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Erin Stewart

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Beschreibung

Bei einem schrecklichen Feuer hat die 16-jährige Ava alles verloren, was ihr wichtig ist: ihre Eltern, ihre Cousine Sara, die zugleich ihre beste Freundin war, ihr Zuhause. Sie musste zahlreiche Operationen über sich ergehen lassen. Und noch immer ist ihr ganzer Körper, vor allem aber ihr Gesicht, von tiefen Narben gezeichnet. Doch nun soll Ava sich Schritt für Schritt in den Alltag zurückkämpfen. Saras Eltern, die sie bei sich aufgenommen haben, verlangen von ihr, dass sie wieder die Highschool besucht – Avas schlimmster Alptraum. Schließlich einigen sie sich auf eine »Probezeit« von zwei Wochen. Ava ist wild entschlossen, danach nie wieder einen Fuß vor die Tür und schon gar nicht in eine Schule zu setzen. Aber dann kommt alles ganz anders, denn Ava findet ausgerechnet dort, wo sie es am wenigsten erwartet, Seelenverwandte ...

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Seitenzahl: 425

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Das Buch

Es ist doch so, als hätte uns das Universum dieses schreckliche Blatt für ein Spiel namens Leben ausgeteilt, und jetzt ist es unsere Pflicht zurückzubrüllen: Gut gegeben, Drecks-Kosmos, aber du wirst dich noch wundern!

Das große Feuer hat der 16-jährigen Ava alles genommen, was ihr je wichtig war. Nicht zuletzt ihr Gesicht. Unzählige Operationen später erkennt sie sich im Spiegel kaum wieder. Am liebsten würde sie nie mehr auf die Straße gehen. Doch ihre Tante und die Ärzte wollen, dass sie wieder die Highschool besucht – Avas schlimmster Albtraum. Schließlich einigen sie sich auf eine »Probezeit« von zwei Wochen. Ava ist wild entschlossen, danach keinen Fuß mehr vor die Tür und schon gar nicht in eine Schule zu setzen. Aber dann trifft sie die unkonventionelle Piper und Asad mit den dunklen Augen, und alles kommt ganz anders …

Die Autorin

Erin Stewart wuchs in den Wäldern von Virginia auf, umgeben von Glühwürmchen und ihren ersten selbst erfundenen Geschichten und Figuren. Mittlerweile lebt sie mit ihrem Mann und drei Kindern nahe den Rocky Mountains. Erin Stewart arbeitet schon seit Langem als Journalistin und nutzt ihr Recherchetalent auch für ihre Erzählungen, die immer einen wahren Hintergrund haben. »Sieh mich an« ist ihr Debütroman.

ERIN STEWART

ROMAN

Aus dem Amerikanischen von Henriette Zeltner

Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel Scars like Wings bei Delacorte Press, Random House New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2019 by Erin Stewart

Copyright © 2019 der deutschen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Silvia Schröer

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München, unter Verwendung eines Motivs von © Jennifer Heuer

Das Zitat aus dem Gedicht »She conquered her demons and wore her scars like wings« wird mit freundlicher Genehmigung von © Atticus abgedruckt.

Satz: Uhl + Massopust GmbH, Aalen

ISBN: 978-3-641-24420-0V001

Für Kyle.

Was wäre ich ohne dich …

Kapitel 1

Ein Jahr nach dem Feuer entfernt mein Arzt meine Maske und fordert mich auf, etwas aus meinem Leben zu machen.

Das sind natürlich nicht genau die Worte, die er benutzt, weil er dafür bezahlt wird, mit einer Menge medizinischer Fachbegriffe wie Reintegration und Isolation um sich zu werfen, aber im Grunde genommen hatte das Komitee über Avas Leben eine große Besprechung und ist zu dem Schluss gekommen, dass ich mich jetzt lange genug eingebunkert habe.

Meine Post-Pyro-Selbstmitleids-Party ist vorbei.

Dr. Sharp untersucht meine Hauttransplantate, um sicherzugehen, dass mir seit unserem letzten allmonatlichen Abtasten nicht aus Versehen Fledermausflügel unter den Achseln gewachsen sind. Narben können verrückte kleine Spinner sein, und da mein Körper zu sechzig Prozent im Arsch ist, braucht Dr. Sharp geschlagene zwanzig Minuten, um mich zu untersuchen. Das Papiertuch, mit dem die Vinylplatte des Untersuchungstischs bedeckt ist, raschelt unter mir, während meine Tante Cora von der medizinischen Seitenlinie aus aufmerksam zusieht. Dabei folgen ihre Augen jeder Bewegung von Dr. Sharp, während sie Notizen in ihr riesiges Ringbuch kritzelt.

Er nimmt das Bandana von meinem Kopf und die durchsichtige Plastikmaske von meinem Gesicht. Seine Fingerspitzen streichen sanft über die Narben. »Das verheilt wirklich gut, sieht schon wunderschön aus«, sagt er, ohne den leisesten Anflug von Ironie. Über den Augen spüre ich die Kälte seiner Fingerspitzen, doch die Empfindung wird schwächer, als er zu den dickeren Transplantaten um meinen Mund kommt.

»Tja, man kann auch ein Schwein mit Lippenstift bemalen«, sage ich. »Aber letztendlich bleibt es trotzdem ein Schw …«

»Ava!«, keucht Cora, die nicht nur meine Tante ist, sondern auch die selbsternannte Chefin des bereits erwähnten Komitees über mein Leben.

Dr. Sharp schüttelt den Kopf und lacht, wodurch zu beiden Seiten seines Mundes Grübchen erscheinen, die ihm noch mehr Ähnlichkeit mit diesen superattraktiven Ärzten verleihen, die sich zwischen zwei Lebensrettungsaktionen gegenseitig im Bereitschaftszimmer flachlegen. Ich mache seine glühenden Augen und sein markantes Kinn für den Schmetterlingsschwarm in meinem Bauch verantwortlich, jedes Mal wenn er meine Narben berührt. Es hilft auch nicht gerade, dass mir überdeutlich bewusst ist, dass er mich jetzt schon ungefähr neunzehn Mal nackt gesehen hat. Zwar auf einem OP-Tisch, aber nackt ist nackt, selbst wenn man mit Gaze und den Narben von neunzehn Operationen bedeckt ist.

Doch den peinlichen Elefanten im Raum sprechen wir nie an, genauso wenig wie ich jemals die Tatsache erwähne, dass er praktisch ein Stück meines Hinterns genommen und es so über mein Gesicht gezogen hat, dass eine neue Stirn daraus wurde.

Dr. Sharp reicht mir einen kleinen Spiegel wie in einem Kosmetiksalon, damit ich sein Kunstwerk bewundern kann.

»Nein danke«, sage ich und gebe ihn zurück.

»Hast du immer noch Probleme damit, dich anzusehen?«

»Wenn mir nicht über Nacht ein neues Gesicht gewachsen ist, weiß ich schon, was ich zu sehen bekäme.«

Dr. Sharp nickt, während er eine Bemerkung in meine Patientenakte tippt. Ich ahne schon eine bevorstehende Komitee-Sitzung über meine Abneigung gegen spiegelnde Oberflächen. Dabei ist es ja nicht so, als ob ich mein Gesicht nie gesehen hätte. Ich weiß, wie ich aussehe. Ich habe beschlossen, nicht mehr hinzusehen.

Mit seinem Grübchenlächeln hält Dr. Sharp meine Plastikmaske in die Höhe.

»Ich denke, es wird dich freuen zu hören, dass du auf deine kleine Freundin hier verzichten kannst.«

Cora quietscht und umarmt mich behutsam von der Seite, ganz vorsichtig, damit sie nicht zu viel Druck ausübt und damit den ach so wichtigen Heilungsprozess stört.

»Sie hätten uns heute kein schöneres Geschenk machen können, Dr. Sharp. Es ist jetzt ein Jahr her, genau genommen diese Woche, seit …« Cora verstummt und ich kann fast sehen, wie sie sich den Kopf zerbricht, um die richtigen Worte zu finden.

»Dem Feuer«, komme ich ihr zu Hilfe. »Ein Jahr seit dem Feuer.«

Dr. Sharp gibt mir die Maske, die im vergangenen Jahr 23 Stunden täglich meine Begleiterin gewesen ist. Ihr einziger Job: mein Gesicht beim Heilen flach pressen, damit die Narben sich nicht zu fleischigen Wülsten auswachsen. Die Ärzte und Schwestern versichern mir dauernd, dass die Maske meine Narben so viel besser hat heilen lassen. Ich kann mir allerdings kaum vorstellen, dass es noch schlimmer hätte aussehen können als dieses Flickwerk aus verfärbten Transplantaten, das ich mein Gesicht nenne.

»Die Kompressionskleidung wirst du noch tragen müssen, bis wir sicher sind, dass die Narben deine Bewegungen nicht beeinträchtigen«, sagt Dr. Sharp. »Aber ich habe noch eine gute Neuigkeit für dich.«

Cora nickt ihm kaum merklich zu, was mir verrät, dass, was auch immer jetzt kommt, das unmittelbare Ergebnis einer Avas-Leben-Besprechung ist. Meine Einladung dazu muss irgendwie im Spam-Ordner gelandet sein.

»Nachdem du jetzt die Maske nicht mehr tragen musst, erlaube ich – und empfehle dringend –, dass du wieder zur Schule gehst«, sagt er.

Ich drehe die Maske zwischen den Fingern, ohne hochzuschauen.

»Ja, das klingt verlockend«, sage ich. »Aber nein danke.«

Cora springt an der Seitenlinie auf, legt ihren fetten Ordner aufs Waschbecken und setzt sich halb zu mir auf die Untersuchungsliege, wobei sie leicht auf meinen Oberschenkel tippt.

»Ava, ich weiß doch, wie dich dieser Onlineunterricht langweilt und wie gern du wieder zur Normalität zurückkehren würdest.«

Normalität.

Richtig. Zur alten Normalität. Zur »Ava vor dem Feuer«-Normalität. Zur normalen Normalität.

»Auf. Keinen. Fall«, sage ich. »Ich werde nicht wieder in meine alte Schule spazieren, und alles wird wie früher sein.«

»Du könntest die Schule bei uns in der Nähe besuchen, über die wir schon gesprochen haben. Oder du suchst dir irgendeine andere Schule aus«, meint Cora unbeirrt. »Ein Neubeginn, weißt du? Neue Freundschaften schließen und hier ein Leben beginnen.«

»Ich würde lieber sterben«, murmele ich.

Ich bin prima mit den Onlinekursen zurechtgekommen, an denen ich zu Hause im Pyjama teilnehme. Wo keiner mich sehen kann. Wo niemand auf mich zeigen, mich anstarren und flüstern kann, wenn ich vorbeigehe. So als wäre ich nicht nur entstellt, sondern auch noch taub.

»Ich weiß, das meinst du nicht so«, sagt Cora. »Du hast Glück, am Leben zu sein.«

»Stimmt. Ich bin ein menschgewordenes Glücksschwein.«

Warum bin ich die Glückliche, weil ich überlebt habe? Mom, Dad und meine Cousine Sara tanzen wahrscheinlich gerade über eine Blumenwiese im Himmel oder wurden als glückliche Affen in Indien wiedergeboren, während ich eine endlose Abfolge von Operationen, Ärzten und gaffenden Fremden ertragen muss.

Aber gegen Grabsteine komme ich nicht an. Der Tod sticht das Leiden jedes Mal aus.

»Wenn du Sara wärst, würde ich wollen, dass sie ein erfülltes Leben führt«, sagt sie. »Und ich weiß, deine Mutter würde wollen, dass du glücklich bist.«

Ihr Versuch, tote Menschen zu benutzen, um diese Auseinandersetzung zu gewinnen, ärgert mich.

»Ich bin aber nicht Sara, und du bist nicht meine Mutter.«

Cora wendet sich von mir ab, genau wie Dr. Sharp, der gerade so tut, als müsse es sich besonders auf den Computerbildschirm konzentrieren, anstatt die Anspannung zu bemerken, die wie Rauch den Untersuchungsraum füllt. Ich hasse es, dass Dr. Sharp hier ist und diesen Kleinkind-Wutanfall mitkriegt, aber teilweise ist es auch seine Schuld, dass ich so unvorbereitet mit dieser Schulidee konfrontiert wurde.

Cora schnieft leise, und ich wünschte, ich könnte meine böse Bemerkung zurücknehmen. Cora hat genauso wenig darum gebeten, meine Ersatzmutter zu sein, wie ich darum, ihren Nachwuchs zu ersetzen. Wir versuchen beide, mit dieser kranken Vorstellung von »Glück« klarzukommen, die das Universum uns zugemutet hat.

Dr. Sharp räuspert sich. »Ava, Tatsache ist, dass wir uns um den Grad deiner Isolation Sorgen machen. Reintegration ist ein wichtiger Teil deines Heilungsprozesses, und wir alle denken, es ist an der Zeit, damit anzufangen«, sagt er. Ich verkneife mir die Frage, wen dieses mysteriöse »alle« einschließt, denn für mich ist mein Einsiedlerdasein nicht besorgniserregend. »Wie wär’s, wenn du probeweise zur Schule gehst und wir dann deine Reintegrationsstrategie evaluieren? Sagen wir, für zwei Wochen?«

Cora sieht mich hoffnungsvoll mit immer noch tränennassen Augen an, während das schlechte Gewissen des Glückspilzes sich in mir bemerkbar macht. Das schlechte Gewissen derjenigen, die überlebt hat.

Diese Woche ist es auch für sie ein Jahr her. Ein Jahr ohne ihre Tochter. Ein Jahr, in dem sie sich um mich, das Mädchen, das stattdessen überlebte, gekümmert hat.

Ich kann ihr Sara nicht zurückgeben. Aber zwei Wochen.

»Na schön«, sage ich. »Zehn Schultage. Wenn es kein totales Desaster ist, dann reden wir weiter.«

Tante Cora drückt mich so fest, dass ich übertrieben reagiere, so als würde es wehtun, nur damit sie aufhört.

»Es sind nur zwei Wochen«, erinnere ich sie. »Und es wird ein totales Desaster sein.«

»Es ist ein Anfang«, sagt sie.

Ich bedecke meine vernarbte Kopfhaut wieder mit dem roten Bandana, während Cora und Dr. Sharp triumphierende Blicke wechseln. Dann drehe ich die durchsichtige Maske zwischen dem, was von meinen Händen übrig ist, und unterdrücke das Verlangen, sie wieder aufzusetzen.

Cora bleibt noch an der Rezeption stehen, um sich über eine unbezahlte OP-Rechnung zu zanken, während ich den Flur der Abteilung mit den Verbrennungen runterschlendere. Ich sehe mir die Bilder irgendeiner Kunstinitiative für Krankenhäuser an, die sterbenden Menschen Schönheit nahebringen will. Dabei merke ich gar nicht, dass ich in die Eingangshalle des Krankenhauses gekommen bin, bis ein kleines Mädchen, das an der Skinny-Jeans seiner Mutter klebt, einen schrillen Schrei ausstößt.

Ihr rundlicher Zeigefinger deutet auf mich.

Auf mein Gesicht.

Die Frau wird rot, murmelt eine Entschuldigung und reißt ihr Kind am Arm zu sich. Das Mädchen heult und verrenkt sich den Hals in meine Richtung, während ihre Mom mit ihr davoneilt. Ein Mann in einem Sessel aus Kunstleder blickt schnell wieder in seine Zeitung, aber ich spüre, wie er mich beobachtet, als ich so lässig wie möglich den Rückzug antrete.

Dann warte ich in der Sicherheit der Brandverletztenabteilung, wo die Leute Gesichter wie meins gewöhnt sind. Der Mann mit der Zeitung späht mir hinterher. Ich wünschte, Cora hätte mir erlaubt, meine Kopfhörer mitzubringen. Dann könnte ich jetzt die Musik aufdrehen und alles – und jeden – ausblenden. Stattdessen drehe ich mich zu einem 3-D-Kunstobjekt namens Starlight Reflections, das am Fenster hängt. Dabei tue ich so, als würden die Glasstücke in Form kleiner Sterne mich wahnsinnig interessieren. Jeder davon wirft wie ein fünfzackiger Mini-Spiegel Regenbogenfragmente aus Licht auf den Flur.

Diese milchstraßenartige Kaskade winziger Spiegel verzerrt mich und reflektiert in den Scherben eine Picasso-Realität. Es sieht aus, als würden sie bei Berührung splitternd zu Boden krachen. Ich entdecke mich selbst in dem Spiegelglas. Mein rotes Bandana, das mein zerstückeltes Gesicht einrahmt.

Eine Sekunde lang erlaube ich mir zu glauben, das gebrochene Glas sei schuld an dem gebrochenen Mädchen.

Wenn ich einen Schritt weggehe, wird mein Gesicht wieder in Ordnung sein.

Normal.

So will es das Komitee. Geh zurück auf die Highschool. Sei wieder normal.

Ich weiß es besser.

Normale Menschen erschrecken keine kleinen Kinder.

Normale Sechzehnjährige schauen in Spiegel. Ist mein Lippenstift okay? Fällt mein Pony so, wie ich das will? Ihr Spiegelbild gibt ihnen Sicherheit, und wenn das, was sie da sehen, ihnen nicht gefällt, ändern sie es.

Für mich sind Spiegel eine Mahnung.

Ich bin ein Monster.

Nichts auf der Welt kann das ändern.

Kapitel 2

Cora verbringt die kommende Woche mit aufgeregtem Back-to-School-Shopping, denn sie scheint überzeugt, dass meine erfolgreiche Rückkehr zu einem normalen Teenagerleben davon abhängt, ob ich einen Rucksack oder eine Messenger Bag dabeihabe.

Am Abend vor meiner offiziellen Reintegration verteilt sie eine Batterie von Taschen auf meinem Bett. Bunt bedruckte Stofftaschen, Stoffrucksäcke mit Blumenmuster und Crossbody Bags aus Nylon starren mich an.

»Was benutzen Kids denn heutzutage?«

Ich zucke mit den Achseln. »Ich habe Krankenhausnachthemden und Pyjamas getragen, also bin ich nicht die beste Modeberaterin.«

Was ich nicht sage, ist, dass ich sehr bezweifle, ob irgendjemand auf meine Accessoires achten wird. Coras Blick geht von der Taschenauswahl zu mir. Dabei runzelt sie die Augenbrauen mit dem gleichen Blick, den sie kriegt, wenn sie sonntags das Kreuzworträtsel in der Zeitung macht. Als könne sie eine Lösung finden, wenn es ihr nur gelingt, sich genug zu konzentrieren.

Aber wie sehr Cora sich auch anstrengt, ich bin das Rätsel, das sie nicht lösen kann.

»Ich glaube, die hier«, sagt sie entschieden und hält mir eine schwarze Messenger Bag hin. »Aber probier sie mal eben aus, um sicherzugehen, bevor ich die anderen zurückgebe.«

Anstatt auf Taschen-Model zu machen, erkläre ich ihr, dass sie schon die richtige aussuchen wird. Außerdem erinnere ich sie daran, dass ich in zwei Wochen, wenn ich in meine herrliche Einsamkeit zurückkehre, sowieso keine Tasche mehr brauche.

Cora zieht die Mundwinkel herab, und für eine Sekunde verrutscht ihre Maske der Chefin-von-Avas-Heilung. Ich sehe dahinter eine kleine, ängstliche Frau, die sich mehr als alles andere wünscht, ihre eigene Tochter wäre hier, würde Rucksäcke ausprobieren und wegen neuer Freundinnen, lärmender Übernachtungspartys und all der anderen für Sechzehnjährige normalen Sachen aufgeregt sein, die Cora sich für Sara erhofft hatte.

Seufzend nehme ich ihr die Messenger Bag aus der Hand und ziehe den Träger über meinen Kopf.

»Die ist perfekt. Danke, Cora.«

Sie rückt die Tasche so zurecht, dass sie richtig an meiner Seite hängt. Das Gewicht drückt auf meine sowieso schon verspannten Schultern, aber es ist schön, sie lächeln zu sehen.

Cora nimmt ein blaues Bandana aus meiner Sammlung und hält es neben die blaue Bluse, die sie mir gekauft hat. »Na, das ist doch mal ein Outfit.« Sie hat eigentlich gerade kein Geld für neue Klamotten übrig, aber ich bin dankbar, morgen keine von Sara geerbten Sachen tragen zu müssen. Zum Glück haben wir Februar, da kann ich meine Kompressionswäsche größtenteils unter langen Ärmeln und Jeans verstecken.

»Bist du dir sicher, dass du keine Perücke willst?«, fragt sie. »Diese nette Dame vom Krankenhaus hat gesagt, wir können jederzeit anrufen. Wir könnten jetzt gleich ins Auto steigen und eine holen.«

Ich schüttle den Kopf. »Auf keinen Fall.«

Eine Perücke würde meine zusammengeflickte Kopfhaut vielleicht besser kaschieren als ein Bandana, aber täuschen kann man damit niemanden. Die Dame, die ausgerüstet mit Perücken, Make-up und allem möglichen anderen Krimskrams zum Narben-Kaschieren auf der Station für Brandverletzungen vorbeikam, war tatsächlich nett. Aber trotz all ihrer Bemühungen mit falschen Haaren und Grundierung konnte sie das hier nicht kaschieren. Also warum so tun, als ob?

Nachdem Cora gegangen ist, öffne ich die Reißverschlüsse meiner Kompressionswäsche und schäle mich vorsichtig aus meiner zweiten Haut, die die Narben daran hindert, sich wie Zuckerwatte aufzuplustern.

Ich liege mit dem Gesicht nach unten in Tanktop und Shorts da, wobei die Fransen von Saras Quilt mich an der Nase kitzeln. Als Cora wiederkommt, beginnt unser allabendliches Eincreme-Ritual. Sie fängt an meiner rechten Seite an und streckt vorsichtig meinen Arm, der aus dieser Perspektive erschreckend dünn aussieht. Wie Haut und Knochen oder zombiehaft mager. Wer hätte gedacht, dass Fettzellen verbrennen können?

Cora massiert die Lotion in all meine Falten und Risse ein, während der vertraute Geruch der öligen Creme – halb Krankenhaus und halb alte Dame – das Zimmer erfüllt. Die beigefarbene Kompressionswäsche liegt wie eine verkrumpelte Schlangenhaut auf dem Schreibtisch. Nach einem Jahr scheint sie mehr ein Teil von mir zu sein als die violetten und pinkfarben verdrehten Narbenmuster auf meinem eigenen Körper.

Früher dachte ich, Haut wäre eine durchgehende Einheit, aber meine besitzt jetzt mehr Ähnlichkeit mit Saras Überwurf – ein morbider, zusammengenähter Quilt. Manche Stücke sind original, andere von Narben überzogen und wieder andere transplantiert von anderen Stellen meines Körpers, nachdem die Ärzte quasi Reise nach Jerusalem mit meiner Epidermis gespielt haben. In den ersten Tagen war mir sogar teilweise Haut von Schweinen und toten Menschen aufgetackert worden, während wir darauf warteten, dass irgendwo in einem Labor briefmarkengroße, ausgeschnittene Teile meiner Rückenhaut weiterwuchsen.

Cora knetet meinen Arm, als wäre er Brotteig. Sie presst ihre Finger in meine Haut und verteilt die Lotion. Es ist die einzige Gelegenheit, bei der Cora mich nicht wie ein rohes Ei behandelt. Wahrscheinlich liegt es daran, dass die Schwestern im Krankenhaus ihr gesagt haben, je kräftiger sie mich massiert, desto besser für meine Narben. Und bei allem, was »die Heilung fördert«, ist Cora mit Feuereifer dabei.

Ich hebe mein linkes Bein, noch bevor sie es berührt. Nach acht Monaten Ganzkörper-Eincreme-Routine sind wir wie zwei Synchronschwimmerinnen. Inzwischen wäre ich gelenkig genug, um mich selbst mit Lotion einzureiben, aber ehrlich gesagt ist es schön, auch mal von jemand anderem als von Dr. Sharps eisigen Fingern berührt zu werden. Außerdem lindert die Massage den Juckreiz, eine Nebenwirkung der Hauttrockenheit, die wiederum eine Nebenwirkung meiner fehlenden Fettdrüsen ist. Dieser Dominoeffekt summiert sich zu einem permanenten Juckreiz unter der Haut, gegen den ich nie wirklich etwas ausrichten kann.

»Ich habe übrigens einen interessanten Artikel gelesen«, sagt Cora.

Über diese völlig unspektakuläre Tatsache muss ich beinah lachen. Die Zeitschrift Burn Survivor Quarterly kommt alle paar Monate ins Haus und füllt Coras Kopf mit Ideen, wie sie mir helfen könnte. Sie liest jedes Wort jeder Ausgabe und legt mir oft ausgeschnittene Artikel aufs Bett.

»Darin stand, wie wichtig es für Brandverletzte ist, eine Gruppe von Gleichaltrigen zu haben, die sie verstehen und unterstützen.« Cora spricht und massiert gleichzeitig. »Und ich weiß einfach, dass du morgen neue Freunde treffen wirst, und ich glaube, dass dir das wirklich helfen wird, Ava. Ich kann es spüren.«

Ich rolle mich auf den Rücken, damit sie meine Knie einreiben kann.

»Es sind nur zwei Wochen. Also mach dir keine zu großen Hoffnungen«, sage ich, obwohl klar ist, dass ihre Hoffnungen bereits das Universum sprengen.

»Du sagst zwar immer, dass du keine Freunde brauchst …«

»Tue ich auch nicht.«

»Und ich sage dir, sei für die Möglichkeit offen. Lass dich von deinen Ängsten nicht ausbremsen.«

»Ich habe keine Angst.« Ich lasse meine mickrigen Armmuskeln spielen. »Ich hab doch meinen Narbenpanzer zum Schutz.«

Coras Mund wird dünn wie ein Strich, während sie sich meine Schultern vornimmt und Lotion in meine dicksten Narben einarbeitet. Die breiten Streifen transplantierter Haut von Nacken, Rücken und Armen laufen hier wie Stahlträger zusammen. Bis vor Kurzem musste Cora mir helfen, Shirts anzuziehen, weil ich die Arme nicht hoch genug heben konnte.

Jetzt breite ich die Arme aus, damit die Lotion an der Luft trocknet, bevor wir damit beginnen, die Kompressionswäsche wieder über meine schäbige Haut zu ziehen. Dazu schiebe ich Arme und Beine durch den engen Stoffschlauch, und Cora macht die Reißverschlüsse zu. Zum Schluss verteilt sie Lotion auf meinem Gesicht und streicht mit einem Finger über die Transplantatgrenzen, die mich zerschneiden.

»Ich hab gehört, dass an der Crossroads jedes Jahr ein Musical aufgeführt wird«, sagt Cora beiläufig, als hätte sie sich nicht bereits im Vorfeld davon überzeugt, dass es an der Schule, die ich besuchen werde, ein herausragendes Theaterprogramm gibt. Dabei wissen wir beide, dass ich seit dem Feuer keinen einzigen Ton mehr gesungen habe. Vorher konnte ich vom Singen gar nicht genug kriegen. Aus voller Kehle schmetterte ich ins Duschkopf-Mikro. Oder mit Sara auf dem Highway bei offenen Autofenstern. Auch beim Abendessen quälte ich meine Eltern mit meiner jeweils aktuellen Broadway-Lieblingsnummer.

Wer weiß, ob ich nach all dem Rauch, den Schläuchen im Hals und den OPs überhaupt noch singen kann. Dr. Sharp sagt, meine Kehle sei verheilt und alles, aber ich habe meine Zweifel. Wobei das sowieso egal ist. Das Mädchen, das das Rampenlicht und Solos liebte, existiert nicht mehr.

Mein Blick schweift durchs Zimmer, wo Sara und ich alle paar Monate Übernachtungspartys veranstaltet haben. Obwohl ich eine Stunde Richtung Süden wohnte, im landwirtschaftlich geprägten Teil von Utah, sind wir auch im Haus der jeweils anderen aufgewachsen und haben unseren Alltag geteilt. Sie nannte meine Mom Momma Denise und ich ihre Momma Cora.

Jetzt sage ich nur noch Cora, und dieses früher vertraute Zimmer kommt mir fremd vor.

Die meisten von Saras Sachen waren verschwunden, als ich aus dem Krankenhaus kam, aber ein paar quälende Echos sind geblieben – Kleider im Schrank, die mir passen, Saras Spitzenschuhe auf einem Eckregal, als würde sie jeden Augenblick in ihnen lostanzen, und natürlich die Sammlung von Vintage-Barbies, die mich aus einem Vitrinenschrank anstarren. Anscheinend sind diese Puppen super wertvoll. Obwohl Cora und Glenn sie genauso wenig wie irgendwas anderes aus diesem Zimmer je verkaufen würden.

Cora hat sich trotzdem Mühe gegeben, das Zimmer zu meinem zu machen. Auf dem Schreibtisch stehen gerahmte Fotos meiner Eltern. An den Wänden hängen Poster von Broadway-Musicals, so wie ich es auch zu Hause hatte.

Aber das hier ist nicht zu Hause.

Und ich bin ein Eindringling – eine Betrügerin, die versucht, den Platz von zwei Mädchen einzunehmen, obwohl sie selbst kaum noch für eins reicht.

Cora hebt mein Kinn an, damit ich ihr in die Augen sehe.

»Versprich mir, dass du dem Ganzen eine echte Chance gibst. Dass du Leute an dich ranlässt.«

Coras ernste Augen wandern über mein Gesicht, so wie meine über ihrs. Sogar im Pyjama und ohne Make-up ist sie wunderschön. Mom scherzte immer, dass ihr kleiner Bruder wegen Coras Aussehen keine Chance gehabt hatte und sie ihn damit den weiten Weg bis in die Stadt gelockt hat.

Ich seufze. »Cora, die einzige Möglichkeit, die nächsten zwei Wochen zu überstehen, wird sein, dass ich mir ein so dickes Fell zulege, wie es nur menschenmöglich ist. Und zum Glück sind hypertrophe Narben das dickste, was man kriegen kann.«

Cora presst die Lippen zusammen, während ich – ba-dam-tsching – auf ein imaginäres Schlagzeug haue.

»Ach, komm schon«, sage ich. »Ich kann darüber entweder lachen oder weinen. Aber ich bin so ziemlich ausgeheult.«

Cora tut weder das eine noch das andere. Sie hält nur meine Hände in ihren, meine violette Haut sieht so besonders abartig aus. Immerhin hat meine rechte Hand noch Finger. Die stumpf- und klauenartige Struktur am Ende meines linken Arms eine Hand zu nennen, ist unglaublich großzügig. Es ist eher so eine Art Schere – miteinander verschmolzene Finger gegenüber einem riesigen Daumen, der eigentlich mein transplantierter großer Zeh ist.

Cora drückt meine Hand – oder die Klaue oder was auch immer es ist. »Das ist dein Juniorjahr an der Highschool. Finde Freunde. Genieß es.«

Ich atme lang und tief aus. Cora kapiert es nicht: Selbst meine alten Freunde zu Hause wussten nicht, wie sie sich nach dem Brand in meiner Gegenwart verhalten sollten. Wahrscheinlich weil ich nicht mehr wirklich ich selbst war.

Ich bezweifle, dass viele Leute an dieser neuen Schule nach dieser einen Brandverletzten Ausschau halten, um ihre Truppe zu vervollständigen.

Statt einer Clique habe ich einen Plan: alles in meiner Macht Stehende tun, um zu verschwinden. Nicht wie bei einem Zauberkunststück, sondern eher eine Camouflage, bei der ich mit dem Hintergrund verschmelze. Der einzige Weg, um diese zwei Wochen vorgeblicher Normalität zu überstehen, ist, so wenig wie möglich bloßzustellen – mich und alle anderen.

»Hätte ich fast vergessen …« Ich schnappe mir meine Kopfhörer vom Schreibtisch und lege sie auf das Outfit für morgen, das schon über dem Stuhl hängt.

Cora holt tief Luft und braucht wahrscheinlich jedes Gramm Willenskraft, das in ihren 160 Zentimetern steckt, um sie nicht von ihrem zurechtgelegten perfekten Outfit zu reißen. Sie hasst meine Kopfhörer fast so sehr, wie ich sie liebe. Oder brauche.

»Du und deine Musik«, sagt sie.

Ich verrate ihr nicht, dass es gar nicht um die Musik geht. Die meiste Zeit über registriere ich gar nicht, was läuft. Ich trage sie, um die Welt auszublenden.

Sie helfen mir zu verschwinden.

Onkel Glenn taucht im Türrahmen auf, um mir Gute Nacht zu sagen. Wie er mit seinem typischen verlegenen Lächeln und mit der leicht nach oben gebogenen Nasenspitze dasteht, hat er so große Ähnlichkeit mit Mom. Manchmal macht mich das so traurig, dass ich ihn kaum ansehen kann. Manchmal kann ich auch gar nicht wegschauen. Mom war wunderschön, aber nicht auf diese porzellanpuppenhafte Weise wie Cora. Moms Schönheit war robuster – mit Krähenfüßen um die Augen und Schwielen an den Händen.

Meine Nasenspitze war auch so nach oben gebogen wie Moms. Eine Eigenschaft, die in ihrer Familie schon ewig vererbt wird. Dad pflegte mit seiner Fingerspitze über unsere Nasenrücken zu streichen. »Meine kleinen Skisprungschanzen«, sagte er dann.

Ich berühre meine Nasenspitze. Die endet jetzt in einer runden, zwiebelförmigen Sackgasse aus Hauttransplantaten. Das Feuer hat wirklich ganze Arbeit geleistet: Es hat mir nicht nur Mom komplett genommen, sondern auch das, was ich von ihr hatte.

Glenn tritt mit seinen Cowboystiefeln auf den Teppich im Zimmer, bis Cora mit ihm schimpft. Da bleibt er sofort stehen und schlüpft aus den spitzen Stiefeln, die wie eine zweite Haut für ihn sind. Und das, obwohl er seit seinem Umzug nach Salt Lake City nicht mehr auf einer Ranch arbeitet. Ordentlich stellt er sie an die Wand und hilft mir, das Bandana abzunehmen, nachdem ich mich hingelegt habe.

»Schön, das nur noch nachts tragen zu müssen?«, fragt er und zieht den Gurt der Maske um meinen Kopf fest.

Ich nicke.

Glenn steht auf, während ich die Maske noch ein bisschen zurechtrücke und den vertrauten Druck auf der Haut spüre. »Ich bin stolz auf dich«, sagt er.

»Warum?«, frage ich durch das kleine Mundloch im Plastik.

»Weil du mutig bist«, antwortet er. »Weißt du, was John Wayne immer gesagt hat?«

Ich schüttle den Kopf. »Ich weiß gerade mal, wer John Wayne ist.«

Glenn lacht. »Also, dann ist das hier deine erste Lektion: Mut ist, wenn man Todesangst hat, aber sich trotzdem in den Sattel schwingt.«

Ich wirble mit der Hand durch die Luft, als würde ich ein Lasso schwingen.

Glenn küsst mich auf den Scheitel. »Gute Nacht, Kiddo.«

In dem schwachen Licht kann ich, wenn ich die Augen entsprechend zukneife, meine Mom vor mir stehen sehen. Ich kann mir fast einreden, dass sie den Flur runter wartet, dass ich zu ihr ins Bett krieche und ihr verrate, dass ich mich davor fürchte, den morgigen Tag allein durchstehen zu müssen.

Glenn und Cora verlassen das Zimmer gemeinsam. Seine breiten Schultern überragen ihre zierliche Gestalt deutlich. Er bückt sich, um mit einer Hand seine Stiefel aufzuheben, während er mit der anderen Coras schlanke Finger hält. Durch meine Maske sehe ich sie den Flur runtergehen.

Ich schaue auf meine eigenen Hände, die Klaue am einen Arm und die vernarbten Finger, die aus der Kompressionswäsche rausschauen, am anderen.

Cora will, dass ich Leute an mich ranlasse. Das Problem ist, dass niemand an meine Tür klopft – jetzt nicht und nie wieder.

Was auch immer mich morgen an der Highschool erwartet, ich muss dafür gewappnet sein.

Kugelsicher.

Ich setze meine Kopfhörer auf, mache die Musik laut und schließe die Augen, während ich den engen Sitz der Kompressionswäsche und das Gewicht meiner Gesichtsmaske spüre. Normalerweise sorgt meine Ausstattung für Brandverletzte dafür, dass ich mich wie ein gruseliger Pharao Tut fühle, der in einen Sarkophag gesteckt wurde.

Aber heute Abend fühlt es sich gut an.

Wie eine Schutzschicht zwischen mir und der Welt.

Als wäre es das Einzige, was mich zusammenhält.

Kapitel 3

Als ersten Akt meiner Verschwinde-Nummer bitte ich Cora, mich dreißig Minuten früher als nötig abzusetzen, um volle Flure in meiner neuen Schule – Crossroads High, Heimat der Vikings – zu vermeiden.

Ich habe mir diese Schule ausgesucht, weil sie sich auf der anderen Seite der Stadt befindet, wo niemand Sara kannte. Zu Hause habe ich ja schon die Lücke ausgefüllt, die man früher Sara nannte; da muss ich nicht auch noch an der Schule in ihren Schatten schlüpfen.

Cora ist seit Dr. Sharps letzter Untersuchung ein Wirbelwind in Menschengestalt. Sie hat meine Schulakten besorgt und den Direktor überredet, eine Ausnahme vom Wohnortprinzip zu machen und mich aufzunehmen. Dann war sie mit allen möglichen anderen Verantwortlichen der Schule am Telefon, um einen Plan zu schmieden, wie man mit meinem »Zustand« in diesem Jahr umgehen soll. Unser Deal hinsichtlich »nur zwei Wochen« scheint dabei eindeutig selektiver Amnesie zum Opfer gefallen zu sein.

Als wir auf den Parkplatz biegen, verrät sie mir, dass der Direktor mich zu einem kurzen Treffen vor dem Unterricht erwartet, um mich »persönlich kennenzulernen«. Sie besteht darauf, trotz des eisigen Februarwinds den Wagen vor der Schule zu parken und mit mir auszusteigen, nur damit sie mir die Messenger Bag geben kann, von der sie inzwischen überzeugt ist, dass sie mein Universal-Ticket zu den sozialen Hierarchien der Highschool sein wird. Ich hänge sie mir über die Schulter und stecke die Kopfhörer in mein Handy, während Cora mir noch einen letzten Überblick zum Thema »Wie man ein Schüler an der Highschool ist« gibt. Inklusive Anweisungen »mich rauszuwagen« und irgendwas zu meinen Medikamenten.

Beim letzten Teil höre ich nicht mehr richtig hin, weil ich erstens weiß, wie ich meine Pillen nehmen muss, und weil zweitens ein anderes Mädchen direkt hinter uns aus einem Wagen steigt.

Sie bleibt wie angewurzelt stehen, als sie mich sieht, und reißt geradezu paralysiert die Augen auf. Ich schaue auf mein Handy, um sie zu erlösen. Sie marschiert daraufhin im Eiltempo auf das Gebäude zu und verschwindet in der Crossroads High.

Einen Moment lang will ich auch loslaufen – zurück zum Auto, zurück in mein Zimmer, zurück zu meiner unsichtbaren Existenz. Da legt Cora eine Hand auf meinen Arm. Durch die Kompressionswäsche spüre ich ihre Berührung kaum.

»Bist du sicher, dass ich nicht mit reinkommen soll?«

Ich schüttle den Kopf. Das ist ein dickes, fettes Nein. Denn das Letzte, was mir jetzt noch fehlt, ist eine Begleitperson, die mit mir durch die Flure der Highschool läuft. Als ob mein Gesicht nicht schon genügend Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken würde, dass: Ich. Nicht. Dazugehöre.

Ein ziemlich großes Problem, da das erste Gebot an der Highschool Dazugehören lautet.

Ich schlucke meine Ängste runter – eine Fähigkeit, die ich im letzten Jahr beinah bis zur Perfektion gelernt habe – und täusche ein Lächeln vor. Wenn man nicht lacht, weint man, oder? Ich breite die Arme aus und drehe mich hin und her.

»Na, wie sehe ich aus?«

Ich meine das als Witz, aber Cora mustert mich mit ernstem Blick.

»Du siehst toll aus.«

»Du weißt, dass du mich jetzt in ein echtes Gemetzel schickst, oder?«

Sie lächelt zaghaft und rückt mein blaues Bandana zurecht, das im Nacken so verknotet ist, dass es meine ganze Kopfhaut bedeckt.

»Wir holen dich genau hier wieder ab, okay?«

»Was dann noch von mir übrig ist.«

Cora nimmt meine Hände und drückt sie fest. Wünscht sie sich gerade nur halb so sehr, dass ich Sara wäre, wie ich mir, dass sie Mom wäre?

»Denk an alles, was du durchgestanden hast, Ava. Du bist stärker, als du denkst.«

Ich setze meine Kopfhörer auf und achte darauf, dass der linke die Stelle bedeckt, wo eigentlich mein linkes Ohr sein sollte. Während die Musik die Umgebung ausblendet, packe ich den Schulterriemen meiner Tasche und marschiere durch die Eingangstür. Dabei wünsche ich mir, ich könnte so fest wie Cora an die transformative Kraft des richtigen Accessoires glauben. Der vertraute Geruch nach Teenagern (zwei Teile schmuddelige Football-Ausrüstung und ein Teil Bodyspray von Axe) weht mich an, als ich in die fluoreszierend beleuchtete Welt der Highschool mit ihren Linoleumböden zurückkehre.

Eine riesige Pappfigur, ein weißer Typ mit Wikingerhelm und Schwert, begrüßt mich im Viking Country: Sei kühn! Sei mutig! Sei ein Kämpfer! Ein von Hand bemaltes Banner hängt an der Wand. Darauf steht: Macht euch auf was gefasst! Hier kommen die Vikings!

Gemetzel war vielleicht noch untertrieben.

Dabei ist mir durchaus schon bekannt, wie Leute auf mich reagieren. Ich bin es gewohnt, von irgendwelchen Leuten an Ampeln und beim Einkaufen angestarrt zu werden. Ich nehme das auch niemandem übel. Schließlich bin ich die menschliche Entsprechung einer Karambolage von fünf aufeinandergefahrenen Autos. Da kann man gar nicht nicht hingucken.

Was die Reaktionen angeht, bin ich auch schon Expertin. Sie lassen sich auf mehrere absolut verlässliche Verhaltensweisen eingrenzen:

EkelSchamloses StarrenFurchtMitleidKrampfhafte FreundlichkeitAggressives Meiden (als wäre ich unsichtbar)Geringschätzung (als wäre ich hirngeschädigt)

Man kann nicht wirklich vorhersagen, wer wie reagieren wird, wobei Kinder meist mit der ersten Variante beginnen und ihre Mütter schreiend fragen, warum mein Gesicht wie Frühstücksspeck aussieht.

Erwachsene sind in der Regel gesellschaftlich geübt genug, um sich das von Panik geprägte Starren zu verkneifen. Fremde Leute in einem Laden legen eine Mischung aus Meiden und Mitleid an den Tag, beispielsweise Mütter, die ihre vorlauten Kleinen von mir, einer Art echtes Schreckgespenst, weglotsen.

Und Teenager? Tja, die liegen irgendwo dazwischen, was bedeutet, dass ich keine Ahnung habe, was mich heute erwartet: Mistgabeln oder Mitleidsparty.

Diese Unvorhersehbarkeit zieht mir den Magen zusammen, während ich die Eingangshalle Richtung Direktorat durchquere. Dabei habe ich Glück – leere Flure.

Im Spiel Ava gegen Reintegration steht es 1:0 für Ava.

In der Sicherheit des stillen, mit Teppichboden ausgelegten Vorzimmers angekommen, stoppe ich die Playlist, ziehe mir den Kopfhörer herunter, sodass er um meinen Hals liegt, und schiebe das Bandana über das Ohrloch. Ich weiß nicht, wo ich hinmuss, also bleibe ich erst mal mitten im Raum stehen, auch wenn ich mich hier so fehl am Platz fühle, wie ich sicherlich aussehe. Als die Sekretärin von ihrem Schreibtisch hochschaut, fällt ihr breites Grinsen für einen Sekundenbruchteil in sich zusammen.

»Oh.« Sie atmet den Laut eher, als dass sie ihn spricht.

Dann zucken ihre Augen zurück auf die Schreibtischplatte, während sie versucht, sich zu fangen. Als sie wieder aufblickt, hat sie ein Dauerlächeln aufgesetzt und spricht mit lauter, zwitschernder Stimme.

»Was kann ich für dich tun, Liebes?«

»Ich bin Ava Lee, ich glaube, ich soll mich beim Direktor melden.«

»Oh, Ava, natürlich!«, singt sie beinah, und zwar zehn Dezibel zu laut.

Klassische krampfhafte Freundlichkeit. Was für Narben? Ich bin zu fröhlich, um dein entstelltes Gesicht auch nur zu bemerken! La, la, la!

»Gleich hier entlang!«, schreit sie, und es klingt eher so, als würde sie mich bei einer Gameshow begrüßen, anstatt mich in ein winziges Büro mit zwei Männern zu bringen. Einer von ihnen sitzt im Poloshirt hinter dem Schreibtisch, der andere ihm schräg gegenüber in einem steifen, zu engen Oberhemd mit Krawatte, die seinen roten Kopf aussehen lässt wie einen Pickel, kurz vor dem Aufplatzen.

»Das ist Ava Lee! Die neue Schülerin!«, brüllt die Sekretärin beinah schon. Nachdem sie ihre Botschaft übermittelt hat, schließt sie die Tür hinter sich, und ich kann sie beinah vor Erleichterung seufzen hören. Der Mann im Polohemd deutet auf einen Stuhl.

»Setz dich, Ava. Ich bin Direktor Danner, aber die meisten Kids nennen mich Mr. D. oder Big D. Und das ist Mr. Lynch.«

»Du kannst mich Konrektor Lynch nennen«, sagt der Rotgesichtige.

Direktor Danner streckt mir die Hand hin, zieht sie aber gleich wieder ein Stückchen zurück, als ich meine ausstrecke. Die Finger meiner rechten Hand schauen wie schrumpelige violette Würstchen aus der beigefarbenen Kompressionswäsche.

»Ist das okay?«, fragt er.

»Es tut nicht weh, falls Sie das meinen«, sage ich.

Er lächelt zaghaft und schüttelt meine Hand, als wäre sie ein toter Fisch. Ich tue so, als würde ich nicht sehen, wie er sich beim Hinsetzen die Handfläche an seiner Hose abwischt. Sein Haar formt eine perfekte Welle auf der Stirn, und sein teures Lächeln entblößt eine Reihe perfekt gerader Zähne. Hinter ihm stehen auf einem Bücherbord Dutzende Trophäen. Er folgt meinem Blick zu einer mit einem goldenen Footballspieler auf der Spitze.

»Zu meiner Schulzeit war ich hier Quarterback. Und jetzt bin ich der Boss. Das Leben ist manchmal schon lustig, was?«

Ich nicke. Jap, das Leben kann einem so manchen Tritt verpassen.

»Tja, Ava, wir freuen uns sehr, dass du Mitglied unserer Schulgemeinschaft wirst«, sagt er.

Seine Augen suchen in meinem Gesicht nach einem Punkt, auf dem sie ruhen können. Viel Glück, Kumpel. Schließlich schaut er links knapp an meinem Kopf vorbei, sodass er mich zwar nicht anschaut, aber beinah, oder es wenigstens so wirkt. Er würde damit auch durchkommen, wenn es nicht eine Taktik wäre, die praktisch jeder benutzt, der mit mir reden muss. Und das verüble ich keinem. Ich kann mich ja nicht mal selbst ansehen.

»Wir verstehen natürlich, dass du keine typische Schülerin bist. Deshalb möchten wir, dass du weißt, wir sind immer da, wenn du besondere Unterstützung oder jemand zum Reden brauchst. Wir haben auch immer eine Schulschwester verfügbar. Sie wird sich um deine Medikamente im Verlauf des Tages kümmern.«

Die Haut an meinen Armen prickelt.

»Kann ich meine Medikamente nicht selbst nehmen?«

Der Konrektor beugt sich mit seinem pockennarbigen Gesicht so nah zu mir, dass mir ein Spucketröpfchen ins Gesicht fliegt.

»Das mag ja schwer zu verstehen sein, aber das Beste, was wir für dich tun können, ist, dich zu behandeln wie jeden anderen Schüler auch«, sagt er. »Keine Sonderbehandlung, keine Sonderregeln.«

Anders als Mr. D. starrt mich Konrektor Lynch direkt an, während er redet. Und sein Blick klebt selbst dann noch auf mir, als ich mich wieder dem Direktor zuwende. Schamloses Starren. Für einen Erwachsenen ungewöhnlich.

Ich würde sagen, er schlingert damit schon auf das Territorium, das eigentlich für Menschen wie Cora und die Schwestern auf der Station für Brandverletzte reserviert ist, deren Job oder Blutsverwandtschaft von ihnen verlangt, Zeit mit mir zu verbringen. Sie entwickeln eine ganz eigene Form von Strategien im Umgang mit Ava.

»Was Mr. Lynch meint, ist, dass wir einigen gesetzlichen Vorschriften nachkommen müssen. Danach dürfen Schüler keine Medikamente bei sich haben. Das verstehst du doch, oder?«

Ich nicke, obwohl ich am liebsten schreien würde. Ich muss eine irrsinnige Menge Medikamente in festgelegten Abständen nehmen. Da wird es schwer werden, mich unauffällig im Hintergrund zu halten, wenn ich alle zwei Stunden das jeweilige Klassenzimmer verlassen muss.

»Wir befinden uns ja schon im zweiten Halbjahr, aber alle deine Lehrer wurden über dich informiert. Über deine Situation. Was ich damit sagen will, wir haben versucht, alle vorzubereiten.« Er fügt noch ein Lächeln hinzu, nachdem er sich verhaspelt hat. »Genug Organisatorisches, was? Reden wir über dich. Wir haben gehört, du singst gern?«

Ich schüttle den Kopf.

»Deine Tante …«

»Irrt sich.« Hätte ich mir denken können, dass Cora schon hier war und ihren optimistischen Feenstaub verstreut hat. »Ich singe nicht.«

Mr. D. blickt von mir zu Mr. Lynch. Wahrscheinlich auf der Suche nach weiterem Smalltalk, um mich »besser kennenzulernen«. Vergeblich.

»Dann, schätze ich mal, war’s das. Hast du noch irgendwelche Fragen?«

Nur ungefähr eine Million. Was, wenn ich das hier nicht kann? Was, wenn ich nicht stark genug bin? Wie bin ich bloß hierhergeraten, mit diesem Gesicht und euren Blicken, die durch mich hindurchschauen, und euren Händen, die ihr euch an der Hose abwischt, als sei ich ansteckend?

Ich schüttle den Kopf. Nope. Keine Fragen. Oder wenigstens keine, die ihr beantworten könnt.

Mr. Lynch deutet auf die Kopfhörer um meinen Hals. »Die müssen nach dem letzten Klingeln in deiner Tasche verschwinden.«

Ich schaue von ihm zu Mr. D. und hoffe auf irgendeine Intervention, eine Ausnahme von den Regeln, die für alle gelten. »Die sind nur für den Flur. Im Klassenzimmer benutze ich sie nicht.«

Mr. Lynch schüttelt den Kopf. »Schulordnung.«

Beide Männer beobachten mich, während ich den Kopfhörer abnehme und dieses kleine Gewicht, das dabei von meiner Haut verschwindet, dafür sorgt, dass ich mich sofort noch mehr bloßgestellt fühle. Panik steigt wie ein Kloß in meinem Hals hoch, während ich ihn in die Tasche stopfe. Wie soll ich mich jetzt unsichtbar machen?

Als sie mich aus dem Zimmer begleiten, will Mr. D. mir schon die Schulter tätscheln, überlegt es sich in letzter Sekunde jedoch anders, sodass seine Hand peinlich in der Luft hängen bleibt.

»Ava. Die Schüler wurden auch gewarnt – aufgeklärt –, sie wissen Bescheid. Aber deine Tante hat vorgeschlagen, dass du vielleicht vor jedem Kurs ein paar Minuten mit deinen Mitschülern über dich sprechen willst. Geh diese Sache ruhig direkt an.«

Diese Sache? Mein geschmolzenes Gesicht? Mein kaputtes Leben? Von welcher Sache reden wir hier eigentlich?

»Ja, aber definitiv nein«, sage ich.

Ich brauche das Verständnis anderer Leute nicht. Ich muss keine Fragen beantworten oder Freundschaften schließen oder eine Inspiration sein. Ich muss nur die nächsten zwei Wochen hinter mich bringen.

»Nun, das ist deine Entscheidung«, sagt Mr. D., als die Glocke direkt über unseren Köpfen ertönt. Lärmende Stimmen und Gestalten füllen den Flur. »Meine Tür steht immer offen. Ich sehe mich an dieser Schule eher als Freund, weniger als Autoritätsperson.«

Gleichzeitig wirft er mir noch ein gewinnendes Lächeln zu, das mir seine weiß gebleichten Zähne zeigt. Sofort muss ich an den Wikinger aus Pappe am Eingang denken.

»Es wird dir hier richtig gut gefallen, Ava. Das garantiere ich dir.«

Ich zögere an der Schwelle zwischen der relativen Sicherheit des Rektorats und dem Gedränge der Schüler, die rasch den Flur füllen. Der Begriff Spießrutenlauf fällt mir ein und dazu Bilder von Straftätern im Mittelalter, die halbnackt durch eine Gasse von Männern mit Peitschen schreiten mussten.

Wenn ich den vollen Flur so vor mir sehe, wäre mir die Variante mit den Peitschen lieber.

Mein neuer Besti, Big D., fängt auch schon an, muskulöse junge Männer in Letterman-Jacken mit High Fives zu begrüßen. Mr. Lynch blafft inzwischen einen Schüler an, gefälligst weiterzugehen.

Direktor Danner ist eindeutig hier, um seine ruhmeiche Teenagerzeit noch mal zu durchleben, Mr. Lynch eher, um sich für seine zu rächen.

Und ich? Ich will einfach nur überleben.

Kapitel 4

Eine Gruppe Jungs sieht mich als Erste.

Ein magerer mit pickeligem Gesicht macht »Whoa« und gleichzeitig einen Sprung zurück. Seine Kumpel drehen sich zu mir, dann alle gleichzeitig zu den Spinden und geben sich kaum Mühe, ihr Lachen zu verbergen. Mit schnellen Kopfbewegungen spähen sie immer wieder zu mir. Echte Superdetektive.

Ich spüre Blicke auf mir – ein Gefühl, das ich eigentlich inzwischen gewöhnt sein sollte. Flüstern und geräuschvolles Nach-Luft-Schnappen sind der Hintergrund-Soundtrack meines Lebens. Aber in diesem kleinen Flur und umgeben von Schülern in meinem Alter kriecht mir die Hitze so vieler Augen geradezu den Nacken hoch. Meine Arme und Beine fangen an zu jucken, während das vertraute Kribbeln meinen Körper durchfährt. Mein Gesicht glüht, während ich die Augen auf den Boden gerichtet halte.

Schau nicht hoch.

Ich zwinge mich, nicht zu reagieren, selbst als ich eine Gruppe Mädchen in nervöses Gekicher und Geflüster ausbrechen höre, gefolgt von: »Pscht … pscht … seid still. Sie kommt.«

Ein Mädchen vor ihrem Spind tut so, als würde sie an mir vorbeischauen, während sie eilig einen Blick auf die Stelle wirft, wo mein Ohr sein sollte. Ich ziehe das Bandana tiefer, damit sie nicht sehen kann, dass da kein linkes Ohr mehr ist, sondern nur noch ein Loch zum Gehörgang hin und ein Ohrläppchen, dessen Überleben man nicht erklären kann.

Ich lehne den Kopf ein bisschen nach hinten, um aufsteigende Tränen zurückzuhalten. Dank der zusammengezogenen Narben auf meinen Wangen sehen meine Unterlider aus wie zerfranste Jeans und können das geringste bisschen Feuchtigkeit kaum zurückhalten.

Aber ich werde nicht weinen. Nicht hier.

Ich versuche, mein rasendes Herz zu beruhigen, während ich weiter den Flur hinuntergehe. Dabei erinnere ich mich daran, dass ich diese Leute genauso wenig brauche wie sie mich. Ich zwinge mich, den Kopf oben zu halten, dabei möchte ich mich in Wirklichkeit in einen dieser Spinde verkriechen, um vor allen Blicken zu fliehen. Ihr Starren sagt mir, dass ich anders bin, klar, aber es zeigt auch eine noch tiefere Wahrheit: Ich bin weniger wert.

Etwas, das man sich anguckt, nicht anspricht.

Deshalb brauche ich keine Spiegel. Ich kann mein Spiegelbild in den Augen von allen Menschen in meiner Umgebung sehen.

Mein Gesicht findet mich immer.

Ich tue, als würde ich die Gruppe von Jungs nicht bemerken, die sich gegenseitig mit den Ellbogen anstoßen, oder dass sich alle auf der anderen Seite des Flurs drängen. Selbst ohne meine Kopfhörer tue ich so, als würde ich das Flüstern hinter vorgehaltenen Händen nicht mitkriegen.

Aus dem Lärm von Spinden, Schritten und Geplauder hört mein gutes Ohr die Worte heraus, die nicht für mich bestimmt sind:

Verbrannt.

Feuer.

Neue.

Eklig.

Zombie.

Ein weißglühender Schmerz fährt in meine Fingerspitzen, als mir bewusst wird, dass ich den Träger meiner Tasche mit der guten Hand wie wahnsinnig umklammert habe. Ich strecke die Handfläche aus und dehne die steifen Finger.

Als ich es in den Raum zu meiner ersten Stunde geschafft habe, atme ich die Luft aus, die ich angehalten hatte, seit ich das Rektorat verließ. Einen ganzen Flur lang!

Nur noch zehn Tage vor mir.

Ich schleiche mich zu einem Platz in der letzten Reihe. Das ist mein Plan: mich im Schatten halten. Den heutigen Tag überstehen.

Der Erdkundelehrer ist ein großgewachsener Mann mit einem buschigen schwarzen Bart. Er kommt mit großen Schritten ins Klassenzimmer und knallt einen Stapel Bücher aufs Pult. Als er den Blick durch den Raum schweifen lässt, muss er bei mir zweimal hingucken. So viel zu Big D.s Vorwarnung.

Er beginnt zu sprechen, aber der Schaden ist schon angerichtet. Sein kurzes Innehalten erlaubt meinen Mitschülern, sich umzudrehen und auch zu gucken. Ich versinke noch tiefer in meinem Stuhl.

Als ich noch klein war, konnte ich mich in einen Tarnumhang hüllen, indem ich einfach die Augen schloss. Meine Eltern spielten mit, wenn ich rief: »Ihr könnt mich nicht sehen!« Mom ging dann direkt an mir vorbei und fragte: »Wo ist Ava bloß?« Dad stieß sogar gegen mich und jammerte: »Oh nein! Wir haben sie für immer verloren.«

Diese Superkräfte eines Kleinkinds könnte ich heute gut brauchen.

Ich erinnere mich selbst daran, dass heute der schlimmste Tag ist – muss es doch sein, oder? Jeder muss mich zum ersten Mal sehen. Und in zwei Wochen ist es vorbei. Dann kann Cora in ihrem Ordner meinen guten Willen in Sachen Heilungsbemühen abhaken und ich mich in die Einsamkeit eines Zimmers zurückziehen, wo kein Spiegel hängt und keine bohrenden Blicke mich daran erinnern, was ich bin.

Der bärtige Lehrer schreibt das Wort Leben an ein Whiteboard.

»Heute beginnen wir ein neues Thema.« Er unterstreicht das Wort nachdrücklich. »Gemeinsam wollen wir ergründen, was es bedeutet, am Leben zu sein. Wir werden die lebendige Welt, die uns umgibt, und die Welt in uns erkunden.«

Er kündigt uns einen Fragebogen zur Selbsteinschätzung an und gibt einem Jungen in der ersten Reihe einen Stapel Blätter, den er verteilen soll. Als der Junge in meine Nähe kommt, zögert er und hält die Blätter so, als würde er einem tollwütigen Hund ein totes Kaninchen anbieten.

Ein ersticktes Quieken kommt aus seiner Kehle, als ich, ohne zu überlegen, meine linke Hand ausstrecke. Sein Blick bleibt an meinen zusammengewachsenen Flossenfingern und dem auffälligen »Daumen« kleben, der den Rest der Hand zwergenhaft wirken lässt, weil er ja eigentlich an meinen Fuß gehört und nicht hier draußen ins Freie, wo er die Eingeborenen erschreckt.

Schnell ziehe ich meine Frankensteinhand in den Schoß zurück. Der Junge wirft mir den Fragebogen beinahe hin und weicht rasch zurück.

Dann flitzt er wieder an seinen Platz, und ich bücke mich, um das Blatt aufzuheben, wobei ich mich bemühe zu ignorieren, dass er mich aus weit aufgerissenen Augen anstarrt. Aber es gibt mir das Gefühl, definitiv eine Aussätzige zu sein.

Sollte ich vielleicht eine öffentliche Bekanntmachung ausrufen? KEINESORGE, LEUTE. UGLYISTHEUTENICHTAUFBEUTEAUS!

Erst da bemerke ich einen anderen Jungen neben mir, der mit rücksichtsloser Unbekümmertheit auf den unverhältnismäßig riesigen Zehendaumen in meinem Schoß glotzt. Ich stopfe die Hand in meine Hosentasche und richte den Blick wieder auf den Tisch. Da schiebt er seinen Tisch quietschend näher heran.

»Ist das dein Zeh?«, flüstert er.

Ich ignoriere ihn.

»Hey!«, sagt er ein bisschen lauter. »Ist er?«

Ich schiebe eine Schulter nach vorn, damit er merkt, dass mein Hörvermögen nicht das Problem ist. Wenn es zu meinem Überlebensplan gehören würde, mit anderen zu sprechen, dann würde ich ihm jetzt sagen, dass er mich in Ruhe lassen soll.

Stattdessen tue ich so, als wäre dieser Fragebogen tausendmal interessanter, als er es in Wirklichkeit ist. Ich erwäge sogar ernsthaft, meine Kopfhörer aus der Tasche zu holen, damit dieser Typ seine Versuche, mit mir ins Gespräch zu kommen, einstellt. Ich hebe die Hand aus einer Gewohnheit, die ich anscheinend nicht ablegen kann – ich suche nach meinen Haaren, damit ich sie mir um den Finger wickeln kann.

»Gut, dass wir geredet haben«, sagt er.

Ich vertiefe mich noch mehr in mein Blatt. Er zögert eine Sekunde und rutscht dann wieder in seine Reihe zurück.

Ich riskiere einen Seitenblick in seine Richtung. Er hat seine Augen jetzt auf das Blatt gerichtet, sodass ich sehen kann, dass er eher klein ist und seine Hautfarbe ein warmes Braun. Der schwarze Vorhang seiner Haare öffnet sich, und seine dunklen Augen begegnen meinen, bevor ich wegschauen kann. Er reckt einen Daumen in meine Richtung. Ich kann nicht beurteilen, ob das ein grausamer Scherz sein soll oder ein altmodisches Symbol für Kameradschaft.

Rasch blicke ich endgültig weg.

Dann gehe ich die üblichen Reaktionen durch: schamloses Starren? Nicht wirklich. Jedenfalls kein Glotzen oder wie im Zoo An-die-Scheibe-Klopfen. Er bewegt sich an der Grenze zu krampfhafter Freundlichkeit durch seine Aufregung wegen meiner Zehenhand, aber das ist es irgendwie auch nicht. Kein Mitleid. Und definitiv nicht so, als wäre ich unsichtbar.

Ich kritzle in eine Ecke meines Notizbuchs, um die Reaktion dieses Jungen einzuordnen.

Neugierig

Wissbegierig

Ahnungslose Wissbegier

Als es klingelt, winkt der Junge mir zu, als wären wir alte Bekannte. Also werfe ich ihm meinen besten »Was ist dein Problem?«-Blick zu. Er lächelt zurück. Eindeutig ahnungslos.