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Haben Sie schon einmal etwas von Resilienz gehört? Nein? Macht nichts, damit sind Sie nicht alleine. Vielleicht wäre aber gerade jetzt eine gute Zeit, etwas daran zu ändern und sich näher mit Ihrer seelischen Widerstandskraft zu befassen? Oder wissen Sie schon einiges über Resilienz, die Herausforderungen unserer Zeit bringen Sie aber immer öfter an die Grenze Ihrer Belastbarkeit? Auch in diesem Fall kann es sich für Sie lohnen, dieses Buch zu lesen. Wenn Sie das tun, werden Sie erfahren, was Resilienz ist (und was sie nicht ist), warum es gerade in Krisenzeiten wichtig ist, gut auf seine eigenen Bedürfnisse zu achten und welche Fähigkeiten uns allen helfen können, die Herausforderungen in einer sich schnell verändernden Welt zu bewältigen. Viele praktische Beispiele zeigen, wie sich Resilienztraining im Alltag umsetzen lässt und welche positiven Veränderungen es bewirken kann. Die Fähigkeit, Krisen in Chancen zu verwandeln, steckt in jedem von uns. Wir müssen sie nur nutzen!
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Seitenzahl: 141
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Danke an Anneliese, Christl und Ulrike – für euren Rat, eure Meinung und eure Unterstützung!
Resi- was?
Was ist eigentlich Resilienz, und was ist sie nicht?
Warum ist Resilienz heute so ein großes Thema?
Die Suche nach der Kohärenz
Das Phänomen VUKA-Welt
Wie entsteht Stress, und wann geraten wir als Mensch in eine Krise?
Die psychologischen Grundbedürfnisse des Menschen
Resilienztraining – die Umsetzung
Resilienztraining Phase 1 – Ursachenforschung
Resilienztraining Phase 2: Die eigene Salutogenese erstellen
Resilienztraining Phase 3: Wie komme ich vom „Ist“ zum „Soll“?
Resilienztraining Phase 4: Akute Krisenbewältigung
Resilienz im Alltag
Stress, Stressoren und Stressbewältigung
Stress reduzieren im Alltag
Achtsamkeit
Weitere Eigenschaften und Fähigkeiten, die unsere Resilienz steigern können
Sinnsuche – Sinnfindung
Die Kunst des Scheiterns
Tipps und Tools: Der Notfallkoffer für die Seele
Step by Step – die zehn Schritte zur Resilienz
Wenn die Gedanken Achterbahn fahren: Raus aus dem Katastrophendenken
Die Bewertung verändern – vom negativen in den positiven Kreis steigen
Mit Angst und Schmerz umgehen
Denkfallen aufspüren und aus dem Weg räumen
Ressourcencheck: die „Ich bin – ich kann – ich habe“ – Übung
Notaus-Schalter und präfrontale Aktivierung
Eine bunte Schatzkiste für graue Tage
Dankbarkeit und Wertschätzung üben
Atemtechniken
Progressive Muskelentspannung
Meditation
Phantasiereisen
Resilienztest
Und zum Schluss …
Quellen und Literatur
Haben Sie schon einmal etwas von Resilienz gehört? Nein? Dann sind Sie damit nicht alleine.
Als ich die Ausbildung zur Resilienztrainerin begann und in meinem Umfeld stolz davon erzählte, blickte ich oft in ratlose Gesichter. Resi- was? Kann man das essen, oder wozu braucht man das? Wenn ich dann zu erklären begann, konnte ich den Gedanken „das ist wieder so ein neumodischer esoterischer Schwachsinn“ manchmal fast hören, auch wenn er nie laut ausgesprochen wurde (wohl um meine Gefühle nicht zu verletzen). Resilienz ist aber so alt wie die Menschheit und beileibe keine Erfindung unserer Zeit.
Das „Immunsystem der Seele“, wie Resilienz auch gerne genannt wird, ist bei jedem Menschen vorhanden, aber – wie auch das „echte“ Immunsystem – verschieden stark ausgeprägt. Ob jemand resilient ist oder nicht, ist meist keine bewusste Entscheidung. Tatsächlich sind viele Menschen über Jahre resilient, ohne es zu wissen oder aktiv etwas dafür zu tun: Sie behalten trotz schwerer Schicksalsschläge ihren Lebensmut, rappeln sich nach Krisen wieder auf und sind auch noch dankbar für Steine, die ihnen im Weg liegen, weil sie damit etwas Neues erschaffen können.
Trotzdem kann es passieren, dass ein Mensch, der eigentlich aus jeder Situation das Beste macht und für jedes Problem eine Lösung findet, in einer völlig neuen Krisensituation plötzlich überfordert ist, seinen Optimismus verliert und manchmal sogar am Sinn des Lebens zweifelt. Viele Menschen machten genauso wie ich selbst diese Erfahrung, als sich zur bereits lange schwelenden Klimakrise zuerst die Corona-Pandemie und danach der Ukraine-Krieg mit den damit verbundenen wirtschaftlichen Folgen gesellte.
Ich habe als Kind und Jugendliche unter anderem die Ölkrise in den 1970er Jahren, den Kalten Krieg und Tschernobyl miterlebt, ohne mich davon wirklich betroffen zu fühlen. Wie die meisten Menschen in meinem Umfeld vertraute ich jahrzehntelang darauf, dass sich so einschneidende Ereignisse wie Kriege, ernsthafte Wirtschaftskrisen oder Seuchen prinzipiell weit entfernt von uns abspielen und unser Leben in Europa sicher und weitgehend planbar verläuft. Dann kamen Corona und der Ukraine-Krieg, und alles war anders.
Ich muss auf diese Krisen nicht im Detail eingehen – Sie wissen, was ich meine. Wenn das Leben derart aus den Fugen gerät, hat der Pessimismus leichtes Spiel: Der Blick richtet sich dann ganz von selbst auf jedes negative Detail des Lebens, und es schleicht sich das Gefühl ein, dass ohnehin alles egal und die Welt sowieso dem Untergang geweiht ist. Warum sollte man sich dann noch die Mühe machen, irgendetwas verändern zu wollen?
In so einer Situation hat man zwei Möglichkeiten: Man kann resignieren, die Hände in den Schoß legen und deprimiert den Weltuntergang abwarten. Oder man rappelt sich auf, richtet den Blick auf etwas Positives und nimmt sein Leben wieder aktiv in die Hand.
Ich wählte die zweite Option.
Im Laufe meiner Ausbildung zur Resilienztrainerin lernte ich vieles, was wir eigentlich alle wissen, aber zeitweise verdrängen oder einfach vergessen umzusetzen: Zum Beispiel, dass in jeder Krise eine Chance steckt und man manchmal nur die Perspektive wechseln muss, um sie zu erkennen. Es ist gar nicht so schwer, den Blick vom Negativen abzuwenden und auf das Positive zu richten: Man muss sich nur selbst immer wieder daran erinnern, es ganz bewusst zu tun.
Wenn Sie jetzt die Stirn runzeln und sich fragen, warum in aller Welt ich Ihnen etwas erzähle, was Sie ohnehin Tag für Tag praktizieren, können Sie an dieser Stelle aufhören zu lesen. Falls Sie all das wissen und trotzdem – wie ich auch – gelegentlich von Selbstzweifeln, Pessimismus und Weltschmerz befallen werden, kann Ihnen dieses Buch möglicherweise hilfreiche Impulse geben. Im Zweifelsfall blättern Sie ans Ende dieses Buches vor – dort finden Sie einen Resilienztest, der Ihnen Aufschluss über Ihren derzeitigen „Resilienzstatus“ geben kann.
Wie Sie bemerken werden, habe auch ich noch nicht auf jede Frage eine Antwort gefunden. Manche Grundsätze der Resilienz umzusetzen fällt mir leicht, bei anderen habe ich noch viel Luft nach oben. In der Achtsamkeitspraxis – die sehr viel mit Resilienz zu tun hat, wie Sie später noch lesen werden – stellt „lebenslanges Lernen“ eine tragende Säule dar. In unserer schnelllebigen Zeit müssen wir den Weg des lebenslangen Lernens mehr denn je gehen, wenn wir uns selbst und die Welt um uns herum immer wieder neu verstehen wollen. Mit diesem Buch lade ich Sie ein, mich auf diesem Weg für eine Weile zu begleiten und mit mir gemeinsam zu lernen.
Fangen wir einmal ganz am Anfang an.
Was bedeutet „Resilienz“ eigentlich?
Das Wort „Resilienz“ stammt ursprünglich aus der Werkstoffkunde und leitet sich vom lateinischen Wort „resilire“ ab, was so viel wie „abprallen“ oder „zurückspringen“ bedeutet. Ein resilienter Werkstoff verbiegt oder verformt sich zwar unter Druck, nimmt nach Nachlassen desselben aber wieder seine Ausgangsform an.
Auf den Menschen bezogen lautet eine gängige Definition von Resilienz:
„Psychische Widerstandskraft einer Person oder eines sozialen Systems gegenüber Entwicklungsrisiken, negativen Folgen von Stress und belastenden Lebensumständen“.
Wer sich intensiver mit dem Thema beschäftigt, bemerkt schnell, dass die Bedeutung von Resilienz gar nicht so leicht zu greifen und mit wenigen Worten zu beschreiben ist. Daraus ergeben sich je nach Sichtweise viele verschiedene Definitionsansätze, wie zum Beispiel:
Resilienz bedeutet …
seelische Widerstandsfähigkeit, um Krisen gut zu überstehen und gestärkt daraus hervorzugehen
Fähigkeit, Krisen in Chancen zu verwandeln
Fähigkeit zur Oszillation (was so viel wie Schwingung oder Schwankung bedeutet)
Flexibilität, mit schwierigen Situationen umzugehen
eine gute Entwicklung trotz ernsthafter Gefährdung
sich unter großem Druck zu biegen, statt zu zerbrechen
Alle diese Definitionen haben ihre Berechtigung, und es gibt sicher noch mehr Erklärungsansätze, die ebenso richtig liegen. Um von Resilienz sprechen zu können, müssen in jedem Fall zwei Bedingungen erfüllt sein: Es müssen ungünstige Ausgangsbedingungen oder Risiken vorliegen, und diese belastenden Lebensumstände müssen erfolgreich bewältigt werden.
Resiliente Menschen werden gerne mit Stehaufmännchen verglichen: So oft sie auch umfallen, sie stehen im nächsten Augenblick immer wieder gerade. Dieses „immer wieder aufstehen“ alleine macht aber noch keinen resilienten Menschen aus: Wichtig ist auch, aus jeder Krise etwas Positives mitzunehmen und nach einer erfolgreich bewältigen Herausforderung im besten Fall stärker zu sein als zuvor. Dazu gehören ein großes Maß an Selbstreflexion und die Fähigkeit, aus Fehlern zu lernen.
Wenn ich hinfalle, ist es wichtig, aufzustehen und weiterzugehen, das ist klar. Das alleine reicht aber nicht aus: Kurz innezuhalten und zu überlegen, warum ich gerade an dieser Stelle gefallen bin, kann mir helfen, in einer ähnlichen Situation zukünftig nicht wieder auf der Nase zu landen.
Besonders wichtig ist das Reflektieren, wenn ich das Gefühl habe, ich stolpere in regelmäßigen Abständen immer wieder über denselben Stein: Möglicherweise gehe ich dann nämlich im Kreis herum, was mir aber gar nicht auffällt, weil ich permanent mit zeit- und kraftraubendem Aufstehen, Weitergehen und „Mirnichts-anmerken-lassen“ beschäftigt bin. In diesem Fall habe ich zwar ein gutes Durchhaltevermögen, bin aber nicht wirklich resilient: Ich muss sehr viel Kraft aufbringen, um Stärke nach außen zu demonstrieren, die ich im Inneren aber gar nicht spüre. Den Schein zu wahren bringt mich nicht weiter, laugt mich aber immer mehr aus.
Ein resilienter Mensch ist weder der unzerstörbare Fels in der Brandung, noch der Superheld, der ganz alleine die Welt rettet. Seelisch widerstandsfähige Menschen kennen Sorgen und Leid, aber auch ihre persönlichen Grenzen: Sie gestehen sich Zeiten der Trauer zu und scheuen sich nicht, um Hilfe zu bitten, wenn sie alleine nicht mehr weiterkommen.
Resilienten Menschen werden oft folgende Eigenschaften und Fähigkeiten zugeschrieben:
Sie sind grundsätzlich hoffnungsvoll und optimistisch, schätzen Situationen aber dennoch realistisch ein.
Sie helfen anderen gerne, nehmen aber auch selbst Hilfe an.
Sie sehen Veränderungen und Krisen nicht als Bedrohung, sondern als Chancen zur persönlichen Weiterentwicklung.
Sie sind in der Lage, ihre Gefühle und Gedanken bewusst wahrzunehmen, zu analysieren und nach Bedarf zu verändern.
Sie verfügen über ein positives Selbstbild und vertrauen sich selbst und ihren Instinkten.
Sie gehen Probleme aktiv an und warten nicht, bis sie von anderen aus einer misslichen Lage gerettet werden.
Resilienz ist nicht angeboren, sie wird im Laufe des Lebens erworben. Idealerweise geschieht das in der Kindheit, grundsätzlich ist Resilienz aber in jedem Lebensalter erlern- und trainierbar. Resilienz ist nämlich kein Persönlichkeitsmerkmal, das einmal da ist und dann für immer unverändert bleibt: Die Leistungsfähigkeit unseres „seelischen Immunsystems“ unterliegt im Laufe des Lebens erheblichen Schwankungen und hängt zudem stark von der jeweiligen Situation und dem Lebensbereich ab. So kann jemand, der im Berufsleben problemlos mit den verschiedensten Stresssituationen jongliert, ohne den Überblick zu verlieren, völlig den Kopf verlieren, wenn zuhause die Katze krank wird und zum Tierarzt muss.
Man kann aber lernen, eine in einem Lebensbereich vorhandene Resilienz auf andere Bereiche übertragen. Das geht dann aber eben nicht mehr unbewusst, sondern muss trainiert werden – und dazu ist es nötig, sich mit seinen eigenen Mustern und Bewältigungsstrategien auseinanderzusetzen: Nur wer sich seiner eigenen Emotionen, Denk- und Verhaltensmuster und Strategien bewusst ist, kann sie zielgerichtet einsetzen.
Gut mit Herausforderungen umgehen zu können, in Stresssituationen gelassen zu bleiben und das Positive an einer Krise zu sehen, erleichtert das Leben und macht es in jedem Fall lebenswerter. Wir alle haben uns schon Sorgen um Dinge gemacht, die nie eingetreten sind, und wir alle haben schon mit uns und der Welt gehadert, weil etwas nicht so gelaufen ist, wie wir uns das vorgestellt haben. Nun können wir unsere Zeit und Energie mit unnötigen Ängsten, Selbstmitleid oder Jammertiraden vergeuden, wir können aber auch kurz innehalten, die Situation aus einer anderen Perspektive sehen, neu bewerten und uns fragen: Welche Chancen bieten sich mir an, welchen Nutzen kann ich aus der Situation ziehen?
Im Grunde ist Resilienz die Fähigkeit, Krisen in Chancen zu verwandeln. Die Anlagen dazu stecken in jedem von uns. Was wir daraus machen, haben wir selbst in der Hand.
Resilienz ist vermutlich so alt wie die Menschheit. Bis in die 1950er Jahre interessierte sich allerdings kaum jemand dafür, warum manche Menschen aus Krisen gestärkt hervorgehen, während andere daran zerbrechen. Dabei hätte es gerade in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts mehr als genug Gelegenheit gegeben, dies zu erforschen: Meine Großeltern (Jahrgang 1904 und 1909) hatten im Alter von 50 Jahren bereits zwei Weltkriege, eine Pandemie, eine Weltwirtschaftskrise mit Hyperinflation und Währungsreform sowie den Wiederaufbau Deutschlands miterlebt und – wie durch ein Wunder – ohne wahrnehmbare psychische Folgeschäden überstanden.
Resilienztraining wurde ihnen damals sicher nicht angeboten, auch andere Arten von psychologischer Unterstützung gab es nicht. Als meinem Vater (geboren 1940) nach Ende des Zweiten Weltkriegs sein aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrter Vater als völlig Fremder gegenüberstand, half kein Kinderpsychologe dem Kind oder der Familie, mit dieser Situation umzugehen. Wo mag die Resilienz hergekommen sein, die es den Menschen in dieser Zeit ermöglichte, schreckliche Dinge zu erleben, sich danach aufzurappeln, neu anzufangen und in den nächsten Jahrzehnten ein offenbar unbeschwertes Leben zu führen?
Springen wir wieder in die 2020er Jahre: Wir haben eine Pandemie hinter uns gebracht und mussten lernen, dass Kriege und die daraus resultierenden wirtschaftlichen Folgen auch in unserer Zeit nicht an den Grenzen Europas Halt machen. Dazu kommt die seit langem bekannte Klimakrise, deren Folgen noch nicht schmerzhaft spürbar sind, aber spürbar konkreter werden, und eine ebenfalls seit Jahren schwelende Flüchtlingskrise, von der niemand weiß, wie sie auf humane Weise bewältigt werden kann. Zu diesen großen Herausforderungen gesellen sich viele kleine: Rasante Veränderungen in nahezu allen Bereichen unseres Lebens erfordern ein hohes Maß an Flexibilität - wer nicht „up to date“ bleibt, verliert schnell den Anschluss und fragt sich irgendwann verwirrt, wohin seine vertraute Welt verschwunden ist.
Auch Menschen, die sich bisher für resilient gehalten haben, stoßen da leicht an ihre psychischen Belastungsgrenzen. Immer mehr Menschen nehmen heute psychotherapeutische Hilfe in Anspruch, und der Bedarf übersteigt das Angebot bei weitem.
Warum aber waren Menschen früher scheinbar „von Natur aus“ resilient, und warum müssen wir es erst mühsam erlernen?
Dafür kann es eine Reihe von Gründen geben. Psychische Erkrankungen gab es auch in der Vergangenheit, allerdings wurden psychische Probleme und deren Krankheitswert bis vor wenigen Jahrzehnten gar nicht als solche erkannt. Wie viele Menschen in den Kriegs- und Nachkriegszeiten des letzten Jahrhunderts an Angststörungen oder Depressionen litten, kann man im Nachhinein nicht mehr feststellen, so dass ein direkter Vergleich mit der heutigen Zeit nicht möglich ist. Allerdings deutet einiges darauf hin, dass unsere schnelllebige Zeit und veränderte Lebensumstände Stress und damit auch psychische Erkrankungen begünstigen.
Früher standen bei Problemen die Familie und ein großes soziales Umfeld zur Seite, was heute oft nicht mehr der Fall ist. Viele Menschen leben alleine, Kontakte zu anderen bleiben meist oberflächlich. In Krisenzeiten fehlen dann Menschen, denen man seine Probleme anvertrauen kann und ein soziales Netz, das einen helfend auffängt.
Früher war der Lebensentwurf eines Menschen bei der Geburt schon weitgehend vorprogrammiert: Schule, Ausbildung, Heirat, eine Familie gründen. Die Frau war für die Erziehung und das Wohlergehen der Kinder verantwortlich, der Mann hatte die Aufgabe, seine Familie zu ernähren. Dazu brauchte er eine solide Arbeitsstelle in einem Betrieb, dem er oftmals von der Ausbildung bis zur Rente treu blieb. Wenn man sich dann noch ein Häuschen, ein Auto und einmal im Jahr einen Urlaub in Jugoslawien oder Italien leisten konnte, waren alle Träume erfüllt.
Was wie ein Klischee klingt und uns heute kalte Schauer über den Rücken jagt, wurde bis in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts nur von wenigen hinterfragt: In der Regel hielt man sich an das, was die Gesellschaft vorgab, lebte sein Leben so, wie es erwartet wurde, und ersparte sich so die Qual der Wahl.
Heute haben wir die Fesseln der gesellschaftlichen Erwartungen abgelegt, es stehen uns von klein auf alle Möglichkeiten offen: Verschiedene Schultypen, Ausbildung oder Studium, eine Vielzahl von Arbeitsformen von der klassischen Arbeit im Betrieb über Hybrid Work oder dem digitalen Nomadentum, rasch wechselnde Arbeitsstellen, ein Studium mit Mitte 50 – alles ist möglich. Man kann alleine leben, in einer Beziehung ohne Trauschein, heiraten, sich scheiden lassen, Kinder bekommen, keine Kinder bekommen, alleine ein Kind bekommen, und, und, und …
Viele Freiheiten zu haben ist natürlich wunderbar, hat aber auch Schattenseiten: So viele Möglichkeiten wir haben, so viele Entscheidungen müssen wir auch fällen. Je mehr Entscheidungen wir fällen müssen, desto mehr machen wir uns Sorgen, den falschen Weg zu wählen, unser Leben zu vergeuden oder etwas zu verpassen. Das kann Stress auslösen, und je mehr wir darüber nachgrübeln, desto mehr Stress haben wir.
Früher war die Welt kleiner und überschaubarer. Interessant war vor allem, was im eigenen Umfeld und in der näheren Umgebung passierte. Man las die Zeitung und sah einmal täglich Nachrichten, um sich zu informieren, was in der großen weiten Welt vorging: Wenn diese Neuigkeiten das eigene Leben nicht unmittelbar betrafen, musste man sie sich auch nicht zu Herzen nehmen.
Heute können wir in jedem Moment unseres Lebens über Dutzende von Kanälen auf die neuesten Nachrichten aus aller Welt zugreifen. Eine Schreckensnachricht jagt die andere, wir saugen sie alle auf wie ein Schwamm und wissen danach nicht mehr, wo uns der Kopf steht. Hinzu kommt, dass in Zeiten der globalen Vernetzung weltweit alles irgendwie miteinander verbunden ist und niemand wirklich weiß, welche an sich unbedeutende Aktion irgendwo auf der Welt eine schwerwiegende Reaktion auf der anderen Seite des Globus nach sich ziehen kann. Der sprichwörtliche Sack Reis, der irgendwo in China umfällt, interessierte in unseren Breiten früher niemanden – heute kann er eine globale Katastrophe heraufbeschwören, wenn er von der falschen Person zum falschen Zeitpunkt umgestoßen wurde.