Sieben verweht - Frank Volz - E-Book

Sieben verweht E-Book

Frank Volz

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Beschreibung

Für die junge Clärchen, die gerade ihre Friseurausbildung begonnen hat, markiert der Tod ihres geliebten Bruders vor Stalingrad den Beginn einer schmerzhaften Reise durch wechselvolle Jahre. Einer nach dem anderen verschwinden die Männer, die in ihrem Leben wichtig sind, ihre Beweggründe dafür bleiben verborgen. Während einige verzweifelt ihren Platz in der Gesellschaft suchen, werden andere von ihrer vergessen geglaubten Vergangenheit eingeholt. Doch alle kämpfen auf ihre Weise gegen neue Umstände. Und scheitern. Inmitten des Chaos nimmt auch die junge Frau Abschied von ihren Vorstellungen einer glücklichen Familie. Eine Geschichte über das Schicksal einer dennoch lebensbejahenden Frau, die in den dunklen Stunden des Lebens nach Antworten sucht und sich ihren eigenen Herausforderungen stellen muss.

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Für die junge Clärchen, die gerade ihre Friseurausbildung begonnen hat, markiert der Tod ihres geliebten Bruders vor Stalingrad den Beginn einer schmerzhaften Reise durch wechselvolle Jahre. Einer nach dem anderen verschwinden die Männer, die in ihrem Leben wichtig sind, ihre Beweggründe dafür bleiben verborgen. Während einige verzweifelt ihren Platz in der Gesellschaft suchen, werden andere von ihrer vergessen geglaubten Vergangenheit eingeholt. Doch alle kämpfen auf ihre Weise gegen neue Umstände. Und scheitern. Inmitten des Chaos nimmt auch die junge Frau Abschied von ihren Vorstellungen einer glücklichen Familie. Eine Geschichte über das Schicksal einer dennoch lebensbejahenden Frau, die in den dunklen Stunden des Lebens nach Antworten sucht und sich ihren eigenen Herausforderungen stellen muss.

Frank Volz stammt aus der ländlich geprägten Region zwischen Osnabrück und Ibbenbüren und hörte auf den Höfen und von seinen Freunden viele aufregende und spannende Geschichten über die Lebenswege und Schicksale seiner Nachbarn und hat sich schon lange gewünscht, seine Heimat zum Schauplatz eines Romans zu machen.

ANMERKUNG DES VERFASSERS

Was folgt, ist der Versuch, den historischen Leerraum in meiner Familiengeschichte zu füllen. Die Erzählungen spielen an den tatsächlichen Schauplätzen im Großraum zwischen Osnabrück und Ibbenbüren. Die Charaktere und die Handlungen sind jedoch frei erfunden.

Für Tante und Onkel Bojin

Inhalt

Clärchen und Günther

Horst

Walter

Lazar

Anton

Johann

Friedrich

Clärchen

Clärchen und Günther

Ohne dich bin ich allein Ohne dich bin ich verlorenRammstein, Ohne dich

Das gute Aussehen mit den kurz geschnittenen Haaren, die weichen Gesichtszüge, die vielleicht etwas große, aber wohlgeformte Nase und die immer gepflegten Hände zeichneten ihren Bruder Günther aus. Er wirkte sehr reif und still. Sehr nachdenklich. Als hätte er mit seinen gut zwanzig Jahren deutlich mehr von der Welt gesehen als viele andere Menschen in ihrem ganzen Leben. Für Clärchen standen jedoch viel mehr die ruhige und besonnene Art ihres Bruders im Vordergrund. Sie bewunderte ihn!

Er war immer für sie da. Er hörte ihr aufmerksam zu, wenn sie etwas aus ihrem Schulalltag erzählte. Er half ihr bei den Hausaufgaben und gab ihr Ratschläge, wie sie am besten mit Streitigkeiten auf dem Schulhof zurechtkommen konnte. Günther nahm ihre Sorgen ernst. Er behandelte sie nicht wie ein kleines Kind.

Mit all dem konnte Clärchen allerdings in absehbarer Zeit nicht mehr rechnen, denn Günther musste nach seiner Ausbildung zum Koch den Dienst bei der Wehrmacht antreten. Schlimmer noch! Er meldete sich freiwillig und warf eine Woche nach der Gesellenprüfung seine Schürze und seine Kochmütze im Waschkeller seines Lehrherrn übermütig auf den Haufen mit der schmutzigen Wäsche. Günther stellte seine Bedenken über eine Kriegsbeteiligung in den nächststehenden Abstellschrank, denn viele seiner Freunde hatten sich während der vergangenen Wochen freiwillig zur Wehrmacht gemeldet und die Alten sprachen davon, dass es, wenn überhaupt, nur einen sehr kurzen Krieg geben würde.

Clärchen empfand einfach nur Angst um ihren starken, furchtlosen Bruder. Ihrem großen Vorbild. Günther nahm sich stets Zeit für sie und auch für ihre kleine Schwester Helga. Er machte einen gut gelaunten Eindruck und schien immer ausgeglichen und unbekümmert zu sein. Doch jetzt wollte ihr geliebter Bruder die immer gut gepflegten, modischen Lederschuhe gegen Knobelbecher, und seinen schicken Filzhut gegen einen Stahlhelm tauschen! Clärchen befürchtete, dass sie ihren Bruder in Zukunft nicht mehr in seiner modischen Kleidung bewundern konnte. Sie sollte sich an eine Uniform gewöhnen? Wer würde sich um sie kümmern, um sie und Helga, wenn Günther in der Kaserne seinen Dienst verrichtete? Die Zeit der Eltern reichte dafür kaum. Clärchen war ratlos und traurig! Mehr noch, sie war böse. Ja, sie fühlte sich von ihrem Vorbild und Ratgeber allein gelassen.

„Warum gehst du weg?“, fragte Clärchen mit lauter, schriller Stimme ihren Bruder. Günther blickte ihr wortlos ins Gesicht. „Was soll ich denn ohne dich machen?“, bohrte sie weiter. Günthers Blick blieb an Clärchens spitzer Nase hängen und ein Lächeln breitete sich um seinen Mund herum aus.

„Das ist nicht zum Lachen!“ Clärchens Fäuste trommelten auf seinem Oberarm herum. „Wann kommst du wieder zu uns zurück?“ Sie sah ihrem Bruder in die Augen. „Ich habe Angst um dich!“

„Das musst du nicht. Ich passe auf mich auf. Als Koch ist sicherlich alles halb so schlimm! Und ich werde dir schreiben, so oft ich kann. Versprochen!“

Die regelmäßig eintreffenden Propaganda-Postkarten änderten daran nichts. Die typischen, nichtssagenden Motive von gutgelaunt marschierenden oder auf offenen Wagen fahrenden Soldaten vermochten Clärchen ihre Angst nicht zu nehmen. Auch wenn sie stolz auf ihren unerschrockenen, mutigen und weit herumgekommenen Bruder war.

Liebstes Clärchen,

ich denke häufig an dich und unsere kleine Helga.

Mir geht es gut. Hier ist alles ruhig.

Du musst dir keine Sorgen um mich machen!

Viele Grüße an die Eltern.

Dein Bruder Günther

⁎ ⁎ ⁎

Günther kam aus Frankreich nach Hause. Heimaturlaub. Mit seinen Schwestern reden und den Eltern aus Frankreich berichten. Günther freute sich riesig auf zuhause. Seine Freude währte jedoch nicht lange und seine eben noch klaren Gedanken wurden schnell durch die Vorwürfe seines Vaters eingetrübt. Der trauerte immer noch Günthers auf unbestimmte Zeit verschobenen Einstieg als Koch im elterlichen Gasthof nach. Seine Schwester Clärchen und das Nesthäkchen Helga empfingen ihn jedoch überschwänglich. Sie wollten ihn nie wieder hergeben. Und Neues von ihm hören. Alles wollten sie wissen. Er erzählte ihnen von der Mosel und dem Rhein. Begeistert beschrieb er ihnen die Schlösser an der Loire. Die ersten Toten seiner Einheit verschwieg er.

Dunkle Schatten lagen unter den müden Augen seiner Mutter. Die Überarbeitung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Darunter musste ihr Doppelkinn jedoch nicht leiden und die stärker ausgeprägten Grübchen stachen Günther sofort ins Auge. Zudem hatte er sich noch vor ein paar Monaten nicht vorstellen können, dass für sie die Möglichkeit einer weiteren, deutlichen Gewichtszunahme bestünde. So konnte man sich täuschen!

„Wie läuft der Gasthof?“, wollte Günther von seiner Mutter wissen. Sie saßen am Küchentisch, er trank eine Tasse Tee und sah seiner Mutter beim Schälen der Kartoffeln zu.

„Ach, es geht so. Ich muss gleich wieder rüber, weiter vorbereiten. Es gibt viel zu tun. Und Gäste kommen immer weniger“, antwortete sie. „Aber wie geht es dir? Ich habe Angst um dich!“ Sie sah ihren Sohn mit einem sorgenvollen Blick aus ihren müden Augen an.

„Mach dir bitte keine Sorgen, Mutter. Von den Kämpfen bekomme ich in der Küche kaum etwas mit. Und wie die anderen sagen, wird der Krieg bald vorbei sein. Dann fange ich im Gasthof an. Versprochen!“

„Darüber würde ich mich freuen. Pass auf dich auf und denk bitte daran: immer eine Hand für dich!“

„Das mache ich, Mutter!“

Seine Mutter lächelte und sah ihn an. „Aber jetzt mal etwas anderes. Du kennst doch den Sohn von den Meiers aus Haste, den Friseur mit dem steifen Bein.“

„Du meinst Egon?“

„Den Vornamen kenne ich nicht, ich kenne nur seinen Vater Paul. Der kommt hin und wieder auf ein Bier in den Gasthof. Kannst du deinen Freund mal fragen, ob er für unsere Clärchen eine Lehrstelle hat?“

„Klar, ich wollte ihn sowieso besuchen, ich denke daran. Ich glaube schon, dass Egon uns hilft“, sagte Günther, trank seinen Tee aus, holte ein Schälmesser aus der Schublade, setzte sich wieder neben seine Mutter und begann, ihr beim Kartoffeln schälen zu helfen.

⁎ ⁎ ⁎

Günthers Freund Egon war Inhaber eines Friseursalons in 'Haste'. Den Betrieb hatte er vor ein paar Jahren von seinem Vater übernommen und sofort seine Idee von einer 'Wohlfühlzeit beim Friseur' umgesetzt. Der Salon hieß deshalb auch "Bei Egon" und nicht einfach nur "Frisör". Bei ihm konnten Frau und Mann sich die neuesten Frisuren kreieren lassen. Sie mit Nackenrolle und leicht gewelltem, aus der Stirn gekämmten Haar, er etwas sparsamer. Das enorm kurze Haar stellte den obligatorischen Seitenscheitel deutlich heraus.

Aber Egon besaß auch die Gabe, seinen Kunden modische Frisuren zu verkaufen. Er konnte gut reden, die Leute mit seinen Ideen faszinieren und sie schlussendlich überzeugen.

Egons Herrensalon entwickelte sich sehr gut. Das lag sicherlich auch daran, dass er über eine für sein Gewerbe sehr wertvolle Eigenschaft verfügte: er konnte aufmerksam zuhören. Hinter vorgehaltener Hand oder einfach nur so zum Spaß machte überraschend schnell ein Spruch die Runde: 'Das kannst du besser deinem Egon erzählen'. Nicht zuletzt auch durch diesen Spruch entwickelte sich sein Geschäft schnell zu einem Gesprächsthema weit über die Grenzen des Stadtteils hinaus. Kenner des Salons aus Egons Umfeld bemühten sich allerdings unentwegt zu behaupten, dass Egon diesen Spruch, wohlwissend, was er damit auszulösen in der Lage war, selbst in die Welt gesetzt habe.

Clärchen kannte Egons Salon noch nicht. Und den Besitzer auch nicht. Sie stand völlig unsicher vor der Salontür, mit ihrer rechten Hand hielt sie sich an der schräg über die Glastür verlaufenden Griffstange aus Messing fest. Als sie schüchtern ins Innere des Salons blickte, sah sie viele Kunden und um sie herum geschäftige Betriebsamkeit, Gewusel. Ihr restlicher Mut verließ sie. „Das ist nichts für dich“, dachte sie. Clärchen ließ die Griffstange los und war einen kurzen Moment lang ratlos. „Aber du musst da rein, was sollen sonst Mutter und vor allem Günther von dir denken?“, fragte sie sich. Allerdings wurde ihr die Entscheidung abgenommen, als eine laut lachende Frau die Tür von innen aufstieß und nach draußen drängte. Clärchen trat zur Seite und sah hinter der offensichtlich frisch frisierten und Duftwogen verbreitenden Frau einen hageren, fast schon ausgemergelten Mann in einem dunkelblauen Friseurkittel mit einem auffälligen Igelschnitt und einem Scheitel, der aussah wie mit dem Rasiermesser gezogen. In der Brusttasche des Kittels steckten ein Kamm und eine Schere. Die Frau entfernte sich. Der Hagere blieb in der Tür stehen. „Das ist vielleicht der Herr Meier, der Friseurmeister“, dachte sich Clärchen.

„Sie sind bestimmt Fräulein Schmidt“, sagte der Mann, „kommen Sie doch bitte herein in meinen Salon.“ Er hielt ihr die Tür offen und Clärchen betrat den Empfangsbereich des Friseurgeschäftes. Aus dem Herrensalon hörte sie Stimmen, im Damensalon fegte eine ältere Frau in einem hellblauen Kittel hektisch die auf dem Boden liegenden Haare zusammen. Eine Duftwolke umhüllte Clärchen. Der Wohlgeruch von schwerem Parfüm mischte sich mit den frischen Düften von Rasierwasser und Pomade. Die Noten von Rose, Veilchen, Orange, Zimt und Menthol erfüllten den kleinen Raum und umschmeichelten Clärchens feine Nase.

Der Mann humpelte ihr schwerfällig hinterher und wechselte sofort in die persönliche Anrede. „Du hast einen tollen Bruder! Du kannst stolz auf ihn sein! Und übrigens, du kannst Egon zu mir sagen.“

Clärchen ging nicht auf das Angebot ein. Im Umgang mit älteren und fremden Personen gehörte sich das nicht. Zumindest war sie so erzogen worden. Ein übereiltes Duzen entsprach überhaupt nicht den Vorstellungen ihrer Eltern. Clärchen antwortete deshalb ausweichend: „Ich bin auch stolz auf meinen Bruder. Hoffentlich kommt er bald wieder. Unversehrt!“

„Ach. Bestimmt! Du wirst sehen.“ Egon machte eine wegwerfende Handbewegung. „Aber jetzt zu dir. Du möchtest also Friseurin werden? Hast du dir das gut überlegt? Warum hast du denn diesen Berufswunsch?“, wollte er wissen.

„Ich habe schon als Kind den Eltern gerne die Haare gekämmt und auch die Haare meiner kleinen Schwester frisiert“, antwortete Clärchen. „Und besonders gerne habe ich meiner Mutter Lockenwickler eingedreht. Manchmal durfte ich Vater auch seine Haare nachschneiden.“

„Schön! Das hört sich gut an! Du kannst bei mir anfangen. Ich melde dich bei der Innung und es kann losgehen mit deiner Ausbildung. Komm doch übermorgen vorbei, ich bereite den Ausbildungsvertrag vor und du kannst dann in der Woche nach Ostern anfangen. Einverstanden? Entschuldige bitte, aber ich bin etwas in Eile, der nächste Kunde wartet. Heute herrscht wieder mal großer Andrang. Also? Möchtest du bei mir anfangen?“

„Ja, gerne!“ Mehr fiel Clärchen dazu nicht ein. Natürlich war sie einverstanden. Ihre Berufswahl stand bereits lange fest. Sie war nur überrascht, dass sie so schnell eine Lehrstelle bekommen hatte. Und ihr neuer Chef schien ein freundlicher Mensch zu sein. Musste er ja auch, sonst wäre er kein Freund ihres Bruders. Heute erschien ihr Egon etwas forsch, aber daran würde sie sich bestimmt gewöhnen. Ihr zukünftiger Chef humpelte zurück zur Tür, öffnete sie und drückte Clärchen mit einem festen Griff die Hand. Dabei zeigte er ein gekünstelt wirkendes Lächeln, indem er die Mundwinkel nach außen zog. Die Augenfalten erreichte dieses Lächeln nicht.

⁎ ⁎ ⁎

Egons Kundenstamm vergrößerte sich stetig. Bald nahmen auch viele Soldaten und Rekruten aus den nahegelegenen Kasernen auf seinen Frisierstühlen Platz, so sie sich den recht üppigen Tarif für die fünfzehnminütige Prozedur in Egons Haartempel überhaupt leisten konnten. Alle fühlten sich in dem modern eingerichteten Salon mit dem stets gut gelaunten Haarkünstler Egon und seinen top gestylten Friseuren sehr wohl.

Das konnten Egons Mitbewerber nicht von sich behaupten. Die Beschwerden und Eingaben an die berufsständische Vertretung häuften sich in einem Maße, wie es die Innung seit ihrer Gründung in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts als "Verband Deutscher Barbierherren" noch nicht verarbeiten musste. Viele seiner Kollegen wollten Egon einfach 'über den Löffel barbieren'. Dass Egon ihnen für ihre Proteste nur ein Lächeln entgegenbrachte und sie darüber hinaus auch noch als Neider bezeichnete, trug nicht zur Vergrößerung des Verständnisses mit seinen Kollegen bei.

Clärchen beherrschte den Umgang mit ihrem Handwerkszeug sehr schnell. Wie selbstverständlich arbeitete sie mit der Schere und der Haarschneidemaschine. Egon setzte sie daher bereits nach wenigen Monaten als Aushilfe im Herrensalon ein. Ihr anfängliches Unbehagen verflog sehr schnell und sie schnitt den Herren sehr gerne die Haare. Viele Männer musterten sie anerkennend. Sie spürte die Blicke der Männer in ihrem Rücken wie ein Prickeln auf ihrer Haut und fühlte sich geschmeichelt. Egons Kunden behandelten Clärchen wie eine erwachsene Frau und nicht wie ein Lehrmädchen im ersten Lehrjahr. Egon freute sich, dass Clärchen schnell lernte und im Herrensalon so gut zurechtkam.

Egon schmunzelte häufig, denn sein Geschäft entwickelte sich zu einem vollen Erfolg. Der Vater konnte stolz auf ihn sein! Dazu Egons guter Griff mit dem neuen, hübschen Lehrmädchen. Die Berufskollegen würden vor Neid platzen! Auch seine neue Geschäftsidee sprach sich gerade sehr schnell herum. Jeder Kunde, der nicht innerhalb von einer halben Stunde bedient wurde, bekam eine Tasse starken Kaffee. Bohnenkaffee! Keinen Muckefuck! Allein schon der Name war Egon ein Gräuel und die offizielle Bezeichnung "Kaffee-Surrogat-Extrakt" dieses Gerstenpulvers empfand er immer schon als schlichtweg geschäftsschädigend. Vor allem viele Rekruten der nahegelegenen Kaserne kamen in der Hoffnung, dass kein Friseurstuhl frei war, nur um im Wartebereich zu einer Zigarette eine Tasse Kaffee trinken zu können, und sich so etwas vom anstrengenden Drill zu erholen. (Viele Leute stellten sich die Frage, über welche Beziehungen Egon verfügte, um die immer knapper werdenden Kaffeebohnen zu beschaffen. Das fragte sich auch die Hitlerjugend und wollte den Leuten das Kaffeetrinken vermiesen, indem sie vor Egons Laden sangen: „Nicht für Egon ist der Türkentrank, schwächt seine Nerven, macht ihn blass und krank.“)

Allerdings sorgten nicht nur der gute Kaffee und die Aussicht auf ein anregendes Gespräch mit Egon oder einem seiner Angestellten für einen so hohen Zuspruch. Der deutlich überwiegende Teil der Männer kam, in einigen Fällen angeblich auch häufiger als es die Haartracht notwendig erscheinen ließ, um mit Hilde, Egons attraktiver Schwester, ins Gespräch zu kommen, während diese den Kaffee servierte. Es verging kein Tag, an dem Egon nicht behauptete, dass er seine Friseurkollegen auch wegen der optischen Vorzüge von Hilde im Vergleich zu deren Schwestern weit hinter sich ließ.

Wirkliche Chancen auf ein Gespräch oder vielleicht sogar einen kleinen Flirt besaßen jedoch nur die Offiziere. Für sie war der Dienstagnachmittag freigehalten. Nach der ersten Tasse Kaffee erhöhte sich bei einigen bereits der Blutdruck, zumindest spürten sie einen erhöhten Puls. Dann servierte Hilde zu dem Kaffee einen Weinbrand. Angeblich soll es nach dem Genuss des Alkohols bei dem einen oder anderen der Offiziere zu Herzrasen gekommen sein. So führte die Bewirtung im Wartebereich häufig zu einer ausgelassenen und durchweg fröhlichen Stimmung im Salon.

⁎ ⁎ ⁎

Für Clärchen jedoch gab es keine Fröhlichkeit mehr. Für sie zog die Schwermut ein. Günther war tot, gefallen vor Stalingrad. Die Nachricht bescherte ihr scheinbar nicht enden wollende, schreckliche Nächte. Schockstarren. Tränenunterlaufene Augen. Dunkle Augenringe. Ihre jugendliche Leichtigkeit und ihre Begeisterung für ihre Ausbildung verflüchtigten sich wie ein billiges Rasierwasser. Der so liebgewonnene Salon erschien Clärchen wie eine graue Pappkulisse. Nur noch grau in grau. „Du hast mir versprochen, zu uns zurückzukehren“, dachte sie verzweifelt, „und jetzt sehe ich dich nie wieder“. Clärchen starrte oft minutenlang in die Ferne. Ins Leere. Ihr Bruder. Ihr Vorbild. Ihr Halt. Tot! „Was soll ich nur ohne dich tun?“, fragte sie sich immer und immer wieder.

⁎ ⁎ ⁎

„Spiegeln hat man das Lügen nicht beigebracht!“, pflegte ihre Mutter zu sagen. Allerdings müsste er das bei Clärchen auch nicht. Sie war eine hübsche Erscheinung. Nicht zu groß für eine Frau und mit einer Figur wie gemalt. Mit ihrer schmalen Taille und der unaufdringlichen, aber ansprechenden Oberweite konnte sie es mit den Frauen auf den Titelseiten der bunten und glänzenden Magazine durchaus aufnehmen. Dazu hatte sie ein hübsches, schmales Gesicht mit glatter Haut und harmonischen Falten zwischen den Nasenflügeln und den Mundwinkeln. Vor allem wenn sie lächelte, wirkte sie mit dieser Gesichtspartie zusammen mit dem runden Kinn sehr sympathisch und anziehend. Sie war froh, dass ihr Vater seinerzeit auf die Vererbung seines starken und sehr energisch wirkenden Kinns und vor allem seiner schmalen Lippen verzichtet hatte.

Allerdings musste sie sich dafür mit einer etwas zu groß geratenen und leicht spitzen Nase abfinden. Ein für ihr Empfinden weniger gelungenes Merkmal. Clärchen versuchte dieses für sie sehr ärgerliche Manko mit großen, nach hinten gelegten Locken in ihren dunkelbraunen, langen Haaren auszugleichen. Die Augenbrauen hingegen hielt sie sehr schmal und rahmte damit gekonnt die feinen Züge um ihre mandelförmigen, braunen Augen.

Ihr gutes Aussehen, gepaart mit einer fast an Naivität grenzenden Gutgläubigkeit – wenn es nach ihrer Mutter ging auch Blauäugigkeit – würde ein sie verehrender Mann als liebenswerten Charakterzug an ihr schätzen und ihre nicht sonderlich gut ausgeprägte Menschenkenntnis niemals für seine männlichen Interessen ausnutzen.

Clärchen fand immer mehr Gefallen an ihrem Spiegelbild. Sie legte großen Wert auf ihr Äußeres. Ja, sie war mit ihrem Aussehen sehr zufrieden. Der Mann ihrer Träume konnte also bald kommen und sie auf Händen in eine schöne, gemeinsame Zukunft voller Liebe tragen, für ihr hervorragendes Auskommen sorgen, ihr Selbstwertgefühl von einer feinen Dame stärken und ihr, wann immer sie es wollte, Anerkennung für ihr ausgezeichnetes Aussehen und ihre guten Manieren schenken.

Sie konnte ihn kaum erwarten!

Horst

Das Fachwerkhaus von Tante Minna und ihrem Mann Wilhelm kannte Clärchen nur aus den Erzählungen ihrer Mutter. Die schwärmte von den roten Backsteinen zwischen den fast schwarzen Holzbalken und dem Reetdach, von dem mit Buchsbäumen eingefassten Garten und den großen Fliederbüschen und dem Spalierobst – und natürlich auch von ihrer großen Schwester Minna. Die hatte es geschafft. Ihr Wilhelm nahm sie 1916 während eines Heimaturlaubs zur Frau. Er unterstand der Geheimen Feldpolizei und wurde in Polen eingesetzt. Bis dahin hatte er in der Gutshof-Ziegelei als Ziegelbrenner gearbeitet. Dafür, dass er nicht an die Front nach Russland musste, konnte er sich bei dem Verwalter des Gutshofs bedanken. Der legte nämlich beim Dorfvorsteher Meier ein gutes Wort für ihn ein. (Eigentlich erinnerte der Verwalter den Meier nur an die wöchentlichen Lieferungen von Obst und Gemüse. Und vor allem an die Tatsache, dass er seinem unterbemittelten Sohn einen dauerhaften Arbeitsplatz auf dem Gutshof verschafft hatte.)

Der Verwalter wollte einen guten Arbeiter wie Wilhelm nicht im Krieg verlieren. Die jungen Männer sollten nicht alle auf den Schlachtfeldern liegen bleiben, denn nach dem Krieg würde es weitergehen. Auch mit dem Gutshof. Neues Leben musste Einzug halten. Der Gutsherr brauchte neue Arbeitskräfte. Er verstand es, seine Arbeiter an den Hof zu binden, sie abhängig zu machen. So auch Wilhelms Vater, der sich hinter dem östlich gelegenen, kargen Heidehügel ein Haus für sich und seine kleine Familie errichten durfte. Seitdem war er einer der treuesten Gefolgsleute des Gutsherrn und dessen Verwalter.

Wilhelms Kenntnisse als Ziegelbrenner machten ihn schnell unentbehrlich. Das wusste der Gutsverwalter. Nur Wilhelm wollte das nicht wahrhaben. Die Einschätzung seiner Kollegen, dass der Ziegeleibetrieb ohne ihn auf tönernen Füßen stehen würde, teilte er nicht. Also liefen auch die Verhandlungen für die Übernahme des elterlichen Kottens durch Wilhelm nach dem Ableben seines Vaters ganz im Sinne des Verwalters. Wilhelm übernahm nach kurzen Gesprächen nicht nur das Haus mit den hohen Pachtzinsen, sondern auch die Pachtschulden seines Vaters.

Minna zog zu ihrem Wilhelm. Ihre Schwiegermutter duldete sie im Haus. In diesem großen, wunderschönen Fachwerkhaus mit dem Garten und dem Stallgebäude für das Vieh. Sie war stolz, denn sie selbst kam aus ärmlichen Verhältnissen und war mit ihren fünf Geschwistern in einer kleinen Kate aufgewachsen. Jetzt brach für sie eine neue Zeitrechnung an: Minna übernahm von gestern auf heute als neue Herrscherin das Kommando über Haus und Garten – und eigentlich auch über Wilhelm. Der las ihr fast jeden Wunsch von den blaugrünen Augen ab. Hin und wieder geschah das für ihr Verständnis zu zögerlich. Dann half Minna halt etwas nach. Wilhelm pflegte kein großes Wort. Im Gegenteil, die schwere körperliche Arbeit in der Ziegelei forderte zunehmend ihren Tribut. Deshalb ließ er liebend gerne seine Minna erzählen. Und entscheiden!

⁎ ⁎ ⁎

Nun stand Clärchen mit ihrem Koffer in der Hand vor dem Fachwerkhaus und war überwältigt! Die Beschreibungen und Schwärmereien ihrer Mutter verstand sie jetzt sehr gut. Allerdings trafen sie nicht zu. Das alles hier war noch viel, viel schöner, größer, herrlicher, wie in einem Märchen. Ein Traum mitten in der Heideblüte. Clärchen freute sich, dass ihre Tante sie vorübergehend aufnehmen wollte, bis sie eine Arbeitsstelle in Hamburg gefunden hatte. Die Briefe ihrer Tante strahlten Herzlichkeit und Zuversicht aus. Die Zeilen mit der Höhe der Zimmermiete und Clärchens Pflicht zur Mithilfe in Haus und Garten lasen sich für sie wie das unwichtige Kleingedruckte unter ihren Arbeitsverträgen.

Sie freute sich auf das Wiedersehen mit ihrem Cousin Willi, den Mann von Welt, den Seefahrer, den Haudegen, den Piraten. Willi besaß fast zehn Jahre mehr Lebenserfahrung als sie. Das letzte Mal hatten sie sich kurz vor dem Kriegsbeginn in Osnabrück getroffen, im neu eröffneten Gasthof von Clärchens Mutter, dem "Estorff‘scher Hof". Eine letzte, unbeschwerte Familienfeier. Damals zog Willi in seiner Matrosenuniform der Kriegsmarine alle Blicke auf sich, vor allem die der weiblichen Familienmitglieder und Gäste. Auch Clärchens jugendliche Blicke klebten an Willis Aussehen fest. Diese Gewichtheberstatur und die dunkelbraune Gesichtsfarbe, die mit seinen graublauen Augen und den kurz geschnittenen, fast schwarzen Haaren harmonierte. Zudem katapultierten seine Lippen die Erzählungen über die Seefahrt und Hamburg, der schönsten Seefahrerstadt der Welt, wie klebrige Zuckerwatte in ihr Gedächtnis.

„Erzähl doch mal, Willi, wie war deine erste Fahrt?“, fragte Friedrich.

„Ja, die ging gleich über den großen Teich, nach Südamerika. Wir hatten große, schwere Holzkisten unter Deck. Unser Ziel war Argentinien, Buenos Aires“, antwortete Willi mit seiner tiefen, klangvollen Stimme und nickte etwas dabei, um seinen Worten noch mehr Gewicht zu geben.

„Gleich so weit weg! Von wo aus seid ihr denn los, von Hamburg?“, wollte Günther wissen.

„Na klar, von Hamburg“, bestätigte Willi, „dem schönsten Hafen der Welt!“, und nickte wieder bedächtig.

„Wie lange wart ihr auf See?“, fragte Günther.

„Über sieben Wochen! Wir hatten schlechtes Wetter. Schon in der Biskaya gabs tagelang Sturm mit riesigen Wellen. Das war gar nicht schön!“, erzählte Willi, schüttelte langsam seinen Kopf und zog die Augenbrauen dabei hoch. „Der Kahn rollte so stark, als wolle er nur Schwung holen, damit er sich um seine Längsachse drehen konnte. Das zog uns immer wieder die Beine weg.“ Er fing an zu schmunzeln. „Und der Schiffsjunge jammerte die ganze Zeit und wollte zurück nach Hamburg.“

„Dann seid ihr auch über den Äquator gekommen. Bist du da getauft worden?“, fragte Günther lachend.

„Na klar! Das war schließlich mein erstes Mal“, erwiderte Willi, „und ich kann mich noch sehr gut daran erinnern!“ Wieder dieses behäbige Nicken. „Ich musste mich auf ein altes Holzfass setzen und wurde von oben bis unten dick mit Kernseife eingerieben. Dann gabs Schnaps aus einer Pulle. Zum Schluss versuchten die Jungs, die Seife mit eiskaltem Seewasser abzuspülen. Brr.“ Willi schüttelte sich, so wie ein Hund nach einem Bad im Kanal.

„Aber sag mal, wie hat es dir in Argentinien denn gefallen?“, wollte Friedrich wissen.

„Wir lagen nicht lange im Hafen. Nur die Ladung löschen und wieder neue an Bord nehmen. Für Landgänge hatten wir nur wenig Zeit. Ich fand die Stadt nicht schön, zumindest den Teil, den ich gesehen habe. War halt nicht mein Hamburg. Nichts geht über den Hamburger Hafen“, antwortete Willi und blickte einen Moment lang wie entrückt in die Ferne.

Seit dieser Feier freute Clärchen sich auf Hamburg, die Weltstadt. Da wollte sie hin. Osnabrück entfliehen. In der Wohnung ihrer Eltern war es zu eng. In einem Zimmer wohnte immer noch die blonde Frau aus dem zerbombten Essen. Clärchen schlief auf der Couch im Wohnzimmer, ihre Schwester auf dem Chaiselongue. Kurz vor Kriegsende legte Clärchen ihre Gesellenprüfung im Friseurhandwerk mit der Note 'Gut' ab. Es folgten drei Jahre der Wanderschaft von einem zum nächsten Friseursalon. Voller innerer Unruhe. Rastlos. Unentschlossen. Ratlos.

Jetzt führte ihr Weg heraus aus der Enge, heraus aus der Provinz, hinein in die große weite Welt. Genauso wie ihren Bruder Günther damals im Krieg nach Frankreich und Russland. Ganz so weit sollte es dann doch nicht sein. Aber schon weg von hier. Sie wollte Menschen kennenlernen, Freunde gewinnen, in bessere Kreise eingeführt werden. Ihr Cousin schien dafür genau der Richtige zu sein. Der würde das alles für sie tun! Als der richtige Türöffner. Für Hamburg. Auch wenn da noch vieles in Schutt und Asche lag. „Aber wann war der richtige Zeitpunkt, wenn nicht jetzt, nach der Währungsumstellung?“, fragte sich Clärchen. Die Alten in ihrer Familie waren sich sicher, dass es von nun an bergauf ginge. Wenn überhaupt, müsse man nur noch wenige Jahre mit wenig Essen, wenig Kohle und engen Wohnungen auskommen.

⁎ ⁎ ⁎

Ihr Zimmer im Haus der Tante war so klein, dass Clärchen sich wunderte, wie das schmale Bett und der kleine Tisch mit dem Stuhl überhaupt hineinpassten. Wie konnten sie durch die schmale und niedrige Tür überhaupt in dieses Zimmer gelangen? Offensichtlich handelte es sich um die Puppenstube einer Zwergenfamilie. In einer Zimmerecke lagen die Ziegelsteine für das Vorwärmen des winterlichen Bettes auf dem Lehmfußboden. Die Vorhänge erinnerten Clärchen an Kohlesäcke. Der dünne Holzstab mühte sich ab, das unförmige, dunkle Gewebe mit den groben Nähten vor den beiden blinden Fensterscheiben zu halten. Die grob verputzten Wände waren wohl im vergangenen Jahrhundert das letzte Mal weiß getüncht worden. Die restliche Farbe in den Raumecken eroberten die feuchten, dunkelgraubraunen Pilzfamilien unbestimmter Herkunft in kreisförmigen Verbänden.

All das nahm Clärchen nur am Rande wahr. Es war ihr egal. Einen langen Aufenthalt plante sie sowieso nicht. Es handelte sich mehr um eine Stippvisite. Eine Art Sprungbrett nach Hamburg. Dort würde sie bestimmt ein angemessenes, hübsch möbliertes Zimmer finden.

⁎ ⁎ ⁎

Am Sonnabend kam dann endlich ihr Cousin. Das Familienvorbild! Der Mann von Welt! Mit dem Fahrrad direkt vom Lüneburger Bahnhof. Bis dahin hatte ihn der Zug aus Hamburg-Altona gebracht.

Den Krieg überlebte Willi nur mit viel Glück. Er diente auf einem Blockadebrecher, einem von Südamerika kommenden und von den Machthabern des 'Dritten Reiches' beschlagnahmten Handelsschiff, fuhr mit auf Versorgungsschiffen zu den Kameraden nach Norwegen, dann auf einem Minensuchboot vor der französischen Atlantikküste. Nach der Invasion geriet er in amerikanische Gefangenschaft und verbrachte ein gutes Jahr auf einer Baumwollfarm in Texas, bevor er nach einem weiteren halben Jahr Zwangsarbeit in den Niederlanden seinen Lebensabschnitt bei der Kriegsmarine hinter sich ließ und auf mehreren Handelsschiffen seine Laufbahn fortsetzte.

Willi erreichte sein Ziel, Kapitän zu werden, mühelos. Seit einigen Monaten hielt er das Kapitänspatent in den Händen. Er begab sich in die Dienste einer großen Hamburger Reederei und fuhr mit Schuten und Barkassen im Hamburger Hafen zwischen den Anlegestellen hin und her. Die Hoffnung, bald mit einem neuen Schiff seiner Reederei auf große Fahrt zu gehen, war Willis ständige Begleitung. Er trug deshalb, einem alten Brauch folgend, seit ein paar Tagen einen goldenen Ohrring in seinem immer noch geröteten und leicht entzündeten linken Ohrläppchen. Er hoffte zwar, nicht irgendwann als Wasserleiche an einer fremden Küste angespült zu werden, doch wenigstens gab das Gold ihm die Hoffnung auf ein anständiges Begräbnis. Mehr ging nicht. Auch für seinen Aberglauben nicht.

Nun saß er auf einem alten, für ihn viel zu kleinen Damenfahrrad und schlingerte wie ein uralter Kahn in schwerer See den Sandweg von der kleinen Anhöhe hinunter zu seinem Elternhaus. Wie ein großer Junge auf einem Kinderrad. Sein offenes Jackett flatterte im süßlich schweren Duft des frischen Heidewindes, in heller Aufregung auf das bevorstehende Treffen mit seiner Cousine, die bereits seit Stunden auf der Holzbank neben dem Eingang, ihrem Beobachtungsposten, wartete. Gespannt. Neugierig. Voller Vorfreude. Aufgeregt. Das Putzen der letzten Wannen voll Buschbohnen fühlte sich an wie eine Ablenkung. Wie eine Beschäftigungstherapie.