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"Finde die sieben verlorenen Perlen und du wirst verstehen, was dem Islam heute fehlt." Was macht ein junger Mann, der mit den Erklärungen seiner Lehrer unzufrieden ist? Er stellt kluge Fragen und forscht selbst! So wie Rayyan, der in der Schule und in der Moschee hört, dass der Islam einst eine Hochkultur war und Muslime führend in Wissenschaft und Forschung. Doch die aktuellen Nachrichten zeigen ein anderes Bild, geprägt von Armut, Unterdrückung und Rückständigkeit. Rayyan begibt sich auf die Suche. Ein Traum führt ihn nach Mekka. Dort begegnet er dem geheimnisvollen Scheich Hasan, der ihm eine muslimische Gebetskette schenkt. Doch was hat es mit den sieben verlorenen Perlen auf sich? - Poetisch, empathisch und Augen öffnend: eine Reise zu den Wurzeln der islamischen Kultur - Aufrichtigkeit, Bescheidenheit, Verantwortung: Welche Werte vermittelt der Koran? - Die Zukunft des Glaubens: Wie kann eine aufgeklärte islamische Religion aussehen? - Für Leserinnen und Leser von Jorge Bucay und von "Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran" Ein anderer Islam ist möglich – diese Erzählung zeigt, wie das gelingen kann! Mouhanad Khorchide ist Professor für Islamische Religionspädagogik und Leiter des Zentrums für Islamische Theologie in Münster. Sein mitreißend erzähltes Buch zeigt die Weltreligion in einem ganz anderen Licht, als sie sonst oft wahrgenommen und vermittelt wird. Im Mittelpunkt steht die Frage, was konkret nötig ist, um ein restriktives Gottesbild zu überwinden, das von Intoleranz, Gewalt und fehlenden Menschenrechten geprägt ist. Mit seiner Islamkritik wendet er sich gegen einen politischen Islam, der Koran und Scharia als Mittel zur Unterdrückung missbraucht. "Rayyans Reise" ist eine Einladung, den Islam als Religion der Barmherzigkeit und Menschenliebe zu entdecken.
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Mouhanad Khorchide
Rayyans Reise zu den Schätzen des Islams
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Der Islam war einst eine Hochkultur
Der Multazam – Wo sich Vernunft und Geist, Reflexion und Spiritualität treffen
Scheich Hasan
18:60
Zwischen Riad und Beirut – Zwischen Fundamentalismus und Pluralismus
Die erste Perle: „Rauschende Nächte in Wien“
Religiös sein bedeutet, Hand der Liebe zu sein
Gott glaubt an den Menschen
Die zweite Perle: Doppelstandards als Herausforderung
Wem gehört der Himmel?
Nur wer sich seiner eigenen Identität sicher ist, hat keine Angst, sich dem „Anderen“ zu öffnen
Die dritte Perle: Wie pluralitätsfähig ist der Islam?
Nach zwei Stunden im Warteraum
Wenn Minderheiten andere Minderheiten diskriminieren
Die vierte Perle: Europäischer Islam oder nur Islam?
Was sagt der Islam zu …
Von- und miteinander lernen
Die fünfte Perle: Liebe ist keine Funktion
„Ich will nicht ohne euch!“
Glaube ist ein Geschehen der Liebe aus Liebe und für die Liebe
Die sechste Perle: Versöhnung befreit
Die Kraft der Versöhnung
Der innere Friede
Die siebte Perle: Dialog des Annehmens und des Anfragens
Die Welt leuchten
Die verlorene Barmherzigkeit
1. Die Identitätsfalle
2. Die Falle der Selbstüberhöhung
3. Die Halal/Haram-Falle
4. Die Falle des politisierten Islams
5. Die Solidaritätsfalle
6. Die Säkularitätsfalle
Zurück nach Europa
Danksagung
Für Uways und Luisain Liebe und Verbundenheit
Mein Name ist Rayyan. Ich bin der Sohn staatenloser palästinensischer Eltern, die 1948 aus Palästina in den Libanon geflüchtet sind. Dort besuchten sie zunächst die Schule und später die Universität. Danach wanderten sie als Arbeitermigranten nach Saudi-Arabien aus. In Riad, der Hauptstadt Saudi-Arabiens, ging ich zur Schule. Gegen Ende meines letzten Schuljahres, als ich etwa 17 Jahre alt war, fand in meiner Schulklasse im Geschichtsunterricht eine heftige Debatte darüber statt, warum der Islam heute keine Hochkultur mehr ist, so wie er es einst zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert war. Damals waren die Muslime nämlich in verschiedenen Wissenschaften, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis, weltweit ganz vorne.
Es ging bei der Unterrichtsstunde also um die Hochkultur des Islams im europäischen Mittelalter. Normalerweise wirkte unser Geschichtslehrer auf uns eher gelangweilt und erzählte uns Dinge, bei denen wir immer wieder den Bezug zu unserem Leben vermissten: „Was hat das umayyadische Kalifat zwischen 661 und 750 mit uns heute zu tun?“; „Warum müssen wir uns mit Menschen, die vor über 1000 Jahren gelebt haben, auseinandersetzen?“ Es war nicht leicht, sich die Namen, Orte und Daten zu merken. Aber in der besagten Unterrichtsstunde kam unser Geschichtslehrer, Herr Mousa, mit leuchtenden Augen in den Klassenraum: „Heute werde ich euch etwas erzählen, was euch alle ganz stolz machen wird!“ Plötzlich herrschte neugierige Stille. Er begann, uns mit stolzer Stimme von Bagdad, der Hauptstadt des damaligen Kalifats, zu erzählen, wie sie im 9. Jahrhundert zum Zentrum der Wissenschaften wurde, weil dort vom Kalifen al-Ma’mun (reg. 813–833) das sogenannte „Haus der Weisheit“ (bayt al-hikma) gegründet wurde. Der Kalif soll als begeisterter Gelehrter gegolten haben, der auf den Gebieten der Wissenschaft, aber auch der Kunst und der Dichtung hochgradig bewandert gewesen sei. Er wollte die Übersetzungsarbeit weiter vorantreiben, indem er eine große Bibliothek mit einer ganzen Reihe von professionellen Gelehrten bzw. Übersetzern institutionalisierte. Im Zuge dessen hat al-Ma’mun nicht nur den Kaiser von Byzanz um Bücher aus der altgriechischen Tradition gebeten, die sich u. a. mit Philosophie, Astrologie, Mathematik und Medizin befassten, er schickte auch zahlreiche Gelehrte nach Persien und Indien, um von dort weiteres Wissen ins islamische Reich zu holen. Die Übersetzer benutzten bei ihrer Arbeit Transkriptions- und Übersetzungsmethoden, die durchaus vergleichbar waren mit den heutigen wissenschaftlichen Ansätzen: Durch einen Vergleich der verschiedenen Handschriften erstellten sie zunächst eine „kritische Ausgabe“, die sie dann nicht nur ins Arabische übersetzten, sondern meist auch kommentierten und weiterdachten. Dabei wurden sie in der Regel von Christen und Juden unterstützt, die des Griechischen mächtig waren.
Herr Mousa schaute uns an und setzte mit belehrender Stimme fort: „Liebe Schüler, der große Wissensdurst der damaligen Zeit stand absolut im Einklang mit der islamischen Lehre, denn schon der Prophet Mohammed, Gottes Segen auf ihn, forderte seine Gefährten dazu auf, wenn es sein müsse, bis nach China zu reisen, um sich dort Wissen anzueignen. Das Streben nach Wissen war Teil der religiösen Praxis und somit ein islamisches Gebot.“
Dann setzte unser Geschichtslehrer den Unterricht mit einer Art Crashkurs über die Errungenschaften und die reichhaltige Kultur der Muslime zwischen dem 8. und dem 12. Jahrhundert fort.
Im Jahre 756 gründeten die Muslime das Emirat von Córdoba. Im Laufe der darauffolgenden Jahre bemühten sie sich auf allen Ebenen, sei es auf der wissenschaftlichen, der ökonomischen oder auf der Ebene des Städtebaus, Bagdad zu übertreffen. Hierfür importierten die Herrscher zum einen möglichst viel der im Orient übersetzten Literatur, die dann von den eigenen Gelehrten weiterentwickelt wurde, sie nutzten aber auch bestehende Kontakte in andere Herrschaftsgebiete, um den Fortschritt auf der iberischen Halbinsel voranzutreiben. So soll ein blühendes Emirat bzw. Kalifat entstanden sein, das in Europa eine geistige Hochkultur einleitete und innerhalb kürzester Zeit zu einer Metropole heranwuchs, dessen hoher Lebensstandard im damaligen Europa einzigartig war und selbst das spätantike Rom an Bildung, Luxus und Wohlstand in den Schatten stellte. Allein Córdoba verfügte um das Jahr 1000 über eine Kanalisation und Straßenbeleuchtung, Bibliotheken galten als Statussymbol. Al-Andalus, wie die iberische Halbinsel von den muslimischen Herrschern genannt wurde, war somit eine Brücke des Wissens- und Kulturtransfers zwischen Orient und Okzident und bereicherte Europa in vielerlei Hinsicht. Die Diskrepanz zwischen den damaligen islamischen Gebieten und dem mittelalterlichen abendländischen Europa war kaum zu übersehen.
Zwischen 653, als die erste Madrasa als Aus- und Fortbildungsstätte in Medina im heutigen Saudi-Arabien gegründet wurde, und dem Jahr 900 wurde das Bildungswesen derart ausgebaut, dass nahezu in jeder Moschee eine Schule integriert war. In diesen Madrasas wurden religiöse, wissenschaftliche und literarische Inhalte gelehrt. Neben der Auseinandersetzung mit den klassischen religiösen Fächern, wie dem Studium des Korans und der Überlieferungsliteratur, der Prophetengeschichte und der Rechtsgelehrsamkeit, wurden auch Schriften aus den Bereichen der Mathematik, Medizin, Grammatik, Astronomie, Geografie und Philosophie unterrichtet. Unabhängig davon entstanden zahlreiche öffentliche Schulen. So gab es alleine in Córdoba ca. 800 öffentliche Schulen, die von Muslimen, Christen und Juden gleichermaßen besucht wurden. Gleichzeitig entstand im 9. Jahrhundert ein universitäres System.
Allein die Bibliothek von Córdoba wies einen Bestand von 400.000 Büchern auf, die der Öffentlichkeit frei zugänglich waren. Doch nicht nur auf institutioneller Ebene war der Besitz einer Bibliothek eine Notwendigkeit und förderte das Prestige, auch jeder Gelehrte, der etwas auf sich hielt, war im Besitz einer eigenen Bibliothek. Die Wissenskultur stand in voller Blüte und bereicherte lange Zeit jeden, der davon bereichert werden wollte, egal ob Muslim oder nicht.
Die drei wichtigsten Denker, die maßgeblich von den aristotelischen und platonischen Lehren geprägt waren – al-Farabi (gest. 950), Avicenna (gest. 1037) und Averroes (gest. 1198) –, entwickelten zum Teil ein eigenes Verständnis der Philosophie.
Erst durch die im 12. Jahrhundert etablierte Übersetzerschule in Toledo, die zahlreiche arabische Werke, darunter auch philosophische Werke, ins Lateinische übersetzte, fand sukzessive eine grundlegende Veränderung in der europäischen Kultur statt. Auf diese Weise konnten auch die drei genannten arabischen Philosophen einen nachhaltigen Einfluss auf die europäische Ideengeschichte nehmen, denn nun wurden ihre wichtigsten Werke ins Lateinische und später auch ins Spanische übersetzt.
Der Drang der Muslime nach Wissen aus aller Herren Länder machte sich insbesondere auch auf den naturwissenschaftlichen Gebieten bemerkbar; darunter die Mathematik, die in der islamischen Kultur auf dem Erbe der antiken Kultur fußte, die selbst wiederum stark von der ägyptischen Mathematik beeinflusst war. So wurden Werke von Archimedes, Euklid und Ptolemäus ins Arabische übersetzt, auch das Rechnen mit Gleichungen übernahmen die Muslime. Neben den griechisch-mathematischen Erkenntnissen spielte aber auch die indische Mathematik eine entscheidende Rolle. Der Gelehrte al-Chwarizmi (gest. ca. 850) führte das in ihr geltende Zahlensystem von 1 bis 9 sowie das Nullzeichen in Form eines Kreises in die arabische Mathematik ein, wodurch er eine der bedeutendsten Leistungen in der Geschichte der Wissenschaft erzielte, da das Rechnen nun viel leichter fiel als mit römischen Zahlen.
Wenn uns unser Geschichtslehrer dies alles erzählte, hatten wir Schüler ein überwältigendes Hochgefühl, ja ein Gefühl der Überlegenheit. Zwischendurch fielen sogar euphorische Kommentare einiger Mitschüler:
„Wir Muslime waren der ganzen Welt Meilen voraus!“
„Die ganze Welt hatte Respekt vor uns!“
„Unsere Kultur war die prächtigste!“
„Welch eine gesegnete Kultur waren wir!“
„Alle haben zu uns hochgeschaut!“
Wir Schüler waren allein durch den Gedanken, zu so einer Hochkultur zu gehören, wie in einem geistigen Rauschzustand. Ich bekam immer wieder Gänsehaut, während der Lehrer zu uns sprach. Einen Moment lang fühlten wir uns alle in der Klasse wie Sieger, ganz mächtig; wir stehen da ganz oben auf den Wolken und der Rest der Welt steht unter uns. Wir gehören zu den Mächtigsten der Weltgeschichte. Dieses Hochgefühl hielt bei mir allerdings nicht lange an, die Realität holte mich schnell wieder ein. Das triumphale euphorische Gefühl wurde dadurch getrübt, dass Bilder aus den täglichen Nachrichten von Armut und Elend in vielen islamischen Ländern wie in einem Film vor meinem geistigen Auge abliefen. Man musste nicht weit gehen, schon hier in Saudi-Arabien machte man sich lustig darüber, dass sogar die traditionelle saudische Bekleidung aus Großbritannien importiert wurde: Man war nicht einmal imstande, seine eigenen traditionellen Kleider zu produzieren!
Ich zögerte nicht lange und meldete mich zu Wort: „Aber Herr Lehrer, was ist passiert, dass wir Muslime heute so weit hinten stehen? Ich meine, wir wissen alle, wie viele Menschen in den islamischen Ländern nicht lesen und schreiben können, die Arbeitslosigkeit, die Armut … Was haben wir heute der Welt zu sagen oder zu geben?! Nichts!“ Der Lehrer erwiderte sofort und mit entschlossener Stimme: „Weil wir den Koran und die Sunna, die Tradition des Propheten Mohammed, Allahs Segen über ihn, hinter uns gelassen haben.“ Er stand von seinem Sessel auf und ich sah, wie die Stimmung langsam bei ihm kippte und er immer lauter wurde: „Schaut euch die Moscheen an! Sie werden immer leerer, wo sind die Betenden?! Heute beim Frühgebet, bei Gott, wir waren gerade mal zwölf Personen in der Moschee! Das ist beschämend! Was sagen wir unserem Schöpfer?! Wie wollen wir dem Allmächtigen dies erklären?! Wir beten kaum, lesen kaum im Koran und dann wollen wir die Welt bereichern! In jedem Haushalt stehen zwei, drei, vier oder sogar zehn Korane auf den Regalen und verstauben! Niemand liest darin. Nur bei Begräbnissen wird der Koran gelesen. Also ein Buch für die Toten. Und dann fragt ihr, wieso wir keine Hochkultur mehr sind! Schaut euch an, ich kenne euch, wenn es um Fußball geht, dann eilt ihr sofort zum Spielplatz, zum Mittagsgebet müssen wir Lehrer hinter euch her sein, damit ihr in die Schulmoschee geht. Schaut euch die Frauen heute an, wie halbherzig sie ihr Kopftuch tragen. Das sind die wahren Gründe, weshalb wir Muslime keine Hochkultur mehr sind.“
Die anderen Schüler und ich hörten ganz still zu, nickten zwischendurch mit dem Kopf, um zu bestätigen, was der Lehrer gesagt hatte. Wir waren wie verängstigte Mäuse in einem Käfig. Hin und wieder schüttelten einige den Kopf, um die Unzufriedenheit mit der Lage der Muslime zu zeigen.
Ich will ehrlich sein: Das alles hat mich nicht wirklich überzeugt, aber ich habe mich nicht getraut, irgendwas dazu zu sagen. Daher entschloss ich, es dabei zu belassen und nicht länger mit dem Lehrer zu hadern. Ich hatte nichts gegen das Gebet und das Koranlesen, aber zu erklären, dass die Schuld am Wandel des Islams von der Hochkultur zu der katastrophalen Situation heute lediglich im Vernachlässigen des Betens und Koranlesens besteht, überzeugte mich nicht. Derselbe Lehrer wurde nicht müde, uns zu erzählen, wie moralisch verfallen der Westen sei, wo niemand mehr beten und in der Bibel lesen würde, wo die Kirchen komplett leer seien und sogar in Bars und Lokale umgewandelt würden. Ja, aber wenn das so ist, wieso ist dann der Westen heute eine Hochkultur? Wieso herrscht dort Demokratie, wieso gibt es dort Menschenrechte, bei uns jedoch nicht? Wieso geht es den Menschen dort viel besser als uns? Wieso haben die Frauen dort viel mehr Mitspracherecht als bei uns? Dass das Nichtpraktizieren der Religion dazu führt, dass das Bildungssystem, die Wirtschaft, der Arbeitsmarkt, die Politik und vieles mehr nicht richtig funktionieren, überzeugte mich bei Weitem nicht. Ich hatte aber Angst, darüber zu reden, damit niemand mich missverstand und dachte, ich würde die Religion, das Beten und den Koran kleinreden wollen.
Meine Fragen ließen mich allerdings nicht zur Ruhe kommen. Ich konnte die Nächte nicht richtig schlafen und hörte meinen Vater in der Küche zu meiner Mutter sagen: „Seine Augen sind ganz rot, er schläft und isst seit Tagen kaum, was ist mit ihm los? Hat er sich etwa in ein Mädchen verliebt?“
Meine Mutter erwiderte: „Rede bitte mit ihm, ich mache mir langsam Sorgen um seine Gesundheit.“
Ich ging zu meinen Eltern in die Küche: „Nein! Ich habe mich nicht in ein Mädchen verliebt. Aber mich beschäftigt etwas anderes.“ Ich erzählte ihnen von dem Geschichtsunterricht und meinen offenen Fragen. Mein Vater zögerte keine Sekunde und schimpfte: „Ich sage dir, warum wir Muslime keine Hochkultur mehr sind. Überall diese Diktaturen! Lauter Verräter! Korrupte! Alle sind korrupt! Sobald sie weg sind, sind wir wieder eine Hochkultur.“ Diese simple Erklärung überzeugte mich genauso wenig wie die des Geschichtslehrers, Herrn Mousa. Beide, mein Lehrer und mein Vater, stellten es so dar, als könne man die islamische Welt einfach mit einer Aktion verändern: Wir schaffen Diktaturen ab oder wir sorgen dafür, dass die Religiosität wieder zunimmt.
Zu jener Zeit fühlte ich mich wie besessen von der Suche nach der Antwort auf meine Frage.
Aber das Schicksal war gnädig zu mir und schickte mir Scheich Hasan mit der Antwort.
Die Frage, warum der Islam keine große Bereicherung mehr für die Welt heute ist, ließ mir keine Ruhe und so entschloss ich mich, erst einmal in unsere Schulbibliothek zu gehen. Diese war bescheiden klein, besaß gerade mal etwa 200 Bücher, die meist nur von unseren Lehrern ausgeliehen wurden. Wir Schüler interessierten uns so gut wie gar nicht für die Bibliothek, wir waren allein schon von der Pflichtlektüre der Schulbücher ziemlich genervt, mit der wir meistens erst kurz vor den Prüfungen gegen Schuljahresende begannen. Darüber hinaus wollten wir in der Regel nichts lesen. Umso erstaunter war der Blick des Bibliothekars, dem Vater meines Klassenkameraden Mu’ad, als ich die Bibliothek betrat. Er nahm seine Lesebrille ab und wies mich genervt zurecht: „Hier ist die Bibliothek!“ Mit anderen Worten: „Was hast du hier zu suchen, dies ist nicht der Fußballplatz!“
Eingeschüchtert verließ mich der Mut, mir Rat bei den Büchern in der Schulbibliothek zu suchen. Also bedankte ich mich höflich und mit so leiser Stimme, dass er mich sicherlich nicht hörte, und ging tatsächlich zum Fußballplatz, um mein Team zu unterstützen. Ich war wegen meiner schnellen Reaktionsgeschwindigkeit ein sehr guter Torwart.
„Wo warst du Rayyan? Wir warten die ganze Zeit auf dich! Deinetwegen spielen wir ohne richtigen Torwart und es steht schon 0:2 gegen uns!“
Ich bestritt an dem Tag eines meiner schlechtesten Spiele und war so abwesend, dass mir ein Ball direkt ins Gesicht geschossen wurde, ohne dass ich ihn stoppen konnte, da ich ihn viel zu spät registrierte. Das kostete mich zwar eine blutige Nase, aber zumindest ging der Ball nicht ins Tor. Ich ärgerte mich die ganze Zeit über mich selbst, weil ich nicht mutig genug gewesen war, dem Bibliothekar mein Anliegen zu schildern.
Am nächsten Tag entschloss ich mich, es in der Pause erneut zu versuchen. Ich stand vor der Bibliothekstür, atmete tief ein, als würde ich gleich die Luft anhaltend ins Wasser eintauchen, und ging unbeirrt direkt hinüber zum Bibliothekar. Erneut nahm er seine Brille von der Nase und schaute mich an. Aber diesmal, bevor er auch nur irgendein Wort sagen konnte, sprach ich mit selbstbewusster Stimme: „Ich suche nach einem Buch über den Islam im Mittelalter.“
„Warum suchst du danach?“
„Mich beschäftigt die Frage, warum der Islam heute keine Hochkultur mehr ist wie einst im Mittelalter.“
„Ja, warum wohl! Weil wir Muslime uns nicht mehr an die Gebote Gottes halten, nur die wenigsten beten oder lesen im Koran. Und schau dir die Frauen an, sie schminken sich, tragen enge Kleider und lassen Haare aus dem Kopftuch heraus, damit die Männer sie sehen. Früher waren die Muslime viel frommer und die Frauen verließen das Haus nur am Tag ihres Todes, um begraben zu werden. Heute wollen sie arbeiten, wollen die neueste Mode tragen. Wir Muslime sind heute so verdorben, daher verdienen wir es nicht, eine Hochkultur zu sein.“
Das waren ähnliche Antworten wie die unseres Geschichtslehrers. Der Bibliothekar fokussierte sich auffällig auf das Thema Frauen, was leider typisch ist. Aber auch diese Argumentation überzeugte mich schon längst nicht mehr, das war mir zu banal, die Welt und den Wandel der Kulturen so zu erklären.
„Ich würde gerne dennoch mehr darüber lesen, Onkel Abu Mu’ad. Was würden Sie mir empfehlen, welche Bücher sollte ich dazu lesen?“
In der arabischen Welt spricht man eine ältere Person auf keinen Fall mit dem Vornamen an, das gilt als respektlos. Man ruft sie auch nicht mit dem Familiennamen, sondern mit dem Namen des ältesten männlichen Sohnes und fügt davor „Abu“ für männliche und „Um“ für weibliche Personen ein, was „Vater von …“ bzw. „Mutter von …“ bedeutet. Und wenn der Altersunterschied mehr als etwa 15 Jahre beträgt, kommt zusätzlich die Bezeichnung „Onkel“ für männliche und „Tante“ für weibliche Personen davor, daher meine Anrede „Onkel Abu Mu’ad“. Wenn jemand keinen männlichen Sohn hat, dann wird er entweder mit dem Namen der ältesten Tochter gerufen, zum Beispiel „Abu Fatima“, oder mit dem männlichen Wunschnamen eines zukünftigen bzw. erhofften Sohnes.
„Schau im dritten Gang nach, dort müsstest du im Mittelregal einige Bücher zu dem Thema finden.“
Tatsächlich fand ich vier Bücher, die zumindest laut ihres Titels auf die islamische Hochkultur im Mittelalter eingingen.
Ich legte dem Bibliothekar die vier Bücher auf den Schreibtisch: „Ich würde gerne diese Bücher bis Ende des Monats ausleihen.“
Er erwiderte sofort: „Aber ihr habt doch jetzt keine Prüfungen zu diesem Thema, oder? Hat Mu’ad mir schon wieder etwas verheimlicht? Dieses Kind macht mich fertig! Wenn es nach ihm ginge, würde er ständig die Schule schwänzen. Warte ab, ich zeige es ihm, wenn ich zu Hause bin! Seinetwegen bekomme ich bald einen Herzinfarkt.“
„Nein, nein, Onkel Abu Mu’ad, wir haben keine Prüfung, das Thema interessiert mich einfach nur so.“
Onkel Abu Mu’ad lachte laut und sagte mit etwas abfälligem Ton: „Und du willst allen Ernstes bis Ende des Monats vier Bücher lesen?!“
„Ja, Onkel, das habe ich wirklich vor.“
Er schaute mich an, verdrehte die Augen und sagte: „Rayyan, so heißt du doch, oder? Schau, alle deine Mitschüler spielen Fußball, die Mittagspause dauert nur noch 15 Minuten, geh mein Junge, geh, spiele Fußball und gib mir die Bücher, ich stelle sie zurück ins Regal.“
Aber ich blieb stur: „Onkel Abu Mu’ad, ich flehe Sie an, ich brauche diese Bücher, ich verspreche, ich bringe sie gegen Ende des Monats zurück. Sie werden sehen.“
„Rayyan, du strapazierst meine Geduld und ich habe so viel zu tun. Aber gut, nimm zwei Bücher mit, wenn du sie gelesen hast, bekommst du die beiden anderen. Und schau, dass sich auch Mu’ad für das Thema interessiert, vielleicht liest er auch endlich mal ein Buch außerhalb des Unterrichts. Ich hoffe, es wird noch was aus euch!“
Immerhin bekam ich zwei Bücher …
Im Grunde beschrieben die Bücher nur das, was unser Geschichtslehrer uns über die Errungenschaften der Muslime im Mittelalter erzählt hatte, nur etwas ausführlicher. Die Autoren glorifizierten diese Errungenschaften, aber mir gefiel die Vermengung von emotionalen und sachlichen Argumenten nicht. Mir fehlte darin der analytische Blick, der sich kritisch mit bestimmten Entwicklungen auseinandersetzt. Ich wollte verstehen, wie es zu diesem oder jenem Wandel in der islamischen Geschichte kam, und wollte nicht nur lesen, wie toll alles war, weil die Muslime damals fromm gewesen seien und Gott sie zu Führern der Welt gemacht habe. Diesen Wandel im Verlauf der Geschichte auf das unmittelbare Wirken Gottes zurückzuführen, konnte mich auch weiterhin nicht überzeugen. Es wurde so dargestellt, als wären die Menschen passiv und kaum am Geschehen beteiligt. Alles, was sie zu tun haben, ist zu beten, zu fasten, keinen Alkohol zu trinken und die Frauen sollten sich am besten in ihren vier Wänden verstecken und den Männern dienen, dann würde die Welt wunderbar funktionieren.
Meine Suche nach einer plausiblen Antwort auf meine Frage bereitete mir großes Kopfzerbrechen. Die rein intellektuelle Suche in den Büchern und die Gespräche mit meinen Lehrern hatten mich nicht weitergebracht. Könnte das vielleicht an mir selbst liegen? Hatte ich mich bis dahin anderen Wegen verschlossen, um eine Antwort zu bekommen? Vielleicht lag ja die Antwort auf meine Frage nicht oder nicht allein in einem rein intellektuellen Diskurs.
Ich erinnerte mich an die Aussage unseres Religionslehrers, die ich bis dahin nicht wirklich ernst genommen hatte: „Wenn jemand von euch verzweifelt und in Not ist und nicht weiß, wie es weitergeht, soll er sich an Gott wenden. Am besten im letzten Drittel der Nacht, das ist die Zeit, in der Gott seinen Geist auf die Erde herabsendet und sucht: ‚Gibt es einen Rufenden, der nach mir ruft? Ich bin hier! Ich bin nah! Gibt es einen Fragenden, der fragt? Ich bin hier, höre und antworte!‘ Und vergesst nicht, die Nacht von Donnerstag auf Freitag ist die segensreichste.“
Ich gebe zu, ich war zu diesem Zeitpunkt eher ein rein rationaler Mensch, der Antworten in der Lebenswirklichkeit suchte, weniger im Gespräch mit Gott. Mir kam meine Oma mütterlicherseits in den Sinn, die ich immer wieder donnerstags auf ihrem Gebetsteppich beobachtete, wie sie die ganze Nacht mit Gott sprach. Und obwohl sie kaum geschlafen hatte, strahlte ihr Gesicht am Freitag, als würde es leuchten. Sie war die Ruhe in Person und wirkte ganz entspannt. Ein Blick in ihre leuchtenden Augen reichte, um mir ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Ich habe meine Oma niemals aufgeregt oder wütend erlebt, sie wirkte immer besonnen und weise. Die Erinnerung an sie ermutigte mich, diese spirituelle Erfahrung mit dem nächtlichen Zwiegespräch mit Gott zu machen. Sie ermutigte mich, mich an Gott zu wenden.
Ich nahm mir also vor, am Donnerstag spät in der Nacht zu Gott zu beten und ihn um Hilfe zu bitten. Als es so weit war und der Donnerstag gekommen war, stellte ich meinen Wecker auf drei Uhr in der Früh. Durch die rituelle Gebetswaschung, zu der auch die dreimalige Gesichtswaschung gehört, wird man sehr schnell wach. Die Stille der Nacht war sehr ungewohnt, allein das Zirpen der Grillen in unserem Garten war zu hören. Ich hatte noch nie in dieser Intensität mit Gott geredet wie in jener Nacht. Eigentlich war es mein Herz, das mit Gott sprach. Ich sprach mit ihm und bat ihn inniglich um Hilfe bei der Suche nach Antworten auf meine Frage. Und obwohl ich schon so oft gebetet und mit Gott geredet hatte, in der Moschee und auch allein, spürte ich, als wäre es das erste Mal, dass ich wirklich betete, im Sinne eines innigen Gesprächs mit Gott. Durch diese besondere Erfahrung lernte ich, was es heißt, von Gott im Herzen ergriffen zu werden. Im Religionsunterricht haben wir das Gebet weniger im Sinne eines freien Gesprächs mit Gott, sondern lediglich als rituelle Pflicht aus Angst vor einer göttlichen Strafe vermittelt bekommen. Demnach sollte man beten, um Gott zufriedenzustellen, ansonsten würde er zornig werden. Und so lebten wir Jugendlichen ständig mit einem schlechten Gewissen und der Angst vor dem Tod, da kaum jemand von uns betete, und wenn, dann nur sporadisch. Ich habe mich immer gefragt: Warum betet ein Muslim fünf Mal am Tag? Warum betet man überhaupt? Eine typische Antwort, die ich immer wieder auf diese Fragen gehört habe, lautete: „Weil ein Muslim beten muss, weil Gott das Gebet vorgeschrieben hat.“ Warum hat Gott aber das Gebet vorgeschrieben? Was will Gott damit? Gott ist doch vollkommen. Ob Menschen zu ihm beten oder nicht, ändert doch nichts an seiner Vollkommenheit. Man hat uns Gott so vorgestellt, als würde es ihm lediglich um sich selbst gehen, als wäre er darauf angewiesen, angebetet zu werden.
In jener Nacht war ich von dem Gedanken überwältigt, dass das Gebet so etwas ist wie ein Raum der Liebe. Das Herz tritt in diesen Raum ein, weil der Liebende die Nähe des Geliebten sucht. Ich empfand das Gebet als einen Ruf Gottes an mich. Als würde er die ganze Zeit auf eine Antwort, auf ein Wort, auf ein Zeichen, auf einen Schritt von mir warten. Ich erinnerte mich an Gottes Aussage: „Und wenn der Mensch sich mir um eine Handspanne nähert, nähere Ich mich ihm um eine Armlänge. Und wenn er sich mir um eine Armlänge nähert, nähere Ich mich ihm um zwei Armlängen. Und wenn er zu mir gehend kommt, komme Ich zu ihm laufend.“ In jener Nacht sprach eine innere Stimme zu mir: „Gott will doch seine Liebe nicht für sich behalten, er wollte sie immer teilen. Daher sucht er nach Mitliebenden. Den ersten Schritt hat er getan, indem er die Menschen aus seiner bedingungslosen Liebe und Barmherzigkeit erschaffen hat. Er ist es, der im Koran in Sure 5, Vers 54 sagt: ‚Wenn ihr euch abwendet, dann wird Gott Menschen bringen, die er liebt und die ihn lieben.‘“
Im Religionsunterricht hingegen lernte ich, dass wir Muslime sehnsüchtig auf das Paradies warten, wo es keine Pflichten mehr gibt, keine Gebote und keine Verbote. Dort müssen wir nicht mehr beten oder fasten. Ich lernte, dass das Paradies eine Art Erlösung vom Gebet sei. Aber in jener Nacht erlebte ich zum ersten Mal, was es heißt, das Gebet in seiner ästhetischen Dimension zu schmecken, das Schöne am Gebet zu erfahren. Das Gebet berührte mein Herz. Ich hatte das Gefühl, dass Gott in meinem Herzen angekommen war. Es wurde von Gott berührt, die Distanz zu Gott war kaum mehr da. Das Gebet war für mich das Paradies. Ich konnte alle meine Fragen, alles, was mich beschäftigte, offen vorbringen und Gott um Hilfe bitten.
Ich genoss für ein paar Momente ungestört die Zweisamkeit mit Gott, mich in die Hände Gottes fallen zu lassen, alles um mich herum auszuschalten und einfach mein Herz sprechen zu lassen. Es war ein Moment, in dem die Liebe entflammte, der Moment, in dem mein Herz mit jeder Faser in die Unendlichkeit schreien wollte: „Ich liebe dich!“; es war der Moment, in dem alles stillstand und nur das Herz zu sprudeln begann; es war der Moment, in dem eine unendliche Liebe Raum und Zeit aufzuheben schien. Ich wollte mich nicht mehr von diesem Moment trennen. Ich habe mir gewünscht, diesen Moment der unendlichen Liebe mit ins Leben zu nehmen und ihn in jedem Augenblick des Lebens zu entfalten. In jener Nacht lernte ich, das Beten nicht als Pflichterfüllung, als Erledigung, zu verrichten, sondern aus einer inneren Sehnsucht heraus, nach Gott, nach seiner Liebe, nach seiner Barmherzigkeit. In jener Nacht hatte ich den Eindruck, das Gebet eroberte in seiner Schönheit mein Herz. Es wurde zu einem unvergesslichen Erlebnis, das ich für nichts in der Welt hergeben möchte. Ich wünschte mir, dieses überwältigende und mit Worten schwer zu beschreibende Gefühl der existenziellen Geborgenheit würde niemals aufhören. Aber irgendwann machten meine Augen nicht mehr mit, ich war sehr müde.
Freitags ist zum Glück schulfrei und ich musste nicht wie sonst um sechs Uhr in der Früh aufstehen. Ich nahm dieses ergreifende Gefühl von Wärme und Angenommensein mit ins Bett und schlief völlig übermüdet ein.
In dieser Nacht hatte ich einen seltsamen Traum, der alles Bisherige in meinem Leben auf den Kopf stellte. Im Traum erschien mir ein alter Mann mit einer sanften Stimme: „Rayyan! Ich bin Hasan. Die Menschen rufen mich Scheich Hasan, vielleicht kennst du meine Stimme aus dem Fernsehen oder aus dem Radio. Ich bin der Mu’azzin der heiligen Moschee in Mekka, ich rufe fünf Mal am Tag zum Gebet. Ich bin hier, um dir zu helfen, eine Antwort auf deine Frage zu finden. Deine Frage ist allerdings nicht mit einem Satz und auch nicht mit zwei oder drei Sätzen zu beantworten. Der Schlüssel zur Antwort liegt seit Jahren hier bei mir und wartet darauf, dass jemand kommt, um ihn abzuholen. Es handelt sich um diese Gebetskette, die aus 99 Perlen besteht. Sieben davon sind jedoch seit einigen Jahrzehnten verschwunden. Ich warte auf dich in Mekka bei der Ka’aba beim Multazam, um dir die Gebetskette zu überreichen und dir alles Weitere zu erklären. Rede aber mit niemandem darüber!“
Ich wachte ganz aufgeregt auf und griff hastig zu Stift und Papier. „Scheich Hasan, Ka’ba, Multazam, Gebetskette, sieben fehlende Perlen.“ Das waren die wenigen Stichworte, die ich ganz schnell aufschrieb, bevor ich sie in der Aufregung vergessen würde. Ich wusste, was die Ka’ba ist, das schwarze Gebäude in Mekka, das laut dem Koran vom Propheten Abraham und seinem Sohn Ismail erbaut wurde. Schon zu vorislamischer Zeit pilgerten die Menschen nach Mekka und umrundeten dabei die Ka’ba sieben Mal gegen den Uhrzeigersinn. Allerdings beteten sie damals nicht den einen Gott im Himmel allein an, sondern weitere aus Steinen erbaute Figuren, die sie als Götter verehrten. Der Prophet Mohammed rief sie zum Monotheismus, sie sollten nur zu einem Gott im Himmel beten und zu ihm pilgern. So hatten wir es im Religionsunterricht gelernt, daher war mir die Rede von der Ka’ba vertraut. Aber was war der Multazam? Ich hatte noch nie davon gehört.
Am Samstag, dem ersten Schultag in der Woche, ging ich zu meinem Religionslehrer und fragte ihn danach. „Das ist die Fläche zwischen dem schwarzen Stein und der Türe der Ka’ba“, antwortete er und erklärte weiter: „Der schwarze Stein ist ein mit Silber umhüllter Felsen, der in der südöstlichen Ecke der Ka’ba platziert ist. Manche erzählen, er sei vom Paradies heruntergefallen. Daher sind die Pilger bestrebt, ihn zu berühren oder zu küssen, um dadurch den Segen zu erhalten. Pilger beten bei dem Multazam stehend zu Gott, legen dabei ihre Handflächen, ihre Brust und ihre rechte Wange darauf, als Zeichen der Demut und Bedürftigkeit nach Gottes Gnade, aber auch als Zeichen der Ganzheitlichkeit des Menschen, der zugleich Kopf und Herz, Körper und Seele ist. Diese kleine Fläche zwischen dem schwarzen Stein und der Türe der Ka’ba ist eine Art Tor zur Transzendenz, zum Jenseits. Dort fallen viele Hüllen zwischen dem Herzen und Gott, dort kann jeder seine Grenzen überschreiten und erkennen, dass die Existenz viel größer ist als diese unsere Welt. Dort öffnet sich die Vernunft dem Herzen und das Herz der Vernunft. Unser Prophet Mohammed versprach, dass jedes beim Multazam von Herzen gesprochene Gebet früher oder später erfüllt wird. Aber die wenigsten kennen den Multazam und seine Besonderheit. Er ist ein Ort von dieser und jener Welt zugleich.“
Ich dankte meinem Lehrer und spürte, dass sich nach seinen Ausführungen mehr und mehr ein Gedanke in meinem Kopf festsetzte: Ich muss nach Mekka, ich muss zum Multazam, dem Treffpunkt mit Scheich Hasan, um mir die Gebetskette von ihm zu holen. Aber ich musste warten, bis ich die Abiturprüfungen hinter mir hatte. Das bedeutete, mich noch drei Wochen in Geduld zu üben. Meinen Eltern sagte ich, dass ich gerne, bevor ich zum Studieren nach Europa gehen würde, nach Mekka zur Umra wolle. Umra ist eine Art Mini-Pilgerfahrt. Man umrundet die Ka’ba sieben Mal und geht danach sieben Mal zwischen den beiden Hügeln in der Nähe, Assafa und al-Marwa, hin und her. Dabei spricht man Gebete und Gottes Lobpreisungen. Anders als die eigentliche Pilgerfahrt ist die Umra an keinen bestimmten Zeitpunkt gebunden. Man kann sie jederzeit verrichten. Solche Rituale mögen überflüssig oder sogar irrational klingen, das mag auch so sein, aber dennoch bin ich der Überzeugung, dass religiöse Rituale eine gewisse Verbindlichkeit spiritueller Praxis mit sich bringen. Daher bemühe ich mich trotz aller Rationalität, meine fünf Gebete am Tag einzuhalten sowie mein Fasten im Ramadan. Wobei ich zugeben muss, dass mir das mit dem Gebet nur selten gelingt. Meine Erfahrungen in der besagten Nacht haben mich bis heute stark geprägt, seither empfinde ich diese religiösen Rituale als spirituelle Schätze, die mich innerlich berühren und bereichern.