermann im Internet informieren. Die Webseite »Taktik der Armeefliegerkräfte« stellt militärisches Wissen der Nationalen Volksarmee der früheren DDR bereit und lehrt den Umgang mit sowjetischen Kampfhubschraubern.13 In alten NVA-Handbüchern ausdrücklich enthalten: die Warnung vor der »Gepard-Todeszone«. Tatsächlich wurde die Ukraine unter anderem durch die Lieferung deutscher Gepard-Panzer unterstützt. Die Geparden, die in den 1970er-Jahren zur Abwehr von Kampfhubschraubern entwickelt wurden, hatte die Bundeswehr 2010 nicht ohne Wehmut ausgemustert, in andere Länder verkauft oder an Museen übergeben. Über die Verluste von Gepard-Panzern der Ukrainer sind zwar keine präzisen Angaben zu finden, doch deutet vieles darauf hin, dass kein einziger der 52 gelieferten Panzer verloren ging.14 Kampfhubschrauber und Drohnen kommen selten bis in die Nähe eines Geparden. Entdeckt ein Gepard einen Luftangriff, ist der Angriff bereits gescheitert. Bei den deutschen Leopard-Panzern hingegen ist die Lage eine andere: Bereits mehr als die Hälfte von ihnen wurden zerstört.15
Die Erfahrungen in der Ukraine nehmen westliche Nationen zum Anlass, um zu erforschen, wie gepanzerte Landsysteme für die Heeresflugabwehr und bei der Luftverteidigung gegen unbemannte bewaffnete Killerdrohnen wirken. Denn in der Ukraine zeigt sich, wie die technologischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte auch den Krieg verändern. Die Digitalisierung versetzt Maschinen zunehmend in die Lage, selbst Entscheidungen zu treffen, die früher Menschen vorbehalten waren. Die Digitalisierung des Gefechtsfelds ist dann nicht nur ein technischer Prozess, sondern der Beginn einer tiefgreifenden strukturellen Veränderung des Krieges und seiner Aspekte Geschwindigkeit, Skalierbarkeit, Einsatzflexibilität und der taktischen Fähigkeit, den Gegner zu überraschen. Am Ukrainekrieg ist zu beobachten, womit die Weltgemeinschaft bei künftigen Kriegen rechnen muss: mit mehr Robotern und technisch autonomen Kampfmaschinen wie zum Beispiel den Drohnen. Am Blutzoll, den die Menschen auch in einem solchen Krieg leisten, ändert das nichts.
»Drohnen sind längst zum Sinnbild und zur Schlüsseltechnologie für den Krieg der Zukunft geworden«, sagt Carsten Breuer, Generalinspekteur der Bundeswehr.16DochUnmanned Aircrafts (UA) und Unmanned Combat Aerial Vehicles (UCAV), unbemannte, teils bewaffnete Drohnen, spielen nicht erst seit dem Krieg in der Ukraine eine militärische Rolle. Unbewaffnet dienen sie der militärischen Aufklärung und tragen so zum gläsernen Gefechtsfeld bei, auf dem Sensoren allgegenwärtig sind und keine Bewegung des Gegners mehr unentdeckt bleiben soll. Bewaffnet gehen sie in den Kampfeinsatz. Es gibt sie für alle Flughöhen und in vielen Größen. Dennoch war es die Ukraine, die als erste Nation kleine ferngesteuerte Drohnen, die First Person View oder FPV-Drohnen, auf dem Gefechtsfeld einführte. Sie werden von einem Drohnenpiloten aus einiger Entfernung mit Joystick und »Goggles« – das sind Videobrillen, die dem Piloten in Echtzeit einspielen, was die Actionkamera der Drohne sieht – in ihr Ziel gesteuert. FPV-Drohnen sind kommerzielle Drohnen aus dem Spielzeughandel. Mit etwas Umbau werden sie mit einer Handgranate bestückt. Ohne den Umbau gilt die Drohne als ziviles Gut, das nicht der Waffenausfuhrkontrolle unterliegt. Als Spielzeug wird sie ins Kriegsgebiete exportiert und erst an der Front zur tödlichen Waffe aufgerüstet. »Erst wenn du eine solche Drohne auf dich zurasen siehst, verstehst du, wie gefährlich sie ist«, bezeugt ein Luftwaffenoffizier der Bundeswehr.
Das Fliegen von FPV-Drohnen erfordert viel Training und blitzschnelle Reflexe; deshalb gehören zu den weltweit besten Drohnenpiloten Kinder zwischen 9 und 15 Jahren. Sie haben den Flow und die Reaktionsfähigkeit, um FPV-Drohnen halsbrecherisch zu fliegen. Doch wenn stimmt, was eine europäische Drohnenschule kolportiert, verhält sich eine westliche Nation ethisch mindestens fragwürdig: Angeblich soll das amerikanische Verteidigungsministerium an Schulen herantreten und das Spiel mit Drohnen fördern, um Kinder möglichst früh an das Thema heranzuführen und später so über eine Armee von Drohnenpiloten verfügen zu können.17 In der Europäischen Union übrigens beträgt das Mindestalter für das Fliegen einer FPV-Drohne 16 Jahre (Artikel 9 der EU-Verordnung 2019/ 947).
Der militärische Vorteil, den die Ukrainer mit FPV-Drohnen zunächst erzielt haben, scheint indes erschöpft. Nach nur wenigen Monaten hatte Russland den ukrainischen Vorteil egalisiert, so die beschönigende Darstellung dessen, dass viele ukrainische FPV-Drohnenpiloten, die aus ihren Verstecken in Frontnähe heraus Drohnen fernsteuerten, von russischen Truppen gezielt getötet wurden. Denn inzwischen soll Russland über ein System verfügen, mit dem sich der Standort der Drohnenpiloten bestimmen lässt. Ist die Lehre daraus etwa die, Kampfdrohnen wären besser vollautonome präzise »Killerdrohnen«, damit das Leben menschlicher Drohnenpiloten verschont bleibt?
Den Menschen durch autonome Maschinen zu ersetzen heißt, Intelligenz in die Maschine zu bringen. Neben Kontextsensitivität, planerischem Können, Entscheidungs- und Umsetzungsfähigkeit gehört dazu auch die Fähigkeit, mit anderen Maschinen und Menschen zu kommunizieren und zu kooperieren. Diese zunehmende Digitalisierung menschlicher kognitiver Fähigkeiten, die im zivilen Leben vom Autofahren bis zur Produktionssteuerung alles verändert, macht auch vor der nationalen Sicherheit nicht Halt.
Faktisch treffen Militärmaschinen schon seit Jahrzehnten Entscheidungen entlang der Kill Chain, jenem Prozess, der bei einem Angriff durchlaufen wird. Sensoren wie Radarsysteme, Infrarot oder elektro-optische Erkennungseinrichtungen spüren potenzielle militärische Ziele auf. Verfahren der künstlichen Intelligenz erkennen, identifizieren und verfolgen ein Ziel und richten unterschiedliche Sensoren darauf aus, bis bestätigt ist: Das Ziel ist wirklich ein militärisches, und es ist ein Gegner. Auch die Waffe-Zielzuweisung kann automatisch erfolgen. Längst – und das meint: seit fast 30 Jahren – werden diese Schritte zuverlässig und ohne Eingreifen des Menschen in Maschinengeschwindigkeit ausgeführt, jedenfalls mit den Maschinen, die in technologisch hoch entwickelten Staaten hergestellt werden. Allein am »scharfen Ende« der Kette entscheidet noch der Mensch, ob er eine Waffe auslöst und ein Ziel bekämpft. Technisch gesehen ist die Automatisierung der Entscheidung, eine Waffe zu betätigen, also längst möglich, und wahrscheinlich ist sie für sich genommen nicht einmal die schwierigste aller Entscheidungen. Doch aus ethischen Gesichtspunkten schrecken westliche Staaten vor vollständiger technischer Autonomie zurück und behalten den Menschen in the loop oder on the loop mitten im Gefecht, auch wenn es für ihn lebensgefährlich wird. Denn zur Autonomie von Drohnen und anderen militärischen Plattformen gehört nicht nur die Entscheidung, ein Ziel zu neutralisieren. Viel schwieriger ist, was vor dieser letzten Entscheidung liegt: das Verständnis für den sozialen und emotionalen Kontext eines (Gegen-)Angriffs oder die Beurteilung der Folgen einer Bekämpfung. Was sich dem menschlichen Bewusstsein zeigt, das Was und Wie, das ein Mensch bei diesem Begreifen erfährt, muss nichts mit der objektiven Realität zu tun haben, und es ist sicher mehr als die Verarbeitung von Daten, wie sie Maschinen vollziehen.
Fast ebenso schwierig sind die Entscheidungen einer Maschine, sich während der Ausführung eines Auftrags taktisch klug zu verhalten. Militärtaktik oder die Einsatzführung von Truppen auf dem Gefechtsfeld gehört traditionell zu den grundlegenden Strukturen der Kriegsführung. Sie ist in den Streitkräften tief verwurzelt, gehört zu den militärischen Kernkompetenzen und ist Kunst und Wissenschaft zugleich. Sie umfasst die Planung und Ausführung von Aktionen, die dem Gegner einen militärischen Vorteil abringen sollen, sei es durch Überraschung, durch überlegene Feuerkraft oder durch die Kontrolle strategisch wichtigen Geländes. Zwar ziehen Militärs mit Doktrinen und Einsatzvorschriften ins Feld, aber vor Ort im eigentlichen Stellungsraum gibt es nie eine Mustervorlage dafür, was die beste Taktik unter den aktuellen Gegebenheiten ist. Denn jede Taktik muss Rahmenbedingungen respektieren: das Terrain, die verfügbaren Ressourcen und die Absichten des Gegners.
Das, so scheint es, sind zu schwierige Vorgaben für intelligente Maschinen. Doch die Fortschritte, die mit künstlicher Intelligenz bei strategischen oder taktischen Aufgaben erzielt wurden, sind beeindruckend.
Dennoch: Es sind gerade nicht die inzwischen weitverbreiteten Verfahren künstlicher Intelligenz, die Massendaten brauchen, um zu lernen, wie man einen Menschen anhand seines Gesichts, seines Verhaltens oder seiner Bewegungsmuster erkennt, oder um politische, soziale oder psychologische Profile von Personen anhand ihrer digitalen Fußabdrücke zu berechnen. Die Forschungsagentur des Pentagon, die Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA), bezeichnet solche Klassifizierer als »künstliche Intelligenz der zweiten Welle« und verweist die Verfahren damit schon jetzt in die Vergangenheit. Denn künstliche Intelligenz der zweiten Welle versteht keinen Kontext und kann nicht planen. Es fehlt ihr am Vermögen, die Konsequenzen ihrer Entscheidungen und ihres Handelns vorherzusehen und danach zu beurteilen, welche aller möglichen taktischen oder strategischen Entscheidung in einer Situation die beste ist. Erst die »künstliche Intelligenz der dritten Welle« verfügt über solche Fähigkeiten und ähnelt damit dem Menschen viel mehr als ihre Vorgänger, wenn sie lernt oder Entscheidungen gegeneinander abwägt. Ihr noch ein Langzeitgedächtnis zu geben, damit sie bei zeitlich ausgedehnten Missionen Erkenntnisse aus der Vergangenheit in ihre jüngsten Entscheidungen ausdrücklich einbezieht, ist Gegenstand aktuellster Forschung der letzten zwei, drei Jahre.
Während die DARPA technologisch als höchst fortschrittlich und kreativ gilt, sind ihre Arbeiten und Konzepte noch nicht sehr verbreitet oder gut verstanden. Im Fokus der Industrie steht stattdessen weiterhin die Produktion von Plattformen, dem »Stahl im Gelände« – Panzer, Raketen, Flugzeuge –, und das in kleiner manufaktureller Stückzahl, was nicht nur die Preise in Milliardenhöhe schnellen lässt.
Dieser konventionellen Verteidigungsindustrie stehen Technologie-Start-ups gegenüber, die nach der »Zeitenwende« in den lukrativen, aber hoch kompetitiven Sektor der Verteidigungsindustrie drängen, der sich erst noch zu einem Ökosystem miteinander kooperierender Akteure für eine gemeinsame Wertschöpfung entwickeln muss. Viele Start-ups bauen Drohnen, Drohnenschwärme oder künstliche Intelligenz. In Deutschland sind sie oft geführt von jungen Männern, für die die Wehrpflicht bereits ausgesetzt war. Nicht selten fehlt ihnen das Gespür für die Ernsthaftigkeit von nationaler Sicherheit und Verteidigung. Oft arbeiten sie an technischen Fragestellungen, die ihre Vorgängergeneration schon vor 20 Jahren gelöst hat, und erfinden das Rad neu, meist schlechter als die Pioniere künstlicher Intelligenz. Und wo es um Drohnen geht, steht zumeist nur die eine Sache im Vordergrund: Fliegen, Racing, Geschwindigkeit. Trotzdem lässt sich die Bundeswehr jüngst auf die Zusammenarbeit mit Start-ups ein – vor der »Zeitenwende« noch undenkbar. Manchmal, scheint es, schlägt dabei das Pendel nun zum anderen Extrem hin aus gegenüber den oft kritisierten staatlichen Beschaffungsprogrammen für Systeme, deren Bereitstellung Jahrzehnte in Anspruch nimmt und die zig Milliarden Euro verschlingen. Es muss schnell gehen, und dafür testet man auch einfachste Systeme ohne viel Intelligenz und damit mit beschränktem oder nur kurzfristigem taktischen Nutzen aus. Tatsächlich hat die Ukraine gezeigt, wie man kommerziell verfügbare und damit preiswerte Technologien ohne große Umschweife zur Verteidigung einsetzt. Die goldene Mitte liegt sicher zwischen Innovationsfreude und Pragmatismus.
Richtet sich der faktische Bedarf der Verteidiger stärker auf intelligente Maschinen, die den Menschen bei der Planung und Durchführung von Missionen unterstützen, konzentriert sich die Kommunikation im öffentlichen und politischen Raum darauf, das Ziel von Verteidigung sei die Bereitstellung eines »operationellen Lagebilds« und informationelle Überlegenheit auf dem Gefechtsfeld. Tatsächlich ist für die Erstellung eines Lagebilds – sei es für einen Politiker, sei es für einen General – künstliche Intelligenz der zweiten Welle höchst nützlich. Speziell Deutschland strebt die informationelle Überlegenheit an. Denn es sind gerade die Aufklärung und Lagebilder, die politisch akzeptiert sind und deren Berechnung nicht eigens in der Öffentlichkeit gerechtfertigt werden muss. Aus der Innensicht aber scheint es, als ob diese Kommunikation auf die Stimmung der Öffentlichkeit und die Medienlandschaft abgestimmt ist, um positive Resonanz zu erzeugen oder potenzielle Kritik abzuwehren.
Denn während gegen effektive Aufklärung und Lagebilder nichts einzuwenden ist, fragt es sich trotzdem, was informationelle Überlegenheit nützt, wenn ein Gegner wie in der Ukraine »Stahl im Gelände« auffährt. Ironischerweise verfügten die europäischen Staaten vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine über ein recht genaues Lagebild. Russische Truppenbewegungen waren per Satellit erkennbar, und die US-Regierung warnte Kiew schon Ende Januar 2022 »vor möglichem russischem Einmarsch im Februar«18. Allein, man wollte der Lage keinen Glauben schenken.
Hier Daten und Information, dort physische Präsenz – die beiden unterschiedlichen Verständnisse von Sicherheit und Verteidigung hängen mit der Auseinandersetzung zweier Systemalternativen aus Ost und West zusammen, wie er in einem der folgenden Kapitel geschildert wird. Wer ist wohl stärker? Der Datenkapitalismus amerikanischer Provenienz, der Massendaten zu profitabler Information verarbeiten kann, oder das osteurasische Gegenmodell, das von der Herrschaft über Land und Ressourcen lebt und dessen Panzer durch das Terrain eines souveränen Nachbarstaates rollen? Die Frage ist rhetorisch. Panzer üben Gewalt über Menschen aus, Daten und Informationen nicht. Strukturell ist das westliche System des Profits trotz seiner großen Probleme auf Frieden ausgerichtet und für eine Friedensordnung geschaffen. Jedes Nachdenken über den unsichtbaren Krieg der Zukunft ist somit zwangsläufig auch ein Nachdenken über Fragen der Ethik.
Auch für entwickelte Gesellschaften, die im Frieden leben, ist Zucker leider nicht gefährlicher als Schießpulver, vor allem, weil jeder Einzelne Zucker bewusst meiden kann, nicht aber den Krieg. Stimmen wie die des Militärhistorikers Yuval Noah Harari, gern gesehener Gast bei westlichen Staatschefs, entlarven auf den zweiten Blick nur eine trans- bis posthumanistische Ideologie, die den Menschen durch immer intelligentere Maschinen verbessern oder verdrängen will. Für sie ist der Mensch unvollkommen, weil der Mensch an sich eine ontologische Schädigung in sich trägt, die die menschliche Natur auf ihrer grundlegendsten Ebene betrifft. Auch deshalb arbeiten Technologen an einer Superintelligenz: Würde der Mensch zur Nummer zwei auf dem Planeten degradiert, wäre die Schöpfung endlich erlöst, denn die intelligente Maschine »kann alles, was der Mensch kann, nur besser«19. Doch bis diese vermeintliche Erlösung eintritt, ist es eben gerade jene tiefgreifende Störung des Menschen, die ihn erst zum Menschen macht und die Maschinen nicht zu eigen ist. Als direkte und unmittelbare subjektive Wahrnehmung von Werten als Phänomene menschlichen Bewusstseins beeinflusst sie menschliches Handeln und Urteilen. Und diese Wahrnehmung ist viel mehr als nur Datenerfassung und -verarbeitung. Liebe, Hoffnung oder Glück, als Phänomene gehören sie zum ausschließlich nur vom Menschen wahrnehmbaren Werteuniversum genauso wie Ungerechtigkeit, Willkür oder Diskriminierung.
Die Hoffnung, dass nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Warschauer Pakts der Same der Aufklärung und Werte wie Freiheit und Rechtsstaatlichkeit in anderen Kulturen, die sich gerade nicht auf die philosophische Tradition eines John Locke, Immanuel Kant oder Jean-Jacques Rousseau stützen, aufgehen würden, hat sich längst zerschlagen. Zur Freiheit bedarf es eines Fiat zur Verantwortung und eines Jaworts zu Werten wie Menschenwürde und Gerechtigkeit. Nur Fragmente dessen legitimieren die Macht der Herrschenden in Russland, China und Iran; es sind weder Fragmente von Freiheit noch von Menschenrechten, sondern nur jene der Sicherheit einer Nation und der Stabilität des Herrschaftssystems. Auch im 21. Jahrhundert stützt sich politische Macht jenseits demokratischer kollektiver Entscheidungsprozesse nur auf Leadership, auf einen einzigen starken charismatischen Führer. Putin, Xi oder Ali Chamenei herrschen autoritär, um allein die Kontinuität und Sicherheit ihrer Nationen zu gewährleisten. Doch aus Leadership erwächst schnell das Verlangen, andere zu dominieren und zu kontrollieren. Wer das Streben anderer nach Selbstbestimmung und Freiheit mit Gewalt unterdrückt, hat die Schwelle vom weisen Herrscher zum Tyrannen schon überschritten. Daher sind Kriege, auch jener in der Ukraine, stets die Frucht der Unfreiheit. Es ist nicht allein das politische und ökonomische Konzept des Neoimperialismus, gepaart mit Nationalismus, das Expansion und Machtsicherung auf Kosten anderer Nationen sucht und die universalen Werte von Freiheit, Respekt und Gerechtigkeit verletzt. Es sind auch negative Werte niederen Ranges wie Stolz, Rücksichtslosigkeit und Intoleranz20, die Kriege wie gegen die Ukraine entfesselt haben.
Natürlich sind auch Demokratien real und selten ideal. Dennoch fußen sie auf hohen Werten wie der Würde des Einzelnen und seiner Freiheit. In einer Demokratie sind diese Werte nicht nur theoretische Ideale, sondern real existierende Prinzipien, die durch gemeinsame – wenn auch unvollkommene – Entscheidungsprozesse verwirklicht werden. Wer demokratischen Werten folgt, zeigt Parteilichkeit gegenüber diesen hohen Prinzipien. Wo Recht und Ethik eine rote Linie für die Verteidigung ziehen, wird sie von demokratisch geführten Staaten grundsätzlich respektiert. An sie sollen sich nicht nur Soldaten und Soldatinnen, sondern auch die zunehmend intelligenten Maschinen des Gefechtsfelds halten.
Doch bislang fehlen hoheitlich gesetztes Recht oder völkerrechtliche Verträge, die regeln, was intelligente Verteidigungsmaschinen dürfen und was nicht. Am Rande sei notiert, dass die KI-Verordnung der Europäischen Union, in Kraft getreten am 1. August 2024, ihren Geltungsbereich für künstliche Intelligenz in Sicherheit und Verteidigung ausdrücklich ausschließt. Dessen ungeachtet befassen sich sowohl die NATO als auch die Europäische Union aktiv mit der Standardisierung von künstlicher Intelligenz in Systemen der Sicherheit und Verteidigung.
Besorgnis besteht weiterhin, wenn sich Nationen nicht denselben Prinzipien verschrieben haben wie demokratisch regierte Staaten. China hat in offiziellen Erklärungen und durch den Aufbau von Forschungszentren wie dem »AI Research Center« des Verteidigungsministeriums zwar signalisiert, dass es den ethischen Umgang mit künstlicher Intelligenz in militärischen Anwendungen ernst nimmt. Doch Russland unternimmt erhebliche Anstrengungen, künstliche Intelligenz für militärische Zwecke zu entwickeln, wobei ethische Überlegungen in den Hintergrund treten und die militärische Schlagkraft vorrangig ist. Amerikanische Think Tanks kritisieren, dass es Russland nicht gelingen könnte, die volle Kontrolle über Waffensysteme zu behalten, in die künstliche Intelligenz integriert ist, speziell nicht entlang der nuklearen Befehlskette.
Wer sich nicht an Regeln hält, könnte der Schöpfer der grausamsten Waffe der Zukunft sein. Hinter ihm, so scheint es dem Pessimisten, fällt derjenige zurück, der sich regelkonform verhält. Verteidigung könne sich dann erst gar nicht lohnen. Doch die wahre Stärke einer politischen Gemeinschaft liegt nicht in der rücksichtslosen Verfolgung von Herrschaftsinteressen, sondern in der Treue zu den Prinzipien der Menschenwürde und der Gerechtigkeit. Sie zu verteidigen, ist Pflicht und der eigentliche Ausdruck politischer Freiheit. Wird das Regelwerk der Menschlichkeit aufgegeben, kann es keinen wahren Fortschritt geben, sondern nur einen Niedergang in die Barbarei. Deshalb ist es nicht die Regelkonformität, die das Überleben der Zivilisation gefährdet, sondern im Gegenteil die Abkehr von den moralischen Grundlagen, auf denen diese Zivilisation aufgebaut ist. Werte, so scheint es, sind die letzten Dinge, die den Raum für Freiheit und das gemeinschaftliche Handeln schaffen. Wer sie aufgibt und es um der Verteidigung willen den Aggressoren dieser Zeit gleichtun will, zerstört den Raum, in dem Pluralität und demokratisches Handeln möglich sind.
Politik weltweit hat sich heute dahin entwickelt, dass sich kein Staat mehr sicher fühlen kann. Die Antwort der Nationen auf den Mangel an Sicherheit sind erneute Aufrüstung und Abschreckung. Dabei soll auch den neuen Technologien und ihren Möglichkeiten – vom Informationsraum bis in den Orbit – bei künftigen Sicherheitsarchitekturen eine prominente Rolle zukommen. Mir selbst, aufgewachsen in Zeiten des Kalten Krieges mit seiner stets latenten Bedrohungslage, bleiben nur Wunsch und Hoffnung, dass auch heute beherrschbar bleibt, was im Streben nach militärischer Dominanz mit neuen Technologien gestaltet wird, und dass sich politische Führer weltweit mit derselben Überzeugung auch für friedliche Alternativen wie den Dialog mit anderen Nationen und die internationale Zusammenarbeit sowie den Schutz von Bevölkerung und Schöpfung bei gleichzeitig weniger ausgeprägter Machtpolitik einsetzen. Nur dann kann Frieden für alle auch in einer sich verändernden Weltordung möglich werden. Nur dann bewahren wir die Bedingungen für grundlegenden Fortschritt, für die Entfaltung menschlicher Kreativität und für die Freiheit, unsere geistigen und materiellen Ressourcen für die gesellschaftliche Ordnung, für mehr Wissen und höhere Erkenntnis und für die volle Entfaltung von Werten einzusetzen.
Freising, im Oktober 2024
Yvonne Hofstetter
Code als Waffe
Moderne Kriege sind anders, in manchen Fällen so sehr,dass die alten NATO-Handbücher auf den Müll gehören.
JUDY DEMPSEY
Der Angeklagte Marcus Hutchins alias Malwaretech hat sich wissentlich mit dem Angeklagten N. N. verschworen und mit diesem vereinbart, die folgende Straftat gegen die Vereinigten Staaten von Amerika zu begehen: innerhalb eines Jahres vorsätzlich Computerprogramme, -codes und -befehle auf zehn oder mehr geschützte Computer zu übertragen, um Schaden zu verursachen.«21
So lautet die Anklage des United States District Court, Eastern District of Wisconsin, Aktenzeichen 17-CR-124, gegen den 23-jährigen britischen Staatsangehörigen Marcus Hutchins, ein Blogger zum Thema Schadsoftware und Mitarbeiter der US-amerikanischen Firma Kryptos Logic.
Auf dem Heimweg von der Teilnahme an den beiden amerikanischen Hackerkonferenzen Black Hat Briefings und DEF CON im August 2017 wartet der junge Mann in der Lounge des Flughafens Las Vegas McCarran International gerade auf seinen Rückflug nach Großbritannien, als er festgenommen, aus dem Flughafen eskortiert und zur FBI-Außenstelle Las Vegas geschafft wird. Dort konfrontiert man ihn mit dem Vorwurf der Verschwörung: Er habe den Banktrojaner Kronos, der Zugangsdaten zu Bankkonten stiehlt, programmiert und für wenige Tausend US-Dollar verkauft.
Was sich in die juristisch-trockene Sprache der Anklageschrift kleidet, die selbst nur Behauptungen aufstellt, aber keine Beweise vorlegt, sollte dem jugendlich wirkenden Programmierer 2019 entgegen den Erwartungen nur eine einjährige Bewährungsstrafe unter Aufsicht einbringen. Schon im Teenageralter soll er als Black-Hat-Hacker ohne ethische Standards im Auftrag Dritter tätig gewesen sein, dann aber um das Jahr 2013 zu den White-Hat-Hackern, den »guten« Hackern, gewechselt haben. Aber sicher ist man sich nicht.
Je nach Beobachter pikant, verstörend oder strategisch unklug an der Anklage der amerikanischen Justiz war, dass es ausgerechnet Marcus Hutchins gewesen ist, der im Mai 2017 einen »Notausschalter« im Programmcode der Erpressersoftware WannaCry gefunden und betätigt hatte. Rein zufällig sei das geschehen, sagen die einen. Nein, er kannte den Kill Switch nur, weil er die Erpressersoftware mitentwickelt habe, behauptete hingegen das amerikanische FBI. Monate später sollte sich herausstellen, dass Marcus Hutchins, der seine Unschuld beteuerte, die Wahrheit gesagt hatte.
»Es ist offiziell«, titelte das Wall Street Journal im Dezember 2017. »Nordkorea steckt hinter dem Cyberangriff mit WannaCry.«22 Ein Staat und seine Hacker hatten zahlreiche andere Staaten angegriffen.
Doch den Vorwurf, er sei für den Banktrojaner Kronos verantwortlich, konnte Hutchins nicht entkräften. Im April 2019 bekannte er sich schuldig, die Schadsoftware programmiert und vertrieben zu haben. Immerhin: Die restlichen Anklagen wurden fallen gelassen.
»Uuups, Ihre Daten wurden verschlüsselt! Überweisen Sie den Gegenwert von 300 US-Dollar in Bitcoin an die folgende Adresse.«23 Was folgt, ist ein langer Schwanz aus Ziffern und Buchstaben – und etliche getätigte Überweisungen an die Erpresser. Im Sturm hatte sich die Erpressersoftware WannaCry seit dem frühen Morgen des 12. Mai 2017 auf dem ganzen Globus ausgebreitet und 99 Länder infiziert, darunter auch China und Russland, regelmäßig die ersten Verdächtigen, denen man die Urheberschaft von Hackerangriffen unterstellt. Die Schadsoftware nützt eine Sicherheitslücke im Microsoft-Betriebssystem aus, verschlüsselt wichtige Daten des infizierten Computers und gibt den Zugriff auf die Daten erst nach Zahlung eines Geldbetrags wieder frei.24
Lange war die betroffene Microsoft-Sicherheitslücke nur der US-amerikanischen Heimatschutzbehörde NSA bekannt. Nicht nur die NSA, auch andere westliche Sicherheitsbehörden sammeln Sicherheitslücken von Computerprogrammen – im Hackerjargon Zero Days genannt –, um bei Bedarf in jeden Rechner weltweit einbrechen zu können. Normalerweise sind Sicherheitslücken strikt geheim. Doch mit der Geheimhaltung war es schnell vorbei, als die NSA selbst Opfer eines Datenklaus wurde. Eine Hackergruppe mit dem Namen Shadow Brokers, die die NSA erfolgreich überrumpelt hatte, machte die gestohlene Information über die Microsoft-Sicherheitslücke im April 2017 im Internet öffentlich bekannt. Es dauerte nur wenige Tage, und WannaCry trat seinen Raubzug rund um die Erde an.
Von WannaCry geschädigt waren zunächst britische Krankenhäuser, dann auch das US-Logistikunternehmen FedEx, russische Banken, das russische Innen- und Gesundheitsministerium, die staatliche russische Eisenbahn und das zweitgrößte Mobilfunknetz Russlands. In Deutschland wurde schnell für jeden Bahnreisenden offenbar, dass auch die Bahn AG Opfer war, so prominent prangte auf Zugzielanzeigen deutscher Bahnhöfe die Erpresserbotschaft.
Microsoft zeigte sich besorgt, machte aber gleichzeitig sorglose und leichtsinnige Nutzer mitverantwortlich für den entstandenen Schaden. Denn außer der NSA war auch Microsoft selbst auf die Sicherheitslücke in seinen Betriebssystemen gestoßen – und hatte seinen Nutzern schon im März 2017 eine Softwarekorrektur geliefert, die die Lücke schließen sollte. Nur: Millionen Nutzer hatten ihre Rechner nicht aktualisiert und blieben weiter angreifbar. Schlimmer noch, zahlreiche Behörden nutzten seinerzeit für kritische staatliche Infrastrukturen noch ein veraltetes, vom Softwarehersteller seit April 2014 nicht weiter gepflegtes Betriebssystem: Windows XP.
Der erpresserische Angriff vom Mai 2017 offenbart ein Dilemma. Es ist die Ratlosigkeit der öffentlichen Hand bei der Beschaffung von Softwaresystemen. Bei der Digitalisierung kritischer Infrastrukturen – Verkehr, Energie, Verteidigung, Gesundheit, Ernährung, Finanzmärkte oder die staatliche Verwaltung – stehen die Behörden vor der Frage: Make or Buy? Soll man die Software für den Betrieb von Panzern, Atomkraftwerken oder Krankenhäusern bei Google, Microsoft, Amazon, SAP & Co. einkaufen oder lieber selbst bauen? Die Fachwelt spricht hier von Commercial off-the-Shelf, also von kommerzieller Fertig-Software, kurz: COTS. Auf den ersten Blick ist der Kauf von der Stange immer billiger, weil niemand nachbauen will, was ein anderer längst erfunden hat. Aber es gibt eine große Einschränkung. Standardsoftware ist sehr unsicher. Sicherheitslücken werden schnell weltweit bekannt und auch ausgenutzt. Die Folgen von Cyberangriffen auf den Betrieb kritischer Infrastrukturen können verheerend sein, denn obligate Sicherheitsstandards gibt es bisher keine.25
Was die Sache zusätzlich erschwert: Oft ist für die Digitalisierung kritischer Infrastrukturen oder für Kriegsgerät eine Zulassung nötig, so etwas wie ein Pendant zum TÜV-Siegel. Normalerweise erfolgt eine solche Zertifizierung für eine im Detail spezifizierte Zielplattform, etwa ein Waffensystem, ein Messsystem oder ein Röntgengerät samt Software. Wird eine neue Softwareversion geladen, um die Zielplattform zu aktualisieren, entfallen genau aus diesem Grund häufig sowohl die Betriebserlaubnis als auch Garantien für andere Computerprogramme, die mit der früher zertifizierten Zielplattform integriert waren. Zeiten, in denen wir, die Konsumenten, aufgefordert werden, uns unablässig und in Echtzeit zu erneuern, sind deshalb schlechte Zeiten für den Betrieb kritischer Infrastrukturen des Staates, die über eine Lebensdauer von 20 Jahren und länger verfügen. Bislang ist unklar, wie und ob der gordische Knoten lösbar ist, der durch den Konflikt zwischen zwei inkompatiblen Paradigmen entsteht: zwischen der geforderten und aus Sicherheitsgründen auch notwendigen Daueraktualisierung und der Langlebigkeit gemeinschaftlich genutzter Infrastrukturen.
Dennoch bleiben die Firma Microsoft und mit ihr viele Technologiegiganten dabei: Computersicherheit obliegt auch der Verantwortung des Nutzers, der (moralisch) verpflichtet sei, seine Rechner stets auf neuesten Stand zu bringen. Was die Haftung für einen sicheren Rechnerbetrieb betrifft, sehen die Hersteller also ihren Kunden gleichermaßen in der Pflicht – immerhin läge es in dessen Macht, seine betriebliche Sicherheit selbst zu beeinflussen. Dass aber insbesondere staatliche Nutzer ein zertifiziertes System nicht ohne Weiteres aktualisieren können, ignorieren die Anbieter, während ebendiese Nutzer nur allzu gerne vergessen, wie wartungsintensiv ihre digitalisierte Infrastruktur tatsächlich ist.
Dass Fragen rund um die Sicherheit digitalisierter Infrastrukturen nicht leichtfertig auf den Nutzer abgewälzt werden sollten, liegt darin begründet, dass Unternehmen wie Regierungen auf die digitalen Angebote Dritter dringend angewiesen sind. Millionen von Nutzern gebrauchen die Rechnerwolken von Technologiegiganten wie Amazon oder IBM. Ihre Sicherheit, ihre Verfahren, ihr Know-how hängen sämtlich davon ab, dass die Betreiber von Rechenzentren ihre Clouds gegen Hackerangriffe absichern. Das kann aber nie ganz gelingen. Jeder Softwarecode, auch der in Rechenzentren, hat Fehler oder Lücken, die sogenannten Bugs. Softwarefehler, die Zugriffe auf Rechner ermöglichen, sind Gold wert und werden, sofern sie noch nicht öffentlich bekannt sind und sich noch niemand auch nur einen Tag lang mit ihrer Korrektur beschäftigt hat (daher der Name Zero Day), mit bis zu sechsstelligen Dollarbeträgen gehandelt.
Microsoft erhebt aus diesem Grund nachvollziehbare Vorwürfe gegen die NSA. Der amerikanische Staat hortet Sicherheitslücken kritischer Computerprogramme, kann sie aber selbst nicht geheim halten. In den Händen von Datendieben würden Sicherheitslücken so zu zerstörerischen Waffen, erklärt Brad Smith, Microsoft Chief Legal Officer, ja sogar zu Massenvernichtungswaffen. Dem stimmt auch Michael Rogers, der frühere NSA-Chef, zu. Computerwürmer und Virensoftware, so schlägt er vor, sollten dem Kriegsvölkerrecht unterliegen: »Cyberwaffen sind nur eine andere technische Möglichkeit, um in einigen Fällen dieselben Schäden hervorzurufen wie konventionelle Waffen.«26
»Der Diebstahl der Microsoft-Sicherheitslücke bei der NSA ist mit dem Diebstahl einiger Tomahawk-Raketen beim US-amerikanischen Militär vergleichbar«, schlussfolgert Brad Smith ähnlich entschieden.27 »Der jüngste Angriff stellt ein völlig unbeabsichtigtes und höchst beunruhigendes Bündnis zwischen den beiden schwerwiegendsten Formen weltweiter Sicherheitsbedrohungen dar – den staatlichen Aktionen einerseits und kriminellem Vorgehen andererseits.«28
Wenn im 21. Jahrhundert zur Waffe wird, was nicht zum klassischen Waffenarsenal früherer Jahrzehnte gehört, weil es sich um neue Technologien handelt, ist es Zeit zu reflektieren, wie sich die Natur des Krieges durch die Digitalisierung verändert und unser Verständnis von Krieg und Frieden fundamental infrage stellt.
Krieg gehört zur Grunderfahrung des Menschen und ist »so alt wie die dokumentierte Menschheitsgeschichte«29. Die Gründe militärischer Gewalt sind vielfältig. Aus Misstrauen oder der Angst vor eigener Machtlosigkeit streben die Stärksten, die Fittesten, nach Macht.30 Neben dem Sozialdarwinismus sind es wirtschaftliche Zwänge, geografische Ansprüche, militärstrategische Überlegungen oder technologische Entwicklungen, die das auslösen, was wir als »Krieg« bezeichnen, und zu einer sehr besonderen sozialen und auch rechtlichen Beziehung zwischen Menschen führen. Krieg gilt als fundamentales soziales System und als »prinzipielle strukturierende Kraft der Gesellschaft, um Wirtschaftssysteme, politische Ideologien und Rechtssysteme zu erhalten«31.
Krieg, so formulierte einst der Generalmajor und Militärtheoretiker Carl von Clausewitz (1780–1831) zu Beginn des 19. Jahrhunderts, sei die »Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln«32. Nach geltendem Kriegsvölkerrecht erfolgt diese Fortsetzung von Politik durch Kriegserklärung eines Staates gegenüber einem anderen Staat. Damit ist Krieg rechtlich als zwischenstaatlicher Vorgang definiert. Im Fall eines solch interstaatlichen Konflikts spricht das Völkerrecht von einem internationalen bewaffneten Konflikt – eben einem bewaffneten Konflikt zwischen Nationen.
Politik und Krieg sind ein ungleiches Paar, ein Entweder-oder, das dennoch unzertrennlich zu sein scheint. Beide nehmen Einfluss auf den Willen von Menschen,33 und beide verfolgen denselben Zweck: Menschen zu einem gewünschten Verhalten zu bewegen. Doch die Methoden unterscheiden sich grundlegend: Der Krieg arbeitet mit Instrumenten militärischer Gewalt, die Politik mit schierer Überzeugungskraft.
Tatsächlich bestätigen Veteranen die klare Unterscheidbarkeit von Krieg und Politik. Der Unterschied, versichern sie, läge in der Wahl der Mittel, sodass Krieg nicht einfach Politik unter einem anderen Namen sei.34 Ein Messer an der Kehle zu spüren habe eben eine ganz andere Überzeugungskraft als eine politische Debatte zur Meinungsbildung. Denn wenn der Krieg auch keine rechtsfreie Zone ist, weil die Grundsätze der Humanität immer zu beachten sind (und dennoch so oft mit Füßen getreten werden), gilt im Krieg faktisch das Recht des Stärkeren, das kein Leben schont. Ein Kombattant darf einen anderen Kombattanten straflos töten, denn eine Sanktion für eine solche Tötung ist nicht vorgesehen.
In Zeiten politischer Machtausübung gelten andere Regeln, und die Tötung eines anderen Menschen ist immer strafbewehrt. Doch die Androhung rechtlicher Sanktionen bedeutet keinen Zwang zur Unterordnung wie während eines kriegerischen Konflikts. Vielmehr garantieren die normativen Systeme politischer Herrschaft den so Beherrschten Freiheit, weil sich jeder aus freien Stücken entscheiden kann, ob er geltende Normen befolgen oder lieber dagegen verstoßen will. Worauf Politik hofft, ist also die Freiwilligkeit der Unterordnung der Beherrschten. Daher kann sie auf physischen Zwang verzichten. Deshalb trennt auch Hannah Arendt, die große politische Theoretikerin des 20. Jahrhunderts, säuberlich zwischen (politischer) Macht und (militärischer) Gewalt: »Macht und Gewalt sind Gegensätze: wo die eine absolut herrscht, ist die andere nicht vorhanden.«35 Dieser Dichotomie, die sich prinzipiell auf den Vers aus Goethes Erlkönig reduzieren lässt – »Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt« –, hängen im Kern auch heute noch zahlreiche Politiker und Militärstrategen an.
Weil es aber auch in der Politik nicht bei einem einmal erreichten Zustand bleibt, weil »gesamtheitliches Wollen nicht ein für alle Male im Voraus hergestellt und gegeben ist, (…) die Macht sorgfältig erst zu bilden und immer wieder neu zu gliedern ist, (…) rein mechanisch laufende Staatstätigkeit überhaupt erst ausgeschlossen ist«36, muss auch die Politik Macht immer wieder neu gewinnen und legitimieren. Wo der politische Prozess von Überzeugung und Normgebung nicht zum Erfolg führt, haben nicht wenige Machthaber beide Wege beschritten und zur politischen Machterlangung nicht allein auf ihre Überzeugungskraft, sondern auch auf die technischen Werkzeuge militärischer Gewaltausübung gesetzt, wie es Mao Zedong zynisch auf den Punkt bringt: »Macht entspringt einem Fass Schießpulver.«37 »Alle Politik ist ein Kampf um die Macht, und die ultimative Machtausübung ist die [militärische] Gewalt«, räumt deshalb auch der Soziologe C. Wright Mills völlig zutreffend ein.38
Mit Friedensverträgen werden Kriege wieder beendet. Frieden, so die Auffassung der Militärtheoretiker, ist die Beendigung eines Krieges und damit ein Endzustand, den es zu erreichen gilt. Frieden und Krieg stünden im Wechsel zueinander; sie bildeten einen Zyklus, bei dem auf einen Krieg der Frieden folge und auf den Frieden der Krieg, auch wenn die Zyklen von hoher zeitlicher Unregelmäßigkeit zeugten.
Nach unserem europäischen Verständnis ist der Frieden ein Wert, den es zu erhalten und zu vertiefen gilt, damit gesellschaftlicher Fortschritt möglich wird. Frieden, so glauben wir Europäer, müsse zu immer tieferem Frieden führen. Frieden in Europa ist die politische Idee der Europäischen Union, wofür sie 2012 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.
Heute, mehr als ein Jahrzehnt später und nach Konflikten wie in Syrien, im Jemen oder in Afghanistan scheint offenkundig, dass die Idee, Frieden müsse immer weiter vertieft werden, wohl eine sehr europäische Vorstellung ist. Insofern ist die Ablehnung militärischer Gewalt auch eine kulturell geprägte, ethnozentrische Sicht auf die Kriegsführung. Denn für andere Kulturen gilt keineswegs, wozu sich Europa so sehr verpflichtet fühlt. Das hat der Außenminister des 3. Kabinetts von Angela Merkel, Sigmar Gabriel, bei seiner Rede anlässlich der 54. Münchner Sicherheitskonferenz 2018 so ausgedrückt: »Als einziger Vegetarier werden wir es in der Welt der Fleischfresser verdammt schwer haben.«39
Dabei sei Frieden dauerhaft zu stiften, wenn man nur die Grundsätze der Vernunft befolge, meinte schon Immanuel Kant in seiner Schrift Zum ewigen Frieden aus dem Jahr 1795. Tatsächlich strahlt Kants Schrift bis in das 21. Jahrhundert hinein, weil sie der Charta der Vereinten Nationen, die sich für ein ganz ausdrückliches Gewaltverbot ausspricht, zugrunde gelegt ist.
Auf ebenjene Karte der Vernunft haben die Vereinigten Staaten nach Ende des Zweiten Weltkriegs gesetzt: dass der Krieg nicht neben dem Handel bestehen kann. Oder anders gesagt: Wer kauft, schießt nicht. Ungeachtet der Kosten und Investitionen in Billionenhöhe hatten sich die Amerikaner bereit erklärt, in die Rolle der globalen Ordnungsmacht zu schlüpfen. Sie wollten »sicherstellen, dass der Welthandel blühte und die Vereinigten Staaten nicht erneut in große regionale zwischenstaatliche Konflikte wie die beiden Weltkriege hineingezogen werden würden«40, auch wenn das nicht immer zum wirtschaftlichen Vorteil der Vereinigten Staaten gereichte.
Die Vorstellung, dass Kriegszustände enden und dem Frieden weichen, beseelt die meisten Menschen noch heute. Wenn die Gewalt endet und Frieden herrscht, so die Hoffnung, kann sich politische Macht entfalten. Nur hat schon Hannah Arendt richtig festgestellt: Auf den Zweiten Weltkrieg folgten der Kalte Krieg mit seiner Politik von Wettrüsten und Abschreckung und die Schaffung des militärisch-industriellen Komplexes in den Vereinigten Staaten.41 Wer von Arendt inspiriert weiterdenkt, muss konstatieren: Auf den Kalten Krieg, in dem die atomaren Waffen schwiegen, folgte der Krieg gegen den Terror und jetzt der »Cyberkrieg«. Dann wäre der Zustand, mit dem wir täglich leben, kein vollkommener Frieden, sondern ein täglich bedrohtes Stillhalten, das sich nie ganz sicher sein kann vor einer Eskalation. Dann sind wir zwar nicht unmittelbar physischer Gewalt ausgesetzt, aber leben mit dem ständigen Gefühl einer diffusen Bedrohung und der Möglichkeit, die Gewalt könnte sich eines Tages unerwartet körperlich manifestieren und jeden von uns treffen. Dann wären Macht und Gewalt, Frieden und Krieg doch nicht trennscharf gegeneinander abgrenzbar. Stattdessen lebten wir in einem diffusen Dauerzustand zwischen beiden Situationen – eben im Kontinuum einer hybriden Lage.
Der Gedanke, dass an die Stelle eines Dualismus von Krieg und Frieden ein kontinuierlicher Vorgang ohne klare Abgrenzung zwischen verschiedenen Zuständen, zwischen Beginn und Ende, Freund und Feind, Kombattant und Nichtkombattant, getreten sein könnte, ist besonders für die Deutschen und ihre europäischen Nachbarn nicht leicht fassbar. Sie haben die bittere Erfahrung gemacht, dass Krieg in keinem Fall zum Ziel führt. Gewalt erzeugt Gegengewalt; und Krieg produziert unermessliche Kosten und unsagbares Leid. Vor allem die Generation der 1968er lehnte sich gegen den Krieg auf. Für die Folgen der Rebellion dürfen wir noch heute dankbar sein: Die Bürgerrechte, die Demokratie und der Rechtsstaat blühten auf, genauso wie die Wirtschaft und die Innovationskraft in der westlichen Welt.
Tiefere globale Verbundenheit, Technologien ganz zum Wohle der Menschheit, eine bessere Gesundheit, ein längeres Leben und vor allem mehr Demokratie und Frieden, der Kriege durch einträchtigen Welthandel zwischen den Nationen vollends ersetzen werde, lauteten auch die Versprechen von Kaliforniens Technologieelite.42 Heute würde ihr wohl niemand mehr glauben. Tatsächlich leitet jede technologische Ära ihre ganz eigene waffentechnische Entwicklung und damit auch Form der Kriegsführung ein.43 Der Erste Weltkrieg wurde industriell geführt, im Zweiten Weltkrieg jubelte Deutschland über den Propagandakrieg des Josef Goebbels in den ersten Radios, und seit der Aufrüstung mit Nuklearwaffen im Kalten Krieg droht der Untergang der ganzen Menschheit, kämen sie zum Einsatz.
Dass die Digitalisierung Angriffe auf demokratische Staaten erst zulässt, ist inzwischen eindrucksvoll bewiesen. Noch stehen wir am Anfang der digitalen Ära und verstehen nicht vollständig, welche Formen der sozialen Organisation sie noch für uns bereithält, wenn unbestimmte Gegner, heimlich oder offen, anonym oder erkennbar, unser Leben, unsere Wirtschaft oder Regierungen infizieren, manipulieren oder beschädigen. Auch wenn wir die Chancen der Digitalisierung nicht vertun möchten: Ein Unbehagen bleibt.
Dem Verständnis von Krieg und Politik, ob nun als unterschiedliche Phasen oder Kontinuum begriffen sowie in der bisherigen Auslegung des Kriegsvölkerrechts, liegt die landläufige Vorstellung zugrunde, dass es nur der Staat ist, der über ein Machtmonopol verfügt. Jenes Machtmonopol souveräner Staaten war es, das in den vergangenen 75 Jahren die Herstellung von Sicherheit gewährleistet hat.44
»Machtmonopol«, so fasst es der ehemalige Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Botschafter a.D. Wolfgang Ischinger, in einem einzigen Satz zusammen, »bedeutet, dass der Staat seinen Bürgern vorschreibt, wer Gewalt anwenden darf.«45 Gewaltanwendung muss legitimiert sein und staatlicher Kontrolle unterliegen. Das ist eine Kernforderung des Rechtsstaatsprinzips. Nur deshalb wird »die Form von Politik, die für uns selbstverständlich ist, möglich«46.
Im Krieg ist es das Militär, dem die Befugnis zur Gewaltanwendung erteilt ist. Das entspricht der sozialen Dreiecksbeziehung, der Trinität von Gesellschaft, Staat und Streitkräften, wie sie der Militärtheoretiker Clausewitz reflektiert hat. Noch heute lehnen sich viele Staaten an die Struktur dieser trinitarischen Beziehung an. Auch die Deutschen haben in Wahlen die Macht des Souveräns an ihre Berufspolitiker abgetreten und damit gleichzeitig den Auftrag erteilt, den Frieden der Nation zu erhalten und für die Wahrung innerer und äußerer Sicherheit als öffentliches Gut zu sorgen. Die Bundesregierung wiederum überträgt diese Aufgabe je nach Schwerpunkt an die Bundeswehr, an die Polizei und die sonstigen Sicherheitsbehörden. Es sind die Soldaten und Soldatinnen oder auch Polizeibeamte, die unter bestimmten rechtlichen Voraussetzungen zur Ausübung von Gewalt befugt sind, etwa weil sie unter Waffen stehen dürfen.
In den Kontext des staatlichen Machtmonopols gehört auch, dass nicht nur der Krieg, sondern auch Diplomatie zwischen Staaten stattfindet.
»Bei der Gründung der Vereinten Nationen im Jahr 1945 ist man noch davon ausgegangen, dass die Regierungen im Zaum gehalten werden und sich an das Völkerrecht halten müssten«, fährt Wolfgang Ischinger in seinen Überlegungen zum staatlichen Machtmonopol fort.47 Staatliche Bestrebungen bei den Vereinten Nationen, der ständigen Abrüstungskonferenz in Genf oder bei der Münchner Sicherheitskonferenz haben tatsächlich zu einem Abflauen interstaatlicher Kriege geführt, denn die letzte Kriegserklärung nach geltendem Kriegsrecht wurde im Zweiten Weltkrieg ausgesprochen. Doch die täglichen Nachrichten sprechen von einer anderen Realität. Krieg mutiert wie ein Virus, damit er überlebt. Schon ohne den digitalen Fortschritt haben sich Kriege in den letzten Jahrzehnten zu »Neuen Kriegen«, wie sie der deutsche Politikwissenschaftler Herfried Münkler nennt, gewandelt.48 Wolfgang Ischinger kann auch dieses Phänomen in einen knappen Satz fassen: »Sie finden in der Liste der Konflikte des 21. Jahrhunderts keinen einzigen, der dem Muster eines interstaatlichen Krieges entspricht. Es handelt sich immer nur um Konflikte innerhalb einzelner Staaten.«49
Alle nach dem Zweiten Weltkrieg geführten Kriege wurden ohne formelle Kriegserklärung geführt, vom Koreakrieg über den Vietnamkrieg bis hin zum Syrienkrieg. Zwar hatten und haben sie auch wegen ihrer Stellvertretereigenschaft große internationale Relevanz. Aber trotzdem gilt: »Im Sinne der Genfer Konvention ist nicht jeder bewaffnete Konflikt, der eine internationale Dimension hat«, ein internationaler bewaffneter Konflikt.50 Das Völkerrecht unterscheidet also klar zwischen einem interstaatlichen Konflikt und sonstigen nicht internationalen bewaffneten Konflikten,51 also jenen Konflikten, die nicht interstaatlich erklärt sind und dennoch grenzüberschreitend geführt werden können.52
Nun definiert Herfried Münkler die Neuen Kriege dergestalt, dass sie »nicht durch Regierungen ausgelöst [werden], sondern durch nicht staatliche Akteure. Dementsprechend kämpfen sie meist nicht offen, sondern verfolgen eine Strategie der Asymmetrierung.«53
Noch sieht es nicht danach aus, aber wir nähern uns dem an, was auch die Konflikte des digitalen 21. Jahrhunderts charakterisiert: Die Digitalisierung versetzt Einzelne, kleine Gruppen oder konventionell schlecht gerüstete Staaten in die Lage, selbst hoch entwickelte Nationen mit großem Erfolg und hoher Zerstörungskraft bei gleichzeitig geringen Kosten anzugreifen. Nordkorea kann die ganze Welt digital erpressen, obwohl seine Wirtschaft schwach, seine Energieversorgung störungsanfällig und die Nation insgesamt kaum digital vernetzt ist.