Sind die Medien noch zu retten? - Thilo Baum - E-Book

Sind die Medien noch zu retten? E-Book

Thilo Baum

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Beschreibung

Sind die Medien noch zu retten? Immer mehr Menschen beklagen, was sie sehen, hören und lesen – und die Medienkritik nimmt zu. Überwiegend ist die Kritik politisch argumentiert: Medien würden bestimmte politische Strömungen verschweigen, andere dagegen fördern. Doch trifft der Vorwurf der "Lügenpresse" zu? Und gibt es nicht noch viele andere Gründe, weshalb Medien immer mehr an Reichweite verlieren? Dieses Buch legt die Gründe für die aktuelle Medienkrise offen – analysiert von zwei Journalisten, die den Medienbetrieb von innen kennen. Sie legen dar, dass viele Fehler und Defizite der Medien gar keine komplizierte Ursachen haben, sondern es oft an journalistischem Handwerk fehlt. Medien verkaufen Meinungen als Tatsachen, schmieden aus Eitelkeit Kampagnen und halten sich oft nicht an rechtsstaatliche Prinzipien. Hinzu kommt ein eklatanter Mangel an Wirtschaftskompetenz. All das lässt sich ändern! In diesem Buch erfahren Medienmacher und Mediennutzer, wie öffentliche Kommunikation wirklich funktioniert.

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Seitenzahl: 506

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Thilo Baum | Frank Eckert

Sind die Mediennoch zu retten?

Das Handwerk der öffentlichen Kommunikation

Thilo Baum, geboren 1970, und Frank Eckert, geboren 1967, kennen sich vom Publizistikstudium an der Freien Universität Berlin – von einem Praxisseminar 1996 bei der »Berliner Zeitung«. Schon während des Studiums schrieben beide für Zeitungen: Thilo Baum für die Berliner Boulevardzeitung »B.Z.«, Frank Eckert für die »Märkische Oderzeitung« in Frankfurt (Oder). Nach dem Studium volontierten beide zum Tageszeitungsredakteur; Thilo Baum besuchte dabei die Henri-Nannen-Schule Berlin – heute »Klara« –, an der er später unterrichtete. Später wurde er Lokal- und dann Schlussredakteur beim »Berliner Kurier«. Seit 2004 ist Thilo Baum selbstständig und hilft Unternehmen dabei, sich klar auszudrücken – sein wichtigstes Buch dazu ist »Komm zum Punkt! So drücken Sie sich klar aus«. Frank Eckert wurde nach seinem Volontariat Sportredakteur mit den Schwerpunkten Fußball, Sportpolitik und Sportjournalismus. Bis 2014 war er fünf Jahre lang Leiter der Lokalredaktion Stendal der »Volksstimme«. Seitdem ist er selbstständig mit seinem Büro für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. www.thilo-baum.de | www.frank-eckert.eu

Sind die Medien noch zu retten?

Das Handwerk der öffentlichen Kommunikation

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind unter www.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-907100-88-2eISBN 978-3-906010-88-2

© 2017 Midas Management Verlag AG

Umschlaggestaltung, Illustration: medienlabor GmbH, Potsdam

Korrektorat: Ulrike Hollmann, Hambergen

1. Auflage, Zürich 2017

Printed in Germany

Midas Management Verlag AG, Dunantstrasse 3, CH 8044 Zürich

Website: www.midas.ch, Mail: [email protected], Socialmedia: midasverlag

Die im Werk enthaltenen Internetlinks waren bis Drucklegung einsehbar und sind ohne Gewähr. Eine Übersicht der Fußnoten mit Links finden Sie unter www.thilo-baum.de/medienbuch.

Das Werk und alle seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede vollständige oder teilweise Vervielfältigung, Verbreitung oder Veröffentlichung bedarf der ausdrücklichen schriftlichen Genehmigung des Verlags und der Autoren.

»Wenn du keine Zeitung liest, bist du uninformiert,wenn du Zeitung liest, bist du falsch informiert.«

Mark Twain (1835–1910)

Inhalt

Vorwort

1. »Lügenpresse!«: Wie Medien an ihrem Ast sägen

Die Qualität heutiger Medien

Von Welt- und Menschenbildern

2. Weltanschauung: Handwerk statt Ideologie

Denken mit Skript im Kopf

Wenn Journalisten Politik machen

3. Redaktionelles Denken: Logik, Distanz, Fairness

Klar sein

Wahrhaftig sein

Rechtsstaatlich sein

4. Relevanz: Was interessiert und was nicht

»Wer reinkommt, ist drin«

Was ist eine Nachricht?

»Bratwurstjournalismus«

Eil! Eil! Eil! Wie Journalisten Stress machen

5. Treffende Sprache: Sagen, was Sache ist

Das Handwerk des klaren Schreibens

Gendern, Denglisch, Sachlichkeit

Typische Journalistenschrullen

6. Wirtschaftskompetenz: Märkte verstehen

Böse Unternehmer, gute Arbeitnehmer

Das Verständnis für ökonomisches Handeln

Richtiger Umgang mit Zahlen und Statistiken

7. Medienrecht: Die Grenzen der Pressefreiheit

Tatsache oder Meinung?

Üble Nachrede, Beleidigung, Trollereien

8. Interaktion: Über Feedbacks und Kritikfähigkeit

Selbstbild und Fehlerkultur

Wenn der Leser nervt

9. Medien der Zukunft: Was zu tun ist

Medienkompetenz auch für Medienleute

Gesunder Menschenverstand statt Realitätsferne

Runter vom hohen Ross

Nachwort

Literatur

Sachwortregister

Personenregister

Vorwort

Am 22. Juli 2016 verließ einer der letzten ICEs an diesem Tag mit Verspätung den Münchner Hauptbahnhof. ICE 782, planmäßig 18.20 Uhr, fuhr wie gewohnt von Gleis 19 ab und brachte Pendler nach Ingolstadt und Nürnberg sowie Geschäftsleute, Studenten und viele andere Menschen in Richtung Norden. Kurz nach der Abfahrt des Zuges räumte die Polizei den Hauptbahnhof und sperrte ihn ab – doch davon bekamen die Menschen im Zug nichts mit. Es schien eine normale Fahrt zu sein.

Thilo Baum, einer der Autoren dieses Buches, saß in diesem Zug. Die Netzverbindung war mau, und in winzigen Bruchstücken krümelte die Nachrichtenlage in den ICE. Zuerst hieß es, am Stachus gebe es eine Schießerei – es klang nach einem Überfall oder einer Auseinandersetzung zwischen Banden. Dann erfuhr man, dass der Hauptbahnhof evakuiert sei. Es war also offenbar etwas Größeres. Langsam erkannten die Menschen, dass sie im vermutlich letzten ICE des Tages saßen, der München noch verlassen hatte.

Dann meldete ein Fahrgast, er habe über Twitter erfahren, dass es auch am Marienplatz eine Schießerei gebe. Bewaffnete Terroristen hätten das Feuer auf alle Menschen in der Nähe eröffnet, und in Scharen retteten sich Menschen in Kaufhäuser. Das Bewusstsein setzte sich durch: Wir haben es mit einem Terroranschlag zu tun. Die Stadt und auch die Menschen im Zug hatten Angst vor einem Szenario wie am 13. November 2015 in Paris. Soweit es die Mobilfunknetze ermöglichten, telefonierten die Menschen mit ihren Bekannten und Verwandten in München, um sich zu versichern, dass alles gut sei. Viele sprachen ins Handy, sie selbst seien wohlauf und mit Glück noch unverletzt aus München rausgekommen. Die Menschen im Zug betrachteten sich als Überlebende.

Es war der Abend des Amoklaufs im Münchner Olympia-Einkaufszentrum, aber das wussten die Menschen im Zug noch nicht. Was tatsächlich geschehen war, war relativ übersichtlich: Am Olympiapark, also nicht in der Innenstadt, hatte ein 18-jähriger Schüler ein Blutbad angerichtet mit neun Toten und vier Verletzten. Das ist schlimm genug – aber mehr war, nüchtern gesagt, nicht passiert.

Was die Menschen dagegen glaubten, was geschehen sei, war allerhand, und es erwies sich später als haltlos: Am Stachus und am Marienplatz gab es keine Schießerei, ebenso nicht im Hofbräuhaus, und es waren keine Horden von bewaffneten Terroristen unterwegs. Verletzte gab es in der Innenstadt dennoch zahlreiche – infolge der Paniken, die die Falschmeldungen ausgelöst hatten. Informationen bewirkten also Verletzte: Die Nachricht über eine Schießerei auf dem Marienplatz trifft dort auf Handys ein; es ist laut und unübersichtlich; die Nachricht bewirkt, dass sich die Menschen in der Einkaufsmeile in Sicherheit bringen wollen; und so entsteht tatsächlich eine gefährliche Panik mit Verletzten.

Bei der Polizei gingen an dem Abend 4.310 Notrufe ein, unter anderem zu Schießereien und Geiselnahmen, die es nicht gab.1 Infolge der Informationslage stellte die Polizei den Nahverkehr ein und evakuierte wie erwähnt den Hauptbahnhof. Die Thüringer Polizei sicherte die Grenze zu Bayern, ein Spezialeinsatzkommando (SEK) sicherte Nordbayern, das österreichische SEK »Cobra« unterstützte die Münchner Polizei, die Bundeswehr versetzte Feldjäger in Alarmbereitschaft, und die tschechische Regierung sicherte die Grenze zu Deutschland. Münchner Bürger nahmen Passanten in ihren Wohnungen auf, damit sie dort vor den umherfliegenden Geschossen aus den scharfen Waffen der marodierenden Terroristen sicher seien.

Was war los? Niemand wusste es genau. Die Menschen – ob im ICE oder in der Stadt – wollten an dem Abend Orientierung, aber die Gerüchteküche sorgte für Verwirrung und Unklarheit. Die Nachrichtenlage, wenn man sie denn so nennen will, war an diesem Abend voller Halbwahrheiten, Vermutungen, Befürchtungen und Gerüchte – teilweise offenbar mit Absicht in die Welt gesetzt. Die Nachrichtenlage verdiente im Grunde den Namen »Nachrichtenlage« nicht. Die Informationsqualität im ICE 782 an diesem Abend war wie bei dem Kinderspiel »Stille Post«: Nichts war verlässlich. Und das, obwohl bestimmt auch jede Menge erwachsener Leute mit Bildung und Intelligenz am Informationsaustausch beteiligt waren, die sonst auch nicht ungeprüft jede Nachricht glauben und weitererzählen.

Sollte man nicht denken, es gebe nichts Einfacheres, als Informationen aufzunehmen und weiterzugeben? Etwas geschieht, jemand erlebt es, gibt es weiter, ein anderer hört es und gibt es ebenfalls weiter. Doch das funktioniert offenbar nicht so einfach.

Informationen weiterzugeben, ist ein Handwerk – und das ist uns oftmals nicht bewusst in Zeiten, in denen wir alle immer mehr kommunizieren. Es geht bei diesem Handwerk um mehrere Dinge. Einmal um die Auswahl: Welche Information geben wir überhaupt weiter, welche nicht? Was ist relevant? Dann geht es um die Frage, ob eine Information überhaupt stimmt: Haben wir belastbare Fakten oder vertrauen wir aufs Hörensagen? Haben wir tatsächlich zwei unabhängige Quellen, oder erzählt uns jemand irgendetwas, was er irgendwo gehört haben will? Dann stellt sich die Frage, ob wir eine Tatsache verbreiten oder eine Meinung: Ist etwas Fakt oder meinen wir etwas? Schließlich stellt sich die Frage, wie wir formulieren, was wir weitergeben wollen: Drücken wir uns klar aus?

Dieses Buch widmet sich diesem Handwerk – dem Handwerk der öffentlichen Kommunikation. Es ist in Vergessenheit geraten bei vielen professionellen Kommunikatoren, auch bei Journalisten. Und zahlreiche Menschen, die ohne Anbindung an ein Medium kommunizieren, haben von diesem Handwerk noch nie etwas gehört.

Zugleich leben wir in Zeiten von »Fake-News« und »Hate-Speech« – modische Bezeichnungen für die seit Jahrzehnten gängigen Begriffe »Lüge« und »Schmähung«. Es ist nichts Neues, dass Lügen und Schmähungen unter bestimmten Voraussetzungen strafbar sind, aber erst jetzt, wo jeder ein Sender sein kann, der öffentlich kommuniziert, erfährt das Thema breite Beachtung.

Journalistisches Know-how für alle

Wir, Thilo Baum und Frank Eckert, sind Journalisten. Wir haben das Handwerk professionell in Journalistenausbildungen gelernt. Wir wundern uns ein wenig über diesen alten Hut mit den »Fake-News«. Zugleich scheinen die Menschen relativ wenig über die Regeln des öffentlichen Kommunizierens zu wissen. Die Medien befinden sich in einer Krise – man glaubt den Journalisten nicht mehr so sehr. Und wir denken, dass es da einen Zusammenhang gibt.

Wir glauben, journalistisches Handwerk brauchen heute alle. Wer bei Twitter schreibt, braucht es ebenso wie jeder Blogger und Facebook-Nutzer. Dabei betrachten wir die Blogosphäre oder Amateurpublizistik insgesamt nicht als die »Klowände des Internets« wie seinerzeit der Werber Jean-Remy von Matt (* 1952).2 Wir finden es gut, dass heute jeder publizieren kann. Es ist auch wichtig: Die klassischen Medien brauchen unbedingt neue Konkurrenz – aus Gründen, um die es in diesem Buch noch ausführlich gehen wird. Und damit sind wir wieder beim Thema Medienkrise und der Frage nach der Zukunft der Medien: Das Handwerk kann allen helfen.

Als Medienkonsumenten würden wir sehr gerne sehr viel lesen, hören und sehen – neue Perspektiven, Meinungen, Erlebnisse. Aber wir klicken einen Text weg, wenn wir auf Voreingenommenheit oder Polemik stoßen oder merken, dass Informationen fehlen. Dabei ist es egal, ob wir uns gerade einem klassischen Medium widmen oder ein semiprofessionelles Blog lesen. Und damit sind wir nicht allein.

Auch professionelle Journalisten brauchen dieses Handwerk. Viele behaupten zwar, sie würden es beherrschen, aber leider sehen wir nahezu jeden Tag, dass das nicht stimmt. Und damit meinen wir keine Tippfehler. Zugleich sprechen wir auch nicht von »Lügenpresse«. Aber weil das Wort im Raum schwebt, gehen wir natürlich darauf ein und suchen nach Gründen dafür, dass immer mehr Menschen sich von den Medien abwenden. Tatsächlich finden wir auch Beispiele dafür, dass Medien mitunter nicht die Wahrheit schreiben oder Fakten verzerren und Zusammenhänge verschweigen.

Bei all diesen Dingen geht es um Handwerk, das wir vermissen. Vor allem in der Politikberichterstattung fehlt uns zunehmend eine journalistische Kompetenz: die Ausgewogenheit. Jede Menge Journalisten verschweigen unter Berufung auf die Pressefreiheit andere Sichtweisen – was handwerklich schlecht und zudem falsch begründet ist. Die Pressefreiheit dient nicht dem Journalisten als Persilschein für alles, sondern die Pressefreiheit dient verfassungsrechtlich am Ende dem Medienkonsumenten. Die Pressefreiheit ist niemals eine Ausrede für Pfusch oder Propaganda.

Unter Journalisten gibt es noch einige alte Hasen, die das Handwerk von der Pike auf gelernt haben, sicher. Aber insgesamt lässt das Niveau massiv nach. Wir haben den Eindruck, dass das journalistische Handwerk auch unter Kollegen ganz allmählich den Bach runtergeht. Und dagegen wollen wir etwas unternehmen.

Der Nutzer hat keinen Redaktionsschluss

Die Zeiten haben sich dank der Digitalisierung massiv verändert. Gerade weil wir ständig online sind, besteht zum Beispiel kein Zeitdruck mehr – und trotzdem veranstalten Medien jede Menge Stress. Wir müssen unsere Nachrichten im Grunde nicht mehr zu einer bestimmten Zeit fertig haben. An die Fristen halten sich nur noch jene Journalisten, die an Formate wie beim Fernsehen, beim Radio und bei Tageszeitungen gebunden sind. Aber der Nutzer schaut sich die 20-Uhr-»Tagesschau« gerne auch noch um 21 Uhr an, obwohl sie da möglicherweise nicht mehr aktuell ist. Es ist aber egal. Der Nutzer hat keinen Redaktionsschluss. Der Gedanke des Redaktionsschlusses ist zu einem Anachronismus geworden.

Dann betrachten wir einmal die Produktionsmittel, die heute mehr oder weniger jeder zur Verfügung hat: Ein wichtiger Startschuss, durch den Medienleute mehr aufs Tempo drückten, war der Sendebeginn des Privatfernsehens 1984 mit Sat.1 und RTLplus – plötzlich zählten Quoten wie nie zuvor, auch bei der öffentlich-rechtlichen Konkurrenz, die sich sehr langsam vorkam. Die nächste Etappe war die Offline-Digitalisierung: In Haushalten und Büros löste Microsoft Word die Schreibmaschine ab. Die Digitalfotografie ermöglichte Anfang der Neunzigerjahre schnelle Fotos ohne Entwickler- und Fixierbad, dann folgten der Mobilfunk und das Internet für alle. Apple-Gründer Steve Jobs (1955–2011) revolutionierte in den Nullerjahren schließlich das Smartphone. Heute hat jeder von uns die Produktionsmittel eines Medienkonzerns zu Hause und kann auch von unterwegs ohne großen Aufwand senden und empfangen. Diese Demokratisierung der Medienwelt kann man gut finden. Aber zu glauben, jemand sei ein guter Publizist, nur weil ihm die technischen Möglichkeiten dafür zur Verfügung stehen, halten wir für einen Irrtum. Die beste Digitalkamera macht aus ihrem Besitzer noch keinen guten Fotografen – und umgekehrt macht ein guter Fotograf mit einer alten Kamera vom Flohmarkt gute Bilder.

Um dieses Handwerk geht es uns. Um das Bewusstsein, dass wir trotz modernster Technik das redaktionelle Denken brauchen, das fundierte Recherchieren und das saubere Formulieren. Insoweit geht es auch um Demut und vor allem um Achtung und Respekt gegenüber einer so seltenen und kostbaren Pflanze wie der Wahrheit.

Wir denken, die Medienkrise liegt nicht an der Technik. Die Leute kehren den Medien nicht den Rücken, weil es zu wenig zu klicken gibt. Wir denken, dass die Leute wegen des sinkenden Niveaus den Journalisten nicht mehr glauben. Für diesen Verdacht haben wir eine Menge Beispiele zusammengetragen. Beispiele, an denen zu sehen ist, wie Medien am Thema vorbeiberichten, Leser und Zuschauer ignorieren und letztlich das Handwerk mit Füßen treten. Zugleich versuchen wir darzustellen, wie es besser gehen kann.

Dem Journalismus sagen dieser Tage viele den Untergang voraus. Wir wissen nicht, wie es weitergeht, aber wir lieben diesen Beruf. Und bei der Frage, ob jemand heute noch Journalist werden sollte, obwohl die Finanzierungsmodelle für Medien unklar sind, sagen wir: Nur zu! Informationen sind immer ein Bedarf. Wir beschreiben in diesem Buch auch die eine oder andere Marktlücke.

Wir hoffen sehr und würden uns freuen, wenn dieses Buch Sie inspiriert. Die Medien sind zu retten, ja – wenn sie sich aufs Handwerk zurückbesinnen. Setzt sich das Handwerk wieder durch, haben wir auch keine Zweifel daran, dass die Menschen wieder mehr Vertrauen in den Journalismus gewinnen. Und setzt sich das journalistische Handwerk auch außerhalb der Redaktionen durch, wird die Medienlandschaft letztlich nur interessanter.

Kurz noch zu den Lebensdaten, die wir hinter manchen Personen anfügen und hinter anderen nicht: Ursprünglich wollten wir diese Daten nur bei Personen der Zeitgeschichte bringen. Dass eine Bundeskanzlerin in diese Kategorie fällt, ist klar – aber was ist mit den Journalisten? Auch mancher Chefredakteur ist prominent. Zugleich ist nicht jeder Journalist zeitgeschichtlich relevant. Kurz: Wir haben uns um die Lösung dieses Konfliktes gedrückt und die Entscheidung der Wikipedia überlassen. So sind nur jene Personen mit Lebensdaten versehen, die einen Wikipedia-Eintrag haben – sofern ihr Name nicht in einem Zitat steht. Dafür herzlichen Dank an Wikipedia. Übrigens: Alle Links in den Fußnoten finden Sie noch mal unter www.thilo-baum.de/medienbuch zum Anklicken.

Wir wünschen viel Freude beim Lesen!

1http://www.n-tv.de/panorama/Wie-sich-Einzelne-mit-Fehlinfos-profilieren-article18268056.html

2http://www.spiegel.de/netzwelt/web/weblogs-von-matt-entschuldigt-sich-bei-den-klowaenden-des-internets-a-397397.html

1. »Lügenpresse!«: Wie Medien an ihrem Ast sägen

Anlässlich der Verleihung der Lead-Awards 2014 in Hamburg erklärte der damalige Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (* 1956, SPD): »Wenn ich morgens manchmal durch den Pressespiegel meines Hauses blättere, habe ich das Gefühl: Der Meinungskorridor war schon mal breiter. Es gibt eine erstaunliche Homogenität in deutschen Redaktionen, wenn sie Informationen gewichten und einordnen. Der Konformitätsdruck in den Köpfen der Journalisten scheint mir ziemlich hoch.«3

Nun steht der Sozialdemokrat Steinmeier kaum im Verdacht, ein rechter Populist zu sein. Käme Steinmeiers Ausspruch aus dem Munde eines AfDlers, würfe man ihm möglicherweise vor, sich in die Pressefreiheit einmischen zu wollen. Steinmeier weiter: »Wenn Medien in die Krise geraten, kann das die demokratische Gesellschaft nicht kaltlassen. Umso mehr, als die Printmedien zurzeit sogar in einer doppelten Krise stecken. Ihr Wirtschaftsmodell ist in Bedrängnis geraten, und gleichzeitig beginnt eine Debatte über ihren Deutungsanspruch und ihren Informationswert.«

Steinmeier beweist auch Humor: »In den vergangenen zehn Jahren halbierten sich die Werbeeinnahmen der Medienbranche, die Auflage schrumpfte um ein Drittel. An uns liegt das übrigens nicht. Das Auswärtige Amt abonniert Zeitschriften und Zeitungen im Wert von über 150.000 Euro im Jahr, dafür bezieht es unter anderem 45-mal den ›Spiegel‹ und 29 Exemplare der ›Zeit‹, wir abonnieren die ›Süddeutsche‹ 30- und die ›FAZ‹ sogar 60-mal. Aber auch das ›Hamburger Abendblatt‹, die ›Märkische Allgemeine‹ und die ›Werra-Rundschau‹ finden in meinem Ministerium täglich treue Leser. Einige 10.000 Euro jährlich überweist das Amt übrigens für die Erstellung von Pressespiegeln, was sich hoffentlich auch auf Ihre VG-Wort-Ausschüttungen auswirkt.«

Dann kommt der damalige Außenminister zu der Frage, warum die Menschen den Medien immer weniger glauben. »Was sind die Ursachen der Glaubwürdigkeitskrise? Die einfachste Erklärung wäre: Der Leser ist schuld, der ist halt dumm und frech. Der kapiert nicht, wie gut die Zeitungen sind. Aber mit dem Leser ist es wie mit dem Wähler. Man kann sich über ihn ärgern, aber man sollte ihn nicht ignorieren und am besten sehr ernst nehmen.

Die zweite Möglichkeit: Die Umstände sind schuld. Das wäre in diesem Fall mal wieder das Internet. Es hat der Individualisierung unserer Gesellschaft einen zusätzlichen Schub gegeben. Engagierte Leser finden im Netz persönliche Informationskanäle, und sie können selbst Informationen und Meinungen produzieren, ohne Redaktion und Druckerpresse, einfach zu Hause per Computer und WLAN. […]«

Journalisten sind sich »ihres Deutungsmonopols zu sicher«

Der SPD-Politiker Frank-Walter Steinmeier kritisiert die Medien: Das Denken in den Redaktionen sei homogen und konformistisch. Medienkritik siedelt sich also nicht nur am rechten Rand an.

Und jetzt nennt Steinmeier den wahren Grund: »Es gibt aber auch eine dritte mögliche Ursache für das Misstrauen: Vielleicht waren sich die Journalisten einfach ihres Deutungsmonopols zu sicher. Vielleicht haben sie ihr Herrschaftswissen zu lange vor sich hergetragen und nicht gemerkt, welche neue Form von Öffentlichkeit das Internet entstehen ließ. Vielleicht aber auch haben die täglichen Abrechnungen mit dummen, ignoranten Politikern in den Zeitungen das Interesse der Leser an Politik sinken lassen – und am politischen Journalismus gleich mit.

Das wäre fatal, auch für die Demokratie. Wir brauchen sie, die kritischen, fundierten, relevanten Berichte. Nur mit Texten und Recherchen, die durchdringen und nachwirken, kann die Presse ihrer Wächterrolle gerecht werden.«

Steinmeier erscheint uns als der richtige Kronzeuge für den Zustand unserer heutigen Medienlandschaft. Wir könnten auch Alexander Gauland (* 1941) von der AfD zitieren oder Lutz Bachmann (* 1973) von den »Patriotischen Europäern gegen die Islamisierung des Abendlandes« (»Pegida«) – Gemecker findet sich in dieser Ecke problemlos, auch zitierfähiges. Aber wir verweisen auf den SPD-Politiker Frank-Walter Steinmeier, Chefdiplomat, über Obdachlosigkeit promoviert, empathisch und Vertreter hoher ethischer Werte – was man auch dann einräumen darf, wenn man selbst nicht die SPD wählt. Wir wollen zeigen, dass sich die Medienkritik nicht nur am rechten Rand ansiedelt. Und das auch vor dem Hintergrund, dass die SPD verlegerisch tätig ist durch ihre »Deutsche Druck- und Verlagsgesellschaft mbH (DDVG)«, die unter anderem an der »Sächsischen Zeitung« in Dresden beteiligt ist, wo »Pegida« regelmäßig demonstriert.

Die Qualität heutiger Medien

Der Begriff »Lügenpresse« ist hart. Er unterstellt, dass Medien lügen, von einer Verschwörung gesteuert, um die Meinungen im Land zu manipulieren. Mit dem Begriff »Lügenpresse« diffamierten die Nationalsozialisten abweichende Meinungen und die Alliierten. Der Begriff »Lügenpresse« unterstellt gezielte Desinformation, also die Irreleitung der Menschen durch Falschaussagen und Verdrehungen von Fakten. Gewiss ist der Begriff für eine fundierte Kritik an unseren Medien wenig geeignet, weil er zu pauschal ist. Medienmacher können aus dem Vorwurf dennoch einiges lernen.

Der Vorwurf »Lügenpresse« ist falsch, selbst wenn Medien mitunter Unwahrheiten und Verzerrungen verbreiten. Denn der Begriff diffamiert den gesamten Berufsstand und nicht nur die schwarzen Schafe.

Die etablierten Medien wehren sich stark gegen den Begriff »Lügenpresse«, der durch die »Pegida«-Demonstrationen plötzlich im Raum stand. Die »Sprachkritische Aktion« kürte das Wort »Lügenpresse« zum Unwort des Jahres 2014, weil eine »solche pauschale Verurteilung« fundierte Medienkritik verhindere und die Demokratie gefährde, was sicher auch stimmt. Nach Jury-Mitglied Stephan Hebel begraben Menschen, die den Begriff »Lügenpresse« verwenden, »die dringend notwendige Mediendebatte unter einer unbrauchbaren Parole«.4

Eine kritische Mediendebatte ist also ganz offenbar nötig. Und zugleich dient der Begriff der »Lügenpresse« einigen Redaktionen dazu, sich die Kritik gar nicht erst anzuhören. Es ist eine übliche Reaktion, den Vorwurf mit Verweis auf den politisch unkorrekten Begriff abzulehnen. Eben weil der Begriff »Lügenpresse« im Ersten und im Zweiten Weltkrieg ein Propagandawort war, lassen zahlreiche Journalisten den Vorwurf nicht gelten, dass auch heutige Medien mitunter allzu tendenziös berichten. Viele Medienvertreter scheinen zu denken: Zum Glück verwenden die Kritiker ein solcherart historisch belastetes Wort! Dann muss man sich ja nicht mit ihnen auseinandersetzen.

Es ist vielleicht wichtig zu wissen, dass genau diese Reaktion ideologisch ist: Man bestreitet die Glaubwürdigkeit, weil der Absender ein falsches Wort verwendet. Passt ihm eins von zehn Argumenten nicht ganz in den Kram, lehnt ein ideologisch denkender Mensch gleich alle zehn Argumente ab. Das macht es ihm leicht, sein Weltbild nicht infrage stellen zu müssen – er denkt auch über die neun gerechtfertigten Argumente gar nicht erst nach. Sie sind durch einen absurden Mitnahmeeffekt, der schlicht nichts anderes ist als eine Pauschalisierung, falsch.

Doch auch der Vorwurf »Lügenpresse« ist falsch. Er greift die falschen Leute mit einer falschen Bezeichnung an. Die »Lügenpresse« beispielsweise, als welche die Nationalsozialisten den britischen Rundfunk verunglimpft haben, hat möglicherweise nicht gelogen, sondern war nur den Nationalsozialisten nicht genehm.

Historisch waren eher die Medien der Nazis »Lügenpresse«. Der deutsch-jüdische Philologe Victor Klemperer (1881–1960) beschrieb die Medien der Nationalsozialisten folgendermaßen: »Ich hatte übergenug an der Sprache der Schaufenster, der Plakate, der braunen Uniformen, der Fahnen, der zum Hitlergruß gereckten Arme, der zurechtgestutzten Hitlerbärtchen. Ich flüchtete, ich vergrub mich in meinen Beruf, ich hielt meine Vorlesungen und übersah krampfhaft das Immer-leerer-Werden der Bänke vor mir, ich arbeitete mit aller Anspannung an meinem Achtzehnten Jahrhundert der französischen Literatur. Warum mir durch das Lesen nazistischer Schriften das Leben noch weiter vergällen, als es mir ohnehin durch die allgemeine Situation vergällt war? Kam mir durch Zufall oder Irrtum ein nazistisches Buch in die Hände, so warf ich es nach dem ersten Abschnitt beiseite. Grölte irgendwo auf der Straße die Stimme des Führers oder seines Propagandaministers, so machte ich einen weiten Bogen um den Lautsprecher, und bei Zeitungslektüre war ich ängstlich bemüht, die nackten Tatsachen – sie waren in ihrer Nacktheit schon trostlos genug – aus der ekelhaften Brühe der Reden, Kommentare und Artikel herauszufischen.«5

Totalitäre Ideologie verdreht Fakten

Das Großartige an Klemperers Buch »LTI« (»Lingua Tertii Imperii«; lateinisch für »Die Sprache des Dritten Reiches«) ist die Aufzählung von Formulierungen, die die Sprache mit dem Gift der NS-Ideologie infizieren. Selbst bei Satzzeichen entlarvt Klemperer Versuche, Gegner niederzuschreiben – wenn die Nazis etwa den Nobelpreisträger Albert Einstein (1879–1955) als »Forscher« in Anführungszeichen titulieren und Einstein eben durch die ironisierenden Anführungszeichen die Eigenschaft als Forscher absprechen, weil er Jude war.6

Lassen Sie uns also festhalten: Totalitäre Ideologie kommuniziert nicht neutral, sondern sie verfälscht oder verdreht Fakten – und das tun vermutlich alle ideologisch geprägten Regime, vom Nationalsozialismus der Dreißiger- und Vierzigerjahre bis hin zu den heutigen Kommunisten in Nordkorea. Totalitarismus blendet Wirklichkeit aus und biegt die Dinge so zurecht, dass sie der jeweiligen Ideologie dienlich sind.

Auch die Begriffe »Systempresse« oder »Systemmedien« treffen nicht, da »das System« aus Sicht der Nazis die Weimarer Republik ist. Übersieht man diese Bedeutung und meint das heutige System, dann meint der Begriff »Systempresse«, wenn Menschen etablierte Medien für das angreifen wollen, was sie für unlauter, unrichtig und wenig wahrhaftig wegen fehlender Faktentreue halten. »Systemmedien« sind sich in ihrer Beschreibung der Verhältnisse ähnlich; sie liefern Denkvorschriften, wie wir die Dinge zu sehen haben; sie argumentieren oberlehrerhaft und paternalistisch. Sie nehmen das Publikum nicht ernst und würdigen es somit herab.

Aber auch ganz wichtig ist: In den Redaktionen der klassischen Medien – also Regionalzeitungen, Radio- und Fernsehsender, Internetportale – arbeiten überwiegend rechtschaffene, gute Journalisten und Rechercheure. Grundsätzlich arbeiten dort also keine Amateure, Dilettanten oder Idioten. Sie sind in der Regel Profis und verstehen ihren Job. Undifferenzierte Angriffe auf Medienleute sind insofern der Versuch, eine Gruppe von Menschen zu stigmatisieren und sie wegen ihres Berufes pauschal zu verunglimpfen und nicht in der Sache selbst zu kritisieren. Nach dem Motto: Einer muss schuld sein. Dann sind es eben die Medien und damit die Journalisten. Am härtesten trifft es mitunter den Lokalzeitungsreporter, der vom Ort seiner Recherche vertrieben wird, statt dass die Leute vor Ort ihm nützliche Hinweise geben oder einfach Fragen beantworten.

»Jedem das Seine« – Leitspruch der Bundeswehr-Feldjäger

Der Effekt, von einem Fehler aufs Ganze zu schließen, ist ein wenig wie bei dem von Journalisten gerne getadelten Fehltritt, wenn jemand in historischer Unwissenheit die Formulierung »Jedem das Seine« verwendet. Wie kann man denn! Die Empörung ist jedes Mal riesengroß. Weiß der Absender nicht, dass der Spruch über dem Eingangstor des Konzentrationslagers Buchenwald stand? Natürlich sollte man das wissen, es gehört zum Bildungskanon. Insofern ist die Formulierung »Jedem das Seine« nun einmal nicht glücklich, weil sie den Zynismus der Nationalsozialisten tatsächlich noch mittransportiert. Aber wissen die Kritiker auch, dass der Spruch »Jedem das Seine« in lateinischer Version der Leitsatz der Feldjäger der Bundeswehr ist? Auch das gehört unserer Ansicht nach zur Allgemeinbildung: Jeder Angehörige der deutschen Militärpolizei trägt an seinem Barett ein Abzeichen mit dem Spruch »Suum cuique«.

Überlegen wir kurz, was das heißt: Wir müssten, da eine wichtige Einheit der Bundeswehr den Spruch des Konzentrationslagers Buchenwald mit sich herumführt, an der Glaubwürdigkeit der Bundeswehr zweifeln. Da die Bundeswehr dem Bundesverteidigungsministerium nachgeordnet ist und dieses Teil der Bundesregierung ist, hat sich also die Bundesregierung komplett diskreditiert, weil sie mit Nazisprüchen hausieren geht. Richtig? Seltsam: So weit lassen wir es dann doch nicht kommen. Obwohl es logisch wäre, wenn wir von einem Teil aufs Ganze schließen. Bisher ist uns allerdings keine Initiative bekannt, die den Leitspruch »Suum cuique« der Bundeswehr-Feldjäger ändern will, obwohl er politisch nicht korrekt ist. Die Öffentlichkeit nimmt die Feldjäger trotz dieser Formulierung ernst.

»Die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit«: Gelogen ist es demnach auch, einen Teil der Wahrheit zu verschweigen.

Machen wir es mit dem Begriff »Lügenpresse« einmal genauso. Lassen Sie uns einmal nicht die Glaubwürdigkeit eines Absenders auf null abrunden, nur weil er sich einer bestimmten Vokabel bedient, sondern betrachten wir die Sache. Sehen wir dem Absender die politisch unkluge Formulierung nach und fragen wir uns, was hinter dem Vorwurf »Lügenpresse« tatsächlich steckt. Blenden wir den ätzenden Beigeschmack und den Nazigeruch einmal aus. Das bedeutet nicht, dass wir uns den Begriff »Lügenpresse« schönreden oder Nazis wären, sondern es bedeutet nur, dass wir drei der wichtigsten Aufgaben eines Journalisten ernst nehmen, die es gibt: zuzuhören, differenziert zu denken und den Kern der Sache zu sehen. Wenn uns jemand in brüchigem Deutsch etwas mitteilt, tun wir ja auch nicht so, als würden wir gar nichts verstehen, sondern wir versuchen zu verstehen, was wir können. Was also meint jemand, der den Medien vorwirft, »Lügenpresse« zu sein? Unabhängig vom Gestank des Wortes? Inwiefern lügen Medien?

Wir alle kennen die Formulierung »die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit«. Die Wahrheit bezeichnet hier drei Aspekte: Einmal soll wahr sein, was wir sagen. Dann soll nichts von dem fehlen, was wahr ist. Schließlich sollen wir nichts ergänzen, was unwahr ist. Davon abgeleitet ergibt sich für die Lüge: Gelogen ist es, wenn wir etwas Unwahres sagen; gelogen ist es, wenn wir einen Teil der Wahrheit verschweigen; und gelogen ist es, wenn wir zur Wahrheit etwas Unwahres hinzudichten.

Der unserer Wahrnehmung zufolge wichtigste Vorwurf, der mit dem Begriff »Lügenpresse« einhergeht, ist das Verschweigen relevanter Informationen. Die sexuellen Übergriffe in der Silvesternacht 2015/2016 am Kölner Hauptbahnhof sind dafür das Musterbeispiel – weiter unten wird davon noch die Rede sein. Dann ist der Vorwurf relevant, Medien würden die Wahrheit verdrehen. Musterbeispiel dafür ist die inszenierte Politiker-Demonstration am 11. Januar 2015 in Paris nach dem Anschlag auf die Satirezeitung »Charlie Hebdo«. Dabei sollte der Eindruck entstehen, Kanzlerin Angela Merkel (* 1954, CDU), der französische Präsident François Hollande (* 1954) und EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker (* 1954) gingen mit anderen Staats- und Regierungschefs an der Spitze eines großen Demonstrationszuges dem Volke voraus. Tatsächlich aber war die Szene inszeniert und – laut »Spiegel online« – vorher in einer Art Fototermin gedreht.7 Sie hatte mit der eigentlichen Demonstration im Grunde nichts zu tun. Der »Lügenpresse«-Vorwurf gegen die Medien war schnell zur Hand und einfach begründet: Die Medien hätten diese Inszenierung verschwiegen und sich bei der Clownerie mit den Spitzenpolitikern gemeingemacht; die Medien und das politische Establishment verdrehten also gemeinsam die Wahrheit.

Auch Medienleute sahen die inszenierte Demonstration kritisch. Die damalige Chefredakteurin der »taz«, Ines Pohl (* 1967), erklärte: »Leider belegt der Umgang mit den Bildern des Pariser Marsches der Mächtigen, dass das Wort ›Lügenpresse‹ nicht nur ein Hirngespinst der ›Pegida‹-Anhänger ist, sondern dass die Wirkung der Bilder – übrigens auch für deutsche Medienmacher – manchmal wichtiger ist als die Dokumentation der Realität.«8

»ARD-aktuell«-Chefredakteur Kai Gniffke (* 1960) reagierte im Blog der »Tagesschau«: »Deshalb macht es mich ratlos, nein, es macht mich richtig sauer, wenn die taz-Chefredakteurin Ines Pohl, die ich nun wirklich schätze, bei dpa solch einen Satz raushaut.«9 Inzwischen finden wir Gniffkes Reaktion nicht mehr. Im »Deutschlandradio« spricht Ines Pohl ebenfalls deutlich über Defizite: »Medien haben in den letzten Jahren […] zu wenig auf ausführliche Recherche und eine sachliche Hintergrundberichterstattung« gesetzt.10

Gerne bemühen Journalisten Beschwichtigendes wie: »Jede Wiedergabe der Realität ist Inszenierung« oder »Wir müssen doch professionell planen und arbeiten«. Beides stimmt, und doch sind es Ausreden, durch die sich Journalisten von ihrer Aufgabe wegbewegen, nämlich die Realität wiederzugeben. Auch Gniffke bemüht in seinem Blogbeitrag das Argument, es sei »immer eine Inszenierung«, »wenn sich Politiker vor eine Kamera stellen«. Schon jedes Foto sei eine Auswahl. Sicher – das ist ein Gemeinplatz, der auf den Soziologen Niklas Luhmann (1927–1998) zurückgeht und natürlich auf den »Radikalen Konstruktivismus« Paul Watzlawicks (1921–2007), wonach wir unsere Wirklichkeiten selbst erzeugen. Doch was bedeutet dieser akademische Ausflug konkret? Wenn Menschen Nachrichten rezipieren, sind sie sich in der Regel darüber im Klaren, dass die Kamera und der Reporter subjektive Sichten transportieren. Doch das rechtfertigt keine Irreführung wie im Fall der Pariser Demonstration. Das war eine Inszenierung, die über die naturgemäße Selektivität von Informationen hinausging. Den Menschen wurde eine Realität vorgetäuscht, die es so nicht gab. Und natürlich stärkt das die Rechten: Schon wieder sagen Menschen, man könne »den Medien« nicht trauen, und sie haben dafür einen guten Beleg.

Medienkritiker: Menschen mit »festem Weltbild«?

Sehr erhellend, wenn es um die Denkweise vieler Journalisten geht, war der 29. Journalistentag der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union der Gewerkschaft »ver.di« am 23. Januar 2016 in Berlin. Dort trat die Grimme-Preisträgerin Brigitte Baetz auf und behauptete, der Vorwurf der »Lügenpresse« komme lediglich von Menschen mit festem Weltbild, die an einer demokratischen Diskussion nicht interessiert seien. Davon abgesehen, ob das stimmt, sehen wir einen Denkfehler: Der Vorwurf »Lüge« wirft Medien keine Meinungen vor; eine Meinung kann nicht gelogen sein. Vielmehr meint der Vorwurf der Lüge, dass Tatsachenbehauptungen nicht stimmen – wie etwa die Behauptung, die Staats- und Regierungschefs hätten den Demonstrationszug in Paris angeführt. Wenn wir uns die wichtigsten Vorwürfe der »Lügenpresse«-Fraktion anschauen, geht es darin überwiegend um die Tarnung von Meinungen als Bericht durch Tendenzvokabeln und um Auslassungen – oder eben auch um die Unterlassung der Berichterstattung wie im Falle Köln.

An anderer Stelle sagte Brigitte Baetz, der öffentlich-rechtliche Rundfunk solle mehr Einordnung leisten, als »nur der Agenda der Politik zu folgen«. Damit formuliert sie den gleichen Vorwurf wie viele, die die sogenannten Leitmedien kritisieren. Baetz bemerkt treffend, dass diese Medien unzureichend berichten.

Warum gehört der Beruf des Journalisten zu den Berufen mit dem geringsten Ansehen? Darüber sollten Journalisten nachdenken.

Ebenfalls auf dem 29. Journalistentag bemerkte Clas Dammann, Teamleiter von »heute+« beim ZDF, Journalisten könnten aus dem »Shitstorm« der Leute auch die eine oder andere berechtigte Frage herausfiltern. Diese Erkenntnis mag simpel erscheinen, aber sie ist extrem wichtig. Und uns scheint, dass weite Teile der heutigen Journalisten dafür schlicht nicht offen sind. Die Medien scheinen sich in einem Zustand zu befinden, in dem so etwas Einfaches wie ein Lerneffekt infolge von Kritik nur sehr schwer gelingt.

Brigitte Baetz verteidigt auch Medien, die teils eine Woche brauchten, um über die Übergriffe in der Silvesternacht 2015/2016 in Köln zu berichten. Wie tut sie das? Durch Polemik. Ihre Argumentation ist entlarvend ideologisch: Sie hätte es »übertrieben« gefunden, wenn es gleich am Neujahrstag einen »Brennpunkt« in der ARD gegeben hätte. Gut – aber vielleicht am 2. Januar, als die Nachricht als solche spätestens klar war? Die »Kölnische Rundschau« berichtete bereits am Neujahrsabend über die Übergriffe.11 Brigitte Baetz müsste zugeben, dass keine Ausrede an dem Vorwurf vorbeiführt, dass die meisten Medien viel zu spät berichtet haben. Weshalb verteidigt sie das Schweigen?

Doch so sind leider viele Journalisten: Statt den Fehler anzuerkennen und die Öffentlichkeit für das Verschweigen einer relevanten Information um Entschuldigung zu bitten – wie das ZDF, das hier eine rühmliche Ausnahme darstellt12 –, reden sich Journalisten ihr Versagen schön, sobald es sich nicht mehr leugnen lässt. Und wer das kritisiert, gilt ganz einfach als Demokratiegegner mit festem Weltbild.

Uns wundert es nicht, dass der Beruf des Journalisten im Bild der Öffentlichkeit zu den Berufen mit dem geringsten Ansehen gehört. Am 1. Oktober 2014 titelte »Meedia«: »Nur Werber, Versicherer und Politiker schlechter: Journalisten in der Vertrauenskrise«, und jede neue Umfrage bestätigt das Bild. Der Journalismus gehört zu den »am wenigsten anerkannten Berufen«, schreibt »Meedia«.13

Germanwings: Spekulationen über den Absturz

Woran es liegt? Einige Journalisten wissen es, viele Mediennutzer spüren es, aber manche Journalisten wollen es nicht hören: an Selbstgefälligkeit, Selbstgerechtigkeit, Arroganz, Voreingenommenheit, Kritikunfähigkeit und der Neigung, dem Publikum niedere Absichten zu unterstellen. Statt die Menschen zu informieren über das, was geschieht, versucht ein Großteil der Journalisten zudem, die Menschen zu erziehen und zu belehren. So erfahren die Menschen in den Medien von einer Realität, die sie nicht erleben – während die Medienvertreter zu glauben scheinen, die Leute da draußen würden die Belehrungsversuche und den Mangel an Professionalität nicht bemerken. Wen wundert das miese Image der Journalisten? Uns nicht. Aber lassen Sie uns einmal zwei konkrete Beispiele betrachten, in denen konkrete Berichterstattung dem Berufsimage schadet.

»Absturz eines Mythos«. Damit machte die »Zeit« auf Seite eins auf – am Donnerstag nach dem Absturz der Germanwings-Maschine 4U9525.14 Der Absturz am 24. März 2015, einem Dienstag, geschah aus Sicht eines »Zeit«-Journalisten leider ein wenig spät. So knapp vor dem Redaktionsschluss! In Druck geht die »Zeit« mittwochs – also verführte der gute alte Datenträger Papier die Redaktion zu einem Schnellschuss. Die Redakteure der »Zeit« kannten bisher wie die anderen Kollegen keine Absturzursache und bastelten daher um die Nachricht herum die Geschichte, bei der Germanwings-Mutter Lufthansa räche sich nun der Kurs des Vorstands. Die »Zeit« deutete ihren Vorwurf mitten in den Tarifauseinandersetzungen an. Auf Seite eins stand: »Wenn eines sicher war, dann die Lufthansa. Das furchtbare Unglück der Germanwings rührt am Selbstverständnis des Konzerns – und der Nation.« Die Geschichte selbst stand dann im Wirtschaftsteil. Bei »Zeit online« lief am Tag nach dem Absturz die Geschichte »Absturz stellt Lufthansa-Konzept infrage«15 – vor dem Hintergrund des Konzernumbaus durch Lufthansa-Chef Carsten Spohr (* 1966). Bereits im zweiten Absatz verknüpft Matthias Breitinger das Thema Sicherheit mit dem ungeklärten Absturz.

Es war reine Spekulation: Die Redaktion tut so, als wisse sie etwas, dabei weiß sie gar nichts. Die Kollegen bei der »Zeit« brüten eine Geschichte aus, die im Kontext des Absturzes nichts verloren hat. Claus Hecking und Claas Tatje schrieben in der Geschichte »Ein Glaube zerschellt«: »Sicherheit war das große Plus des Lufthansa-Konzerns. Der Absturz stellt alles infrage.« Die »stolze Airline, die von Passagieren aus der ganzen Welt geschätzt wurde wegen ihrer urdeutschen Tugenden Sicherheit und Zuverlässigkeit, steckt schon länger in der tiefsten Krise seit ihrer Privatisierung Anfang der 1990er Jahre«. Über den Manager Spohr schrieben sie: »Er setzte mehr auf billig. Und jetzt muss er der Weltöffentlichkeit 150 Tote erklären.« Thomas Winkelmann (* 1959), der Chef von Germanwings, müsse sich »der Frage nach dem Alter der Germanwings-Flotte« zuwenden: »Fast ein Vierteljahrhundert hatte die Maschine auf dem Buckel, und erst im vergangenen Jahr hatte Germanwings sie von der Lufthansa übernommen.«16

Im Kapitel »Denken mit Skript im Kopf« gehen wir später noch tiefer auf das Phänomen der Narrative ein. Narrative sind einer der wichtigsten Gründe dafür, dass den Medien die Leser und Zuschauer davonlaufen – ganz einfach dann, wenn Journalisten mit vorgefertigten Bewertungen an die Arbeit gehen. Beim Thema »Germanwings« zeigt sich so ein Narrativ: Der Absturz musste einfach mit dem Status quo beim Unternehmen Lufthansa zu tun haben.

Am Ende war die Ursache eine andere: Der Kopilot Andreas L. (1987–2015) hatte die Maschine gegen eine Felswand in den französischen Alpen gesteuert, als der Kapitän zur Toilette gegangen war und Andreas L. ihn ausgesperrt hatte. »Absturz einer Wochenzeitung?«, höhnte »Meedia« – freundlicherweise mit Fragezeichen.17

Statt im Affekt zu skandalisieren, ist erst einmal Distanz angemessen. Darauf weist der Journalist Thomas Keup die »Zeit« hin. Doch die »Zeit« hat sich dazu hinreißen lassen, wegen des Andrucks zu spekulieren.

Die Kollegen von »Meedia« haben ruckzuck mit einer Auswertung von Kommentaren aus dem Internet reagiert – kurz nachdem die wahre Absturzursache bekannt geworden war. Bei Facebook verteidigt die »Zeit« ihre Überschrift: »Liebe Kommentatorinnen und Kommentatoren, wir möchten anregen, zuerst die Geschichte zu lesen, bevor Sie sich ein Urteil bilden.«18 Der Medienexperte Thomas Knüwer reagiert: »Sorry, liebe DIE ZEIT, das ist Boulevard-Niveau. Sie wissen genauso wenig wie alle, warum die Maschine abgestürzt ist. Und anzudeuten, Flugverkehr sei nicht sicher, ist übelste Panikmache.«

Der Journalist Thomas Keup formuliert es so: »Liebe Boulevard-Redaktion: Als langjähriger Journalist empfehle ich, erst mal einen Augenblick Distanz zu gewinnen, anstatt so eine geschmacklose, reißerische und primitive Nummer zu machen.«

Von der »Zeit« reagiert am Erscheinungstag 26. März 2015 Sabine Rückert (* 1961), stellvertretende Chefredakteurin, auf Facebook: »Liebe Leserinnen, liebe Leser! Unsere Titelzeile und das dazugehörige Cover-Bild hat manche von Ihnen bestürzt und empört. Das bedaure ich als Titel-Verantwortliche in der Chefredaktion sehr. Die Nachricht vom schrecklichen Unglück erreichte uns am Dienstag, unserem Produktionstag, kurz vor Redaktionsschluss. Die Frage der Flugsicherheit für alle Passagiere schien uns die richtige für den kommenden Donnerstag.« Dann sagt Sabine Rückert: »Um eine Vorverurteilung der Lufthansa ging es uns an keiner Stelle.« Unkommentiert können wir diesen Satz nicht stehen lassen – denn letztlich wirkt die »Zeit«-Geschichte wie eine Vorverurteilung der Lufthansa. Sabine Rückert fährt fort: »Dass die Ursache des Unglücks nach wie vor ungeklärt ist, trägt sicher zum Missverständnis unseres Titels bei. Die Trauer der Menschen und die Verzweiflung der Angehörigen beschreiben wir im Inneren des Blattes. Ihre Botschaft ist bei uns angekommen.«19

Im wöchentlichen Video vom 25. März 2015 hatte Sabine Rückert erklärt, dass sie noch gar nicht wisse, was in der Titelstory stehen wird. Sie hatte Wirtschafts-Ressortleiter Uwe Jean Heuser (* 1963) bei sich, der erklärte, die Lufthansa »war und ist mehr als nur irgendeine Airline«, sie sei »immer ein Ausweis von Sicherheit« gewesen, und »man war es gewohnt, halbwegs sicher durch die Lüfte zu kommen«. Daran habe die Lufthansa selbst schon »gerüttelt«, indem sie die Tochter Germanwings groß gemacht habe. »Aber jetzt wird der Mythos wirklich im wahrsten Sinne des Wortes vom Himmel geholt, und das rüttelt an der deutschen Volksseele.«20

Bei der Germanwings-Geschichte kommen zwei Aspekte zum Vorschein: erstens der absurde Zeitdruck angesichts eines Redaktionsschlusses und Andrucks – für »digital natives« schlichtweg etwas aus der Zeit Gefallenes. Zweitens entsteht bei uns der Eindruck eines merkwürdigen, selbst auferlegten Zwangs, nicht einfach zu berichten, was ist, sondern möglichst zu skandalisieren. Was wäre so schlimm daran gewesen, wenn die »Zeit« einfach noch ein wenig Geduld gehabt hätte? Die Absturzursache war zu dem Zeitpunkt nun einmal noch nicht bekannt. Das ist doch völlig in Ordnung. Als der »Spiegel« noch montags erschien, hatte er naturgemäß auch keine Wahlergebnisse vom Vortag, und niemand hat sich daran gestört.

Wer im Zusammenhang mit dem Absturz hervorragend kommuniziert hat, waren Lufthansa-Chef Spohr und Germanwings-Chef Winkelmann. Die »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung« hat das gewürdigt.21 Rainer Hank zitiert Spohr: »›Wenn ein Mensch 149 Menschen mit in den Tod nimmt, ist das ein anderes Wort als Selbstmord.‹ Das ist unter allen von Spohrs starken Sätzen einer seiner stärksten, zeigt er doch, dass in der Not des Unfassbaren es nicht nur auf Gesten und aufrichtige Empfindungen ankommt, sondern auch auf den richtigen Umgang mit der Sprache.«

»Stoppt Putin jetzt!«: Der »Spiegel« macht Politik

Unser zweites Beispiel, ebenfalls im Zusammenhang mit einem Flugzeug, findet sich beim »Spiegel«: die Titelgeschichte »Stoppt Putin jetzt!« mit dem Abdruck der Gesichter der Absturzopfer des Malaysian-Airlines-Fluges MH17 im Juli 2014. Die Unterstellung war klar: Der »Spiegel« behauptete implizit, der russische Präsident Wladimir Putin (* 1952) habe etwas mit dem Absturz der Zivilmaschine zu tun.22 Einen Tag später erklärt die »Spiegel«-Redaktion im Blog, die Forderung, Putin und die prorussischen Separatisten in der Ostukraine zu stoppen, ähnele »der veränderten Haltung der Bundesregierung, die solche Sanktionen an diesem Dienstag im Rahmen der EU mitbeschlossen hat – und auch der von 52 Prozent der Deutschen, die laut einer repräsentativen SPIEGEL-Umfrage Sanktionen auch dann unterstützen würden, wenn sie viele Arbeitsplätze gefährden sollten«.23 Richtet sich die Presse also nach der Regierung?

Leider finden sich zahlreiche Beispiele dafür, dass die Qualität der Medien sinkt – vor allem im journalistischen Handwerk.

Seit Oktober 2015 gilt als gesichert, dass eine russische Buk-M1-Rakete zu dem Absturz geführt hat – aber ob Putin dahintersteckt, ist nach wie vor nicht bewiesen. Der Presserat hat eine Missbilligung ausgesprochen wegen der auf dem Cover gezeigten Insassen der Maschine – sie seien für eine politische Aussage instrumentalisiert worden.24 Später nennt »Spiegel«-Chefredakteur Klaus Brinkbäumer (* 1967) den Titel einen Fehler.25 Keinesfalls wollen wir sagen, der »Spiegel« sei »Lügenpresse« – auch nicht mit dieser Titelgeschichte. Aber es erscheint uns nachvollziehbar, wenn mancher die Neutralität vermisst.

Insgesamt finden sich jedenfalls zahlreiche Gründe dafür, dass Menschen sich von Medien abwenden – einseitige Berichte, Vermutungen, Auslassungen und sogar Falschbehauptungen. Wenn wir die Medien retten wollen, sollten wir diese Dinge näher betrachten.

Von Welt- und Menschenbildern

Das böse Unternehmen Lufthansa wird schon an dem Absturz der Germanwings-Maschine schuld sein – so ist das doch immer im Wirtschaftsleben, richtig? Unternehmen unterwerfen sich natürlich dem Sparwahn, unter dem Mitarbeiter leiden, denn Manager sind ja böse und nur auf ihre unverdienten und übergroßen Boni scharf. Also wird das schon so gewesen sein. Genauso wie die Deutschen natürlich sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, wir Bewerbungstrainings machen sollen, wie Empfänger von Arbeitslosengeld II (ALG II) niemals selbst für ihre Situation verantwortlich sind, wie wir alle möglichst früh in Rente gehen wollen und wie Rentner auf Parkbänken sitzen, mit dem Rücken zur Kamera.26

Genau – dies sind sogenannte Klischees. Ein Klischee ist ein Muster wie eine Sandkuchenform: Alles, was wir reinfüllen, hat hinterher die gleiche Form. Ein Klischee ist eine Druckform, durch die alles, was wir herstellen, gleich aussieht. Wie oft haben Sie schon Symbolfotos mit Rentnern auf einer Parkbank gesehen, aufgenommen von hinten? Genau das meinen wir.

In diesem Kapitel stellen wir eine gewagte These auf: Die öffentliche Kommunikation, insbesondere der Journalismus, vermittelt ein ganz bestimmtes Welt- und Menschenbild, das nur sehr wenig mit dem konkreten Leben vieler Menschen zu tun hat. Und damit entsteht ein Zerrbild der Wirklichkeit. Motiviert ist das durch mehrere Dinge: einmal durch das Leben der Journalisten selbst; dann durch das Leben der anderen, wie Journalisten es sich vorstellen; und schließlich durch die Gesellschaft, die Journalisten gerne hätten.

Nach diesen Filtern stellen Journalisten unsere Gesellschaft dar. Verwandt mit solchen Filtern ist das erwähnte Narrativ. Die Basis für Narrative sind Weltbilder und Menschenbilder. Nach ihnen richtet sich ein angebliches Geschehen – weniger nach der Wirklichkeit.

Natürlich gibt es viele Weltbilder. Ein selbstständiger Künstler hat ein anderes Weltbild als ein Arbeitnehmer, der morgens zur Arbeit fährt. Ein Beamter hat ein anderes Weltbild als ein Unternehmer mit Angestellten. Ein Single hat ein anderes Weltbild als ein Elternpaar. Ein Freiheitskämpfer hat ein anderes Weltbild als eine Teilnehmerin bei »Germany’s next Topmodel«.

Weltbildern liegen Werte zugrunde: Was ist uns wichtig?

Und es gibt viele Menschenbilder. Nach dem Menschenbild der europäischen Aufklärung ist der Mensch frei. Nach dem Menschenbild der USA ist jeder seines Glückes Schmied. Nach dem Menschenbild Nordkoreas ist das Individuum nichts wert; es zählt nur als Teil der Masse, das seine Pflicht erfüllt. Nach dem Menschenbild des öffentlichen Dienstes verfolgen Menschen vereinfacht gesagt Abläufe und gleichen die Realität mit Regeln ab; das Menschenbild des Unternehmers ist eher ergebnisorientiert. Jedenfalls ungefähr.

Welches Welt- und welches Menschenbild für uns gelten, hängt von unseren Werten ab. Was ist wichtig für uns? Genuss und Bequemlichkeit oder Leistung und Erfolg? Pflicht und Ordnung oder Kreativität? Selbstvertrauen oder der Anspruch darauf, dass die Gesellschaft uns das Leben einrichtet? Macht und Status? Idealismus? Glauben wir an die Kreativität des Einzelnen oder hat sich das Individuum gefälligst nicht aufzuspielen?27

Das Weltbild, das wir in vielen Medien wahrnehmen, ist das des kleinbürgerlichen Arbeitnehmers, der nachmittags fernsieht, sich auf den Feierabend und den Urlaub freut, Benzinpreise vergleicht, bei Stau einen Radiosender informiert und sich um die Rente mit 67 sorgt. Das Leben ist beschaulich und betulich. Kaum finden statt die Weltbilder von Selbstständigen, Geschäftsleuten, Künstlern, Wissenschaftlern und Arbeitgebern. Auch Philosophen und Literaten finden meist nur dann statt, wenn ihre Äußerungen möglichst komplex sind. Theater und Musik sollen bitte höchst anspruchsvoll sein.

Die Deutschen sind ein Volk der Pendler

Das Entscheidende aber ist das verquere Weltbild in Sachen Wirtschaft. Warum besteht Wirtschaftsberichterstattung zu einem so großen Teil aus Börsenberichten? Das tatsächliche Wirtschaftsleben kommt uns viel zu kurz – also das »Erwirtschaften« von Werten –, worum es später noch im Kapitel »Wirtschaftskompetenz« geht. Nehmen wir, um das Weltbild dahinter zu beleuchten, zunächst einmal einfach den Arbeitskampf zwischen den Lokführern und der Deutschen Bahn im Jahr 2015. Die Leidtragenden in den Medien waren vorrangig die »Pendler« und die »Touristen«. Als gäbe es keine Geschäftsleute! Aber Geschäftsleute sind ja nicht zu bedauern, denn die schwimmen im Weltbild der meisten Journalisten ja ohnehin im Geld. Dass mancher Selbstständige durch den Streik bei der Bahn Tausende Euro für Mietwagen verloren hat, weil die Bahn einem BahnCard-100-Besitzer je nach Klasse nur 10 oder 15 Euro am Tag erstattet, war kein Thema in den Medien. Denn natürlich ist jemand, der eine BahnCard 100 besitzt, nicht zu bemitleiden, sondern der hat es ja. Zu bemitleiden sind ausschließlich Arbeitnehmer und Arbeitslose, die ihr hartes Schicksal ausschließlich dem bösen Handeln gieriger Unternehmer verdanken.

Der Unterschied zwischen Unternehmern und Managern scheint nur wenigen Journalisten bewusst zu sein. Doch wer ökonomisch denkt, kennt den Unterschied: Der Unternehmer setzt sein eigenes Geld ein, der Manager jongliert mit fremdem Geld. Manager sind in der Regel Angestellte.

Auch haben viele Medien ignoriert, dass schon die Androhung eines Streiks Reiseplanungen fast unmöglich macht und dass es daher bei professionellen Vielreisern auch um Schadenersatz für Tage geht, an denen die Mitarbeiter gar nicht streiken. Doch im Weltbild der Presse scheinen Bahnkunden stets nur simple Hin- und Rückfahrten am selben Tag zu machen. Wieder findet das normale Geschäftsleben nicht im Denken statt. Sondern die Leute sind nur Arbeitnehmer und Konsumenten.

Auch bei der Debatte über mögliche Preiserhöhungen bei den BahnCards im Sommer 2015 sprachen die meisten Medien nur über die BahnCard 50 und die BahnCard 25 – was mit der BahnCard 100 geschieht, die zahlreiche Selbstständige, Künstler und auch angestellte Geschäftsleute verwenden, interessierte sie nicht.

Oder nehmen wir die Geschichte über das Bewerbungstraining an der Polthier-Oberschule in Wittstock/Dosse und den Bericht der »Märkischen Allgemeinen Zeitung« darüber am 29. September 2014. »Zehntklässler stellen sich Unternehmern vor« heißt es in der Unterüberschrift, und in einem Kasten sind die »Unternehmer« beschrieben, denen sich die Jugendlichen präsentieren: die Bezirksgeschäftsführerin der Barmer-GEK in Wittstock – eine Angestellte; eine Erzieherin in der städtischen Kita »Kinderland« – öffentlicher Dienst; ein Geschäftsführer des Kreissportbundes, eine Pflegedienstleiterin vom Seniorenzentrum – alles keine Unternehmer mit einer Geschäftsidee. Einzig Wilhelm Schäkel, der Geschäftsführer der Bio-Ranch in Zempow, verdient das Attribut »Unternehmer«, weil er der Inhaber der Bio-Ranch ist und sie unternehmerisch führt.28

Nun könnte man sagen: Gut, hätte die »Märkische Allgemeine« eben »Arbeitgeber« schreiben müssen statt »Unternehmer«, und das Ganze als lässliche Sünde abtun. Aber für uns zeigt sich darin ein kollektiv schiefer Blick unserer Gesellschaft: Indem die Zeitung den Begriff »Unternehmer« synonym zu »Arbeitgeber« verwendet, gibt sie in unseren Augen eine weitverbreitete Sicht wieder. Die Botschaft ist klar: Junge Menschen haben sich zu bewerben. Dass man auch Geschäftsideen entwickeln kann, spielt eine untergeordnete Rolle – aber genau dann wird der Unterschied zwischen Unternehmern und Managern eben erst spannend. Wer sich ökonomisch betätigt, wird den Unterschied zwischen »Unternehmer« und »Arbeitgeber« nicht glattschleifen – auch nicht mit dem Vorwand, der Normalbürger kenne den Unterschied ohnehin nicht. Dahinter steckt ein Weltbild.

Indem der Bericht in der »Märkischen Allgemeinen Zeitung« dann auch noch mit der Szene beginnt, in der ein Mädchen weint, weil es Angst hat, sich falsch zu präsentieren, zeigt sich vollends das Weltbild unserer Gegenwart: Das Individuum ist Bittsteller und auf die Gnade anderer angewiesen. Was für ein ernüchterndes Bild vom Berufs- und Arbeitsleben, das doch so spannend sein kann.

Aber bitte, wir wollen Medien, die so arbeiten, keinen Vorwurf machen. Wir können es nachvollziehen. Einmal steckt man selbst als Journalist in seinen Weltbildern fest, und dann regiert in den Redaktionen oft auch noch das Prinzip, möglichst nur zu liefern, was der Leser ohnehin bereits für möglich hält. Allzu herbe Irritationen gelten als unpassend. Und so festigen sich Weltbilder immer mehr.

Wer wenig Geld verdient, ist der Held

Immerhin scheinen Aussteigergeschichten zuzunehmen – wie die Geschichte »Raus aus dem Hamsterrad«29, in der es ums Downshiften geht und Menschen dem Wahnsinn an ihren Arbeitsplätzen entfliehen. Die Werberin Tanja Keßler »wollte schreiben, doch die Kunden der Werbeagentur machten so enge Vorgaben, dass für Kreativität kaum Platz blieb«. Folgerichtig wirft Tanja Keßler den Job hin. Was viele für »mutig« halten, ist eben oft auch spannende Realität, über die es etwas zu berichten gibt.

Wir wollen nicht sagen, alle sollten ihre Jobs hinwerfen und sich selbstständig machen. Wir wollen nur sagen, dass das Prinzip des selbstbestimmten Lebens und Arbeitens in der Publizistik ein wenig zu kurz kommt und dass das an einem Weltbild liegt. Dass Medien über solche Entscheidungen berichten, ist eher selten – schließlich haben zahlreiche Journalisten selbst einen Job in einem Großunternehmen oder arbeiten als Freiberufler ebenfalls in gewohnten Bahnen. Noch einmal: Wir haben nichts dagegen! Nur so verwundert es eben auch nicht, dass viele Menschen glauben, die einzige Alternative für einen Job sei ein Job. Sicher ist die Selbstständigkeit nicht für jeden etwas. Aber wenn Menschen sich nicht selbst verwirklichen aufgrund des Klischees, es gehöre Mut dazu, finden wir das schade.

Ein weiteres Weltbild, das ebenfalls nicht zu Berichten über jene führt, die aktiv etwas aus ihrem Leben machen, zeigt sich gut an der »Spiegel-online«-Geschichte »Mit 500 Euro das große Glück«.30 Hier schreibt Anna-Lena Roth heroisierend über den Blogger Gerrit von Jorck, der »Spitzenverdiener« sein könnte, aber von 500 Euro im Monat lebt – »weil er das so will«. Den Konsum- und Karriereverzicht stellt »Spiegel online« als bewundernswert dar, und hier haben wir das Weltbild: Reichtum und wirtschaftlicher Erfolg sind weniger erstrebenswert als Verzicht. In einem humorvollen Vortrag mit dem Titel »Solidarisches Postwachstum« erklärt von Jorck, weniger Arbeit und weniger Konsum würden das Lebensglück vergrößern.31

Klar: Bei vielen Menschen trifft das sicher zu. Aber man kann es auch anders sehen: Viele Menschen sind nicht deswegen erfolgreich, weil sie dem Geld hinterherrennen, wie es das Klischee sagt, sondern weil sie ihr Ding machen und ihre Fähigkeiten mit der Gesellschaft teilen. Nur siedeln sich diese Gedanken eben oft nicht in der typischen Arbeitnehmerwelt an. Und es gibt Menschen, denen nie langweilig ist und die von innen heraus motiviert arbeiten, weil es ihnen Freude macht. Oft ist nicht Geld das Motiv, sondern die Berufung. Bei »Beckmann« stellt von Jorck es so dar, als diene Geld nur zum Ausgeben – dass man Geld für gute Zwecke investieren kann, sagt er nicht.32 Darauf weist in der Runde die Journalistin Greta Taubert hin.

Wer Gutes tut, bekommt oft etwas zurück

Natürlich hegen wir Sympathie für Gerrit von Jorck: Er entwickelt charmante und spannende Gedanken. Nur würden wir uns freuen, wenn dieser kluge Kopf mit Kraft dazu beitragen würde, dass wir die Aufgaben in unserer Gesellschaft lösen können. Dass er dazu die geistige Kapazität hat, steht für uns außer Frage. Allerdings glauben wir: Sobald er das wirksam tut, kommt Reichtum auf ihn zu; entgegen dem Weltbild, dass nur gierige Menschen Geld haben. Anselm Grün (* 1945) ist ein tolles Beispiel für einen Spitzenverdiener, der seine Einnahmen letztlich an seine Abtei abtritt.33 Ein Armutsgelübde klingt ethisch wertvoll, aber wer Gutes tut, bekommt meist automatisch etwas zurück. Und dieses Weltbild vermissen wir. Wir fänden es außerordentlich schade, wenn Anselm Grün sich selbst genug wäre und keine Bücher mehr für die Menschen schriebe. Auch wenn wir ihm bereits sehr viel verdanken – wir fänden das egoistisch. Was also kann jemand zur Gesellschaft beitragen?

Die Alternative zum Konzernleben, das so viele Menschen unglücklich macht, ist also gemäß dem aus den Medien gewohnten Weltbild entweder ein anderer Job oder gleich die völlige Abkehr vom ökonomischen Handeln – ein Extrem. Die Idee, dass Menschen dank Klugheit, Erfahrung und Vorstellungskraft etwas schaffen können, findet kaum statt. Auch Steve Jobs, Visionär und Erfinder, ist vielen suspekt, weil er Geld verdient hat, aber gleichzeitig nutzen wir seine Produkte und profitieren von seinen Innovationen.

Wenn wir es richtig zuspitzen, ergibt sich ein Menschenbild der bösen Manager und armen Arbeitnehmer. Ein junger Mensch bewirbt sich, bekommt einen Job, wechselt den Job mehrmals, ist vielleicht vorübergehend arbeitslos und geht am Schluss in Rente. Es ist wie vorgezeichnet. Denken wir das Weltbild zu Ende, gibt es irgendwann nur noch Arbeitnehmer und anonyme Konzerne. Es gibt keine Unternehmer mit Ideen mehr, sondern nur noch abstrakte Anteilseigner, meist Konzerne, während die Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt arbeiten, an den Gewinnen nur selten beteiligt sind und vor allem keinen Einfluss haben auf die Unternehmensstrategie. Dass jemand zu Beginn einer unternehmerischen Tätigkeit eine Idee hat und mit Geld etwas Gutes und Sinnvolles bewirken kann, lesen wir eher selten – und das, obwohl der Mittelstand in Deutschland noch immer die meisten Arbeitsplätze schafft.

Sind die Leute denn so trutschig, kleinbürgerlich und unmündig?

Besonders deutlich wird das Menschenbild klassischer Medien in den Lokalzeitungen. Wer will belanglose Guten-Morgen-Kolumnen lesen, in denen es ums Wetter geht? Um Alltägliches? Jeder Mensch, für den infolge der Informationsflut der Fokus aufs Wesentliche wichtig ist, legt eine Zeitung sofort wieder weg, die ihn mit Belanglosigkeiten aufhält. Und trotzdem kommen die meisten Journalisten nicht auf die Idee zu überlegen, dass das ihren Lesern genauso gehen könnte – obwohl sie selbst inzwischen jede Menge Irrelevantes vorgesetzt bekommen.

Leser wird man leicht los: Am besten berichtet man einfach über Nichtigkeiten. Am 8. März 2016 machte die »Märkische Allgemeine Zeitung« auf Seite eins mit dem Frauentag auf. »Zehn starke Märkerinnen – alles Liebe zum Frauentag!«, lautete die Schlagzeile. Darunter abgebildet: »Nadine Lehmann (39), Restaurantfachfrau aus Brandenburg/H.«, »Gudrun Boll (58), Tankstellen-Kassiererin aus Ketzür«, »Nadine Eichler (38), Friseurmeisterin aus Neuruppin« und so weiter.34 Kein Verweis auf Interviews weiter hinten im Blatt, nichts. Da standen einfach nur auf einer Fläche von 26,7 Zentimetern Breite und 12,5 Zentimetern Höhe Frauentags-»Glückwünsche« an völlig unbekannte Leute.

Die Menschen denken normal – wir dürfen sie ernst nehmen

Stärkt dieser trutschige Content die Leser-Blatt-Bindung? Ja – aber nur, wenn man vom erwähnten Menschenbild ausgeht: kleinbürgerlich, leicht abzuspeisen, genügsam, nicht initiativ, eher konsumorientiert, wenig produktiv – und damit übrigens nicht emanzipatorisch stark, wie das der Frauentag-Initiatorin Clara Zetkin (1857–1933) möglicherweise gefallen hätte. Doch so sehen Zeitungen eben ihre Leser. Dieser Typ von Leser stürzt sich auf Pseudonachrichten wie den »Tag des Kusses«, ist damit offen für jegliche Lobby-Indoktrination und liest das Horoskop. Journalisten verlieren auch deshalb Leser, weil sie meinen, die Leute seien tatsächlich so. Manche halten ihre Leser für kleinkariert, sich selbst aber für intellektuelle Geistesgrößen. Das Problem dabei ist einfach nur: Die Menschen sind und denken normal! Man darf sie ernst nehmen.

Oder sind es möglicherweise die Redakteure, die so trutschig denken? Endet die Sommerzeit, schreiben viele Medien, die Leute könnten »eine Stunde länger schlafen«. Dass man mit der Stunde auch etwas anderes anfangen kann – wandern, spielen, arbeiten –, fällt dem betulichen Redakteur leider nicht ein. Warum sollte jemand, der sieben Stunden Schlaf braucht und daher jede Nacht sieben Stunden schläft, länger schlafen? Wir haben nichts dagegen, mal länger zu schlafen, aber wie wir die zusätzliche Stunde eines 25-Stunden-Tages nutzen, hängt ja nun nicht davon ab, dass diese eine Stunde ausgerechnet in der Nacht dazukommt. In Großstädten tanzen die Menschen eben eine Stunde länger, wenn wir uns schon an der Uhrzeit festhalten und es um die Zeitspanne zwischen 3 Uhr MESZ und 3 Uhr MEZ geht. Sehr vieles lässt sich mit dieser zusätzlichen Stunde anstellen.

Gemäß dem Klischee können wir am Ende der Sommerzeit eine Stunde länger schlafen. Dass wir auch eine Stunde länger spielen, feiern oder arbeiten können, findet nicht statt. Ist den Redakteuren unserer Medien das Schlafen also wichtiger?

Wir könnten endlos darlegen, dass das Welt- und Menschenbild heutiger Medien von einer irgendwie seltsamen, kruden Realität ausgeht. Die »Märkische Allgemeine« zitieren wir hier einfach nur deshalb so oft, weil Autor Thilo Baum einige Jahre in deren Verbreitungsgebiet gelebt und sie abonniert hatte. Sehen wir die »Märkische Allgemeine« einfach als Stellvertreterin für die meisten anderen Lokal- und Regionalmedien – auch fürs typische Privatradio, das freitags erklärt: »Endlich ist Wochenende!«, und das montags »die besten Hits zum Start in die Woche« bringt. Wir finden das weltfremd.

Sicher spricht nichts dagegen, sich aufs Wochenende zu freuen, wenn man denn eines hat. Am Wochenende arbeitet offenbar niemand im Weltbild der Medien. Obwohl es zahlreiche Gegenbeispiele gibt: Nicht nur die viel zitierte Polizei, die Feuerwehr und Krankenhäuser, sondern auch Altersheime und jede andere Betreuungseinrichtung bis hin zur Justizvollzugsanstalt haben Betrieb. Die Pflege arbeitet am Wochenende. Selbst Staatsanwälte und Richter haben Wochenenddienste. Viele Apotheken haben geöffnet, Busse und Bahnen fahren, Flugzeuge fliegen, Schiffe fahren, und daher ist auch an Bahnhöfen, Flughäfen und Häfen Betrieb. Strom und Wasser fließen, viele IT-Unternehmen und Telefondienstleister sind erreichbar wie Hausmeister, Wachdienste und Notdienste aller Art. Auch das produzierende Gewerbe arbeitet meistens durch, weil Stillstand Geld kostet; in der Schwerindustrie laufen viele Maschinen durch, weil sie leiden, wenn man sie abschaltet; Logistikunternehmen und Paketdienste hören nicht auf, ihre Briefe und Päckchen in Lastwagen zu packen und auch samstags auszuliefern; und auch der Einzelhandel ist am Samstag oft bis 22 Uhr am Arbeitsplatz. Die komplette Tourismusindustrie lebt vom Wochenende: Hotels, die gesamte Gastronomie und alle nachgeordneten Bereiche bis hin zum Bergführer und Nachtwächter in einer mittelalterlichen Stadt. Museen haben geöffnet, es gibt Konzerte, wir gehen ins Kino und ins Theater. Schwimmbäder sind geöffnet, Tennishallen, Fitnessstudios und Sportplätze. Schauspieler und Musiker arbeiten am Wochenende; um die Tiere im Zoo kümmert sich ebenso jemand wie um die Besucher. In der Landwirtschaft geht es am Wochenende aufs Feld, wenn Regen droht. Kühe, Schweine und Hühner bekommen auch am Wochenende Futter. Politiker und Geistliche sind am Wochenende für ihre Sache unterwegs. Labors laufen. Am Samstag und Sonntag erkennen wir im Stadion, dass da eine ganze Logistik am Werk ist, eine Welt für sich, und das betrifft nicht nur die Spieler und den Schiedsrichter: Es gibt Getränkeverkauf und Sicherheitsleute wie auch auf dem Jahrmarkt oder in einem Vergnügungspark. Tankstellen sind am Wochenende geöffnet, irgendwo bekommen wir auch am Sonntag einen Liter Milch, sogar die Standesämter machen auf. Und wenn wir mit dem Auto liegen bleiben, sagt der ADAC nicht, er sei erst am Montag wieder da. Und sowieso sind die vielen Kreativen und Unternehmer auch am Wochenende gedanklich bei ihren Ideen und überlegen, wie sie strategisch und operativ daran weiterarbeiten. Knapp 25 Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland arbeiten am Wochenende.35 Das sind etwa zehn Millionen Wochenendarbeiter unter 43,5 Millionen Erwerbstätigen.

Medien ignorieren die Realität von zehn Millionen Menschen

Sicher machen manche Menschen Wochenende, vor allem in Bürojobs. Auch der Schlosser von nebenan macht Wochenende, wenn er nicht als Notdienst erreichbar ist für Betrunkene, die sich aus der Wohnung ausschließen. Aber am Ende sind es zehn Millionen Menschen, die unsere heutigen Medien offenbar nicht als Leser und Zuschauer haben wollen. Es sind zehn Millionen Menschen, deren Realität