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Wir benötigen einen globalen Humanismus, der die Menschen als weltumspannende Familie würdigt. Indem er seine eigenen Potentiale erkennt kann der Islam hierzu einen entscheidenden Beitrag leisten. Mouhanad Khorchide lenkt den Blick auf einen Gott, der den Menschen in seiner Freiheit ernst nimmt. Ein mutiges Buch, das den Islam radikal neu versteht und ihn als moderne und aktuelle Religion darstellt: als notwendige Quelle eines globalen Humanismus.
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Seitenzahl: 343
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Mouhanad Khorchide
Gott glaubt an denMenschen
Mit dem Islam zu einem neuenHumanismus
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: wunderlichundweigand, Stefan Weigand
Umschlagmotiv: © privat
E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (E-Book) 978-3-451-80636-0
ISBN (Buch) 978-3-451-34768-9
Inhalt
1. Einleitung – Der ignorierte Kapitän
2. Gott ist der absolute Humanist
3. Der Humanist ist der freie Mensch
4. Der Humanismus in der Geschichte und heute
5. Der Beitrag des Islams zum Humanismus in der Geschichte
6. Warum wir Antihumanisten sind
7. Warum Gewalt mit dem Islam zu tun hat, der Islam aber nichts mit Gewalt zu tun haben will
8. Der Beitrag des Islams für den Humanismus heute
9. In jedem Menschen steckt ein Humanist
Anmerkungen
Dank
Religionen werden von vielen ihrer Anhänger für das Allheilmittel aller Krisen der Menschheit gehalten, übersehen dabei jedoch, dass gerade im Namen von Religionen sehr viel Unheil gestiftet wurde und wird. Der apologetische Verweis mancher darauf, dass es sich bei Gewalt im Namen von Religionen nur um Randerscheinungen kleinerer Gruppen handle und dass diese Form der Gewalt ein Phänomen sei, das lediglich von Extremisten ausgeübt werde, die den Glauben instrumentalisieren, verdrängt die Frage nach den Zusammenhängen zwischen Religionen und Gewalt. Allerdings übertreiben Religionskritiker wie beispielsweise Richard Dawkins oder Michael Schmidt-Salomon, wenn sie so gut wie alle Übel dieser Welt den Religionen zuschreiben. Man darf nicht vergessen, dass auch im Namen von nichtreligiösen Ideologien sehr viel Unheil geschehen ist und geschieht. Die großen Kriege des 20. Jahrhunderts sind schreckliche Beispiele hierfür. Inzwischen weisen wissenschaftliche Erkenntnisse darauf hin, dass die Ursachen von Gewalt kaum in den Religionen an sich zu finden sind. Religionen wirken vielmehr als Katalysator für Gewalt bzw. als pazifizierende Kraft.1 Mit anderen Worten: Religionen können zwar Konflikte verschärfen oder auch entschärfen, sind aber selbst nicht ihre eigentliche Ursache. Das soll jedoch nicht heißen, dass daher eine Auseinandersetzung mit der Rolle von Religionen für die Gestaltung einer gerechten und friedlichen Gesellschaftsordnung obsolet wäre. Im Gegenteil, gerade Theologinnen und Theologen sind heute mehr denn je herausgefordert, den Beitrag ihrer Religionen für eine größere Humanisierung der Welt auszuarbeiten.2Bei diesem Unterfangen wird kein Weg daran vorbeiführen, sich gerade den unangenehmen Fragen zu stellen. Dazu gehört auch die Suche nach den theologischen Argumenten, welche Gewalt im Namen von Religionen begründen, ja sogar vorantreiben. Dabei ist unbestritten, dass gerade in einem universalen Wahrheitsanspruch vieler Weltanschauungen, der meist so verstanden wird, dass andere Religionen und deren Anhänger als minderwertig zu betrachten sind, sehr viel Potenzial für zwischenmenschliche Anspannung, ja für Gewalt steckt. Diese Kritik gilt nicht nur den drei monotheistischen Religionen, sondern jeder extremen Ideologie, deren Anhänger sich dazu berufen fühlen, im Namen ihrer Ideologie auf andere herabzuschauen, sie abzulehnen bzw. die Entfaltung ihres würdevollen Daseins in irgendeiner Form zu verhindern suchen. Folgende Erzählung über den ignorierten Kapitän soll diesen Gedanken veranschaulichen:
Im Anschluss an eine hitzige Debatte zwischen Theologen und Humanisten über die Frage nach der Existenz Gottes beschlossen einige der Diskussionsteilnehmer, bei einem gemeinsamen Schiffsausflug in entspannter Atmosphäre noch einmal das heftig diskutierte Thema aufzugreifen, indem man sich über die Ursache des Guten und des Bösen in der Welt unterhielt. Gemeinsam wollten sie klären, inwieweit die Existenz Gottes vorausgesetzt werden müsse, um zu wissen, was gut und was schlecht sei. Und, falls die Existenz Gottes keine zwingende Notwendigkeit besitze, was wäre die alternative Referenzgröße? Unter den Diskussionsteilnehmern an Bord befanden sich ein christlicher, ein jüdischer und ein muslimischer Theologe, ein Vertreter des Humanismus sowie eine weitere Person, die sich selbst als Individualist bezeichnete. Jede Person wurde während des Ausflugs von vier jungen Anhängern der eigenen Position begleitet. Neben diesen 25 Personen waren fünf Angehörige des Schiffpersonals an Bord: der Kapitän, sein Assistent, der Koch und zwei Matrosen. Der Ausflug sollte drei Tage dauern.
Die Positionen der Diskutanten waren klar: Für die Theologen war Gott die einzige Referenz, die in Frage kommt, um das Gute bzw. das Schlechte zu begründen. Für den Humanisten war die Idee von einem Gott obsolet, allein der Eigennutz, der allerdings in den Dienst der Humanität gestellt werden solle, zähle als Referenzgröße. Der Individualist sah die gesamte Diskussion als überflüssig an, denn es sei lediglich das jeweilige Individuum, das für sich selbst die Referenzgröße ausmache, weder Gott noch ein Menschheitsideal oder die Interessen eines Kollektivs seien dafür verantwortlich.
Wie es das Schicksal wollte, begann es stark zu regnen, und ein Sturm brach aus. Hohe Wellen schlugen um sich, das Schiff drohte zu sinken. Alle hofften, dass sich der Sturm beruhigen würde, aber der dachte gar nicht daran und toste noch heftiger. So kam es, dass die starken Wellen, die immer wieder gegen die Schiffswände brandeten, das Schiff vom Kurs abbrachten und gegen ein Riff schleuderten, wodurch ein Leck in den Rumpf geschlagen wurde, durch das langsam Wasser ins Innere drang. Gleichzeitig, wie aus dem Nichts, beruhigte sich der Sturm, und die Wellen gaben ihr Zerren am Schiff auf. Dennoch reichte dem Kapitän ein Blick aufs Leck, um zu erkennen, dass das Schiff zu sinken drohte. Daher entschloss er sich, allen an Bord umgehend mitzuteilen, dass sie das Schiff verlassen und versuchen müssten, die nächstgelegene Insel, die etwa zwei Seemeilen entfernt war, zu erreichen. Hierin lag allerdings das nächste Problem: Es gab nur ein einziges Rettungsboot an Bord, das gerade einmal Platz für sechs Personen bot. Einen Platz nahm ein Matrose der Schiffsbesatzung als Steuermann ein, der das Boot sicher zwischen Schiff und Insel hin und her manövrieren sollte. Die restlichen fünf Plätze standen den Passagieren zur Verfügung. Hieraus entfachte sich erneut ein Streitgespräch zwischen den Diskutanten: Welche fünf Personen sollten zuerst mit dem Rettungsboot auf die Insel gebracht werden?
Der christliche Theologe ergriff als Erster das Wort: »Nur durch Jesus Christus werden wir erlöst. Daher ist der Glaube an die Inkarnation Jesu Christi eine notwendige Voraussetzung, um erlöst zu werden. Deshalb heißt es im Johannes-Evangelium: ›Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird. Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet; wer nicht glaubt, ist schon gerichtet, weil er an den Namen des einzigen Sohnes Gottes nicht geglaubt hat.‹ Wir Christen glauben an Jesus Christus und vertreten daher die Wahrheit, und da die Wahrheit überleben muss, sind wir es, die als Erste gerettet werden müssen. Warum sonst hätte Gott uns auserwählt? Es ist also ganz klar, dass ich und meine vier Anhänger als Erste das Schiff verlassen und mit dem Rettungsboot zur Insel gelangen. Danach folgen die fünf Juden, anschließend die fünf Humanisten, dann die fünf Individualisten und schließlich die fünf Muslime.«
Der jüdische Theologe erwiderte schnell: »Das Judentum lehnt den Exklusivismus des Christentums im Sinne von: ›Kein Heil außerhalb der Kirche‹ ab, obgleich es in unserer Feiertagsliturgie heißt: ›Du hast uns auserwählt aus allen Völkern. Du hast uns geliebt und an uns Gefallen gefunden. Du hast uns erhöht über alle Zungen, indem du uns geheiligt hast durch deine Gebote und uns, o unser König, hinführst zu deinem Dienst.‹ Gott hat uns auserwählt, da wir die Wahrheit besitzen, nur durch uns kann sie am Leben bleiben, daher sollten wir fünf Juden die Ersten sein, die auf die Insel übersetzen, danach die Christen, die Humanisten, die Individualisten und am Schluss die Muslime.«
Der muslimische Theologe sah das selbstverständlich ganz anders, denn schließlich würden die Nichtmuslime auf dem Schiff ohnehin in die ewige Verdammnis gehen. In diesem Sinne zitierte er folgenden Koranvers: »Wenn aber jemand einer anderen Religion als dem Islam folgt, wird es nicht von ihm angenommen werden. Und im Jenseits gehört er zu den Verlierern.«3 Dann schaute er seine beiden Vorredner an und fügte hinzu: »Ihr beide irrt euch. Wir Muslime vertreten die Wahrheit, diese kann nur durch uns überleben.« Daraus schlussfolgerte er, dass es die Muslime seien, denen die Rettung als erste Gruppe zustände. Erst danach sollten die Christen, dann die Juden, die Humanisten und anschließend die Individualisten gerettet werden.
Nun ergriff der Humanist das Wort, der die Humanisten klar als die größeren Weltverbesserer ansah und daher aus dem ersten »Angebot« des evolutionären Humanismus Michael Schmidt-Salomons zitierte: »Diene weder fremden noch heimischen ›Göttern‹ (die bei genauerer Betrachtung nichts weiter als naive Primatenhirn-Konstruktionen sind), sondern dem großen Ideal der Ethik, das Leid in der Welt zu mindern! Diejenigen, die behaupten, besonders nah ihrem ›Gott‹ zu sein, waren meist jene, die dem Wohl und Wehe der realen Menschen besonders fern standen. Beteilige dich nicht an diesem Trauerspiel! Wer Wissenschaft, Philosophie und Kunst besitzt, braucht keine Religion!«4 – »Es ist also keine Frage«, sprach er weiter: »Wir Humanisten müssen die Ersten sein, die gerettet werden, denn die Wahrheit liegt keinesfalls bei den Religionen, sondern nur bei uns, danach sollten die Individualisten, dann die Christen, die Juden und abschließend die Muslime gerettet werden.«
Der Individualist hingegen berief sich auf einen Auszug aus Max Stirners Buch »Der Einzige und sein Eigentum«: »Meine Sache ist weder das Göttliche noch das Menschliche, ist nicht das Wahre, Gute, Rechte, Freie usw., sondern allein das Meinige, und sie ist keine allgemeine, sondern ist – einzig, wie Ich einzig bin. Mir geht nichts über Mich!«5 Und weiter: »Wo mir die Welt in den Weg kommt […], da verzehre Ich sie, um den Hunger Meines Egoismus zu stillen. Du bist für Mich nichts als – meine Speise, gleichwie auch Ich von Dir verspeiset und verbraucht werde. Wir haben zueinander nur eine Beziehung, die der Brauchbarkeit, der Nutzbarkeit, des Nutzens.«6 Er meinte ganz stolz: »Ich bin die Wahrheit und die Wahrheit bin ich!« Der Appell des Individualisten war deutlich: Die erste Rettung stand ihm und nur ihm zu. Damit seine Rettung gelänge, wollte er eine starke Person mit in das Rettungsboot nehmen, die ihm beim Ein- und Aussteigen behilflich sein könnte. Außerdem sollte der Koch ihn begleiten, denn falls er auf der Insel allein überleben müsste, bräuchte er ja jemanden, der ihm das Essen zubereiten würde. Die beiden verbleibenden Plätze sollten an zwei möglichst leichte Personen vergeben werden, damit das Rettungsboot schnellstmöglich die Insel erreichen konnte. »Erst danach«, sprach er, »sollten die Humanisten, dann die Christen, die Juden und am Schluss die Muslime gerettet werden.«
Während die fünf Männer ganz in ihre rege Diskussion vertieft waren, hatte sich der Schiffskapitän eine Lösung ausgedacht, wie alle auf dem Schiff gerettet werden können. Er wählte aus jeder der fünf Gruppen (Juden, Christen, Muslime, Humanisten und Individualisten) eine Person für das Rettungsboot aus. Die restlichen Passagiere ordnete er so an, dass sie fünf Menschenketten auf dem Wasser bildeten, und zwar so, dass sich die erste Person der jeweiligen Kette mit den Händen an einer der fünf Personen im Boot klammerte, während ihre Füße im Wasser blieben und der nächsten Person als Halt dienten, die sich auf den Rücken liegend an den Füßen der ersten Person festklammerte. Dabei war es dem Kapitän wichtig, dass jede Person auf dem Boot drei Personen aus den anderen Religionen bzw. Weltanschauungen in seiner Kette hatte. Die Personen im Boot mussten ihre Arme so stark ineinander verschränken und sich gegenseitig so stützen, dass der ersten Person in der jeweiligen Menschenkette ein fester Rückhalt gewährt war. Sollte das Bootsmitglied, an das sich die erste Person klammerte, diese loslassen, würde die jeweilige menschliche Brücke versinken. Und so galt es auch für die folgenden Glieder der Kette: Egal, wessen Hände loslassen würden, er würde damit sich selbst und alle anderen, die nach ihm auf dem Wasser schwammen, sinken lassen.
Als die fünf Diskutanten, die noch immer völlig in ihr Streitgespräch verwickelt waren, dies sahen, waren sie sprachlos. Nur mehr sie, der Kapitän, sein Assistent, der Koch und der eine Matrose waren noch an Bord des sinkenden Schiffes. »Springen Sie schnell nacheinander ins Wasser und halten Sie sich als viertes Glied an den Füßen der letzten Person in der Kette fest, die von ihrem eigenen Anhänger im Rettungsboot festgehalten wird!«, forderte der Kapitän sie auf. Dieser Anordnung folgend nahm der Christ seinen Platz als letztes Glied der Kette ein, die von einem Christen im Boot festgehalten wurde. Der Jude schwamm zu der Kette, die von einem Juden im Rettungsboot festgehalten wurde. Und so taten es auch die anderen. Danach bildeten die restlichen Besatzungsmitglieder und zu allerletzt der Kapitän eine sechste Kette, die vom Steuermann an Bord festgehalten wurde. Und so gelangten alle heil auf die Insel.
Auf der Insel ein wenig zur Ruhe gekommen, war der Kapitän neugierig zu erfahren, nach welchen Gesichtspunkten die drei Theologen, der Humanist und der Individualist die Reihenfolge der zu rettenden Person ausgesucht hatten. Der christliche und der jüdische Theologe hatten ähnlich argumentiert, dass sie sich unter den verschiedenen Parteien als die sich am nächsten stehenden ansahen. Humanisten und Individualisten seien ihnen nicht so vertraut, jedoch näher als die Muslime, die ihnen eher fremd erschienen und daher an letzter Stelle eingereiht wurden. Der muslimische Theologe meinte, die Christen seien den Muslimen näher als die Juden, so stehe es im Koran. Angehörige dieser beiden Religionen, die im Koran als Leute der Schrift gewürdigt seien, ständen den Muslimen näher als die anderen Gruppen, wobei die Humanisten zumindest bestimmten Idealen folgten und daher dem Individualisten vorzuziehen seien. Der Humanist begründete seine Wahl damit, dass er ein grundsätzliches Problem mit den Religionen und deren Anhängern habe, denn diese bevormundeten andere Menschen und wollten sie ausschließen, daher sei eine Zurückreihung nur selbstverständlich. Dennoch seien ihm das Christentum und das Judentum näher als der Islam, der ihm fremd erscheine. Zuletzt meldete sich der Individualist zu Wort, dessen persönlichen Interessen das einzige Kriterium für seine Wahl, wer mit ins Boot dürfe, waren. Die Humanisten ständen ihm dennoch näher als die Religionen, daher wählte er deren Rettung an zweiter Stelle aus, erst dann folgten die Religionen, wobei auch er den Islam als am fremdesten empfand und entsprechend an letzter Stelle einreihte.
Der Kapitän hörte den fünf Männern aufmerksam zu, von denen übrigens keiner in der regen Diskussion bemerkt hatte, dass sie bei ihrem Rettungsplan weder an den Kapitän noch an seine Schiffsbesatzung (mit Ausnahme des Individualisten, der den Koch zu seinem eigenen Wohle mitnehmen wollte) gedacht hatten. Nach einiger Zeit fragten die Männer den Kapitän, woran er eigentlich glaube. Der Kapitän antwortete mit einer Gegenfrage: »Wieso fragt ihr mich, woran ich glaube? Wieso fragt ihr mich nicht, wer ich bin?«
Diese Erzählung beschreibt selbstverständlich keineswegs repräsentativ die verschiedenen Religionen und Weltanschauungen und die in ihr vorkommenden Positionen; innerhalb dieser Strömungen selbst ist eine große Vielfalt zu beobachten. Die Erzählung soll an erster Stelle verdeutlichen, was passiert, wenn Religionen oder Weltanschauungen den Menschen als solchen aus dem Blick verlieren und sich exklusivistisch nur für ihre eigenen Anhänger interessieren. Sowohl im Namen von Religionen als auch im Namen des Humanismus und des Individualismus kann der Mensch ignoriert werden. Und wenn ich hier vom Menschen rede, dann meine ich den freien Menschen, den verantwortlichen Menschen, den handelnden Menschen: den Kapitän, der durch Religionen und andere Weltanschauungen ignoriert werden kann.
Dabei ist der Kapitän kein Ideal an sich, dem es nachzueifern gilt, sondern er stellt die Eigenheit, das Selbst, eines jeden Individuums dar. Diese Eigenheit zu erkennen und sie zu entfalten, setzt Selbsterkenntnis voraus. Jeder ist Kapitän seines Selbst und somit er selbst. Das Ignorieren des eigenen Kapitäns ist die Selbstentfremdung. Der Kapitän ist auch kein selbstsüchtiger Egoist, denn um sich selbst als Kapitän gerecht zu werden, muss man Verantwortung für sich und seine Mitmenschen übernehmen. Diese vom Kapitän getragene Verantwortung ist keine Selbstaufopferung, im Gegenteil, im verantwortlichen Handeln verwirklicht sich das Selbst des Kapitäns. Die getragene Verantwortung ist Ausdruck der Selbstentfaltung. In der Rolle des Kapitäns verschwinden die Grenzen, in ihr verschwinden die konstruierten Gegensätze. Der Kapitän ist Individualist, aber in seinem Individualismus ist er ein Kollektivist. Sein Individualismus verwirklicht sich in seinem Handeln als Teil eines Kollektivs. Er ist eben Kapitän. Und genau diese Haltung des Kapitäns ist die Haltung eines Humanisten, wie ich den Humanismus in diesem Buch darlege. Danach ist der Humanismus eine Haltung des »Sich-Öffnens« des Menschen sowohl nach innen, um sich ständig kritisch zu reflektieren, als auch nach außen, um sich auf das »Andere« einzulassen, dafür Verantwortung zu tragen, dieses in sein eigenes Lebenskonzept einzubeziehen und die Gesellschaftsstrukturen, in denen er lebt, der ständigen Überprüfung zu unterziehen.
Religionen und Weltanschauungen können sich nur dann als humanistisch bezeichnen, wenn sie sich für den Kapitän in uns, für den verantwortungsvoll handelnden freien Menschen interessieren und sich für ihn einsetzen, ja, ihn zum Vorschein bringen.
In diesem Buch zeige ich, warum ausgerechnet der Islam Potenzial zur Entfaltung eines neuen Humanismus in sich trägt. Gerade die Abwesenheit einer kirchlichen Instanz im Islam, die eine gewisse Autoritätsstruktur darstellt, macht ihn zu einer stark individualistischen Religion, die nach dem Kapitän im Menschen sucht. Der Koran spricht vom Menschen als Kalifen, im Sinne eines freien Individuums, das den Auftrag hat, sich selbst als den verantwortlich Handelnden zu finden. Das Hauptproblem des Islams heute liegt darin, dass Muslime gerade diese Stärke des Islams, das Individuum in seiner Eigenheit ernst zu nehmen, zugunsten falscher Loyalitäten gegenüber Autoritätsstrukturen, die der Islam im Grunde ablehnt, verdrängen. Diese religiösen wie nichtreligiösen Autoritätsstrukturen werden dann gerade im Namen eines falsch verstandenen Islams legitimiert und etabliert. Wenn heute ein ins Stocken geratener islamischer Diskurs darauf beharrt, jegliche Bestrebungen nach Aktualisierung des Islamverständnisses zu unterbinden, dann nicht deshalb, weil es ihm um einen authentischen theologischen oder gar religiösen Diskurs geht, sondern lediglich um einen Machtdiskurs, in dem autoritäre Strukturen geschützt werden sollen. Es geht keineswegs um eine inhaltliche Debatte, sondern um die Unterwerfung des Menschen, um seine Bevormundung im Namen des Islams. Es geht hierbei auch nicht um einen Kampf zwischen Labels wie »liberal« gegen »konservativ« und »konservativ« gegen »liberal«, sondern um einen Kampf um die Befreiung des Menschen von solchen bevormundenden Herrschaftsstrukturen, seien sie religiös oder nichtreligiös. Es ist ein strukturelles Problem, das ein religiöses, ein konservatives, ein liberales oder gar ein profanes Label tragen kann. Bevormundung geschieht heute längst nicht mehr nur im Namen von Religionen und extremen Ideologien, sondern auch im Namen des Humanismus selbst, im Namen des Individualismus selbst, ja im Namen der Moderne selbst. Die Lösung dieses strukturellen Problems liegt in der Selbstbefreiung des einzelnen Individuums, um zu sich selbst zurückzukehren, um sein eigenes Selbst zu sein. Sein eigenes Selbst zu sein, bedeutet wiederum, ein freies, verantwortlich handelndes Individuum zu sein.
Wenn Religionen meinen, nach Gott zu suchen, dabei aber den Menschen ignorieren, dann sind sie kaum in der Lage, einen Beitrag zur Entfaltung des Individuums zu leisten. Auch Konzepte des Humanismus, die nach einem individuellen oder kollektiven Ideal streben, verdrängen die Einzigartigkeit eines jeden Individuums. Religion und Humanismus werden heute als rivalisierende Gegensätze gesehen. Denn sie begegnen sich als an Gott Glaubende und nicht an Gott Glaubende. Entlang dieser Dichotomie führen sie ihre Debatten. Aber was ist mit dem Menschen an sich? Wer glaubt an ihn und an seine Einzigartigkeit? Wer setzt sich für die Entfaltung seiner Individualität und gleichzeitig seiner Verantwortung dem Kollektiv gegenüber ein, ohne Individualismus und Kollektivismus gegeneinander auszuspielen? Allein die Frage nach der Begründung von Werten – ist es Gott oder ist es der Mensch, der als Quelle von Werten gilt –, konstruiert eine Spannung, die es so aber nicht geben muss. Wenn zeitgenössische Humanisten meinen, Religion sei ein Medium der Bevormundung und Unterdrückung, dann gehen sie von einem bestimmten Verständnis von Religion aus, das sicher auch vorhanden ist. Religionen entfalten sich allerdings unter sozialen, kulturellen, politischen, ja auch psychologischen Bedingungen, die wiederum beeinflussen, wie Menschen Religionen auffassen. Es ist diese Dynamik der Entfaltung von Religionen, die Religionen zum Entfalten bringen.
In diesem Buch entwerfe ich zwar einen spezifisch islamischen Weg des Humanismus, mir geht es aber nicht um einen Humanismus, der nur für Muslime gilt, sondern um eine humanistische Haltung als Angebot für alle, sich sowohl nach innen als auch nach außen zu öffnen und sich auf die Reise zu begeben, das »Andere«, das außerhalb des Gewohnten ist, zu entdecken. Unser Universum ist in seinen unendlichen Weiten längst noch nicht völlig entdeckt, das gilt genauso für unser geistiges und spirituelles Universum. Eine humanistische Haltung ist ein Einsteigen in ein Raumschiff, das auf eine unendliche geistige Reise geht. Der Humanismus, wie ich ihn verstehe, ist eine Einladung, in dieses geistige Schiff einzusteigen.
Nach dem Verständnis des Islams hat sich Gott auf den Menschen eingelassen und sich ihm geöffnet, indem er sich ihm offenbart hat. Gott spiegelt daher die absolute Haltung des »Sich-Öffnens« wider.
In seinem Buch »Der Mensch im Widerspruch« schrieb der reformierte Schweizer Theologe Emil Brunner (1889–1966): »[F]ür jede Kultur, für jede Geschichtsepoche gilt der Satz: ›Sage mir, was für einen Gott du hast, und ich will dir sagen, wie es um deine Menschlichkeit steht.‹«1 Ich glaube, diese Aussage muss präzisiert werden, denn wenn wir uns mit Gott beschäftigen, kann es nicht allein um die Frage gehen, mit welchen Merkmalen Gott aus der jeweiligen kulturellen oder geschichtlichen Perspektive beschrieben wird, sondern wir müssen unseren Blick vor allem auch darauf richten, an wen oder an was dieser Gott glaubt. Daher müsste es doch viel treffender heißen: »Sage mir, woran dein Gott glaubt, und ich sage dir, wie es um deine Menschlichkeit steht.« So kann der Mensch etwa an einem Gott festhalten, der nur an sich selbst glaubt, dem es also lediglich um sich selbst geht. Religiösen und politischen Institutionen, die allein am Erhalt und Ausbau ihrer Macht interessiert sind, ist ein derartiges Gottesbild willkommen, weil sich damit eine Mentalität des Sich-bevormunden-Lassens durch Autoritäten und somit der Unterwerfung unter ihre Macht etablieren lässt. Solche Institutionen, die meinen, das Volk zähmen zu müssen, werden jeden Versuch unterbinden, den Menschen in den Mittelpunkt des Interesses von Religionen zu stellen. Man kann aber auch an einen Gott glauben, dem es nicht um sich selbst geht, sondern um den Menschen. Ein solches Gottesverständnis gibt dem Menschen seine Mündigkeit zurück; der Mensch muss seine Autonomie nicht von Gott erkämpfen, er kann sich vielmehr gemeinsam mit diesem Gott, der an ihn glaubt, von jeglicher Form der religiösen oder nichtreligiösen Bevormundung befreien. In meinem Buch »Islam ist Barmherzigkeit« habe ich mich aus einer islamischen theologischen Perspektive für das Konzept eines barmherzigen Gottes stark gemacht, der an den Menschen glaubt, der ihn und seine Kooperation will, der ihm vertraut und ihn daher mit Freiheit ausstattet. Denn nur mit dem Glauben an solch einen humanistischen Gott kann den Anhängern dieses Gottes aus ihrem Glauben heraus eine Grundlage erwachsen, den Menschen als solchen zu würdigen. Das Hauptproblem einiger religiöser Menschen besteht jedoch darin, dass sie – wenn auch unbewusst – von einem Gottesbild ausgehen, das Gott als Antihumanisten darstellt. Sie stellen sich einen Gott vor, dem es um die eigene Verherrlichung durch die Menschen geht und der sie zu seinen Marionetten machen will, deren Rolle lediglich darin besteht, Instruktionen zu empfangen, die sie unhinterfragt ausführen müssen; ansonsten droht ihnen der Zorn Gottes, schlimmstenfalls das Höllenfeuer. Dadurch konstruieren gerade gläubige Menschen eine künstliche Spannung zwischen sich selbst und der Entfaltung ihrer Persönlichkeit, ihrer Freiheit und ihrer Mündigkeit auf der einen Seite und Gott auf der anderen. Eine Spannung, die von Religionskritikern als Argument gegen Religionen verwendet wird.
Der Islam, wie ich ihn verstehe und für den ich mich stark mache, beschreibt die Gott-Mensch-Beziehung völlig anders, nämlich als eine partnerschaftliche Beziehung. Weder will Gott den Menschen bevormunden, noch soll sich der Mensch für göttlich halten. Gott will den Menschen, er glaubt an ihn, er will seine Glückseligkeit, er hat sich auf ihn eingelassen und sich für ihn entschieden, deshalb ist Gott ein Humanist. Im Folgenden gehe ich auf die wesentlichen Aspekte im Islam ein, die diesen göttlichen Humanismus beschreiben.
Wenn wir den Stellenwert des Menschen im Islam verstehen wollen, ist gerade die Erzählung von der Erschaffung des Menschen, wie sie an verschiedenen Orten im Koran zu finden ist, äußerst aufschlussreich. Diese Erzählung richtig einzuordnen, scheint mir entscheidend, um überhaupt das islamische Gott-Mensch-Verhältnis zu begreifen. Bevor ich aber etwas detaillierter auf diese Erzählung eingehe, sei Folgendes angemerkt: Der Koran schildert die Erschaffung des Menschen keineswegs deshalb, weil es ihm um die Geschichtlichkeit dieser und ähnlicher Erzählungen geht. Der Koran will keine historischen Fakten liefern, man stößt auf keine Daten und kaum auf Namen von Orten oder Personen; die Absicht des Korans ist es vielmehr, etwas über Gottes Intention, über Gottes Handeln in der Welt und über die Gott-Mensch-Beziehung zu vermitteln. Der Versuch, eine Debatte über eine wie auch immer verstandene historische Wirklichkeit koranischer Erzählungen zu konstruieren, ist daher überflüssig und alles andere als zielführend.
Die koranische Erzählung von der Erschaffung des Menschen beginnt mit einem Dialog zwischen Gott und den Engeln. Zu Beginn dieses Dialogs verkündet Gott ihnen, er habe vor, einen Menschen zu erschaffen und auf der Erde einzusetzen: »Und als dein Herr zu den Engeln sprach: ›Ich will einen Statthalter (arab. chalīfa) auf Erden einsetzen […]‹«2. Die hier verwendete Bezeichnung »Chalīfa« (im deutschen Sprachgebrauch auch »Kalif«) charakterisiert den Menschen als Statthalter oder Stellvertreter, der Gottes Intention durch sein eigenes Handeln Wirklichkeit werden lässt. Später werde ich noch ausführlicher auf diesen zentralen Gedanken eingehen, wonach Gott nicht direkt in die Welt eingreift, sondern hauptsächlich durch die Kooperation mit dem Menschen, der sich in Freiheit für diese Zusammenarbeit entschließt.
Aber zurück zur Erzählung: Die Engel reagieren auf die Ankündigung Gottes alles andere als begeistert. Zwei Argumente setzen sie seinem Vorhaben entgegen. Das erste bezieht sich auf den Menschen: Die Engel behaupten, der Mensch sei lediglich ein Unheilstifter und werde nur Blut vergießen. Das zweite Argument gilt der Intention, welche die Engel hinter Gottes Vorhaben vermuteten; sie gehen nämlich davon aus, dass es Gott mit der Erschaffung des Menschen um seine eigene Verherrlichung und Anbetung gehe, und meinen: »Wir verherrlichen und beten dich an [also wozu noch der Mensch?].«3 Ein Missverständnis, wie es auch heute bei einigen Gläubigen anzutreffen ist, deren religiöse Praxis darauf gründet, Gott drehe sich nur um sich selbst. Mit der Konsequenz, dass ihr Verhältnis zu Gott und dadurch ihr Glaube primär als Verherrlichung Gottes gelebt und erfahren wird und seinen Bezug zum Lebensentwurf des Menschen verliert. Die Schöpfungserzählung macht aber gerade auf dieses Missverständnis aufmerksam, denn ginge es Gott nur um seine eigene Verherrlichung, hätten die Engel recht und das Gespräch wäre zu Ende: Die Engel erfüllen diese Aufgabe bereits – wozu also noch ein weiteres Geschöpf? Doch offensichtlich ist die Absicht Gottes, wie er sich in der koranischen Schöpfungserzählung präsentiert, eine ganz andere. Auf ihren skeptischen Einwand antwortet er den Engeln: »›Ich weiß, was ihr nicht wisst.‹«4 Es geht ihm offensichtlich um den Menschen, und zwar um den freien Menschen, denn die Schöpfungserzählung geht weiter.
Anders als die Engel, die ihre Skepsis gegenüber dem Vorhaben Gottes äußerten, zeigte Gott ihnen in diesem Dialog seinen Glauben an den Menschen und sein Vertrauen in ihn auf. Gott erschafft Adam, haucht ihm von seinem Geist ein (als Symbol des »Anderen«, des »Göttlichen« im Menschen und somit seiner Fähigkeit, sich jeder transzendenten Erfahrung zu öffnen) und bringt ihm alle Namen bei (als Symbol der Erkenntnisfähigkeit des Menschen und somit seiner Vernunft).5 Daraufhin befiehlt Gott den Engeln, sich vor Adam niederzuwerfen. Die Engel folgen dem Befehl, alle bis auf einen, Iblis, der dadurch zum Erzteufel wird. Worin besteht die eigentliche Sünde, die Iblis nach koranischer Darstellung begangen hat? Es ist die aus seinem Hochmut resultierende Ablehnung, den Menschen zu würdigen. Iblis hat kein Problem damit, sich vor Gott niederzuwerfen, allerdings weigert er sich, sich vor dem Menschen niederzuwerfen. Dadurch erteilt Iblis nicht nur Adam, sondern dem Menschen als solchem eine Absage. Der Koran spricht deshalb an einer anderen Stelle von den Menschen im Plural: »Und wir haben euch Menschen erschaffen. Hierauf gaben wir euch eine Gestalt. Hierauf sagten wir zu den Engeln: ›Werft euch vor Adam nieder!‹ Da warfen sie sich alle nieder, außer Iblis […]«6 Iblis steht im Koran also exemplarisch für jeden, der nicht an den Menschen als freies, mit einer unveräußerlichen Würde versehenes und vernünftiges Wesen glaubt, auch wenn er an Gott glaubt und, wie Iblis, bereit wäre, sich vor Gott niederzuwerfen. Das ist auch eine klare Botschaft an alle Fundamentalisten in allen Religionen, die meinen, Gott näher zu kommen, indem sie andere Menschen diskreditieren.
Doch die Erzählung geht noch weiter: Neben Adam hat Gott auch Eva im Paradies erschaffen und beiden verboten, von den Früchten des Baums zu essen. Anders als in der biblischen Darstellung wird im Koran nicht erwähnt, um welchen Baum es sich hierbei handelt. Und ein weiterer Unterschied existiert: Beide, Adam und Eva, werden vom Teufel verführt und haben von den Früchten des verbotenen Baums gegessen, ohne dass weiter darauf eingegangen wird, wer von beiden als Erster die Initiative ergriffen hat. Als sie davon gegessen haben, wird ihnen bewusst, dass sie sich Gottes Befehl widersetzt haben. Sie bitten Gott um Vergebung, Gott vergibt ihnen sofort und schickt sie daraufhin auf die Erde, damit sie ihren Auftrag als »Kalif« erfüllen können (Koran 2:34–38). Nun lässt sich fragen: Wenn der Mensch von Anfang an auf der Erde leben sollte (so die Ankündigung Gottes an die Engel), wieso muss er zunächst im Paradies verweilen, wo er sündigt, und wird erst dann auf die Erde hinabgesandt? Meine Antwort lautet: Wenn von vornherein der Mensch für das Leben und Wirken auf der Erde bestimmt war, bedeutet seine Sendung nach dem Sündenfall keinesfalls eine Strafe, sie ist vielmehr seine Bestimmung und der Sündenfall eine Notwendigkeit, denn anders als in der biblischen Erzählung wird Adam und Eva unmittelbar nach dem Verzehr der verbotenen Früchte vergeben, weshalb es im Islam auch keine Lehre von der Erbsünde gibt. Ich spreche deshalb von einer Notwendigkeit, weil erst durch den Sündenfall, durch sein »Nein« zu Gott, der Mensch sich seiner eigenen Freiheit bewusst wird. Erst wenn der Mensch mit dem Bewusstsein der eigenen Freiheit ausgestattet ist, ist er in der Lage, seinen Auftrag als Kalif, als Medium der Verwirklichung von Gottes Intention, verantwortungsvoll in Freiheit zu erfüllen. Anders gesagt: Ohne ein Bewusstsein seiner eigenen Autonomie ist der Mensch noch weit davon entfernt, Verantwortung tragen zu können. Gerade Erziehung und Bildung, vor allem religiöse Erziehung und religiöse Bildung, müssen daher die Schaffung eines Bewusstseins der eigenen Freiheit zu einem ihrer obersten Ziele setzen. Wer mit Freiheit ausgestattet ist und Verantwortung trägt, muss auch die Konsequenzen seiner Entscheidungen selbst tragen. Der Koran spricht vom Bewusstwerden der eigenen Nacktheit: »[…] Als sie nun von dem Baum gegessen hatten, wurde ihnen ihre Scham kund, und sie begannen, Blätter von Bäumen des Paradieses über sich zusammenzuheften […].«7 Erst mit dem Bewusstsein der eigenen Freiheit ist der Mensch in der Lage, Verantwortung zu tragen. Erst dann kann er seine Subjektivität entfalten, erst dann ist er keine Marionette mehr, sondern Lenker und Verfasser seiner eigenen Geschichte.
Der Koran lehnt die Idee strikt ab, dass jemand für die Handlungen eines anderen zur Verantwortung gezogen wird: »[…] Und keiner wird die Last eines anderen tragen […].«8 »Und keine Seele soll die Last einer anderen tragen. Und wenn eine schwerbelastete Seele jemanden ruft, um ihre Last zu tragen, soll nichts davon getragen werden, auch wenn es sich um einen Verwandten handelte […].«9 Der Islam lehnt sogar die Idee strikt ab, Gott für seine Handlungen verantwortlich zu machen (Koran 16:35). Jedes Individuum ist für sich selbst, für seine Handlungen und Verfehlungen verantwortlich. Daher existiert auch die Lehre der stellvertretenden Buße im Islam nicht. Niemand soll für die Verfehlungen anderer sterben. Auch soll niemand wegen der Verfehlungen anderer sanktioniert werden. Aus diesem Grund lehnt der Islam ebenfalls die Idee strikt ab, dass der Mensch mit einer Sünde beladen zur Welt kommt. Was kann der Mensch dafür, dass andere vor ihm gesündigt haben? Warum soll er wegen ihrer Sünden von vornherein belastet sein? Der Islam geht davon aus, dass der Mensch keineswegs vorbelastet zur Welt kommt. Jedoch besitzt der Mensch neben seiner Neigung zum Guten auch eine Neigung zum Bösen, was ihn eigentlich erst in die Lage versetzt, sich in Freiheit für seinen Weg zu entscheiden. Der Koran beschreibt daher den Menschen in seiner Ambivalenz, er ist weder vollkommen gut noch vollkommen schlecht. Er wurde zwar »in edelster Form erschaffen« (Koran 95:4), aber er ist »schwach« (Koran 4:28), jedoch keineswegs eine gefallene Kreatur. Er ist dem Bösen zugeneigt (Koran 75:5), kleinmütig (Koran 70:19), er kann sich aber selbst läutern (Koran 91:9).
Gott hat, so wie es sich in der koranischen Schöpfungsgeschichte darstellt, den Menschen auserwählt, um ihm das Angebot zu machen, sein Partner zu sein, um Gottes Intention nach Liebe und Barmherzigkeit Wirklichkeit werden zu lassen. Damit hat Gott sich dem Menschen geöffnet. Diese grenzenlose und prinzipielle Offenheit ist die Bedingung und Grundlage von Freiheit. Freiheit wiederum bedeutet Selbstbestimmung, denn nur wer sich selbst bestimmt, ist wirklich frei.10 Was zunächst eine formale Offenheit ist, wird erst dann konkret, wenn es sich einem bestimmten Inhalt öffnet. Wenn ich z. B. ein Buch lese und mich mit dem Inhalt auseinandersetze, mich diesem also öffne, dann verwirklicht sich meine Freiheit. Die prinzipielle Offenheit, die jeder Mensch in sich trägt, bekommt einen konkreten Inhalt: das Sich-Öffnen für den Inhalt des Buches. Die Konkretisierung vollzieht sich also darin, dass die Selbstbestimmung oder Freiheit dem Willen einen bestimmten, einen konkreten Inhalt gibt.11 Der Wille hat allgemein »die transzendentale Bedeutung, sich einer inhaltlichen Möglichkeit zu erschließen, oder sich vor ihr zu verschließen«12, doch nur, wenn er sich öffnet, kann er die Bedingung von Selbstbestimmung sein. Verschließt er sich hingegen, ist diese Bedingung nicht mehr vorhanden, und somit ist auch keine Selbstbestimmung bzw. Freiheit mehr gegeben. Mit anderen Worten heißt das, dass Freiheit nur dort gegeben ist, wo sich der Wille öffnet, also etwas bejaht.
Wenn nun die formale Offenheit sich erst durch »eine Bestimmung für etwas« konkretisiert, stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage nach diesem konkreten Inhalt.13 Konkret wird die Offenheit in der Bejahung von etwas. Wenn nun die grenzenlose und prinzipielle Offenheit die Bedingung für Selbstbestimmung darstellt, »so liegt die entsprechende Bestimmung dieser Selbstbestimmung in der Bejahung der Freiheit selbst«14, d. h. der erfüllende Inhalt der Freiheit kann kein anderer sein als Freiheit selbst.15 Nur in der Bejahung von Freiheit erfüllt sich Freiheit. Gott ist demnach Freiheit. Sein ursprünglicher Wille ist Wille zur Offenheit und damit zur Freiheit.
Transzendentale Freiheit vollzieht sich also erst durch die Bejahung anderer Freiheit. »Nur im Ent-schluß zu anderer Freiheit setzt sich Freiheit selbst ihrer vollen Form nach«16, denn nur so kann der Wert der Freiheit ihr in »der Form und Dignität nicht nachstehen«17. Das heißt, Gottes vollkommene, unbedingte Freiheit vollzieht sich durch die Bejahung menschlicher Freiheit. Menschliche Freiheit bezieht sich auf Gottes vollkommene Freiheit, denn der Mensch trägt ebenfalls eine prinzipielle, grenzenlose Offenheit in sich, die aber erst durch die Bejahung der Freiheit selbst konkret wird. »Der Mensch bejaht in seiner Freiheit die Freiheit. Damit ist er die Freiheit.«18 Anders als Gott bleibt der Mensch dennoch relativ und vergänglich. Da nun die Ausübung der Freiheit des Menschen einer Endlichkeit unterworfen ist, muss die Unbedingtheit seiner Freiheit, die ihre Bedingung in der prinzipiellen, unbegrenzten Offenheit findet und damit unerschöpflich ist, auf etwas Unbedingtes, eine unbedingte Freiheit zurückgehen. Diese unbedingte Freiheit bejaht der Mensch schon immer durch die Bejahung der endlichen Freiheit mit, und es handelt sich bei dieser unbedingten Freiheit um Gott selbst. Damit also die menschliche Freiheit als Bejahung der endlichen Freiheit überhaupt existieren kann, muss Gott unbedingte Freiheit und somit der Rückbezug der Unbedingtheit menschlicher Freiheit zu ihr sein. Gott, als unbedingte Freiheit gedacht, ist das unbedingte »Sich-Öffnen«.
Anders gesagt: Gott hat sich in Freiheit dem Menschen geöffnet und damit die Freiheit des Menschen bejaht. Würde Gott den Menschen in seiner Freiheit einschränken, würde dies die Freiheit Gottes selbst einschränken, denn Freiheit vollzieht sich, indem sie sich einer anderen Freiheit öffnet, sie zulässt. Verträgt sich dieses Konzept der Freiheit mit dem koranischen Verständnis des Prophetentums? Schränkt nicht gerade ein Prophet die menschliche Freiheit ein, indem er sie in eine gewisse Richtung zu zwingen versucht? Anders als es zum Teil im islamischen Volksglauben und bei manchen theologischen Strömungen verbreitet ist, beschränkt der Koran die Rollen von Propheten lediglich auf die Verkündung, sie dürfen aber niemanden zum Glauben zwingen, sie machen den Menschen lediglich Angebote, mehr dürfen sie nicht, um nicht die Freiheit der Menschen einzuschränken, auch wenn diese ihnen nicht folgen wollen: »Wenn sie sich nun aber abwenden, so hast du [Muhammad] nur die Botschaft mit klaren Worten auszurichten.«19 »Der Gesandte hat nur die Botschaft auszurichten […].«20
Um die Freiheit und die Souveränität des Menschen zu schützen, lehnt der Islam jegliche Form der Vermittlung zwischen Mensch und Gott in Form von Institutionen, Geistlichen, Meistern usw. strikt ab. Die Kritik des Korans an die Mekkaner, die damit argumentiert haben, Götzen neben Gott anzubeten, um dadurch Gott näher zu kommen (Koran 39:3), kann heute auf jegliche Form der Selbstaufgabe übertragen werden. Denn jede Form des Zulassens von Bevormundung ist eine Beteiligung am Raub der eigenen Freiheit, die dem Menschen von Gott gewollt und geschenkt ist, und steht daher im klaren Widerspruch zum islamischen Glauben selbst.
Gläubige Menschen mag die Überschrift »Gott ›braucht‹ den Menschen« etwas irritieren, womöglich sogar provozieren. Damit kein Missverstehen entsteht: Gott ist allmächtig, und er ist im Grunde weder auf jemanden angewiesen, noch braucht er jemanden, auch wenn im Koran die Rede davon ist, dass Gott die Hilfe der Menschen erwartet (z. B.: Koran 57:25). Dass Gott den Menschen »braucht«, lässt sich so verstehen: Gott hat die Welt so konzipiert, dass er nicht unmittelbar in sie eingreift und Dinge in ihr direkt verändert. Primär fällt diese Rolle dem Menschen zu, der dazu eingeladen ist, sich in Freiheit zur Kooperation mit Gott zur Verfügung zu stellen. Dadurch sollen die Freiheit des Menschen und somit die Verantwortung für sein Handeln souverän bleiben. Schon im 7. Jahrhundert haben muslimische Gelehrte wie der bekannte Gelehrte Hasan al-Basrī (gest. 728) auf diese Form der Konzipierung der Welt verwiesen. Al-Basrī sprach davon, dass Gott in seiner Allmacht durchaus die Fähigkeit besitzt, den Menschen zum Glauben oder Nicht-Glauben zu bestimmen, es aber nicht tut, sondern die Entscheidung dem freien Willen des Menschen überlässt.21 Gott tritt in die Welt nicht als Instanz der Bevormundung des Menschen, sondern als dessen Partner. Seinen Glauben zu leben und zu praktizieren, bedeutet aus der Sicht des Menschen daher, für Gott da zu sein, »ja« zu sagen zu seiner Partnerschaft. Somit reduziert sich religiöses Leben keineswegs auf die Ausübung religiöser Rituale, die nicht einmal Selbstzweck sind, sondern Medien einer spirituellen und ethischen Bereicherung des Menschen. Religiöses Leben, verstanden als konstruktive Entfaltung seiner Spiritualität sowie seiner Persönlichkeit, als Hervorhebung seiner Talente und Fähigkeiten, als Arbeit an seinem Charakter, an seiner Bildung und Weiterbildung, als Übernahme von Verantwortung für sich, seine Mitmenschen und seine Umwelt, als Einsatz für die Kultivierung der Erde sowohl in materieller als auch in geistiger Hinsicht, harmoniert mit dem Lebensentwurf eines jeden verantwortlichen Menschen. Und genau das ist es, was der Koran mit »Kalif« bezeichnet: ein Stellvertreter, der Gottes Intention durch sein eigenes Handeln Wirklichkeit werden lässt.
Die Spannung zwischen Religiös-Sein, ja Fromm-Sein auf der einen Seite und der Existenz als verantwortungsvoller Bürger einer Gesellschaft auf der anderen erlischt somit. Der Mensch hat nach islamischer Vorstellung den Auftrag, seinen Lebensentwurf so verantwortungsvoll zu gestalten, dass durch ihn möglichst viel Konstruktives verwirklicht wird.
Gott greift nach islamischer Vorstellung also nicht unmittelbar in die Welt ein, um sein Ziel – Liebe und Barmherzigkeit – zu erreichen, sondern er nimmt den Willen und das Handeln des Menschen in Anspruch, indem er ihn mit seinem Willen inspiriert und ihm immer wieder Angebote macht. Es liegt aber letztendlich in der alleinigen Entscheidung des Menschen, ob er mit Gott kooperiert oder nicht. Die göttliche Liebe und Barmherzigkeit als Ziel der Schöpfung auf der einen Seite und deren Verwirklichung hier auf Erden auf der anderen sind zwei Seiten derselben Medaille.
Der Mensch ist also nach der islamischen Vorstellung ein Kommunikationswesen; er steht im Dialog mit Gott, mit sich selbst, mit seinen Mitmenschen und mit der Schöpfung. Immer wieder erinnere ich mich an die schöne Erzählung des Propheten Muhammad, die den Gedanken, wonach Gott den Menschen »braucht« und wie sich Gottesdienst in seiner lebensweltlichen Dimension verwirklichen kann, auf den Punkt bringt: Der Prophet Muhammad erzählte: »Im Jenseits wird Gott einen Mann fragen: ›Ich war krank und du hast mich nicht besucht, ich war hungrig und du hast mir nichts zu essen gegeben, und ich war durstig und du hast mir nichts zu trinken gegeben.‹ Der Mann wird daraufhin erstaunt fragen: ›Aber du bist Gott, wie kannst du krank, durstig oder hungrig sein?!‹ Da wird ihm Gott antworten: ›Am Tag soundso war ein Bekannter von dir krank, und du hast ihn nicht besucht; hättest du ihn besucht, hättest du mich dort, bei ihm, gefunden. An einem Tag war ein Bekannter von dir hungrig, und du hast ihm nichts zum Essen gegeben, und an einem Tag war ein Bekannter von dir durstig, und du hast ihm nichts zum Trinken gegeben.‹«22
Nach dem Koran hat Gott »den Menschen in edelster Form erschaffen«23 und »dienstbar hat er den Menschen gemacht, was in den Himmeln und auf der Erde allesamt ist. Wahrlich, darin sind Zeichen für Leute, die nachdenken.«24