Immun gegen Unsinn - Thilo Baum - E-Book

Immun gegen Unsinn E-Book

Thilo Baum

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Beschreibung

Erkennen, was stimmt und was nicht - 25 % der Deutschen geben an, sehr große Angst vor der Verbreitung von Desinformationen zu haben (Statista) - Richtige Meinungsbildung ermöglicht fundierte Entscheidungen, fördert Verständnis und verbessert die Zusammenarbeit - Mit zahlreichen Quizfragen zur Selbstkontrolle Dieses Buch vermittelt eine Fähigkeit, die trotz Aufklärung und Bildung nach wie vor in der Gesellschaft unterrepräsentiert ist: sich anhand gesicherter Erkenntnisse eine fundierte Meinung zu bilden. Wir bilden uns unsere Meinungen anhand dessen, was wir zu wissen glauben. Beruht unsere Meinung auf Irrtümern und Desinformation, treffen wir mitunter unkluge Entscheidungen. Manipulateure füttern uns mit Fake News, damit wir uns unsere Meinung anhand von Lügen und Desinformation bilden. Wie erkennen wir also von nun an, dass wir einer Manipulation unterliegen? Wie finden wir auf effektive Weise heraus, was die Wahrheit ist und was falsch? Und wie können wir sicher sein, dass etwas stimmt, was wir zu wissen glauben? Wie machen wir uns insgesamt immun gegen Unsinn, also gegen Gerüchte, falsche Behauptungen und unterschwellige Unterstellungen? Die Absender von Propaganda und Fake News setzen darauf, dass wir diese Zusammenhänge nicht durchschauen. Dieses Buch ist die Immunisierung – es hilft, den Unsinn endgültig zu entlarven.  Mit zahlreichen Quizfragen, um Ihr Wissen zu prüfen.

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Thilo Baum

Immun gegen Unsinn

Thilo Baum

Immun gegen Unsinn

Wie wir uns eine fundierte Meinung bilden

Externe Links wurden bis zum Zeitpunkt der Drucklegung des Buches geprüft. Auf etwaige Änderungen zu einem späteren Zeitpunkt hat der Verlag keinen Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Ein Hinweis zu gendergerechter Sprache: Die Entscheidung, in welcher Form alle Geschlechter angesprochen werden, obliegt den jeweiligen Verfassenden.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN Buchausgabe: 978-3-96739-198-5

ISBN ePUB: 978-3-96740-404-3

Lektorat: Anke Schild

Umschlaggestaltung: Martin Zech Design, Bremen | www.martinzech.de

Autorenfoto: © privat

Satz und Layout: Zerosoft, Timisoara

Copyright © 2024 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

Das E-Book basiert auf dem 2024 erschienenen Buchtitel "Immun gegen Unsinn - Wie wir uns eine fundierte Meinung bilden" von Thilo Baum.

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags. Der Verlag behält sich das Text- und Data-Mining nach § 44b UrhG vor, was hiermit Dritten ohne Zustimmung des Verlages untersagt ist.

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Inhalt

Einleitung

Kapitel 1

»Aber es könnte doch sein …«: Was stimmt und was nicht stimmt

Wissen wir etwas oder glauben wir es nur?

Wer behauptet, belegt

Kapitel 2

»Ich habe gedacht …«: Wie wir falschliegen können

Warum oft nicht wahr ist, was wir glauben

Stimmt etwas, weil es möglich oder wahrscheinlich ist?

Stimmt etwas, weil es schlüssig ist?

Unwahrheiten: Irrtümer, Lügen und Manipulation

Die häufigsten Denkfehler und Missverständnisse

Kapitel 3

»Das wird man doch wohl noch sagen dürfen«: Welche Äußerungen (un)qualifiziert sind

Fakt oder Meinung?

Wir dürfen werten

Lügen sind keine Meinungen

Welche Äußerungen sind seriös, welche nicht?

Merkmale qualifizierter Informationen

Geschwurbel: Andeutungen, Scheinfragen, getarnte Meinungen

Was sind die »Grenzen des Sagbaren«?

Kapitel 4

»

Flood the zone with shit

«: Wie wir uns vor Propaganda schützen

Die Rolle von Verschwörungstheorien bei der Desinformation

Nichts im Leben ist mysteriös

Wie Verschwörungsmythen funktionieren

»Ich sehe was, was du nicht siehst«: Von der Vorstellung zum Wahn

Wie Desinformation funktioniert

Woran Sie Demagogie erkennen

Kapitel 5

»Nach eingehender Analyse …«: Vom Wissen zur Meinung

Informationen sichern

Wie ausgeprägt ist Ihre »allgemeine Lebenserfahrung«?

Wie strukturiert denken Sie?

Seriöse Medien erkennen

Fundierte Meinungen entwickeln

Nachwort

Quellen und Anmerkungen

Literatur

Über den Autor

Einleitung

Am 22. November 2023 hörte ich im Auto den Deutschlandfunk. In der Sendung »Agenda« ging es um die Frage, was wann im Fokus der Medien steht.1 Die Moderatoren Antje Allroggen und Andreas Stopp hatten neben anderen Gästen eine 21-jährige Studentin der bildenden Kunst zu Gast. Diese Studentin sagte zu Beginn der Sendung: »Bei mir gibt es keine Zeitungen zu Hause in meiner kleinen Wohnung. (…) Also, meine Berichterstattung läuft auf jeden Fall nur übers Handy.«

Gefragt nach ihren Quellen antwortete die Studentin: »Ja, tatsächlich Instagram. Die sozialen Medien stehen bei mir da schon an erster Stelle. (…) Auch Radio ist bei mir total weggefallen, seitdem ich nicht mehr irgendwie bei meinen Eltern tatsächlich wohne. Also, ich habe kein Radio zu Hause. Ich fahre kein Auto. Radio spielt tatsächlich leider auch keine Rolle mehr.«

Moderator Andreas Stopp fragte die Studentin: »Haben Sie sich denn heute Morgen (…) ins Bild gesetzt, was über Nacht in der Welt alles geschehen ist? Oder ist das an Ihnen vorbeigelaufen beim Frühstück?«

Die Studentin antwortete: »Ja, tatsächlich mit einem Swipe nach rechts. Links (…) sind dann immer die fünf Schlagzeilen des Tages, die ich auf jeden Fall schon morgens früh mir einmal angucke. Das war es aber tatsächlich. Also bei mir ist das heute Morgen nur (…) ein Überfliegen der Schlagzeilen gewesen.«

Ich saß im Auto und fragte mich: Wie will sich diese junge Frau eine fundierte Meinung bilden über das, was auf der Welt geschieht? Wenn sie ausschließlich Instagram verfolgt, das ihr nur liefert, wofür sie sich ohnehin interessiert, plus ein paar Schlagzeilen?

Vielleicht sagen Sie sich jetzt: Na ja, das ist der Trend. In diese Richtung geht das mit der Nachrichtenauswahl eben. Sie haben recht. Und »früher« war es ja ähnlich: Auch früher haben wir uns selektiv informiert – die einen haben die »taz« und den »Spiegel« gelesen und die anderen »Welt« und »Bild«. Auch dazwischen klafften einst Welten. Aber eines war dann doch anders: Sowohl »Bild«- als auch »taz«-Leser waren über die Nachrichtenlage immerhin einigermaßen zutreffend unterrichtet. Wenn auch unterschiedlich gefärbt.

Nur: Von welcher Qualität sind die Meinungen ahnungsloser Menschen? Und wie gehen wir mit der Flut an Desinformation um, die derzeit über uns hereinschwappt?

Ich dachte also über die Qualität von Meinungen nach. Der Ausdruck »Qualität von Meinungen« mag verwundern, aber Sie werden mir vermutlich zustimmen, dass er zutrifft: Ich beispielsweise kann mir keine qualifizierte Meinung über das Fach der erwähnten Studentin bilden, die bildende Kunst. Denn ich habe davon keine Ahnung. Um mich dazu öffentlich zu äußern, bin ich völlig inkompetent. Also maße ich es mir auch nicht an. Zumal jeder Versuch ohnehin peinlich wäre: Alle Experten würden merken, dass ich Unsinn erzähle.

Gegen Ende der Sendung gab die Studentin ein bemerkenswertes Statement ab. Sie sagte im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg: »Diese Komplexität des Themas und wie das auch mit Deutschland, mit unserem Leben zu tun hat, wie das alles zusammenhängt, das war mir davor einfach nicht klar.« Mit »davor« meinte sie »vor der Sendung«. Sie erklärte, sie müsse etwas nachholen, um die Zusammenhänge zu verstehen. Und: »Ich habe davon nichts gewusst. Das liegt vielleicht auch an meiner Informationsaufnahme.«

Wissen ist die Basis für die Meinungsbildung

Ich fand das erschütternd. Da lädt die Redaktion Gäste ein, um mit ihnen über Themen und Medien zu sprechen, und dann hat einer dieser Gäste überhaupt keine Ahnung davon, was die aktuelle Nachrichtenlage bedeutet. Um dann durch die Sendung zu erkennen, dass es da bisher einen blinden Fleck gab. Vermutlich wäre sich die Studentin ihres blinden Fleckes gar nicht bewusst geworden, wenn sie nicht Talkgast gewesen wäre. Denn Radio – und damit Deutschlandfunk – hört sie ja nicht.

Genau darum geht es mir in diesem Buch: Wie relevant sind unsere Meinungen, wenn wir ahnungslos sind? Wie sicher können wir sein, uns tatsächlich eine solide Meinung zu etwas zu bilden? Bilden wir uns unsere Meinungen auf der Basis von gesicherten Erkenntnissen oder von Halbwissen und Mutmaßungen? Woran erkennen wir gesicherte Erkenntnisse? Was ist der Unterschied zwischen Erkenntnissen und Annahmen? Und was ist überhaupt eine Meinung? Und wie machen wir uns immun gegen Lügen, Desinformation und Unsinn?

»Wie wir uns eine fundierte Meinung bilden«, lautet der Untertitel dieses Buches. Sie fragen sich vielleicht: Genießen wir nicht Meinungsfreiheit und dürfen meinen, was wir wollen? Was fällt diesem Autor ein, darüber zu urteilen, welche Meinungen fundiert sind und welche nicht?

Ich bin mir ziemlich sicher: Das tun Sie auch. Stellen Sie sich vor, ein Freund sagt Ihnen, er finde es schade, dass Martina wegzieht – obwohl Martina das gar nicht vorhat. Wie fundiert ist dann seine Meinung über Martinas Umzugspläne? Nicht sehr. Bei aller Liebe zur Meinungsfreiheit.

Wenn wir uns eine Meinung auf der Basis von Unsinn bilden, zum Beispiel anhand von Fehlannahmen, ist diese Meinung kaum fundiert. Wir dürfen sie natürlich vertreten, aber möglicherweise ist sie dann eben nicht unbedingt sinnvoll.

Und damit sind wir schon bei einer Hauptprämisse dieses Buches: Allem, was wir meinen, liegt irgendeine Sachlage zugrunde. Wenn wir Martinas Wegzug schade finden (unsere Meinung), liegt dem zugrunde, dass Martina wegziehen will (die Sachlage). Hat Martina das gar nicht vor, ist die Meinung, das sei schade, eine Meinung mit falschem »Tatsachenkern«, wie es Juristen nennen. Die Meinung beruht auf einer Fehlannahme.

Insofern sind zutreffende Informationen die Basis für jede Meinungsbildung. Wollen Sie sich Ihre Meinungen auf der Basis von Denkfehlern und Irrtümern bilden? Ich kenne niemanden, der das will. Zugleich fürchte ich, dass immer mehr Menschen genau das tun: Viele Meinungen beruhen auf äußerst wackeligen Annahmen, andere auf Unwahrheiten.

In jedem Fall also sollten die Informationen, die uns zur Meinungsbildung dienen, stimmen. Deshalb sollten wir uns zuerst mit der Frage befassen, was eine gesicherte Erkenntnis ist – nicht, dass wir an Unsinn glauben. Dazu betrachten wir, welchen Informationen und Meinungen wir so ausgesetzt sind, gerade in der öffentlichen Kommunikation. Wie gehen wir damit um? Und danach setzen wir uns mit der Frage auseinander, wie wir uns eine fundierte Meinung zu den gesicherten Informationen bilden, die uns vorliegen.

Medienkompetenz und Informationskompetenz

Derzeit ist viel zu lesen über Medienkompetenz und darüber, dass Jugendliche in den Social MediaFake News erkennen sollen – und wie seriös welche Kanäle sind.

»Medienkompetenz« umfasst nach Dieter Baacke die Medienkritik, die Medienkunde, die Mediennutzung und die Mediengestaltung. Ralf T. Kreutzer, Professor für Marketing, definiert »Medienkompetenz« im Gabler-Wirtschaftslexikon so: »Medienkompetenz beschreibt die Fähigkeit, sowohl die verschiedenen Medienkanäle als auch deren Inhalte kompetent und vor allem kritisch zu nutzen sowie mit und in diesen Kanälen zu agieren.« Für ihn setzt sich Medienkompetenz aus vier Elementen zusammen:

Sachkompetenz – das Wissen über die Medien,

Selbstreflexionskompetenz – die Fähigkeit, das eigene Mediennutzungsverhalten zu analysieren,

Rezeptionskompetenz – die Fähigkeit, Medien kritisch zu nutzen,

Partizipationskompetenz – die Fähigkeit, Inhalte für Medien zu gestalten.

2

Das sind alles erstrebenswerte Kompetenzen. Wobei ich mich hier nur auf einen Teilbereich konzentrieren will: auf den Umgang mit Informationen an sich. Dabei spielen viele weitere Aspekte eine Rolle:

Wie erkennen wir, was wahr ist und was falsch? Und zwar, ohne uns beirren zu lassen von Menschen, die behaupten, die gesamte Realität sei subjektiv oder relativ?

Was bedeutet das, was wir lesen oder hören? Und was bedeutet es nicht? In welchen Kontext gehört etwas? Was lässt sich daraus ableiten, was nicht?

Wie gelangen wir überhaupt zu Erkenntnissen? Ist wahr, was wir für plausibel halten oder was in unser Weltbild passt? Und woran erkennen wir, dass wir uns irren?

Welchen Denkfehlern unterliegen Menschen immer wieder?

Welche Denkfehler nutzen Manipulatoren, um uns in ihrem Sinne zu beeinflussen? Wie gelingt Einflüsterung und wie schützen wir uns davor?

Weshalb glauben so viele Menschen an irgendwelche Verschwörungsmythen?

Wie bilden wir uns eine fundierte Meinung?

Medienkompetenz ist fraglos wichtig. Nur geht es dabei meines Erachtens nicht nur um Jugendliche und Social Media. Es geht um die Breite unserer Gesellschaft, in der viele Menschen ohne publizistisches Wissen bei Facebook & Co. Fake News verbreiten, nur weil sie ihnen plausibel erscheinen und ihre Vorstellungen bestätigen.

Daher möchte ich hier einen neuen Begriff vorschlagen: Wir brauchen nicht nur Medienkompetenz, sondern vor allem auch »Informationskompetenz«. Damit meine ich die Fähigkeit, mit Informationen professionell umzugehen – sie treffend einzuordnen und kritisch zu hinterfragen. Stimmt überhaupt, was wir lesen und hören?

Wir alle sind Sender und brauchen publizistisches Handwerk

Gerade weil wir alle inzwischen nicht mehr nur Medienkonsumenten sind, sondern längst auch Multiplikatoren und Sender, ist die Einordnung von Informationen eine Schlüsselkompetenz. Wir senden Blogbeiträge, Podcasts, Facebook-Postings, TikTok-Beiträge und Tweets. Wir teilen auch Beiträge anderer, möglicherweise ohne einschätzen zu können, ob wir Unsinn multiplizieren.

Dass alle senden können, ist prinzipiell eine feine Sache im Sinne einer demokratischen Gesellschaft. Der sogenannte Gatekeeper ist ein wenig in den Hintergrund geraten – der »Torhüter«, der bestimmt, welche Informationen das Licht der Öffentlichkeit erblicken und welche nicht, beispielsweise in Gestalt einer Leserbriefredaktion. Redaktionen erfüllen zwar nach wie vor eine Gatekeeper-Funktion – sowohl die klassischen als auch die »alternativen Medien« entscheiden, was sie bringen und was nicht –, aber grundsätzlich können wir alle heute sofort ein Blog aufsetzen und mit dem Publizieren anfangen. In unserem Blog sind wir der Gatekeeper.

Die Kehrseite dieser Medaille ist eine unfassbare Inflation an Falschinformationen im Internet, auf die wir möglicherweise hereinfallen. Wie können wir ausschließen, Unsinn zu teilen? Wie erkennen wir Desinformation und Propaganda?

Und hier sind wir beim Handwerk der öffentlichen Kommunikation. Dieses Handwerk ist für meine Begriffe entscheidend. Im Grunde brauchen wir alle heute das Know-how der Publizistik. Denn der Glaube an Unsinn und die daraus folgende Meinungsbildung nehmen inzwischen Ausmaße an, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung gefährden können. Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung vom Februar 2024 halten inzwischen 84 Prozent der Menschen vorsätzlich verbreitete Falschinformationen für ein großes oder sehr großes Problem, 81 Prozent sehen darin eine Gefahr für die Demokratie.3

»Schweigespirale«: Wenn die Minderheit zur Mehrheit wird

Vor der Revolution des Internets war die Kommunikation der meisten Menschen aufs Private begrenzt. Und was im Privaten läuft, spielt in der öffentlichen Wahrnehmung kaum eine Rolle. Millionenfaches Geschimpfe an Stammtischen blieb über Jahrhunderte ohne Belang, weil jeden einzelnen diffamierenden Spruch nur fünf Leute hörten. Heute verbreitet der Stammtisch seine Inhalte auf zahlreichen Kanälen öffentlich, und die Millionen finden zueinander und vernetzen sich. Und: Die Äußerungen bleiben dokumentiert, als Texte, in Fotos und Videos, und zwar ebenfalls nicht privat, sondern öffentlich.

Anders als beim klassischen Stammtisch, bei dem das Schimpfen mit der Sperrstunde endet und beim nächsten Frühschoppen von Neuem beginnt, knüpfen die Verbreiter von Falschinformationen und auch Hassbotschaften an ihre bisherigen Veröffentlichungen an und bauen darauf auf. Es entsteht der Eindruck einer breiten Bewegung.

Der Effekt erinnert an das Konzept der »Schweigespirale« der Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann: Danach wird eine laute Minderheit irgendwann durch Opportunitätsdruck zur Mehrheit, weil die Leute die Minderheit wegen deren Lautstärke als Mehrheit wahrnehmen und sich gerne der Mehrheit anschließen.4

Nun spricht generell nichts dagegen, dass eine Gruppe sich vergrößert und Mehrheiten gewinnt – das ist der Wesenskern der Demokratie, in der die Mehrheit entscheidet. Nur: Wenn sich eine Gruppe durch Falschbehauptungen und Diffamierungen zur Mehrheit emporarbeitet, sprechen wir von Demokratiegefährdung. Denn wenn diese Gruppe dann die Öffentlichkeit systematisch mit Falschbehauptungen versorgt und die Menschen daran glauben, bildet sich irgendwann niemand mehr eine fundierte Meinung. Wie wir wissen, gibt es solche Regime: Dort gibt es massive Eingriffe in die Meinungsfreiheit, und die Bevölkerung als Opfer ständiger Desinformation ist schlicht nicht im Bilde über die wahren Verhältnisse.

Meinungsbildung anhand von Halbwahrheiten und Lügen

Derzeit sind zahlreiche Agitatoren im Begriff, unsere Gesellschaft mit Unsinn zu füttern und damit politisch handlungsunfähig zu machen. Mit dieser Propaganda verwandt sind interessanterweise die vielen Verschwörungsmythen, die uns derzeit begegnen, so sinnlos sie dem aufgeklärten westlichen Menschen auch erscheinen mögen. Am Ende bilden sich immer mehr Menschen ihre Meinungen anhand einer kruden Mischung aus Halbwahrheiten, Lügen, Verdrehungen, Gerüchten und Verschwörungslegenden.

Insofern ist es heute zentral, dass wir Behauptungen und auch Meinungen professionell betrachten. Wir brauchen die Fähigkeit, Desinformation schnell zu identifizieren – als Gesellschaft, um die Destabilisierung zu stoppen, und als Einzelne, damit wir individuell qualifiziert mitreden können.

Der Kern der Informationskompetenz ist die Fähigkeit, Äußerungen verschiedener Qualität zu differenzieren. Und darum soll es in diesem Buch gehen: Tatsachen, Vermutungen, Meinungen, Perspektiven, Belege, Überzeugungen, Argumente, Unwahrheiten, Lügen, Irrtümer, Denkfehler, Desinformation, Gerüchte, Behauptungen, Andeutungen, seriöse und unseriöse Quellen, qualifizierte und unqualifizierte Äußerungen, Wahrheit, Plausibilität, Propaganda – und so weiter. Wären die Kenntnisse zur öffentlichen Kommunikation in der Bevölkerung stärker repräsentiert, hätten Lügner und Demagogen kein so leichtes Spiel.

Kapitel1»Aber es könnte doch sein …« Was stimmt und was nicht stimmt

Wie kommen wir zu gesicherten Erkenntnissen? Was ist eine Tatsache? Was ist eine Vermutung? Diese Gedanken sind elementar, weil sie für jede Art von Meinungsbildung die Basis bilden. In diesem Kapitel sprechen wir über Erkenntnisgewinn nach wissenschaftlichen Maßstäben und darüber, warum das gar nicht so kompliziert ist. Und: Wenn zwei Menschen einander widersprechen, wer trägt dann die Beweislast? Dafür gibt es im aufgeklärten westlichen Denken klare Richtlinien. Wenn wir sie beachten, kommen wir mit höherer Wahrscheinlichkeit der Wahrheit auf die Spur. Wobei sich natürlich auch die Frage stellt: Was ist eigentlich »wahr«? Und: Stimmt es eigentlich wirklich, dass zwischen Erde und Mars eine kleine Teekanne um die Sonne kreist?

Wissen wir etwas oder glauben wir es nur?

Quiz 1:

Welche der folgenden Aussagen beinhalten gesicherte Erkenntnisse?

Die Künstliche Intelligenz (KI) wird bald die menschliche Intelligenz übertreffen.

Die Erde kreist um die Sonne.

Bakterien machen krank.

Reiche Menschen sind charakterlos.

Rauchen ist ungesund.

Auflösung am Ende des Kapitels.

Gab es König Artus? Schwer zu sagen. Wir wissen nicht, ob es König Artus gab, wir können es bestenfalls glauben. Er gilt als Sagengestalt und könnte zugleich gelebt haben. Wir können es also vermuten. Wir können auch davon überzeugt sein. Doch das alles sagt auch: Wir wissen es nicht.

Und gab es Ludwig XIV. (1638–1715)? Ja, den gab es. Wir haben ihn zwar nicht getroffen, aber wir verlassen uns auf die Geschichtsschreibung. Und danach ist die Existenz von Ludwig XIV. eine gesicherte Erkenntnis.

»Glauben heißt nicht wissen« – dieser Satz ist einer der wichtigsten Sätze, die ich aus der Schule mitgenommen habe, und zwar aus dem Munde meines inzwischen verstorbenen Geschichtslehrers. Auch dieser Geschichtslehrer hat Ludwig XIV. nie getroffen. Aber er kannte das Prinzip der Geschichtsschreibung, bei der wir die Existenz von Personen und Ereignissen in Chroniken finden und in Berichten, die unabhängig voneinander entstehen. Historiker halten fest, was war und was ist. Sie sichern diese Informationen als Wissen. Seriöse Historiker verdrehen dabei nichts und geben auch keine Vermutungen als Fakten aus.

Zugleich lassen wir Menschen uns oft von dem leiten, was wir glauben. Oft halten wir Annahmen für gesichertes Wissen. Wir vermuten etwas und bilden uns auf dieser Basis unsere Meinungen und treffen Entscheidungen. Zum Beispiel fragen wir unseren Partner entgeistert, wieso er das Gartentürchen offen gelassen hat, dabei hat er das gar nicht getan. Das alte Kastenschloss ist einfach marode und das Türchen ging im Wind von allein auf. Wir unterstellen einfach, dass er es war, und er darf dann erklären, warum er es nicht war. Unfair eigentlich, denn sollten nicht eher wir darlegen, warum er es war? Schließlich stellen wir die Behauptung auf.

Ich schreibe dieses Buch in einer Zeit, in der eine Flut von Falschinformationen über uns hereinbricht. Auf dem Bildschirm sehe ich gerade das Fake-Foto mit den meterhoch gestapelten Heuballen vor dem Eiffelturm, das uns weismachen soll, so sähen die Bauernproteste in Paris aus. Auf X (früher Twitter) erzählen uns zahlreiche User, dass die »Mainstream«-Medien diese Wahrheit angeblich verschweigen.5

Auf solche Fakes fallen nicht nur Leute herein, die sich leicht für dumm verkaufen lassen. Es ist tatsächlich ein Handwerk, die Qualität von Informationen einzuschätzen. Wem dieses Handwerk fehlt, ist gefährdet.

Uns begegnen zahlreiche Falschinformationen – Behauptungen, Vermutungen, Gerüchte, wilde Erklärungen für angeblich Unerklärliches und auch Manipulationsversuche und Verschwörungserzählungen. Wie ordnen wir das alles ein, was wir da »erfahren«? Wie erkennen wir, was stimmt und was nicht?

Womit wir gleich zu einer Spitzfindigkeit kommen, nämlich dem Wort »erfahren«. Ist das, was wir »erfahren«, eine »Erfahrung«? Nein, natürlich nicht. Etwas zu »erfahren« ist etwas anderes als eine »Erfahrung«. Unsere »Erfahrungen« sind das, was wir erleben und erlebt haben – wir waren Zeugen und können das Erlebte in aller Regel als zuverlässiges Wissen abspeichern. Wenn wir also selbst erleben, dass das Auto nicht anspringt, können wir das sicher behaupten.

Nun weiß ich auch, dass wir uns täuschen können und dass uns die Erinnerung Streiche spielen kann. Deswegen gehören aber nicht alle unsere Erfahrungen ins Reich der Legenden. Am Ende haben die allermeisten Menschen ihr Leben vor allem deswegen im Griff, weil sie sich darauf verlassen können, dass stimmt, was sie erleben. Ist unsere Wahrnehmung nicht gestört, können wir die Wirklichkeit beobachten und Feststellungen treffen. So, wie wir das täglich tun, in der Küche, bei der Arbeit. Erkenntnis durch eigenes Erleben ist selten das Problem.

Das Problem liegt eher bei dem, was wir »erfahren«. Das sind die Informationen, die wir nicht selbst ermitteln, indem wir etwas direkt erleben, sondern diese Informationen trägt uns jemand zu. Wir erhalten diese Informationen indirekt, über Bande.

Unsere Meinungen bilden wir uns aufgrund von beidem: Unsere Erfahrung spielt eine Rolle, und was wir von Freunden hören oder bei Instagram lesen, spielt ebenfalls eine Rolle. Das mag banal klingen, ist aber wichtig: Am Ende bilden wir uns unsere Gewissheiten aufgrund dessen, was wir erleben, und aufgrund dessen, was wir erfahren.

Die Ehrlichkeitsvermutung

Was tun wir, wenn wir eine Information erhalten? Erfahren wir etwas, dann wissen wir erst einmal nicht, ob die Information stimmt.

»Michael Jackson ist tot«, erzählte mir ein Freund Ende Juni 2009 am Telefon. Ich weiß nicht, wie das bei Ihnen ist, aber ich glaube Menschen erst einmal, was sie sagen. Ich lasse erst mal gelten, was ich höre. Ich übernehme nicht sofort jede Meinung, aber ich akzeptiere, dass jemand denkt, wie er denkt. Und wenn mir jemand etwas sagt, was ich niemals für möglich gehalten hätte, bin ich ebenfalls erst einmal geneigt, diese neue Information zumindest einmal zur Kenntnis zu nehmen und nicht sofort anzuzweifeln.

»Ehrlichkeitsvermutung« nennen das die Kognitionspsychologen Daniel Simons und Christopher Chabris in ihrem Buch »Lass dich nicht täuschen«. Freie Gesellschaften brauchen diese Ehrlichkeitsvermutung für die öffentliche Debatte, die die Gesellschaft weiterbringt.

In den westlichen Gesellschaften ist es eine soziale Konvention, dass wir einander grundsätzlich glauben.

Dass Michael Jackson mit nur 50 Jahren sterben würde, hatte ich nicht erwartet. Ich erhielt die Nachricht von einem Freund. Da dieser Freund mit dem Tod normalerweise keine Späße treibt, glaubte ich ihm. Ohne ihm zu misstrauen, habe ich die Information über die Nachrichten verifiziert.

Von den Terroranschlägen am 11. September 2001 habe ich im Autoradio auf einem öffentlich-rechtlichen Sender gehört. Es gab für mich keinen Grund, an der Information zu zweifeln. Ich habe etwas Unglaubliches geglaubt, obwohl ich nicht dabei war. Aber die Quelle war eben seriös, und so hatte ich eine zuverlässige Information bekommen.

Diese Dinge habe ich nicht deswegen geglaubt, weil ich sie für möglich hielt – und auch nicht, weil ich sie mir vorstellen konnte. Ich habe sie geglaubt, weil ich keinen Grund hatte, den Radiosender oder einen guten Freund als unseriöse Quellen anzusehen.

Aber: Nur weil ich etwas für möglich halte oder es mir vorstellen kann, halte ich es deswegen nicht für wahr. Natürlich halte ich es für möglich und kann es mir grundsätzlich vorstellen, dass die USA unter Präsident John F. Kennedy (1917–1963) die Mondlandung inszeniert haben. Aber trotzdem halte ich die Behauptung für Unsinn. Was die Befürworter an »Belegen« dafür anführen, sind Verdachtsmomente, die sich entkräften lassen: So hinterlässt eine Landefähre auf dem Mond beispielsweise keinen Krater, weil der Mond keinen »durch Wind, Wasser, Pflanzen, Tiere und Mikroorganismen geformten Mutterboden« kennt, worauf Holm Gero Hümmler hinweist. Es ist ein Felsboden. Dass auf den Mondfotos keine Sterne im Hintergrund zu sehen sind, erklärt sich durch die Einstellungen des Objektivs.6

Also: Unmöglich wäre der Fake nicht; eine Regierung könnte so etwas tun. Vorstellbar ist es auch, schließlich sind Inszenierungen kein Hexenwerk und kommen durchaus vor. Aber deswegen folge ich dieser Theorie nicht. Wenn sich die angeblichen Belege als haltloses Stochern im Nebel entpuppen, ist auch jede Ehrlichkeitsvermutung fehl am Platz.

Anders als bei einem Radiosender oder bei meinem erwähnten Freund zweifle ich bei Verschwörungsgläubigen an der Absenderkompetenz. Warum? Weil Verschwörungsgläubige an Gerüchte glauben und weil sie uns Verdachtsmomente als Belege unterjubeln wollen. Wer bitte ist ernsthaft von Spekulationen überzeugt? Da ist Vorsicht geboten.

Wo genau wir uns zwischen den Polen »extremes Misstrauen« und »extreme Gutgläubigkeit« ansiedeln, hängt also immer auch davon ab, wie geordnet die Menschen denken können, denen wir zuhören, und wie sie sich ihre Gewissheiten bilden.

Wenn Prämissen unsere Wahrnehmung beeinflussen

Stellen Sie sich vor, Sie schauen durch eine Kamera, auf deren Objektiv Sie einen Rotfilter aufgesetzt haben. Was sehen Sie? Einmal ist natürlich alles rot, klar. Aber zugleich ist das, was tatsächlich rot ist, nicht mehr sichtbar. Es ist maskiert, weil es im gesamten Rot untergeht. So hat man in der klassischen Schwarz-Weiß-Fotografie unschöne Rötungen der Haut weggezaubert. Wenn alles rot ist, ist nichts mehr rot. Wenn Sie so wollen, ist das eine beabsichtigte Wahrnehmungsstörung: Der Kontrast ist weg, durch den wir Dinge erkennen.

Im übertragenen Sinne tragen wir jede Menge Brillen mit farbigen Gläsern, die unsere Wahrnehmung filtern. Ich nenne diese Filter »Prämissen« – sie verkörpern sozusagen die Bedingungen, unter denen wir etwas betrachten. Das kann unsere kulturelle Prägung sein oder unsere Art zu denken. Beim Stichwort »Verkehrsunfall« denken Polizeibeamte, Kfz-Mechatroniker und Verkehrsrechtler an unterschiedliche Dinge. Wer davon überzeugt ist, dass ihn alle beobachten, wird möglicherweise allen misstrauen. Wer glaubt, ein großer Finanzcrash stehe bevor, bunkert vielleicht Vorräte für Jahrzehnte.

Durch gedankliche Filter lassen wir oft nur Inhalte zu, von denen wir ohnehin schon überzeugt sind.

Eine Prämisse ist also das, was unser Denken bestimmt. Wenn wir nun Gedanken entwickeln, dann ordnen sich diese Gedanken in aller Regel unseren Prämissen unter. Denn die Prämissen geben den Rahmen vor. Alles, was wir denken und entscheiden, findet unter diesen Prämissen statt.

Eine Prämisse kann eine Behauptung sein wie »Reiche Menschen sind durch Ausbeutung zu ihrem Reichtum gekommen« oder eben auch eine Meinung wie »Ich führe mein Leben richtig und alle anderen leben falsch«. Oft genug bilden sich Menschen dann auf der Basis kurioser Annahmen (»Die Regierung ist Teil einer Verschwörung«) Meinungen, die dann erstaunlich felsenfest sind (»Wir müssen Politik und Medien misstrauen«).

Neben der Färbung unserer Wahrnehmung durch derartige »Brillen« gibt es dann noch das Phänomen der selektiven Wirklichkeit: Wir nehmen nur wahr, was wir wahrnehmen wollen oder sollen und blenden alles andere aus. So entstehen Betriebsblindheit und Fachidiotie; und oft auch Arroganz, weil wir unsere Maßstäbe auf andere anwenden und deren Belange ignorieren.

Wobei es normal ist, Dinge auszublenden: Wir konzentrieren uns auf das, was für uns relevant ist und wofür wir uns interessieren. Wer das kulturelle Leben seiner Stadt ausblendet, lebt deswegen nicht in einer Scheinwelt – er interessiert sich nur nicht dafür. In einer Scheinwelt leben wir, wenn wir Dinge ausblenden, die für unser Leben und Denken maßgeblich sind, beispielsweise entscheidende Informationen. Wenn wir Tatsachen ignorieren, die uns zu anderen Gewissheiten und Meinungen führen würden, haben wir es nicht mehr mit einer sinnvollen Informationsauswahl zu tun.

In einer Scheinwelt leben wir auch, wenn wir uns selektiv an unzutreffende Annahmen halten, die wir für Fakten halten, weil sie unsere Prämisse bestätigen – und zugleich alles ignorieren, was dagegenspricht.

In einer Scheinwelt leben wir nicht, wenn wir irrelevante Informationen ausblenden, sondern wenn wir relevante Informationen ausblenden.

Andere Prämissen sind Logiken: beispielsweise die Eigenart, vage Hinweise als Beweise zu bezeichnen. Vielleicht weil wir es nie anders gelernt haben.

Kurz: Prämissen können bewirken, dass wir an Unsinn glauben und uns anhand von Unsinn eine Meinung bilden. Und weil wir es nicht merken, wenn unsere Prämissen falsch sind, erscheinen uns unsere Ansichten völlig normal.

Ist Wahrheit subjektiv oder relativ?

Bei manchen Menschen regt sich hier Widerspruch. Wie können Prämissen falsch sein? Wie kann »nicht stimmen«, woran wir glauben? Der Widerspruch regt sich, wenn Menschen die Wirklichkeit und vor allem auch die Wahrheit für subjektiv oder auch für relativ halten. Denn: Haben wir nicht alle einen anderen Blickwinkel auf die Welt?

Der Gedanke der »subjektiven Wirklichkeit« ist ein Grundgedanke in den Sozial- und Geisteswissenschaften. Wichtige Befürworter der Strömung, wonach die Wirklichkeit subjektiv ist, waren beispielsweise der Systemtheoretiker Niklas Luhmann (1927–1998) und der Vertreter des »Radikalen Konstruktivismus« Paul Watzlawick (1921–2007). Grob gesagt konstruieren wir unsere Wirklichkeit gemäß dem »Radikalen Konstruktivismus« selbst. Doch ob Watzlawick seine Steuerbescheide als »subjektive Wirklichkeit« irgendwelcher Finanzbeamten zurückgewiesen hat? Ich schätze: nicht.

Und was ist, wenn es regnet? Sie und ich sind in derselben Straße, Sie sind im Haus und ich sitze draußen im Auto. Sie sehen den Regen durchs Fenster und freuen sich, dass Sie heute den Garten nicht gießen müssen. Ich denke an den Bremsweg meiner Reifen. Dass wir die Wirklichkeit unterschiedlich erleben, mag stimmen, und dieses unterschiedliche Erleben können wir als »subjektive Wirklichkeit« bezeichnen. Aber dass es regnet, bestätigen wir doch beide, oder? Ist der Regen also nicht eine objektive Realität?

Apropos Auto: Haben Sie eine Fahrerlaubnis? Dann bewegen Sie sich offenbar souverän in der objektiven Wirklichkeit. Sonst wären Sie vermutlich durch die Fahrprüfung gefallen. Gut, dass Sie die objektive Wirklichkeit erkennen und darauf reagieren. Sonst wäre Ihre Teilnahme am Straßenverkehr ein Risiko für alle.

Mir ist es sehr wichtig, von einer objektiven Wirklichkeit auszugehen. Wir ordnen diese objektive Wirklichkeit subjektiv ein und blenden möglicherweise auch mal etwas aus. Wir schauen durch unsere farbigen Brillengläser und erkennen deshalb verschiedene Dinge vielleicht nicht. Aber, wie Dieter Lange sagt, Weltreisender und spiritueller Coach: Auch wenn wir durch blaue Brillengläser auf eine Zitrone schauen – die Zitrone wird nicht grün. Sie ist und bleibt gelb.

Kennen Sie die alte philosophische Frage, ob der Baum im Wald umfällt, wenn wir es nicht sehen? Die Subjektivisten sagen, wir konstruieren diesen Vorfall als Realität. Na ja. Ob der Baum fällt, soll von mir abhängen? Ist meine Wahrnehmung so wichtig? Demnach wäre die Verschmutzung des Weltalls nicht real, nur weil wir sie nicht sehen. Das fände ich schon etwas ignorant. Demnach gibt es auch keine Radioaktivität, denn für sie haben wir keinen Sinn. Trotzdem entsteht plötzlich Krebs. Oder haben Sie schon einmal einen Todesfall erlebt? Mit dem Tod des Menschen endete seine »subjektive« Wirklichkeit, aber die Welt dreht sich weiter.

Den »Wahrheitsrelativismus«, bei dem wir die Wahrheit als eine Frage der Meinung oder auch des Gefühls ansehen, halte ich in einem Buch über Erkenntnisgewinn und Meinungsbildung für wenig pragmatisch. Denn es gibt durchaus eine objektive Wirklichkeit: Juristen sprechen von »objektiven Tatbeständen«. Ärzte diagnostizieren realen Krebs, Zahnärzte behandeln tatsächlich vorhandene Zahnfleischentzündungen. Naturwissenschaftler weisen objektiv Spuren von Quecksilber im Wasser nach. Auch für Historiker ist der Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 nicht subjektiv oder relativ, sondern Fakt.

Was ist Wirklichkeit? Was ist Wahrheit?

Wirklichkeit und Wahrheit sind am Ende ganz einfache Dinge. Fast die ganze westliche Welt hält sich bei der Definition der Wirklichkeit an Ludwig Wittgenstein (1889–1951), der die objektive Wirklichkeit die »Gesamtheit aller Tatsachen« nennt. Diese Realität umgibt uns alle. Dazu gehören Erlebtes und Erfahrenes.

Die Wirklichkeit besteht nach Wittgenstein aus den uns umgebenden Tatsachen.

In der Praxis halten wir uns außerdem an folgende Unterscheidung:

»Wirklichkeit« bedeutet, dass es etwas gibt. »Wirklich« ist im Sinne Wittgensteins, was tatsächlich existiert oder geschieht, und zwar unabhängig davon, was wir wahrnehmen oder denken.

»Wahrheit« bedeutet, dass eine Behauptung über die Wirklichkeit zutrifft.

Würden wir die Wirklichkeit selbst erschaffen, würde eine unwahre Behauptung über die Wirklichkeit die Wirklichkeit verändern. Das tut sie aber nicht. Wir liegen einfach nur falsch.

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EXKURS: Der Wahrheitsrelativismus und warum er uns beim Erkenntnisgewinn nicht weiterbringt.

Die Sachlage kennt nur zwei Zustände

Was wir hier gerade machen, ist die Basis dessen, was wir zur Meinungsbildung brauchen. Es klingt vielleicht einfach, ist aber wichtig. Zum Beispiel die Feststellung, dass bei der Frage nach Erkenntnissen letztlich nur zwei Zustände zählen:

Entweder trifft etwas zu

oder es trifft nicht zu.

Es gibt dabei keine Zwischentöne oder Kompromisse. Es mag sein, dass von zwei gemeinsam geäußerten Behauptungen eine zutrifft und die andere nicht (»Die Sonne wärmt die Erde, die um den Mars kreist«), aber dann haben wir es eben nicht mit nur einer Behauptung zu tun, sondern mit zweien. Die sollten wir auseinanderhalten.

Wir sollten zwischen »Sachlage« und »Kenntnis der Sachlage« unterscheiden.

Diese Art von »geordnetem Denken« beherrschen die meisten von uns auch, denn die meisten bekommen ihren Alltag gemeistert. Da jonglieren wir eine Menge Dinge und Informationen und entscheiden oft auch auf der Basis unbekannter Variablen.

Zunächst also ist etwas Fakt oder eben nicht. Was unsere Kenntnis der Dinge betrifft, gibt es ebenfalls nur zwei Zustände:

Entweder wissen wir etwas – dann haben wir es mit Fakten zu tun, also mit gesicherten Informationen.

Oder wir wissen es nicht – dann sind wir bei den Vermutungen und Annahmen, wissenschaftlich formuliert: bei den Hypothesen. Diese sind erst noch zu bestätigen oder zu widerlegen.

Auch dazwischen gibt es im Grunde keine Grauzone. Wenn wir etwas ahnen oder vermuten, wissen wir es nicht. Wir sind im Bereich der Annahmen. Stellen Sie sich beispielsweise vor, jemand hat Ihren Autoreifen aufgestochen und Sie verdächtigen Ihren Nachbarn. Sie sind sich ganz sicher. Denn schließlich gibt es mit dem Mann immer wieder Streit. Mit niemandem haben Sie so viel Ärger wie mit ihm. Außerdem haben Sie kürzlich sein Kind vom Spielplatz verjagt. Entsprechend können Sie sich vorstellen, dass er es war. Zu Hause entspinnt sich der folgende Dialog:

»Bist du dir wirklich sicher, dass der Nachbar den Autoreifen aufgestochen hat?«

»Wer soll es denn sonst gewesen sein?«

Hier wird klar: Oft halten wir Dinge für »sicher«, die reine Mutmaßungen sind. Das kann gefährlich sein, wenn wir mit dem Verdacht zur Polizei marschieren. Eine Anzeige wegen falscher Verdächtigung (§ 164 StGB) ist kein Spaß.

Unter dem Strich jedenfalls bilden sich Menschen ihre Meinungen anhand dessen, was sie zu wissen glauben, und seien es Falschinformationen.

Auch wenn wir etwas von jemandem erfahren, haben wir es zunächst mit Nichtwissen zu tun. Wir wissen nur, dass jemand etwas sagt. Aber ob stimmt, was er sagt, wissen wir zunächst einmal nicht. Erst wenn wir es gesichert wissen, können wir sagen, dass es zutrifft.

Das gilt vor allem für Dinge, die wir hören oder lesen. Nur was wir selbst durch Erfahrungen erleben, können wir als gesicherte Erkenntnis festhalten: Wir erleben selbst, dass Mittwoch ist, dass der Paketdienst ein Päckchen geliefert hat, dass das Benzin mal wieder teurer geworden ist. Diese Dinge stellen wir dann fest. Eine Feststellung ist im Grunde eine Behauptung über eine Sachlage uns selbst gegenüber. Wir sagen uns selbst, dass etwas Tatsache ist.

Alles außerhalb dieser Erfahrung sehen, hören und lesen wir vermittelt, wir »erfahren« es also nicht von der Wirklichkeit selbst, sondern indirekt – jemand sagt uns etwas, wir lesen etwas, wir belauschen ein Gespräch. Anders als direkt Erfahrenes können wir indirekt Erfahrenes naturgemäß zunächst nicht sicher wissen.

Wie nun können wir klären, ob stimmt, was wir glauben? Damit wir nicht an Unsinn glauben, brauchen wir eine Sicherheitsschleife namens Verifikation. Was wir selbst erlebt haben, müssen wir – zumindest für unsere eigene Erkenntnis – nicht verifizieren, denn wir haben es ja erlebt. Allerdings sollten wir es möglicherweise belegen, wenn wir die Information weitergeben. In jedem Fall sollten wir verifizieren, was wir indirekt erfahren.

Wissen oder glauben wir?

Wir sehen also den Preis an der Tankstelle und sagen nicht: »Vermutlich ist das Benzin teurer geworden.« Sondern es ist teurer geworden. Und das sagen wir auch.7

»Wissen« bedeutet dabei die Gewissheit, dass eine Information stimmt. Da genügt keine hohe Wahrscheinlichkeit und auch nicht, dass sich die Behauptung schlüssig anhört und wir uns etwas vorstellen können. Es geht bei der Erkenntnis nicht darum, dass wir uns etwas zusammenreimen. Es geht darum, dass etwas gesichert ist. Bevor wir etwas behaupten, sollten wir es wissen.

Wissen wir etwas nicht, gehen wir aber davon aus, dann »glauben« wir es. Wir halten eine Information für wahr, ohne zu wissen, ob sie wahr ist. Geben wir diese ungesicherte Information weiter, kennzeichnen wir sie als Hypothese oder Annahme, aber geben sie nicht als Fakt aus.

So gehen gläubige Menschen davon aus, dass es einen Gott gibt. Sie haben keinen Gottesbeweis. Sie vermuten auch nicht, dass es einen Gott gibt, sondern sie sind sich sicher. Obwohl sie es nicht wissen. Sie sind davon überzeugt. Also glauben sie.

Zu wissen, dass wir etwas nur vermuten, ist eine wirklich wichtige Schlüsselkompetenz im Umgang mit Informationen: Wir sollten Vermutungen von Tatsachen unterscheiden und uns darüber bewusst sein, dass unsere Annahmen Annahmen sind.

Glaubt man uns unser Wissen?

Etwas völlig anderes ist dann die Kommunikation über dieses Wissen und unsere Annahmen. Wenn wir sagen, was wir wissen, mag es für uns selbst eine gesicherte Erkenntnis sein – für andere ist es erst einmal nur eine Behauptung. Und schon unterscheiden sich die Gewissheiten. Gläubige sprechen innerhalb ihrer Gemeinde ganz selbstverständlich von Gott, außerhalb müssen sie erst einmal deutlich machen, dass sie an Gott glauben.

Nehmen wir also an, Sie wissen gesichert, dass Ihr Nachbar Ihren Autoreifen aufgestochen hat. Sie haben es gesehen. Auch können Sie einen Doppelgänger ausschließen, weil der Nachbar keinen Zwillingsbruder hat und nach der Tat mit seinem Haustürschlüssel in sein Haus gegangen ist. Da sind Sie also ganz sicher.

Wenn wir etwas wissen, haben wir eine gesicherte Erkenntnis. Wenn wir annehmen, etwas zu wissen, können wir uns allerdings irren.

Trotzdem ist die Äußerung aus Sicht der Polizei lediglich eine Behauptung. Und wir wundern uns möglicherweise, dass man uns nicht glaubt, weil wir keine Beweise vorlegen – dabei wissen wir doch, dass stimmt, was wir sagen. Aus Sicht der Polizei ist hier aber noch gar nichts gesichert. Damit die Polizei unser Wissen als Gewissheit akzeptiert, müssen wir es sichern. Es ist ein elementares Prinzip im wissenschaftlichen Denken: Unsere Erkenntnis muss samt Beweisführung für andere nachvollziehbar sein. Das heißt, wir müssen Beweise liefern.