Was, wenn wir genug sind? - Erin Stewart - E-Book

Was, wenn wir genug sind? E-Book

Erin Stewart

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Beschreibung

Poetischer Schrei nach Hilfe

In Lilys Kopf sammeln sich die Worte, die sie nicht sagen kann. Worte über die Nacht der blutigen Badfliesen. Worte über ihre psychisch kranke Schwester. Aber auch die Worte über ihre eigenen Gefühle und Sorgen. Während ihre Probleme so immer mehr zu ausgewachsenen Monstern in ihrem Kopf werden, wächst der Druck auf sie. Um ein Stipendium zu bekommen, muss sie gemeinsam mit Micah ein Kunstprojekt anfertigen. Doch kein Gedanke und kein Vers will auf das Blatt wandern. Micah verspricht ihr Hilfe – aber kann sie jemand aus ihrer Abwärtsspirale retten, der selbst mit seinen eigenen Monstern kämpft?

*Trigger-Warnung*

Schonungslos ehrlich beschreibt "Was, wenn wir genug sind?" nicht nur das Innenleben seiner komplexen Protagonistin Lily, sondern auch die Selbstzerstörung, die ihre Zweifel und Ängste in ihr auslösen. Selbstverletzung, Depressionen und suizidale Gedanken werden eindringlich thematisiert, so dass dieses Buch noch lange nachhallt und zum Nachdenken anregt. Auch der Suizidversuch ihrer bipolaren Schwester Alice, dessen Auswirkungen auf die Familie sowie das Stigma, das Mental Health Themen begleitet, wird Leser*innen nachhaltig beschäftigen. 


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Das Buch

Was, wenn wir mehr sind, als die Monster in unserem Kopf?

In meinem Brustkorb liegen so viele Worte unausgesprochen. Auch meine Narben verstecke ich sorgfältig wie mein wahres Ich. Wer bleibt noch bei mir, wenn ich die Narben zeige und all die Worte?

Die TikTok-Sensation „The Words We Keep“ jetzt auf Deutsch

Die Autorin

© Brekke Felt

Erin Stewarts »Was, wenn wir genug sind?« wurde vom renommierten Kirkus Reviews ausgezeichnet. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern im Schatten der Rocky Mountains. Ihren journalistischen Background nutzt sie am liebsten dafür, realitätsnahe Geschichten zu erzählen. Eins weiß sie dabei genau: Dass uns bestimmte Menschen begegnen und Stolpersteine unseren Weg kreuzen, hat immer einen Grund.

Mehr über Erin Stewart: www.erinstewartbooks.com

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Planet! auch!Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autor:innen und Übersetzer:innen, gestalten sie gemeinsam mit Illustrator:innen und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

Mehr über unsere Bücher und Autoren auf:www.thienemann-esslinger.de

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Viel Spaß beim Lesen!

Dieses Buch behandelt sensible Mental Health-Themen. Da diese Inhalte manche Menschen verstören oder triggern können, wird hier darauf hingewiesen, dass im nachfolgenden Text selbstverletzendes Verhalten, Suizid/suizidale Gedanken, Bipolarität, Angststörung und Depression eine wichtige Rolle spielen.

Falls du während des Lesens auf Probleme stößt und/oder betroffen bist, sprich bitte mit einem Freund oder einer Freundin und suche dir Hilfe. Erste Anlaufstellen bei psychischen Problemen findest du hier.

Für meine Mom,

die mich gelehrt hat, Wörter zu lieben,

sie wohlüberlegt zu nutzen

und dabei stets an meine Kraft zu glauben.

Unter den Wellen finde ich die Hand meiner Schwester.

»Ich hab Angst.« Meine Stimme ist leise, sie wird vom Wasser davongetragen – genau wie ich.

Der Ozean zieht mich weiter hinaus. Zu weit.

Doch Alice greift nach mir.

»Nimm meine Hand«, ruft sie. »Wir stürzen uns zusammen ins Abenteuer.«

Und weil ich sechs bin und sie meine viel klügere und mutigere achtjährige Schwester ist, glaube ich ihr. Ich lasse mich überzeugen, dass wir Tiefseeforscherinnen sind, die von einer ­Expedition zurückkehren. Ich lasse mich von ihr führen, obwohl das Salzwasser allgegenwärtig ist, in meinem Mund, meinen Ohren, überall.

Wir kämpfen gegen die Wellen, Hand in Hand.

Und dann liege ich im Sand. Dad flucht. Er schlägt auf meinen Rücken, noch mal und noch mal. Er schreit meinen Namen, so laut, dass es mir im Kopf wehtut.

Lily. Lily. Lily.

Ich huste, spucke den Ozean aus.

Dad sinkt auf die Knie. Er umarmt uns, so fest, dass ich fast platze, und wir liegen in einem Knäuel am Strand und er weint und ich glaube, es sind Glückstränen, aber ganz sicher bin ich nicht.

»Ist schon gut, Dad«, beruhige ich ihn. An Land ist meine Stimme kräftiger. »Wir haben ein Abenteuer erlebt! Wir waren ganz mutig!«

Davon muss er nur noch mehr weinen. Alice weint auch, was ich nicht verstehe, weil sie doch die Mutigste von allen ist.

Zehn Jahre später bin ich wieder am Meer. Diesmal allein.

Keine Tiefsee-Expedition. Kein Abenteuer.

Nur das Rauschen der Wellen, eine Stoppuhr und das Tapp-tapp-tapp meiner Füße auf dem Gehsteig. Mein Handy leuchtet auf, eine Nachricht von Alice:Lily. Wo bist du?

Ich antworte nicht. Ich bin im Flow, laufe noch ein bisschen schneller.

Ein bisschen weiter.

Ein bisschen besser.

Bis meine Muskeln nicht mehr können und ich mich auf den Heimweg mache.

Ich finde sie auf den Badezimmerfliesen. Sie streckt die Hand nach mir aus, in ihren Fingern liegt noch die Rasierklinge. Ihre Lippen formen Worte, immer wieder:

Tut mir leid.

Tut mir leid.

Tut mir leid.

Ich stehe da, erstarrt, wie gelähmt vom Anblick des Blutes, das aus ihrem Handgelenk rinnt und sich auf den Fliesen zu einer Lache sammelt.

Hilf mir, bittet sie.

Wie in Zeitlupe wische ich das Blut von ihrem Handgelenk. Versuche, die Blutung zu stillen. Finde die Quelle. Aber meine zitternden Hände machen es nur noch schlimmer. Leuchtendes Rot auf meiner Haut. Auf dem Boden verschmiert.

Hilf mir.

Aber ich weiß nicht wie. Ich kenne sie kaum, diese Version meiner mutigen großen Schwester, die so wenig ist, so wenig sie.

»Dad!« Meine Stimme hallt durch den Raum, schrill und panisch und völlig fremd.

So findet er uns, ihr Kopf in meinem Schoß, ihr Blut an meinen Händen, während wir auf jemanden warten, der alles in Ordnung bringt.

Dad nimmt sie in seine Arme. Hebt sie hoch. Trägt sie die Treppe hinab. Ihre Beine baumeln schlaff nach unten, Blutstropfen hinterlassen eine Spur wie Brotkrumen im Märchen. Er legt sie ins Auto. Fährt mit ihr davon.

Ich schrubbe das Blut meiner Schwester von den Fliesen. Vom Teppich. Von mir.

Im Waschbecken strudelt das Rot in den Abfluss, nicht jedoch das Echo ihres geflüsterten Hilf mir. Es füllt meinen Kopf aus und ich möchte am liebsten schreien, um es zu übertönen. Aber ich kann nicht. Ich muss stark sein. Für Alice. Für Dad.

Weil ich nichts anderes tun kann, mache ich ihr Bett

wieder

und wieder

und wieder.

Sechzehn Mal.

Bis es perfekt ist.

Und als das Laken straff gespannt ist, die Ecken mit militärischer Präzision umgeschlagen, die Kissen fluffig aufgelockert, reiße ich alles wieder herunter.

Nur damit ich es noch mal in Ordnung bringen kann.

Kapitel 1

Zwei Monate nach der Nacht der Badezimmerfliesen fällt mir auf, dass ich dabei bin, in beängstigender Geschwindigkeit meinen Verstand zu verlieren.

Verlieren ist hier natürlich nur metaphorisch zu verstehen, weil ich zu der Erkenntnis gelangt bin, dass Verrücktwerden ein Prozess ist, kein einmaliges Ereignis, auch wenn eine Vielzahl bunter Redewendungen es anders erscheinen lässt.

Durchgeknallt.

Nervenzusammenbruch.

Einen Sprung in der Schüssel haben.

Aber Verrücktwerden trifft einen nicht wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel. Es ist eher wie ein feiner Regenschauer, den man nicht bemerkt, bis man eines Tages nach Luft ringt, weil man plötzlich und unwiderruflich feststellt, dass man in seinen eigenen Gedanken untergegangen ist.

Manchmal frage ich mich, ob es sich für Alice auch so angefühlt hat. Ich hatte noch keine Gelegenheit, mit ihr darüber zu reden, seit Dad mitten in der Nacht mit ihr davongefahren ist und sie im Fairview-Therapiezentrum abgesetzt hat. Gut, ich könnte ihr eine der zehn Milliarden E-Mails schicken, die ich seitdem angefangen und wieder gelöscht habe, oder ich könnte Dad und meine kleine Schwester Margot zu den wöchentlichen Besuchsterminen begleiten, aber nein, danke.

Dabei ist es nicht so, dass ich sie nicht sehen will, ich will sie bloß nicht so sehen, inmitten all der anderen ›Jugendlichen mit Problemen‹, wie es auf der Website heißt, die verspricht, meine große Schwester durch Reiten und Vertrauensübungen im grünen Gras wieder hinzubekommen.

Also bleibe ich bis nächsten Monat, wenn Alice aus ihrem Ferienlager für Psychiatriefälle heimkommt, im Ungewissen, ob wir im selben Zug nach Klapsenhausen sitzen. Alles, was ich weiß, ist, dass ich, Lily Larkin, im reifen Alter von sechzehn Jahren dabei bin, meinen verdammten Verstand zu verlieren.

»Entspann dich mal.« Sam schwingt ihren Geigenkasten auf das Pult neben mir, während sie mir den gleichen Ratschlag gibt, den ich seit der Neunten von ihr höre. »Die kleine Ader auf deiner Stirn wird schon wieder zornig.«

»Entspannung hilft mir hierbei aber nicht«, erwidere ich, ohne von meinen Karteikarten aufzusehen, auf denen ich jeden Vers meines Gedichts für den heutigen Vortrag aufgeschrieben habe.

Sam rupft mir die Karten aus der Hand. »Als deine beste Freundin ist es meine oberste Pflicht, dich vor dir selbst zu schützen.«

Ich versuche, danach zu greifen, doch sie haut mir mit einem Karateschlag auf den Arm und schiebt die Karten in die Gesäßtasche ihrer Jeans.

»Es ist bloß eine Note. Also chill, Lil.«

»Es ist nie bloß eine Note.« Ich massiere mir die Schläfe, um für einen Moment den Druck zu lösen, der meinen Kopf umschließt. Notiz an mich: Ich muss dringend mehr schlafen. »Nicht alle verfügen über dein angeborenes musikalisches Talent.«

Sam öffnet entrüstet den Mund und hält mir ihre Finger vor die Nase, von denen drei mit Pflastern umwickelt sind.

»Hallo? Die erste Geige hat auch ihren Preis, kapiert?«

»Dann komm mir nicht mit: Es ist bloß eine Note oder ein Solo oder sonst ein Irgendwas. Der Weg zum Erfolg ist eine niemals endende Reihe aus Dominosteinen und ein kleiner Fehler, eine winzige Unachtsamkeit reicht und alles geht den Bach runter.«

Sam verzieht das Gesicht. »Wie deprimierend.«

»Stimmt aber.«

Was es nicht besser macht, ist, dass wir der Begabtenklasse angehören, wo die Dominosteine in einem noch höheren Tempo fallen. Es gibt keine Pausen. Kein Durchatmen. Nur Stein nach Stein, der im perfekten Winkel kippen muss. Oh, und natürlich muss man sich bis spätestens zum Ende der Grundschule auf irgendein »Spezialgebiet« wie Geige oder Schwimmen festgelegt haben, denn was will man sonst mit seinem Leben anfangen?

»Dann schalte halt mal einen Gang runter«, rät Sam. »Oder siehst du hier sonst noch jemanden durchdrehen?«

Wie aufs Stichwort lässt sich Kali mit ihrem eigenen Stapel Karteikarten neben mich plumpsen. Es war einmal vor langer Zeit, irgendwann, als wir noch Kinder waren, da war Kali meine beste Freundin für alles. Das hielt jedoch nur bis zur Middleschool, wo sich immer deutlicher abzeichnete, dass wir besser darin waren, Rivalinnen zu sein. Schließlich sind wir beide Nerds, wenn es um Wörter und Sprachen geht, und stehen in sämtlichen Schreibwettbewerben und Klassenranglisten in direkter Konkurrenz zueinander. Befreundet sind wir zwar immer noch, aber inzwischen mehr so im Sinne von: Du musst den Feind kennen, um ihn besiegen zu können.

»Bereit?«, fragt Kali, ohne aufzusehen.

Als wäre ich nicht bis zwei Uhr morgens aufgeblieben, um an diesen Gedichten zu feilen. Jedes Mal, wenn ich dachte, ich sei fertig, war da ein kleiner Fleck oder ein unschöner Wortabstand oder irgendein anderer von einer Million Gründen, noch mal von vorne anzufangen – wieder und wieder und wieder, bis alles perfekt war.

»Und ob sie bereit ist«, ruft Sam. »Sie hat immer ihr Spitzen-Extraklasse-Material dabei.«

Sam drückt aufmunternd meinen Arm, als eine Gruppe von Schülern und Schülerinnen in Begleitung eines bärtigen Lehrers, den ich noch nie zuvor gesehen habe, hereinkommen und in der letzten Reihe Platz nehmen. Der Lehrer winkt sie näher, bis sie murrend in die erste Reihe umziehen.

Während Sam die Eindringlinge einer genauen Musterung unterzieht, fische ich meine Karteikarten aus ihrer Hosentasche. Sie wirft entnervt die Arme in die Luft und bedenkt mich mit ihrem besten Ich-bin-enttäuscht-von-dir-Blick, doch ich bin schon wieder bei meinen Worten, die ich in wenigen Minuten vor aller Augen vortragen muss. Allein bei der Vorstellung krampft sich mein Magen zusammen. Wobei: Wenn ich ehrlich bin, ist er sowieso dauerverkrampft.

Mrs Gifford klatscht in die Hände, um auf sich aufmerksam zu machen. Ihr Blick und ihr krauses rotes Haar sind noch wilder als sonst. Sie stellt uns die Neuankömmlinge als Kunstklasse vor und den bärtigen Mann als Mr Friedman, den Kunstlehrer. Kein Wunder, dass ich ihn nicht kenne. Ich war noch nie im Kunstraum, weil (1) ich über ungefähr null zeichnerische Fähigkeiten verfüge und (2) mein Stundenplan mit all meinen Kursen und dem Lauftraining schon so vollgepackt ist, dass für außerzeitplanmäßige Kunstversuche kein Platz mehr ist.

Gifford erklärt uns, dass die Kunstleute »wegen etwas ganz Tollem« hier sind, und gibt uns dann noch etwas Zeit, unsere Gedichte einzuüben, auch wenn ich den starken Verdacht habe, dass sie das nur macht, weil sie ihre tägliche Dosis Cola Light noch nicht ausgetrunken hat. Sie bekommt nicht mal mit, dass sich Damon, wie immer zu spät, auf den Stuhl hinter mir zwängt.

»Habt ihr ihn gesehen?«, fragt er und beugt sich vor, als wären wir bereits mitten im Gespräch.

»Wen?«, haucht Kali mit einem leicht säuselnden Unterton in der Stimme, denn OMG! Das ist Damon!, in den sie seit der fünften Klasse verknallt ist. Sie hat mir nie vergeben, dass ich in der Neunten einen bedauerlichen Monat lang mit ihm zusammen war. Damals hatte ich geglaubt, dass sich hinter seiner Arschlochhaftigkeit vielleicht doch ein liebenswerter Kern verstecken könnte. Spoiler: Ich lag falsch.

Dahinter ist er einfach auch eine Riesenpissnelke.

»Den Psycho«, raunt er mit kehliger Stimme, die er wohl aus einem Horrorfilm geklaut hat. Er nimmt einen tiefen Schluck von seinem Energydrink (dem offiziellen Letzte-Stunde-Wachmacher der Elften) und deutet mit einem Kopfnicken auf einen Jungen, der zusammen mit den Kunstleuten reingekommen ist. Eine neongelbe Sonnenbrille steckt in seinen dicken schwarzen Haaren und wackelt im Takt seiner Handbewegungen, während er etwas auf einen Block kritzelt.

»Ich bin überrascht, dass sie ihn überhaupt reingelassen haben«, meint Kali.

»Dass sie wen reingelassen haben?«, frage ich.

»Micah Mendez. Ist von seiner alten Schule geflogen. Ich hab gehört, jemand hat ihn oben auf Deadman’s Cliff gefunden, wo er, ihr wisst schon …« Damon fährt sich mit dem Daumen über die Kehle.

Kali beugt sich vor und flüstert: »Ich hab im Underground gelesen«, damit meint sie die Schlangengrube von Online-Klatschseite, wo die Leute den neuesten Tratsch der Ridgeline High posten, »dass er in seiner letzten Schule komplett durchgedreht ist. Also, so schlimm, dass sie die Bullen rufen mussten.«

»Ich hab gehört«, Damons Stimme ist laut genug, dass der Junge mit der Sonnenbrille ihn garantiert hören kann, »dass er unzurechnungsfähig ist. Hat das komplette letzte Jahr in der Klapse verbracht.«

Mein Magen krampft sich so fest zusammen, dass ich fast vom Stuhl kippe.

»Das nennt man Therapiezentrum, du Arsch«, weist Sam ihn zurecht. Sie wirft mir einen wissenden Blick zu, doch ich sehe schnell weg, weil ich Angst habe, dass Damon unseren heimlichen Austausch auffangen könnte. Sam ist die Einzige, die das mit Alice weiß, und so soll es gefälligst auch bleiben. Ich habe keinen Bock darauf, dass die Abgründe meiner Familie in der Gerüchteküche des Ridgeline Underground ausgeleuchtet werden.

Soweit alle anderen wissen, ist meine Schwester immer noch auf dem College, lebt in einem Studentenwohnheim und macht am Wochenende die Nächte durch. Ich habe nie erwähnt, dass sie ein paar Wochen nach Beginn ihres ersten Semesters nach Hause kam, sich ins Bett legte und nicht mehr aufstand. Jedenfalls nicht bis zur Nacht der Badezimmerfliesen.

Alice geht’s super. Alice liebt das College. Danke der Nachfrage, wir richten es ihr aus!

Diese Lüge habe ich so oft wiederholt, dass ich manchmal fast vergesse, dass es nicht die Wahrheit ist.

Fast.

Wie viele Therapiezentren kann es hier in der Gegend wohl geben?

Damon rückt mit seinem Stuhl so nah an mich heran, dass ich seinen Atem spüren kann.

»Von mir aus. Der Punkt ist: Der Typ ist ein Psycho. Mach das mal zu deinem Wort des Tages, Lil«, sagt er. Damit bezieht er sich auf meinen Social-Media-Account, LogoLily, auf dem ich meine Streberseite auslebe, indem ich mir neue Wörter ausdenke. »P-S-Y…«

»Ich weiß, wie man buchstabiert, vielen Dank.« Mein Blick huscht erneut zu dem Jungen in der Ecke.

Wie wahrscheinlich ist es, dass es dasselbe Therapiezentrum war?

Seine Hand hält inne und er sieht auf. Hastig gucke ich weg.

»Außerdem kommt er mir nicht besonders psychotisch vor.« Zugegebenermaßen weiß ich selbst nicht so genau, wie ein echter Psycho aussehen würde. Aber so wie er wohl eher nicht.

Damon lacht. »Das ist es ja. Man weiß nie, was bei jemandem im Kopf vorgeht.« Er zeigt nacheinander auf uns. »Jeder von uns könnte insgeheim ein Psycho sein.«

Sein Finger landet auf mir.

»Ja, klar«, schnaubt Kali und schüttelt den Kopf. »Lily ist perfekt.«

Damon beugt sich verschwörerisch zu ihr herüber. »Ganz genau. Die Perfekten sind es, auf die man besonders achten muss. Sie sind immer so verspannt. Dahinter staut sich der Wahnsinn mehr und mehr auf, bis es …« Er schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch. »KNALLT!«

Ich zucke zusammen und er lehnt sich lachend zurück. Der Knoten in meinen Eingeweiden zieht sich noch fester zusammen als sowieso schon.

»Du bist so ein Blödmann«, sage ich betont unbekümmert, als würde ich mich nicht um Damons Worte scheren oder darum, dass der Junge in der Ecke möglicherweise um mein Familiengeheimnis weiß. Oder darum, dass er mich jetzt auch noch anguckt. Also, direkt. Ich erwidere seinen Blick und er lächelt mich an, als ob er mich verdammt noch mal kennt. Mit einem kleinen Stück schwarzer Zeichenkohle zwischen den Fingern deutet er ein Winken an. Ich wende mich abrupt ab und zwinge meine Augen, sich wieder auf meine Gedichte zu fokussieren.

»Oh-oh.« Damons Augen huschen zwischen mir und dem Neuen hin und her wie bei einem Raubtier, das Frischfleisch wittert. »Der Psycho steht auf unsere Lily.«

»Ich bin nicht eure Lily. Und vor allem nicht deine.«

Obwohl wir vor Jahren Schluss gemacht haben, zieht er mich ständig damit auf, als sei die Botschaft nie ganz bei ihm angekommen. Der Knoten in meinem Bauch dehnt sich aus und sendet wabernde Wogen in alle Richtungen. Als ich das nächste Mal hinsehe, hat mich der Junge mit der Sonnenbrille immer noch laserscharf im Visier.

»Ach, wenn das nicht perfekt ist«, fährt Damon fort. »Wie heißt es so schön? Gleich und Gleich gesellt sich ge…«

»Im Ernst jetzt, Damon«, schneidet Sam ihm das Wort ab. »Musst du dich echt ständig wie der größte Wichser auf dem Planeten aufführen, um von deinem Mikropenis abzulenken?«

Damon grinst und zwinkert ihr zu. »Ja, ja, ich wette, du wüsstest nur zu gern, womit ich arbeite.«

»Das will keiner, Damon«, antworte ich, bemüht, so zu tun, als wäre mir der Junge am anderen Ende des Raums total egal. Aber der Knoten hat jetzt von meinem gesamten Unterleib Besitz ergriffen und lässt Wellen der Panik bis in meinen Brustkorb schwappen. Selbst wenn es dasselbe Zentrum war, würde er doch bestimmt nichts sagen.

Oder?

»Kennst du ihn etwa?«, flüstert Sam mir zu.

Ich schüttele den Kopf.

»Bist du sicher?« Sam richtet sich auf und redet nur noch aus dem Mundwinkel. »Weil er nämlich hier rüberkommt. Und. Zwar. Jetzt.«

Kapitel 2

Geh weg. Geh einfach. Verschwinde.

Ich starre Löcher in meine Karteikarten und tue so, als würde ich ihn nicht bemerken. Selbst als er direkt neben mir steht.

»Lily, richtig?«

Er streckt mir zur Begrüßung die Hand hin, seine Fingerspitzen sind von der Zeichenkohle ganz schwarz. Ich schüttele ihm die Hand und versuche, die Blicke der anderen zu ignorieren. Vor allem den von Damon, der mit offenem Mund dasitzt und ganz eindeutig jede Sekunde dieses unangenehmen Aufeinandertreffens genießt. Die andere Hand kralle ich um meinen Bleistift, um das Grauen zurückzuhalten, das mir vom Bauch bereits bis hinauf in die Kehle gekrochen ist.

Kein Wort über Alice.

Bitte sag nichts …

»Ich bin Micah. Deine Schwester und ich …«

»Kennt euch von der Arbeit«, unterbreche ich ihn schnell. Meine Stimme klingt gepresst. »Letzten Sommer, der Hundesalon, oder?«

Er mustert mich mit zusammengekniffenen Augen, sichtlich verwirrt über meine Lüge. Seine braunen Augen begegnen meinen, werfen mir einen fragenden Blick zu und ich sende ihm das deutlichste Bitte spiel einfach mit, das ich zustande bringe. Er schaut zu Sam und Kali und dann wieder zu mir.

»Ja. Stimmt. Der Hundesalon«, antwortet er langsam und wenig überzeugend. »Kann von den kleinen Kläffern gar nicht genug kriegen.«

Einige endlose Sekunden steht er da und wippt sachte auf und ab, wodurch unsere Aufmerksamkeit auf seine neongrünen Affensocken gelenkt wird, die er so weit hochgezogen hat, dass sie fast bis zum Saum seiner Shorts reichen. Wer auch immer der Typ ist, er hat kein Problem damit, aufzufallen.

»Psycho!«, hustet Damon in seine Hand.

Der Junge mit der Sonnenbrille fährt zu ihm herum. »Was hast du gesagt?«

»Ey, Alter. Entspann dich. Ich will keinen Ärger.« Damon hebt die Hände, als sei er zu einem Duell herausgefordert worden. »Ich meinte bloß, das sind echt supercoole Socken.«

Der Junge mit den Socken murmelt ein spanisches Wort, von dem ich weiß, dass es nicht nett ist, und als er sich zum Gehen wendet, streifen seine Finger den Energydrink auf Damons Tisch. Ganz leicht, nur gerade eben genug, dass die Dose umkippt. Die gelbe Flüssigkeit ergießt sich über die Tischplatte und über Damon.

»Geht’s noch, Alter?«, brüllt der und springt auf. In seinem Schritt hat sich ein kreisrunder nasser Fleck ausgebreitet. Doch der Neue schlendert mit erhobenen Händen davon, als wolle er sagen: Nicht meine Schuld, ich kann nichts dafür.

»Entschuldige, Alter«, sagt er mit so viel Verachtung in der Stimme, dass ich sie förmlich schmecken kann. Damon empört sich lautstark darüber, dass die Schule »solche Leute« überhaupt reinlässt, während er mit einem Papiertuch, das Kali ihm gegeben hat, an dem feuchten Fleck herumtupft.

»Was sollte das denn?«, fragt sie mit einem Blick auf die weiß hervortretenden Knöchel meiner Hand, die immer noch den Bleistift in einer Art Todesgriff hält, als hinge mein Leben davon ab.

Ich zucke mit den Schultern und würge die aufsteigende Panik herunter. »Keine Ahnung«, lüge ich. »Du hast Damon ja gehört. Der Typ ist verrückt.«

In Wahrheit weiß ich ziemlich sicher, was das sollte, aber das werde ich ihr bestimmt nicht auf die Nase binden. Nicht hier, nicht vor Damon, der nur auf das nächste heiße Hast-du-schon-gehört wartet. Ich sehe sein schadenfrohes Grinsen bereits vor mir, wenn er erfahren würde, wo meine Schwester die vergangenen Monate über war. Diese Genugtuung gönne ich meinen übertrieben wettbewerbsorientierten Klassenkameraden nicht.

Ich wende mich wieder meinen Gedichten zu, aber meine Gedanken sind anderswo.

Was, wenn er von der Nacht der Badezimmerfliesen weiß?

Was, wenn er allen von Alice erzählt?

Je mehr ich gegen die Was-wenns ankämpfe, desto erbitterter kämpfen sie zurück, bis sie nach und nach die Oberhand gewinnen und mich aus meinem eigenen Körper drängen. Nicht zum ersten Mal fange ich an, neben und über mir und um mich herum zu schweben und fühle mich, als würde ich mein Leben durch eine blitzblank geputzte Fensterscheibe betrachten.

Alles läuft wie im Film vor mir ab: Gifford ruft die erste Reihe auf, ihre Gedichte vorzutragen. Sam erhebt sich und liest ihres vor, eine gereimte, im jambischen Pentameter verfasste Metapher über zu straff gespannte Geigensaiten.

Als der Moment gekommen ist, in dem Gifford mich nach vorne bittet, habe ich meinen Körper vollständig verlassen. Ich sehe, wie ich meine Karteikarten und einen Stift in meinen Planer stecke und das Ganze wie eine Schmusedecke an mich presse, während ich zombiegleich vors Publikum trete. Ich sehe, wie sich die Augen aller auf mich richten, aber zugleich auch nicht auf mich, weil ich ja frei und ungebunden über dieser Lily-nicht-Lily schwebe, die dort unten steht und schweigt.

Ich bin erstarrt, so wie das Reh, das Dad letztes Jahr auf dem Highway angefahren hat. Als wäre ich kurz davor, von einem heranrasenden Fünfzigtonner zerschmettert zu werden.

Könntest du noch dämlicher aussehen?

Ich kann mich an kein einziges Wort mehr erinnern, daher schlage ich meinen Planer auf der Seite auf, wo die Karteikarten stecken. Doch meine Gedanken können sich nicht von dem Jungen mit der Sonnenbrille lösen.

Was, wenn er es verrät?

Meine Haut juckt, sendet ein Kribbeln wie von Hunderten Krabbelkäfern. Ich sehe, wie meine Finger kratzend meinen Arm bis zum Hals hinaufwandern.

Kali lehnt sich auf ihrem Stuhl vor, ihr Gesicht ist angewidert.

»Iiih, hör auf. Du blutest.«

Ich sehe, wie ich das Blut an meiner Hose abwische.

»Lily?« Giffords Stimme holt mich zurück in meinen Körper. Ein Adrenalinstoß flutet meine Adern.

Was, wenn er es verrät?

Der Gedanke durchströmt mein Inneres und bringt es derart zum Vibrieren, als würde ich jeden Moment aus meiner Haut platzen.

Wann ist es hier drin so warm geworden?

Damon tippt sich an die Schläfe, dreht seinen Finger und zeigt auf mich. Ein Junge neben ihm lacht hinter vorgehaltener Hand.

»Alles in Ordnung?«, formt Sam geräuschlos mit den Lippen.

Ich nicke und recke einen Daumen hoch.

Noch eine Lüge.

WAS, WENN ER ES VERRÄT?

Die Wörter auf meiner Karteikarte fließen ineinander.

Reiß dich zusammen, Lily.

Ein Kribbeln in meinen Fingerspitzen.

Ein Betonblock, der meine Lunge zerquetscht.

Beruhig dich.

Aber ich kann nicht.

Es ist zu spät.

Ich kriege nicht genug Luft.

Ich will schreien.

Doch ich bin wie gelähmt.

Alle starren dich an.

Kann. Nicht. Atmen.

Mein Kopf ist nicht länger Teil meines Körpers.

Bin ich überhaupt noch in meinem Körper?

Ich fühle mich, als würde ich sterben.

Sterbe ich?

Du stirbst eindeutig.

Mein Herzschlag hämmert in meinem Kopf, rauscht in meinen Ohren.

Ein neuer, rasender Rhythmus dröhnt durch meinen Körper wie ein zweiter Herzschlag.

Pulsierend.

Pochend.

Ohrenbetäubend.

Aus dem Augenwinkel schießen kleine Lichtpunkte heran.

Ein Kaleidoskop aus Dunkelheit legt sich über alles. Ich muss hier raus.

Ich zwinge meine Beine, sich in Bewegung zu setzen, und bevor mich jemand aufhalten kann, renne ich davon.

Kapitel 3

Am anderen Ende des Flurs stürze ich ins Mädchenklo und kotze.

Zweimal.

Mit dem Rücken an die Kabinenwand gelehnt spüle ich mein Erbrochenes runter und sinke auf den kalten Boden. Ich ziehe die Knie an die Brust und rolle mich so klein und fest zusammen wie möglich.

Alles ist gut.

Alles ist gut.

Alles ist gut.

Meine Fingerspitzen ertasten den rasenden Puls an meinem Hals. Einhundertvierzig.

Ich atme tief ein und stoße die Luft langsam, ganz langsam wieder aus.

So lange, bis das Hämmern des Herzschlags in meinem Hinterkopf langsam, ganz langsam nachlässt.

Das rhythmische Pulsieren sammelt sich wieder in meinem Brustkorb.

Stück für Stück erobere ich meinen Körper zurück.

Aber nicht meine Gedanken.

Die kreisen immer noch, so unaufhaltsam wie unerwünscht.

Es geht bergab mit dir.

Immer weiter bergab.

Und dann kommt der mächtigste Gedanke, der, der immer am lautesten schreit, wenn mein Körper und mein Geist mich im Stich lassen:

Was, wenn du verrückt wirst?

Genau wie sie.

Was, wenn … du es schon bist?

Kapitel 4

Beweisliste

1. Mein Körper hat seinen eigenen Kopf.

2. Mein Kopf hat seinen eigenen Kopf.

3. Meine Schwester hat ihren Verstand bereits verloren.

4. Ich habe die ganze Zeit das Gefühl, als würde ich am obersten Punkt einer Achterbahn sitzen. Nur das In-die-Tiefe-Sausen bleibt aus.

5. Kann. Gehirn. Nicht. Abschalten.

6. Beim Laufen fast hyperventiliert.

7. In der Schule die Kontrolle verloren, weil ein Junge möglicherweise (okay, ziemlich sicher) Alice aus der Therapie kennt. Sitze deswegen wie der totale Loser im Klo auf dem Boden.

Ich betrachte die Punkte, die gegen meine geistige Gesundheit sprechen.

Die Worte aufzuschreiben und sie nun in Tinte auf Papier vor mir zu sehen, lässt das Ganze irgendwie real erscheinen. Dass etwas nicht stimmt – dass ich neben der Spur bin –, weiß ich seit meinem ersten atemraubenden, Herz-zum-Hämmern- und Gedanken-zum-Rasen-bringenden Anfall, der ein paar Wochen, nachdem Alice nach Fairview gekommen war, über mich hereingebrochen ist. Es war eine spätabendliche Trainingsrunde, dieselbe Strecke wie in der Nacht der Badezimmerfliesen. Beim Laufen blitzten die Erinnerungen daran vor meinem inneren Auge auf, frisch und unerbittlich: Alice’ Blut. Ihr Flüstern: Hilf mir. Ich weiß nicht, wie.

Am Ende dröhnte mein Herz bis hinauf in meine Kehle, eine Million Schläge pro Minute, und meine Lunge schnürte mir den Atem ab, bis ich anhalten musste. Seitdem habe ich noch ein paarmal die Kontrolle verloren, aber zum Glück nie in der Schule – jedenfalls bis heute. (Vielen Dank auch, Mr Affensocken.)

Ich würde alles dafür geben, den Rest des Tages hier auf dem Boden bleiben zu können. Aber jemand muss die Dominosteine am Laufen halten. Ich stemme mich hoch, vorsichtig und mit gesenktem Kopf, damit der Boden aufhört, sich zu drehen. Am Waschbecken spritze ich mir Wasser ins Gesicht und schlage mir leicht auf die Wangen, damit ich nicht mehr ganz so wie die Königin der Untoten aussehe. Dieser letzte, bisher heftigste Anfall hat mich total erschöpft. Als wäre ich einen Marathon gelaufen. Einen, den ich nicht gewinnen kann.

Mit einem der rauen Papierhandtücher wische ich das Blut vom Hals, wo ich mir vor den Augen der gesamten Klasse die Haut aufgekratzt habe.

Die halten dich alle für verrückt.

Ich stecke mir ein Kaugummi in den Mund, um den säuerlichen Geschmack loszuwerden, und ziehe meinen Pferdeschwanz straff, ohne auf den pulsierenden Schmerz in meinem Schädel, die Müdigkeit in meinen Knochen zu achten.

Sie haben recht.

Als ich aus dem Mädchenklo komme, lehnt der Junge mit den Affensocken an den Schließfächern im ansonsten leer gefegten Flur. Na, fantastisch.

»Alles okay?«

»Bestens.«

Er joggt ein paar Schritte, um mich einzuholen. Seine dicken schwarzen Locken fallen ihm ins Gesicht, doch dahinter nehmen mich seine Augen aufmerksam ins Visier.

»Es ist nur, du sahst aus, als wärst du kurz vor einer Panikattacke.«

»Ich hab keine Panikattacken.«

Ich habe Hirnattacken. Körperattacken.

Den Teil behalte ich für mich. Wozu sollte ich anderen von meinem fragwürdigen Geisteszustand erzählen? Damit meine Klassenkameraden mich auch als Psycho abstempeln können? Was mit mir passiert, ist jedenfalls nicht nur eine Panikattacke, denn dann wäre es bloß in meinem Kopf und das erklärt ja wohl nicht mein Herzrasen, das Kribbeln auf meiner Haut und das beklemmende Gefühl in meiner Lunge.

»Na ja, was auch immer es war, es tut mir leid, falls ich was Falsches gesagt hab. Du weißt schon, über deine Schwester und den Hundesalon?« Er malt mit den Fingern Anführungsstriche in die Luft, als er Hundesalon sagt, als würden wir unter einer Decke stecken. »Alice hat einfach andauernd von dir geredet, als wir zusammen in Fairview waren. Und du siehst echt genauso aus wie sie.«

Ich bleibe abrupt stehen. Wir sind nur noch drei Türen vom Klassenzimmer entfernt und ich will auf keinen Fall, dass wir gemeinsam dort reingehen. Das hat mir gerade noch gefehlt.

Ein Psycho kommt selten allein.

»Hör zu, Micah – so heißt du doch, oder?«

Er nickt.

»Erstens, ich bin kein bisschen wie meine Schwester. Und zweitens, du kannst so was nicht überall rumposaunen.«

Micah streicht sich die Locken hinters Ohr. Er lächelt und zieht dabei eine Augenbraue hoch.

»So was?«

»So was wie« – ich beuge mich zu ihm vor – »Fairview.«

Er beugt sich ebenfalls vor. Er riecht nach Zeichenkohle und Holzspänen, nicht nach diesem typischen Ich-hab-in-Axe-Bodyspray-gebadet-Jungsaroma.

»Warum flüstern wir?«

Ein paar Mädchen aus dem Laufteam gehen an uns vorbei. Schnell richte ich mich auf und weiche ein Stück zurück.

»Hör einfach auf mich.«

»Danke für den Tipp.« Er schenkt mir ein offenes, aufrichtiges Lächeln. In dem Moment biegt Rektor Porter mit seiner üblichen Ich-jage-zum-Spaß-Kinder-Miene um die Ecke.

»Mr Mendez«, schallt seine Stimme übertrieben laut durch den Flur. »Hier in Ridgeline bleiben wir während des Unterrichts im Klassenraum.«

»Schon unterwegs, Sir.« Micah strafft die Schultern und hebt die schwarz gefärbten Fingerspitzen zu einer Art Salut an die Stirn. Porters Blick wandert von ihm zu mir. Wahrscheinlich versucht er, sich einen Reim darauf zu machen, warum wir hier zusammen stehen.

»Darf ich dich daran erinnern, dass du auf Bewährung hier bist?«, sagt er scharf. »Du solltest mir lieber keinen Anlass geben, es mir noch mal anders zu überlegen.«

Er sieht uns an, als wolle er sagen: Los, Abmarsch, ihr Hohlköpfe. Hastig drehen wir uns um und eilen zurück zum Klassenzimmer. Drinnen sitzen alle paarweise nebeneinander, als warteten sie darauf, die nächste Arche zu besteigen. Sämtliche Zweiergrüppchen drehen sich zu uns um. Von vorne lächelt uns Gifford entgegen.

»Wunderbar!«, ruft sie. »Da kommt ja unser letztes Paar!«

Die Augen eines ganzen Klassenzimmers landen auf uns.

Sagte sie gerade Paar?

Im Sinne von: Lily und Micah, ein Paar? Im Sinne von: Das darf nicht wahr sein, ein Paar?

Gifford erkundigt sich, ob es mir gut geht. »Es ist normal, weiche Knie zu kriegen, wenn man seine Werke vor anderen vortragen soll«, flüstert sie mir zu.

»Nein, das ist es nicht. Ich …«, beginne ich. Die anderen starren mich immer noch an.

Ich verliere den Verstand.

»Ich glaube, ich brüte da was aus.«

Einmal Lügner, immer Lügner.

Gifford führt uns zu zwei Plätzen in der ersten Reihe und versichert mir, dass ich meine Gedichte ein andermal vorlesen kann.

»Ihr zwei habt unsere Einleitung verpasst, aber Mr Friedman gibt euch die Kurzfassung.« Sie redet so schnell, dass ihre krisseligen roten Haare förmlich vibrieren.

»Wir legen unsere Kurse zusammen, um herauszufinden, was passiert, wenn Sprache und gestaltende Kunst aufeinandertreffen«, erklärt der Kunstlehrer mit dem zotteligen Bart. Er verschränkt seine Finger und hält uns die so miteinander verbundenen Hände entgegen. »Die Macht der Künste. Als eins.«

Konkret bedeutet das, ergänzt Gifford, dass wir uns ein Projekt ausdenken sollen, das sowohl dichterisch als auch visuell zeigt, was Kunst in einer Gemeinschaft bewirken kann. Wir haben sieben Wochen und das Projekt macht zwanzig Prozent unserer Gesamtnote aus. Eine Hälfte des Projekts besteht aus dem, was uns einfällt, die andere daraus, dass wir einen kreativen Weg finden, wie wir möglichst viele Menschen damit erreichen. Sie geben uns Raum, kreativ zu sein! Grabt in den Tiefen eures künstlerischen Genies! Das Einzige, was sie mit ihrer Begeisterung bei mir erreichen, ist, dass ich mich zusammenrollen und eine Million Jahre schlafen will.

Und jetzt habe ich ausgerechnet den Typen am Hals?

Die anderen Paare plappern munter drauflos und stellen sich einander vor. Micah sieht mich bloß an. Dabei hat er wieder dieses Ich-weiß-was-was-du-nicht-weißt-Grinsen mit der hochgezogenen Augenbraue im Gesicht.

»Was gibt’s da zu lachen?«, frage ich.

»Du magst mich nicht, oder?«

»Ich kenne dich doch gar nicht.«

»Und trotzdem kannst du mich nicht ausstehen.« Er beugt sich vor und flüstert: »Nur damit das klar ist: Alice war diejenige, die mich gebeten hat, nach dir zu sehen.«

»Moment. Alice macht sich Sorgen um mich? Erstens, selten so gelacht. Und zweitens, wie du sehen kannst, komme ich auch ohne sie bestens zurecht.«

»Offensichtlich.« Micah mustert mein Gesicht auf eine Weise, bei der ich am liebsten gleich wieder die Flucht ergreifen würde. »Wie kommt’s, dass ich dir an den Besuchstagen nie begegnet bin?«

»Hab’s bisher einfach nicht geschafft.« Theoretisch könnte das sogar stimmen. Sie hat noch einen ganzen Monat in Fairview, ich könnte sie also durchaus irgendwann besuchen. Allerdings bezweifle ich stark, dass sie mich überhaupt dahaben will, wenn man bedenkt, dass unsere letzte Interaktion so aussah, dass ich hilflos danebenstand, während sie fast verblutet wäre. Ich verdränge die Erinnerung an Rasierklingen und Badezimmerfliesen aus meinen Gedanken, schließlich versuche ich hier gerade, möglichst deutliche Ich-bin-nicht-verrückt-Signale auszusenden. Vom anderen Ende des Klassenraums schaut Damon zu uns herüber – seine Hose ist inzwischen trocken, aber der Blick, den er Micah zuwirft, könnte nicht tödlicher sein. »Hör zu, ich weiß nicht, wie ich es sonst sagen soll. Ich will nicht über meine Schwester reden.«

Er hebt schuldbewusst die Hände.

»Okay, okay. Die Botschaft ist angekommen, kleine Larkin.«

»Nenn mich nicht so.«

»So viele Regeln.« Da ist es wieder, dieses Lächeln. Die Augenbraue, die sich gen Himmel wölbt. Eine Narbe zerteilt sie mittig in zwei Hälften. »Warum nur?«

»Keine Ahnung. Warum hast du so viele Fragen?« Mit verengten Augen fixiere ich ihn, doch er lässt sich davon nicht beeindrucken. »Wie auch immer. Wir sind dann jetzt wohl Partner.«

Er lehnt sich so weit zurück, dass sein Stuhl zu kippeln beginnt. »Sieht ganz so aus.«

Er hat die Hände hinter dem Kopf verschränkt und seine Ellbogen zeigen nach außen. Dadurch kann ich das Tattoo auf der Innenseite seines Handgelenks sehen. Ein Semikolon. Über das bin ich im Internet schon mal gestolpert, es ist ein Symbol für jemanden, der einen Suizidversuch überlebt hat. Hat Damon recht? Wie viele von den Gerüchten sind wahr? Ist er wirklich vor aller Augen ausgerastet? Wollte er sich umbringen? Er merkt, wo ich hingucke, und starrt mich herausfordernd an, als warte er nur auf meine Nachfrage.

»Ich will einfach sicher sein, dass du das hier ernst nimmst«, sage ich stattdessen.

Er lehnt sich wieder zurück und sieht mir geradewegs in die Augen.

»Es geht um Kunst. Die nehme ich nie ernst.«

»Es geht um zwanzig Prozent unserer Endnote.«

»Ja, und?«

»Mir ist meine Zukunft wichtig.«

»Und mir nicht?«

»Ich will bloß …«

»Das sind ein paar ziemlich gewagte Unterstellungen, die du da machst.«

Ich hole tief Luft. »Lass uns noch mal von vorne anfangen. Wenn wir einander schon an der Backe haben …«

»Oooh, schlechter Start.«

»Wenn wir schon Partner sind …«

»Besser.«

»Sollten wir uns mal einen Plan zurechtlegen.«

Ich hole meinen Planer hervor und schlage den Kalenderteil auf.

»Wir haben sieben Wochen.« Ich zeichne einen roten Stern unter das Abgabedatum im Mai. »Also, ich schlage vor, wir teilen das in Wochen auf, wobei wir mindestens eine Woche einkalkulieren sollten, um das Ganze fertigzustellen, und …«

»Ist das dein Ernst?« Er nimmt mir den Planer ab. Ich versuche, ihn mir zurückzuholen, doch er blättert ihn bereits durch. Mein Herz rast erneut in Richtung Panik. Da drin ist meine Bin-ich-verrückt-Liste.

Innerhalb von zwei Sekunden ist mein Herz auf Anschlag.

Verlier nicht wieder die Kontrolle.

Verlier nicht wieder die Kontrolle.

»Bitte gib ihn mir zurück«, flüstere ich.

Er schlägt die Hand vor den Mund und schüttelt den Kopf.

»Das ist das Zwangsgestörteste, was ich je gesehen habe. Und trotzdem kann ich mich nicht davon losreißen.«

Ich schnappe mir den Planer, stecke ihn in meinen Rucksack und ziehe mit pochendem Herzen den Reißverschluss zu.

»Niemand erwartet, dass du mich verstehst. Ich muss ja auch nicht verstehen, warum du Affensocken trägst und drinnen eine Sonnenbrille aufhast. Wir müssen nicht mal unbedingt zusammenarbeiten. Wie wär’s, wenn du dich um den Kunstteil kümmerst und ich mich ums Schreiben? In ein paar Wochen setzen wir uns dann zusammen und gucken, wie wir das irgendwie unter einen Hut kriegen. Deal?«

Er lächelt und wieder schießt seine Augenbraue in die Höhe. »Ist das eine weitere von deinen Regeln?«

»Ist das eine weitere von deinen Fragen?«

Er lehnt sich erneut zurück. Diesmal verschränkt er jedoch die Arme vor der Brust, als wolle er einem Rätsel auf den Grund gehen. Dem Himmel und allen Göttern sei Dank klingelt es in dem Moment. Er tippt sich mit der Zeichenkohle an die Stirn. »Man sieht sich, Partner. Sag Bescheid, wenn du Hilfe brauchst.«

»Ich brauche keine Hilfe.«

Und wenn doch, wärst du der Letzte, den ich darum bitten würde.

Damon und ein paar andere stellen sich so neben der Tür auf, dass Micah sich zwischen ihnen hindurchschieben muss. Sie machen Affengeräusche dabei und reißen ihm den Rucksack vom Rücken.

»Pass bloß auf, du Freak«, droht Damon.

Nicht mal ein Tag und er hat bereits einen Ruf, einen Spitznamen und den größten Schleimbeutel der Ridgeline High zum Feind.

Wenn jemand Hilfe braucht, dann er.

Der Laden hier wird ihn bei lebendigem Leib auffressen.

Ridgeline Underground

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Achtung: Micah Mendez ist gefährlich. Er hat Damon heute praktisch angegriffen und ich hab gehört, an seiner letzten Schule ist er komplett durchgedreht und auf jemanden losgegangen. Also, volle Kanne plattgemacht.

Lasst euch von seinen dämlichen Affensocken nicht täuschen.

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Glaub ich sofort. Der Typ ist seltsam und versucht VIEL zu sehr, einen auf cool zu machen.

Ich mag seine Socken!

Will jemand wetten, wie lange es dauert, bevor er sich die Kugel gibt?

20 Dollar, dass er nicht mal das hinbekommt

Kapitel 5

Nach dem Unterricht bin ich von meinem Kontrollverlust immer noch ziemlich durch den Wind.

Doch die Pflicht ruft.

Ich stürze einen Energydrink herunter, bis mein Herz Cha-Cha-Cha tanzt. Sam und der Rest des Teams haben bereits vier Minuten des zwanzigminütigen Aufwärmlaufs hinter sich, als ich es endlich auf den Sportplatz schaffe.

»Zu spät. Zwanzig Liegestütze nach dem Aufwärmen«, blafft Coach Johnson mir entgegen, als ich zu Sam aufschließe.

»Alsoooo«, fängt sie an. »Reden wir drüber oder ignorieren wir es?«

»Was meinst du?«

»Vorhin. Als du aus der Klasse gerannt bist.«

»Ach so, das.«

»Ja, das.«

»Das war nichts.«

Sam bleibt mitten auf der Bahn stehen und stemmt die Hände in die Hüften.

»Oh nein. So nicht. Nicht mit mir, dem A und O der Beste-Freunde-und-Freundinnenschaft. So wie alle Sams vor mir.«

»Alle Sams vor dir?«

Sam bringt mich mit erhobener Hand zum Schweigen.

»Bitte spar dir deinen Spott bis zum Ende meines Monologs auf.« Ich bedeute ihr, fortzufahren. »Wie ich gerade sagen wollte: Sieh dir nur mal die edelsten Helden aller Zeiten an. Frodo. Captain America. Jon Snow. Was haben sie alle gemeinsam?«

»Capes? Eine ungesunde Vorliebe für Haargel?«

»Falsch«, antwortet sie. Wir laufen wieder los, als der Coach uns weitere Liegestütze androht. »Einen Sam. Jon Snow hat Sam Tarly, den liebenswerten Bücherwurm. Frodo hat Sam, den treuen Hobbit aus dem Auenland. Selbst Captain America hatte einen Sam an seiner Seite. Jedes Mal, wenn du mich ausschließt, bringst du mich um mein Geburtsrecht. Mein Erbe, das mir kraft meines Namens zusteht.«

»Musst du immer so … drüber sein?«

»Musst du immer so eine Geheimniskrämerin sein?«

Sam wartet auf eine Erklärung, aber ich habe keine. Die Wärme der Tartanbahn strahlt auf meine Beine ab. Mein Körper schleppt sich mühsam dahin, doch ich zwinge ihn vorwärts.

Einatmen. Ausatmen.

Einfach weiterlaufen – einen Fuß vor den anderen.

»Geht es um Alice?«, flüstert sie, als ein Trio von Läuferinnen uns einholt. Ich warte, bis sie an uns vorbeigelaufen sind, bevor ich zurückwispere: »Der Junge aus dem Kunstkurs. Der mit den Socken? Er war mit ihr in Fairview. Das hätte er beinahe vor der gesamten Klasse ausgeplaudert.«

»Und deswegen bist du abgehauen?«

»Ja.«

Und dann war da noch die Sache mit dem Herzrasen,

der abgeschnürten Lunge, dem Alles-dreht-sich-im-Kopf.

»Und wenn schon, Lil, es ist ja nicht so, als wärst du in Fairview gewesen.«

Noch nicht.

Wir laufen durch die Kurve, an deren Ende der Coach steht und neben unseren Namen eine Zahl aufs Whiteboard schreibt. Lily Larkin: 1,7 Sekunden. Um so viel muss ich mich auf den 400 Metern noch verbessern, wenn ich bei den Meisterschaften eine Chance haben will.

»Wo liegt das Problem, wenn er bei einem Projekt dein Partner ist?«

Wo das Problem liegt? Das Problem ist, dass ich in zwei grundverschiedenen Welten existiere. In der einen gewinne ich Rennen und schreibe Bestnoten, in der anderen geht mein Gehirn gerade hops und meine Schwester ist in einem Rehazentrum, weil ihres bereits hinüber ist. Es gibt zwei Lilys und sie dürfen niemals aufeinandertreffen, jedenfalls nicht, wenn ich will, dass zumindest eine Lily ihre geistige Gesundheit behält. Und durch so ein Rumgekumpel mit Micah krachen diese beiden Welten definitiv miteinander zusammen.

Um ein Haar erzähle ich Sam alles. Dass ich mehr und mehr die Kontrolle verliere, seit Alice fort ist. Dass ich fast jede Nacht bis in die Morgenstunden wach liege, gefangen in einer sich immer enger zuziehenden Spirale aus Was-wenns. Von der Liste hinten in meinem Planer und dass ich manchmal neben mir stehe, als wäre ich in meinem eigenen Leben bloß Zuschauerin.

Am anderen Ende des Parkplatzes saust Micah auf einem knallorangefarbenen Fahrrad davon, ohne auf die fiesen Bemerkungen zu achten, die Damon und seine Arschlochgang ihm hinterherrufen.

Unzurechnungsfähig.

So hat Damon ihn genannt.

Das denken die Leute über Menschen, die Therapiezentren aufsuchen oder Listen anfertigen, die belegen, warum sie langsam den Verstand verlieren.

Und genau deshalb kann ich niemandem davon erzählen – nicht mal meiner besten Freundin.

»Ich glaub, ich bin bloß gestresst«, sage ich schließlich.

Sam verdreht die Augen und wedelt mit der Hand vor meinem Gesicht.

»Hallo? Das ist das vorletzte Schuljahr. Natürlich ist das stressig. Ich war diesen Monat jede Nacht bis ein Uhr wach, um für mein Solo zu üben.« Sie hält mir im Laufen die bandagierten Finger unter die Nase.

»Siehst du? Manchmal wird es halt einfach ein bisschen viel.« Ein unerwarteter Kloß stiehlt sich in meinen Hals. »Die richtigen Kurse auswählen. Die richtigen Noten kriegen, um noch bessere Kurse belegen zu können. Den Stundenplan so vollpacken, dass man, wenn man es am Ende tatsächlich ans College schafft, den anderen bereits voraus ist und einen Wettbewerb gewinnen kann, von dem man gar nicht wusste, dass man sich dafür eingeschrieben hat.«

Sam bleibt stehen und legt mir die Hände auf die Schultern.

»Hör mir zu. Wir wissen alle, das ist ein riesengroßer Drecksmist gerade. Aber wir kriegen das hin, wir schaffen es ans College, machen das ganze letzte Schuljahr Party und dann verschwinden wir von hier.«

»Wenn wir Glück haben«, erwidere ich. »Wusstest du, dass die Aufnahmequote an der UC Berkeley letztes Jahr bei lediglich siebzehn Prozent lag?«

Sie wirft entnervt den Kopf in den Nacken.

»Lily Larkin. Bring mich nicht dazu, dir Google wegzunehmen.«

»Nein, im Ernst. Was, wenn sie mich nicht nehmen? Dad will unbedingt, dass ich in seine Golden-Bear-Fußstapfen trete, und wenn das nicht klappt, halten mich bestimmt alle für die totale Versagerin und …«

»Und du landest unter der Brücke und musst dich den Rest deines Lebens von matschigen Erdnussflips ernähren?« Sam boxt mir aufmunternd gegen die Schulter. »Du packst das schon. Wir alle packen das. Wir haben es fast geschafft. Nur noch ein bisschen durchhalten.«

Wir rennen das restliche Stück bis zum Ende des Schulgeländes, wo die Laufstrecke den Gehsteig des Pacific Coast Highway kreuzt. Vor uns erstreckt sich der Ozean. Wir wollen uns gerade nach rechts wenden, um die gewohnte Runde zurück zur Schule zu joggen, als Sam mich plötzlich am Arm packt.

»Ich weiß, was du jetzt brauchst.« Sie blickt vielsagend zum Strand, sieht mich an und wackelt einladend mit den Augenbrauen.

»Vergiss es. Der Coach glaubt sowieso schon, ich lasse mich hängen.« Womit er nicht ganz unrecht hat. Ich habe meine Trainingsläufe eingestellt. Anfangs habe ich es mit einer anderen Runde versucht, aber die Erinnerungen an Alice holen mich jedes Mal ein, werfen meinen Kopf und meinen Körper aus der Bahn und zwingen mich umzukehren, bevor ich auch nur ins Schwitzen gekommen bin.

Würde ich den Sieg bei der Meisterschaft nicht brauchen, um im Herbst meine Collegebewerbungen aufzupolieren, hätte ich das Laufen wahrscheinlich längst komplett an den Nagel gehängt. Aber ich habe zu hart gearbeitet, um jetzt einfach aufzugeben. Außerdem zählt das Team auf mich, Dad erwartet, dass ich in Berkeley angenommen werde, und ich habe nicht vor, sie alle zu enttäuschen.

»Der Coach überlebt das schon«, meint Sam leichthin, während sie mit einem breiten Lächeln die steile Treppe hinabrennt, die von der Klippe zum Strand führt. Sie ruft zu mir herauf: »Was du brauchst, ist eine Ablenkung.«

Ich werfe einen Blick zurück zur Schule, wo der Coach gerade eine verängstigte Neuntklässlerin zur Schnecke macht, dann eile ich hinter Sam her, immer zwei Stufen auf einmal, bis meine Füße den weichen Sand berühren. Unten angekommen sprinten wir los, geradewegs aufs Wasser zu. Wir laufen den Streifen entlang, wo das Meer das Land berührt, und weichen den Wellen aus, die sich uns entgegenwerfen. Unsere Schritte gleichen Geheimnissen im Sand.

Ich atme tief durch. Meine Lunge füllt sich mit salziger Luft. Hier draußen fühlen sich meine Gedanken klarer an. Wenn ich einfach nur laufen kann, ohne Zwang, ohne Ziellinie.

Wir haben den Strand ganz für uns. Einzig auf Deadman’s Cliff zeichnet sich die Silhouette eines anderen Menschen ab, ein leuchtender Umriss im schräg einfallenden Sonnenlicht. Sams schwarzes Haar leuchtet ebenfalls. Und wie die Sonne ihr so ins Gesicht fällt und ich den unebenen Sand unter den Füßen spüre, erlaube ich mir, ihr zu glauben.

Du schaffst das schon.

Feuchter Sand klebt an unseren Schuhen, als wir die Treppe wieder hinauflaufen und die Freiheit des Strandes hinter uns zurücklassen.

»Genau das, was ich jetzt gebraucht habe.«

»Hab ich ja gesagt. Weil ich eine Sam bin. Beste Freundin der Extraklasse.« Sie wirft sich in die Brust und stemmt die Hände in die Hüften wie eine Superheldin. »Du kannst meine Gefährtin sein – Anxiety Girl!«

Ich lache und recke die Faust gen Himmel, gebe mich stärker, als ich mich in Wahrheit fühle. »Superkraft: Von 0 auf 100 beim schlimmsten Katastrophenszenario!«

»Holen wir uns passende Capes?«

»Unbedingt.«

Zurück auf dem Sportplatz schließt Sam sich der Langlauftruppe an, während ich meine Straf-Liegestütze absolviere. Danach nehme ich zusammen mit den anderen Sprintern meinen Platz in den Startblöcken ein. 1,7 Sekunden. Das ist alles.

»Leg mal ‘nen Zahn zu, Larkin«, brüllt Coach Johnson, als ich die Hälfte der 400-Meter-Runde hinter mir habe. »Der zweite Platz ist der erste Verlierer.«

Ich stemme die Sohlen in den federnden Tartanbelag der Bahn, meine Oberschenkelmuskeln lassen mich vorwärtsschnellen. Sam hat recht. Wir haben es fast geschafft. Nur noch ein bisschen durchhalten.

Ich richte die Augen auf die Ziellinie.

Einfach weiterlaufen.

LogoLilys Wort des Tages

Kurternus (Substantiv, maskulin): Auf ein Ziel zulaufen, das immer ganz knapp außer Reichweite bleibt, während man, ähnlich wie ein Hamster im Hamsterrad, glaubt, es erreichen zu können, wenn man sich nur ein bisschen mehr anstrengt, nur ein bisschen länger durchhält.

Herkunft: lateinisch cursus (Laufen, schnelle Bewegung) + aeternus (ewig)

Kapitel 6

Pausenbrote schmieren.

Gedicht schreiben.

Lebenslauf aufpolieren.

Wäsche machen.

In Gedanken gehe ich meine To-do-Liste durch, während ich Mayo auf Brotscheiben streiche, um die morgigen Lunchpakete für Dad, Margot und mich vorzubereiten.

Staci (ja, ganz recht, mit einem i und sonst nichts; fragt lieber nicht) drückt sich nervös neben mir in der Küche herum.

»Ich kann helfen, das weißt du«, sagt sie.

Hätte ich nicht mein präzises, bis-auf-die-Sekunde-genau ausgeklügeltes System, würde ich sie vermutlich mitanpacken lassen. Vor Stacis und Dads Hochzeit letztes Jahr hatten Alice und ich unsere perfekt abgestimmte Methode, den Laden am Laufen zu halten, und ich schlage mich auch als Eine-Frau-Band immer noch bestens. Nichts bricht den Rhythmus mehr, als wenn sich jemand anderes einmischt, allen voran Dads funkelnagelneue Ehefrau.

»Danke. Ich hab alles im Griff.«

»Ich steh doch hier bloß rum.«

Sie streckt die Hand aus, um die Apfelstücke in die Tüten zu stecken. Ich ziehe sie zu mir herüber.

»Ehrlich, Staci, ich brauch keine Hilfe.« Schwungvoll klappe ich die Sandwiches zu. Zehn Jahre lang sind wir auch ohne eine Mom ganz hervorragend zurechtgekommen, unser Bedarf für einen Ersatz hält sich also in Grenzen. Staci lehnt sich gegen den Tresen und seufzt.

»Jeder braucht mal Hilfe, Lily.«

Sie sieht zu, wie ich die Äpfel und den Orangensaft auf die Tüten verteile. Die angespannte Stille treibt meinen Herzschlag in die Höhe, was nach meinem monumentalen Kontrollverlust heute wirklich das Allerletzte ist, was ich gerade brauche. Zum Glück spaziert Dad in dem Moment herein, mit einem übertriebenen Lächeln und Scrabble bewaffnet.

»Hashtag Familien-Spieleabend?«

Er schüttelt die Schachtel, sodass die Spielsteine darin rappeln und klappern.

»Müssen wir noch mal über diese Hashtag-Sache reden?«, seufze ich.

»Was?« Er hebt die Hände und setzt eine Unschuldsmiene auf. »Ich hab es ja wohl so was von richtig verwendet.«

»Wenn du älter als fünfzig bist, hast du es nicht richtig verwendet.«

Er gluckst belustigt, legt mir einen Arm um die Schultern und zieht mich an sich. Obwohl ich langsam zu seinen eins achtzig aufhole, schmiegt sich mein Kopf noch perfekt in die Mulde zwischen seiner Brust und seiner Schulter. Das war schon immer so. Als ich klein war, habe ich oft so getan, als würde ich schlafen, damit er mich ins Bett trägt. Damals glaubte ich, diese kleine Mulde sei mein Platz – ein kleines Stück von Dad, nur für mich geschaffen.

»Tja, Hashtag so ein Pech«, feixt er.

Stöhn. »Dad. Echt jetzt. Das bereitet mir körperliche Schmerzen.«

Sein Brustkorb erzittert unter seinem Lachen. »Okay, okay, ich hab’s kapiert. Dein Alter ist nicht cool. Aber vielleicht bin ich gerade noch schlau genug, um dich plattzumachen.« Er schüttelt die Schachtel erneut, um mich mit meinem Lieblingsspiel zu locken. Dad bezeichnet sich selbst als »logophil« (sprich: Wortliebhaber). Genau wie ich. »Wie sieht’s aus?«

Auf dem Boden wartet mein zum Bersten gefüllter Rucksack. Mein Magen krampft sich zusammen – vor mir liegt ein weiterer langer Abend. Geometrietest, Spanisch-Konversationsübung zum Thema Campingurlaub (weil sich irgendwann sicher auszahlen wird, Lass uns das Zelt aufbauen auf Español sagen zu können) und jetzt auch noch dieses Kunstprojekt mit einem Partner, dem alles pupsegal ist. Nach meinem Tag heute möchte ich am liebsten nur noch schlafen, aber wenn ich die kaputten Gedanken in meinem Kopf irgendwie abschütteln will, darf ich keine Müdigkeit vorschützen.

Ich behalte den Vorfall und die Liste hinten in meinem Planer für mich. Dad hat auch so schon genug Sorgen.

»Komm schon. Eine halbe Stunde? Wir haben auch Pizzaaaaa.« Er zieht das Wort in die Länge wie ein Gebrauchtwagenhändler, der mir die letzte Schrottlaube andrehen will, was im Grunde die perfekte Metapher für die aktuellen Familienabende im Hause Larkin ist.

Ende der Leseprobe