Silberschimmer - Susanne Bonn - E-Book

Silberschimmer E-Book

Susanne Bonn

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Beschreibung

Anja ist ihren Ex losgeworden, in eine nette Zweier-WG gezogen und bereitet ihre Bewerbung für die Kunsthochschule vor. Bei einem Fest lernt sie den gutaussehenden Tänzer Lauri kennen. Doch schnell wird klar, dass er nicht der ist, der er zu sein vorgibt. Und er kennt noch viel zwielichtigere Gestalten. Nicht alle sind ihm oder Anja wohlgesonnen. Wer ist die silberblonde Frau in seinem Leben? Anja muss sich der Vergangenheit ihrer eigenen Familie stellen, um es mit Lauri und seinem Umfeld aufzunehmen. Ein fantastischer Roman mit Märchenprinz, Gestaltwandlern und Schildkröte.

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Silberschimmer

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Silberschimmer

 Susanne Bonn

I

Eine Menschentraube marschierte durch den geometrisch angelegten Park mit prächtigen Wasserspielen auf das Rokoko-Schlösschen zu. Sie waren bunt und abenteuerlich ausstaffiert mit Dreispitzen und Kopftüchern, Rüschenhemden und gestreiften Hosen oder Röcken. Einige trugen Säbel und plumpe Pistolen im Gürtel. Eine Frau mit wilden braunen Locken hatte einen Plüschpapagei auf der Schulter sitzen. Neben ihr ging eine deutlich schlankere Frau in grauer Schößchenjacke und weißer Haube, unter der sich eine dunkelblonde Strähne hervorringelte.

„Du kannst dich ja über verunglückte Gewandung amüsieren, Anja, wenn du keine Lust auf Piraten-Tumult hast“, schlug die Frau mit dem Papagei vor.

Anja lachte. „Och, die drei bösen Königinnen, die wir auf dem Parkplatz getroffen haben, waren doch sehr elegant angezogen.“

Die Traube versammelte sich vor einer Bretterwand, an der das Programm angeschlagen war, und alle reckten die Hälse.

„Ich geh zum Tanzworkshop“, erklärte Anja, „das ist mehr so meine Richtung.“

„Jo, pass bloß auf, wenn du dir nen Prinzen angelst, nicht dass das in Wirklichkeit ein Frosch ist.“

„Keine Angst, Sibylle. Eher bring ich den Gestiefelten Kater mit nach Hause.“

„Da haben wir auf jeden Fall mehr von. Bis später!“ Sibylle winkte und lief ihren Piratenfreunden hinterher, um den Startpunkt der Schatzsuche ausfindig zu machen.

Der Tanzsaal war mit reichlich Gold und Spiegeln ausgestattet, was dazwischen an Wand zu sehen war, mit grüner Seide mit Vogelmotiven bespannt. Ein seltsamer Kontrast zu den Stahlrohrstühlen davor. Anjas Lehrer im Mappenkurs hätte wohl seine Freude daran.

Ehe sie dazu kam, ein Bild von diesem Arrangement zu schießen, betrat durch eine versteckte Tür neben dem Porträt des Bauherrn ein junger Mann den Raum. Er trug den farbenfrohen Seidenanzug eines Höflings und eine täuschend echt wirkende weiße Perücke mit Haarbeutel.

Anja knickste unwillkürlich vor der stolzen Erscheinung.

„Inkommodiert Euch nicht, Mademoiselle, ich bin hier nur der Tanzlehrer.“ Auch wenn er ausgestorbene Wörter kannte, sprach er mit einem deutlichen Akzent, nicht unbedingt französisch.

„Äh ... und ich bin das dreizehnte Hilfsküchenmädchen.“ Etwas Geistreicheres fiel ihr nicht ein. Zu sehr war sie damit beschäftigt, den Tanzlehrer zu betrachten. Sein fein gezeichnetes Gesicht mit den hellen, aufgeweckten Augen, seine schmalen Hände, die lässig eine winzige Geige hielten.

„Ich heiße Lauri“, sagte er und sah sich suchend im Raum um. „Ich hoffe, wir werden noch mehr.“

„Anja“, murmelte sie. „Ja, das hoffe ich auch.“

Sie standen einige Augenblicke unbehaglich herum, bis von draußen Stimmen zu hören waren.

„Spiegelsaal. Hier muss es sein.“

Paul. Konnte der nicht bei anderen Gelegenheiten tanzen gehen? So ein Tagesworkshop auf einem Märchenfest mit großer Schatzsuche war doch unter seinem Niveau.

Lauri öffnete schwungvoll die Tür. „Hereinspaziert, die Herrschaften. Man erwartet Euch bereits.“

Paul hatte sich von der überhöhten Perücke bis zu den roten Absätzen perfekt für ein Jahrhundert vor der Bauzeit des Schlosses ausstaffiert. Die Weste spannte inzwischen deutlicher über dem Bauch als vor zwei Jahren, als Anja sie genäht hatte. Die dazugehörige Dame im Joséphine-Outfit wartete gerade lang genug an der Tür, dass sie ihren eigenen Auftritt bekam.

Anja knickste wieder und hoffte noch dringender als vorher auf weitere Teilnehmer.

Es wurden nicht mehr viele. Ein gut eingetanztes Paar aus der Folk-Szene, ein Herr in Rüschenhemd und Lederhose und zwei Besucherinnen mittleren Alters, die bei jeder ungewohnten Bewegung kicherten wie Teenies. Eine trug ein Hello-Kitty-Longshirt und nannte sich Nora. Die andere war in Jeans-Minirock und roter Bluse mit Volants unterwegs. Sie nahm sich um den einsamen Herrn an und stellte sich als Monique vor. Anja freundete sich schon mit dem Gedanken an, mit Nora zu tanzen, da betrat noch ein schlaksiger Pirat mit braunem Pferdeschwanz den Saal. Er sah sich kurz um und stellte sich neben Nora. Anja fand sich an Lauris Seite wieder.

Zum Glück kannte sie die Tänze, die er erklärte. Seine Stimme, seine Blicke, ihre Hand auf seiner ließen bunte Wolken in ihr aufsteigen. Was er genau sagte und zeigte, nahm sie nicht wahr. Denken und sinnvoll reagieren, war unmöglich.

Die Teilnehmer hielten drei Tänze durch. Beim dritten begann Nora zu fragen, ob es hier denn kein Wasser gäbe.

„Im Schlossrestaurant haben sie feine hausgemachte Limonade“, erklärte Paul.

„Die können wir gemeines Volk uns nicht leisten“, widersprach Monique.

„Wir haben noch zwei Figuren“, mischte sich Lauri ein, „dann spendiere ich eine Runde.

Als er nach der letzten Reverenz den Saal verließ, lösten sich die rosigen Wolken um Anjas Verstand kurzfristig auf.

Paul fragte die beiden Folkies, die sich als Evelyn und Heiko vorgestellt hatten: „Habt ihr unseren Tanzmeister schon mal irgendwo getroffen?“

„Nö“, antwortete Evelyn. „Aber dass er eher Barocktanz macht als Bal Folk, merkt man, glaub ich.“

„Na ja, die hatten hier im Schloss auch schon Kurse mit Lieven Baert ...“

„Beim Märchenfest?“, unterbrach Sebastian, der Pirat mit Pferdeschwanz. „Das wüsst ich aber.“

„Was ist denn hier sonst noch los? Aber wenn du bei der Orga bist, weißt du vielleicht, wo ihr diesen Menschen aufgetrieben habt.“

„Och, der kommt ziemlich rum bei so Festen. Den haben uns die Brettener empfohlen. Ich glaub, der studiert in Stuttgart an der Musikhochschule.“

„Aha.“ Paul glaubte das offenbar nicht. „Noch kein Abschluss?“

Sebastian zuckte die Schultern.

„Ich habe in Stuttgart Geschichte und PoWi studiert“, sagte Lauri. Das leise Kribbeln im Rücken hatte Anja also nicht getrogen, er war wieder zur Stelle. „Aber zum Wintersemester gehe ich nach Rostock. Da gibt es Weltmusik.“ Er stellte ein Tablett mit zehn geschliffenen Gläsern und einer Karaffe mit klarer grünlicher Flüssigkeit auf einem Stuhl ab und begann einzuschenken.

„Klingt spannend“, meinte Evelyn, als sie sich ein Glas holte. „Hast du den Platz schon?“

Lauri schüttelte den Kopf. „Ich sammele gerade die Papiere für meine Bewerbung.“

„Wir drücken schon mal die Daumen“, sagte Heiko. „Was für ein Instrument?“

„Gesang und Gitarre. Die Auswahl ist nicht so groß.“

„Dann sing uns doch mal was vor“, verlangte Paul.

„Haben wir noch so viel Zeit?“, fragte Lauri Sebastian.

„Ja-ha!“, rief Nora. „Wir sind doch nicht auf der Arbeit!“

„Find ich auch“, sagte Monique.

„Komme gleich wieder.“ Lauri lief mit federnden Schritten hinaus und brachte kurz darauf ein anderes Instrument mit. Für Anja sah es aus wie eine kleine Harfe.

Er stimmte kurz und begann sein Lied.

Anja brauchte nichts weiter zu tun, als ihm zuzuhören, seine Hände zu beobachten. Ihr war, als ob sie auf dem Klang seiner Stimme davonschwebte, in ein fernes Land mit hohen, zerklüfteten Bergen, einem weiß schäumenden Fluss und einem Schloss, dessen Dächer in der Sonne funkelten.

Dabei verstand sie nicht ein Wort von seinem Text. Das musste dann wohl die Sprache sein, in der man Lauri Päts heißen konnte.

„War das Baskisch?“, fragte Paul, als er geendet hatte. „Oder Gälisch? Ein Lied von toten Terroristen?“

Lauri sah ihn verständnislos an. „Das war Estnisch, und es ging darum, wie schön es in Estland ist ...“ Er schlug noch einmal die Saiten an. „In den Bergen ... und am Meer ... und überall dazwischen ...“

Heiko zuckte sichtbar zusammen, Evelyn warf ihm einen fragenden Blick zu.

„Jetzt machen wir aber langsam weiter“, forderte Sebastian. „Du hast nachher um halb eins einen Termin draußen auf der Terrasse.“

„Zu Befehl.“ Lauri salutierte und brachte die Harfe wieder weg.

Kurz nach halb eins trat Anja auf die Freitreppe vor dem Spiegelsaal. Die meisten anderen Teilnehmer hatten sich bei Lauri bedankt und dann verabschiedet. Für Anja war es dagegen keine Frage, dass sie auch am „Workshop für Spezialisten“ am Nachmittag teilnehmen würde. Trotz Paul.

Auf dem breiten Kiesweg in der Mitte der Anlage marschierten Sibylle und ihre Piratenmannschaft auf das Schloss zu. „Wir haben den Schatz!“, schrie sie schon von Weitem und schwenkte ihre offenbar schwere Beute.

„Und glaubt bloß nicht, wir geben ihn wieder her, ihr Landratten!“, rief ein Pirat mit struppigem rotem Bart, der sie um gut zwei Köpfe überragte.

„Das sehen wir gleich!“, erwiderte Lauri ebenso laut. Er kam gerade aus dem Saal gelaufen und baute sich oben an der Treppe auf.

Der rotbärtige Seeräuber fuchtelte mit dem Säbel. „Komm nur her, du Hänfling!“

Lauri drückte Anja die Tanzlehrergeige in die Hand und sprang mit einem Satz die Treppe hinunter. Hatte er die ganze Zeit schon einen Degen getragen?

„Der zieht aber eine schöne Schau ab“, sagte Paul leise zu Anja. „Da kann nicht viel dahinter sein.“

Damit kennst du dich ja aus.

„Fabiaaan!“, brüllte Sibylle und zog sich auf die Terrasse zurück, an Anjas andere Seite. „Mach ihn alle!“

Die Piraten skandierten: „Blut! Blut! Räuber saufen Blut!“

Auf dem Platz vor der Freitreppe liefen Zuschauer zusammen, darunter mindestens sieben Zwerge und ein Froschkönig. Lauri und Seeräuber Fabian umkreisten einander mit der Waffe in der Hand.

„Um was geht’s denn überhaupt?“, fragte Anja.

Sibylle zog einen Weidenkorb mit abschließbarem Deckel unter ihrem Umhang hervor. „Tischlein deck dich“, sagte sie. „Frag mich nicht, was genau da drin ist, aber es kommt aus der Schlossküche und schmeckt garantiert geil.“

Fabian stürzte sich mit einem Säbelhieb auf seinen Gegner. Der wich aus und rammte ihm den Ellenbogen in die Seite.

Zwischen den Kampfhähnen spritzte Kies auf bis über ihre Köpfe. Mit Gebrüll fuhren sie auseinander.

Vor Fabian erhob sich eine Kiesfontäne, erst langsam, bis zu seinen Knien, dann immer höher, bis ihm die Steine auf den Kopf prasselten.

„Was machen die da?“ Pauls Stimme überschlug sich.

„Den Zauber kenn ich auch nicht“, presste Sibylle heraus.

Lauri wurde von dem aufspritzenden Kies kaum getroffen. Er sah sich hastig um. Zwei Männer kamen auf ihn zu, in Fantasiekostümen aus festem Leder. Einer hielt sich ein wenig hinter dem anderen und trug eine breite, bestickte Schärpe über der Brust. Das mit Spiegeln verzierte Samtkäppi auf seinem Kopf passte nicht ganz zu seinem sonstigen martialischen Aussehen. Der andere zog seinen hohen Lederhut, ging vor Lauri auf ein Knie und redete ihn in einer fremden Sprache an.

„Soll das jetzt auch wieder Estnisch sein?“, fragte Paul ins Leere.

Fabian versuchte, die Kiesfontäne mit den Armen abzuwehren, aber sie schloss ihn immer enger ein.

Lauri hob den Degen, als ob er seine beiden Besucher grüßen wollte, und antwortete ihnen ein wenig zögernd. Als der Kies eher noch wilder um Fabian wirbelte, rief er sie nachdrücklich an und stieß mit dem Degen in ihre Richtung. Die Fremden sahen sich verwirrt an.

„Wenn man keine Ahnung hat, worum’s geht, ist die Show nur halb so spannend“, beschwerte sich Sibylle. „He, Jungs!“, rief sie, „meint ihr nicht, das Futter langt für alle?“

Niemand achtete auf sie. Fabian drehte und wendete sich, nach und nach legte sich der wirbelnde Kies.

Während Lauri noch unverständlich mit den beiden Neuankömmlingen verhandelte, drängten sich Security-Leute zu ihnen durch und nahm sie in die Mitte. Der Mann mit Käppi bewegte die Hände, als ob er sich davon eine Wirkung erhoffte, aber die trat offenbar nicht ein.

Der andere sagte etwas zu Lauri. Dieser wandte sich an den Sicherheitsdienst. „Ich kann mitkommen und übersetzen.“

„Was ist das überhaupt für eine Sprache?“, fragte ein Wachmann.

„Estnisch.“

„Das hat er schon mal behauptet“, murmelte Paul. Laut fügte er hinzu: „Der Tanzmeister kann doch nicht einfach seine Gäste im Stich lassen.“

„Dauert wahrscheinlich nicht lang“, meinte der Security-Mann. „Geht inzwischen noch einen trinken.“

Einer seiner Kollegen wandte sich an Lauri, und der redete auf die beiden Fremden ein. Dann machte sich die ganze Gruppe, einschließlich Fabian, zielstrebig auf den Weg zu einem Seitenflügel des Schlosses.

„Einen trinken gehen!“, empörte sich Paul. „Deshalb bin ich nicht hier. Ich mach der Orga mal ein bisschen Feuer unter dem Hintern.“ Er marschierte davon, so schnell ihn die roten Absätze trugen.

Anja hielt noch immer die Tanzmeistergeige in der Hand. Sibylle neben ihr stammelte verwirrte Halbsätze. Nach und nach kamen die übrig gebliebenen Piraten langsam die Freitreppe herauf und ließen sich unter einem Ölbaum in seinem riesigen Topf nieder. Sibylle öffnete den Korb mit dem Tischlein-deck-dich, das sich als ausgewachsenes Picknick mit allerlei Herzhaftem entpuppte. Als eigentlicher Schatz lag ein Geldsäckchen mit funkelnd eingepackten kleinen Süßigkeiten dabei. Während sie sich daran bedienten, versuchte die Gruppe herauszufinden, was sie gerade beobachtet hatten.

„Der Kerl mit dem indischen Käppi hat gezaubert“, behauptete ein Pirat mit vielen blonden Zöpfen. „Ungefähr so.“ Er zeigte die Geste mit den Händen. „Kennt das einer von euch?“

Die anderen schüttelten die Köpfe. Auch wenn sie für die Kiesfontäne keine Erklärung fanden, waren sie überzeugt, dass da zwei Rollenspieler mindestens einen Unbeteiligten angespielt hatten.

Irgendwann kam Fabian zurück, voll mit Pflastern und schlechter Laune.

„Die zwei Leder-Typen sind weg“, berichtete er. „Wir waren auf dem Weg zum Security-Raum. Da dreht sich der Kerl mit dem Samtkäppi auf einmal um und haucht uns alle an.“

„Alk?“, fragte Sibylle.

„Nö, auch kein Gras. Jedenfalls ...“ Er machte eine Pause. „Jedenfalls kann ich mich an nix mehr erinnern. Irgendwann hab ich Kopf voran an so nem grünen Tor geklebt, wo draufsteht: ‚Wirtschaftshof‘.“

„Na klasse. Und der andere? Der mit dem Degen?“

„Lass mal, der war schon fit. Der hat mich ziemlich bald an dem Tor aufgelesen und zu den Sanitätern verfrachtet. Aber bis die fertig waren, mich mit Stickern vollzuhauen, war er wieder weg. Habt ihr die Schatztruhe etwa schon leer?“

„Ach wo. Das langt auch noch für dich.“ Sibylle hielt ihm den Korb hin.

Anja sah sich nach Lauri um. Wenn Fabian jetzt hier war, musste er auch bald wiederkommen. Aber als der letzte Krümel aus dem Picknickkorb schließlich aufgegessen war, hatte sich der Tanzmeister noch nicht wieder gezeigt. Dafür klebte ein Rotkäppchen von der Orga einen Zettel an die Tür des Tanzsaals: „Der Nachmittagsworkshop muss leider ausfallen, da unser Tanzlehrer aus familiären Gründen abreisen musste. Wenn ihr uns eure Kontaktdaten hinterlasst, versuchen wir, eine Ersatzveranstaltung auf die Beine zu stellen.“

Anja betrachtete das zierliche kleine Instrument, das sie noch immer im Arm hielt. Das sollte sie wohl rechtzeitig vor diesem Ersatzkurs zurückbringen und dabei ein paar Dinge in Erfahrung bringen. Menschen mit Namen Lauri Päts gab es in der näheren Umgebung sicher nicht allzu viele.

II

„Ihr müsst zurückkehren, Meister“, sagte Ikhlir, „Ihr und Prinz Leors. Muniaks Leute haben den Kronprinzen angegriffen und schwer verletzt. Ihr wisst, was das bedeutet.“

Taipek Rel sah sie irritiert an.

„Ja, sicher. Wie geht es deinen Kindern?“

„Sie bewachen das Gelege, wie Ihr befohlen habt. Aber das ist jetzt unwichtig. Sie sind noch nicht so weit, dass sie dem Prinzen helfen könnten.“ Ihr wart zu lange nicht mehr bei uns, hing unausgesprochen in der Luft.

„Ist die Verletzung so schwer?“, fragte der alte Zauberer. „Hat Checua nicht nach ihm gesehen?“

„Doch. Sonst wäre er wohl nicht mehr am Leben. Wenn Ihr und Checua und die Kinder gemeinsam etwas unternehmen könntet, dann ließe sich der Rest gewiss auch beheben.“

„Der Rest“, murmelte Taipek Rel. „Ich will sehen, was ich tun kann“, sagte er lauter. „Dein Bericht macht nicht eben Mut, mit Prinz Leors zurückzukehren.“

Die graubraune Katze schaute den Zauberer an. „Sein Bruder wurde schwer verwundet. Durch einen Gestaltwandler“, wiederholte er mit Nachdruck.

Taipek Rel öffnete den Mund und schloss ihn wieder. „Wenn du meinst, dass deine Kinder nichts ausrichten können ...“

Ikhlir unterbrach ihn: „Noch weiß niemand im ganzen Reich von ihren Fähigkeiten. Warum sollte der König ihnen glauben? Checua selbst ist es nicht gelungen, dem Prinzen zu helfen.“

„Wie sieht es im Gelege aus?“ Taipek Rel wechselte das Thema. „Bei deinem letzten Besuch hast du erzählt, dass sich dort etwas tut.“

Die Katze nickte irritiert. „Das Ei ist fast so weit. Aber Muniak und seine Leute treiben sich an der Küste herum. Wir wissen nicht, wie lange Eure Insel noch sicher ist.“

„Ist Muniak denn gar so gefährlich? Und wie zahlreich sind seine Leute?“

„Sehr, Meister“, erwiderte Ikhlir. „Seit Ihr gegangen seid, scheint es, als ob in jedem Jahr doppelt so viele Gestaltwandler herumlaufen wie zuvor.“

Taipek Rel stieß zischend die Luft aus. „Das ist in der Tat viel. Und sie belagern meine Insel?“

Ikhlir wiegte den Kopf. „Belagern ist noch übertrieben. Aber sie streifen an der Küste umher und kommen manchmal mit ihren Booten sehr nah heran.“

„Doch, das klingt mir ganz nach einer Belagerung“, murmelte Taipek Rel. „Was wollen sie mit meiner Insel? Kalans Insel gehört ihnen doch schon fast.“

„Checua gibt sie nicht frei. Sie sagt, am Hof des Herzogs ist eine neue junge Zauberin, und sie wird Kalans Insel übernehmen, sobald er stirbt.“

Taipek Rel nickte. „Ja, es ist schwierig. Kalan hat gegen unser Gesetz verstoßen, als er Mensch und Tier zusammengeschweißt hat. Aber Muniak ist sein Schüler. Ich weiß nicht, ob ich nicht etwas Ähnliches tun würde ...“

Der Kater fauchte. „Mit meinen Kindern? Niemals!“

„Um ihr Leben zu erhalten?“

„Sie haben noch sechs davon.“

„Dann mit Prinz Leors.“

„Nachdem der Thronfolger so übel zugerichtet wurde?“

„Gerade dann. Was passiert, wenn wir auch den jüngeren Prinzen verlieren? Sollen wir die Prinzessin mitten in den Bürgerkrieg schicken?“

Die Katze machte einen Buckel und fauchte. „Ihr sollt den Prinzen heilen, Meister, denkt daran. Kommt nach Noublai und kümmert Euch um ihn. Meine Kinder helfen Euch, Checua ebenso.“

Taipek Rel erwiderte schwach: „Ich werde mich darum kümmern. Auch um das Gelege.“

„Ich muss zurück“, sagte Ikhlir, „ich vertrage Eure Luft hier so schlecht. Aber vergesst uns nicht, Meister, kommt und bringt Prinz Leors mit.“

Mit aufgerichtetem Schweif stolzierte die alte Katze durch die Tür.

III

Anja meldete sich bei der Märchenfest-Orga und bekam auf diesem Weg Lauris Adresse und Handynummer. Sie rief an, ob er überhaupt noch in der Stadt war, geriet aber nur an eine unpersönliche Mailbox-Ansage. Nebenbei entstanden Detailskizzen von Lauris Gesicht, seinen Augen vor allem, von seinen Händen. Anja probierte verschiedene Versionen, wie er ohne die weiße Perücke aussehen könnte.

Sie dämmerte in den Schlaf hinüber und träumte von einem Schloss zwischen hohen Bergen und silbern funkelnden Wasserfällen. Lautlos glitt eine Schleiereule durch die dunklen Wälder, genau auf Anjas Gesicht zu. Die Krallen ... gingen glatt durch sie hindurch. Leises Ächzen klang in ihren Ohren.

Anja fuhr auf. Für einen Moment schien es, als wären die großen, runden Augen der Eule noch immer auf sie gerichtet. Dann verschwanden sie mit einem weiteren Ächzen.

„Lass mich in Ruhe“, murmelte Anja. „Ich muss morgen arbeiten.“

Am Sonntagvormittag erwartete Anja eine Nachricht von Paul: „Ich hab mich noch mal mit Heiko unterhalten. Der war längere Zeit in Estland. Überraschung: Das Kauderwelsch, das unser Tanzmeister von sich gegeben hat, war gar nicht Estnisch. Und such mal den Namen Päts.“

Das hatte Anja zwar vor, aber nicht so, wie Paul sich das vorstellte. Und überhaupt ... Sie löschte das Ganze.

Auf dem WG-Anrufbeantworter hörte sie Lauris Stimme. Das klang schon viel erfreulicher. Anja spielte die Nachricht gleich zweimal ab, aber dann musste sie zur Arbeit.

In einem Nebenraum wurde gestimmt, als Anja anfing, die Tageskasse für das Nachmittagskonzert vorzubereiten. Sie legte Handzettel für die anstehenden Veranstaltungen zurecht und kontrollierte die Sektvorräte. Den Saal hatte ihre Kollegin Elke als letzte gute Tat vor dem Urlaub bestuhlt und eine Handvoll Mini-Schokolade neben einem Zettel auf dem Tresen hinterlassen. „Ein bisschen Nervennahrung :) Bis nächsten Montag.“

Anja grinste. Die würde sie gebrauchen können.

Auf der Tastatur am Computer lag ein unscheinbarer Zettel mit einer Notiz ihres Chefs: „Kurs Juni: Absage Robert. Ersatz buchen.“

„Robert?“ Anja starrte das Papier an. Dann erinnerte sie sich an den Namen. „Ah, Dr. Felling, Gesang. Was machen wir denn da?“

Natürlich hatte der Chef nicht dazugeschrieben, wen er stattdessen als Referenten engagieren wollte. Anja fiel zwar jemand ein, aber der war für das anspruchsvolle Publikum in der Villa Dorothea bestimmt nicht qualifiziert genug.

Der Chef war mit dem Soundcheck für das Streichquartett beschäftigt, und überhaupt war jetzt keine Zeit für derlei Überlegungen. Die ersten Zuhörer trafen ein und wollten ihre vorbestellten Karten abholen.

Während das Konzert lief, durchforstete Anja die Unterlagen früherer Kurse nach Leuten, die schon Gesang in der Villa unterrichtet hatten. Die Ausbeute war mager. Bei einer Frau war in der Datenbank notiert, dass sie bereits gestorben war.