Skulduggery Pleasant (Band 16) - Nur Mord im Kopf - Derek Landy - E-Book

Skulduggery Pleasant (Band 16) - Nur Mord im Kopf E-Book

Derek Landy

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Beschreibung

Ein Toter Mann steht immer wieder auf! Ein Serienkiller treibt sein Unwesen in Roarhaven und Umgebung. Die Opfer sind alle Sterbliche, und auf den ersten Blick verbindet sie nichts miteinander. Skulduggery und Walküre tappen im Dunkeln, aber dann erhalten sie eine codierte Nachricht. Will der Mörder sie etwa testen? Da hat er aber nicht mit Skulduggery Pleasants beeindruckender Fähigkeit zur Deduktion gerechnet. Derweil bringt sich Walküres kleine Schwester in Position. Denn auch in diesem actiongeladenen neuen Skulduggery-Abenteuer muss mal eben die Welt gerettet werden. Die Kultserie geht weiter. Nur Mord im Kopf ist der 16. Band in Derek Landys schwarzhumoriger Urban-Fantasy-Reihe Skulduggery Pleasant.

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Seitenzahl: 523

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INHALT

Sechs Jahre später …

Es begann mit Anrufen. …

Cadence Clearwater hatte das Gefühl …

Gavin Faheys Frau hatte in dem Bemühen …

Tier deutete mit dem Kinn …

»Sie starren dich schon wieder an« …

Der vertraute Geruch von Chlor …

Walküre parkte …

Winter scrollte durch ihr Handy …

»Noch zwölf«, sagte Panthea …

Fletcher brachte sie zu einem Hain …

Ersatz bewegte sich …

Während die Sensitiven versuchten …

Aphotic schickte ihnen eine Nachricht …

Skulduggerys knappe Beschreibung …

Walküre hatte Rumours Freundin …

Skulduggery wartete auf Walküre …

Winter und Mia …

»Dermot Cairns« …

Am nächsten Morgen …

Cyrus Elysian …

Sie war nicht gestorben. …

Mit jeder Stunde, …

Beim Gehen sortierte Mr Herringbone …

Walküre stand auf …

»Hey«, antwortete Winter. …

Walküre begann den Montag …

»Professor?«, fragte Skulduggery leise. …

Xena tobte am Strand  …

Walküre konnte nicht schlafen. …

Da Fletcher nicht verfügbar war …

Skulduggery und Walküre …

Es war ein sonniger Mittag in Dublin …

Die Teleportation vom nächtlichen L.A. …

Eimear lachte und runzelte …

Skulduggerys Waffe zuckte aus dem Halfter …

Es war schön …

Winter verschwand in den Büschen …

Nach Grässlichs Tod war das Schneideratelier …

Skulduggery rief den Bürgermeister an …

Walküre und Skulduggery …

Walküre pinkelte und ging …

Energie durchströmte Walküre …

Ersatz griff nach der Maske …

Nachdem Salter Suchs Arm behandelt …

Walküre klopfte an Skulduggerys Tür …

»Ich wusste, dass ihr es lösen würdet« …

Einige Kilometer östlich des Dubliner Flughafens …

Dieses Buch ist Natalie gewidmet.

Es gibt viele Geschichten, die mich an dich erinnern, Natalieeb. Zum Beispiel das eine Mal, als du den Toaster auf die Seite gedreht hast, um Käsetoast zu machen, und das Brot dann über die Arbeitsplatte geschleudert wurde und zu deiner Enttäuschung mit dem Käse nach unten auf dem Boden landete.

Oder das eine Mal, als du dir mitten in einem Nachtclub die Strumpfhose vom Leib gerissen und geschrien hast: »Ich bin der Hulk!«

Oder auch das eine Mal, als du mit deinem Freund wegen seiner »merkwürdig großen Augenlider« Schluss gemacht hast.

Du warst seltsam. Du warst laut. Du warst streitsüchtig (allerdings nie mir gegenüber). Du warst wunderbar und außergewöhnlich, und bei unserer ersten Begegnung hast du mir gleich einen Heiratsantrag gemacht. Ich habe dich sanft enttäuscht und bin ein paar Jahre später mit deiner besten Freundin zusammengekommen. Aber du hast dir deinen Liebeskummer nie anmerken lassen. Das habe ich immer bewundert.

SECHS JAHRE SPÄTER …

ES BEGANN MIT ANRUFEN.

Eine unterdrückte Nummer und eine lange, leere Stille. Wann immer Gavin versuchte, sich den Anrufer vorzustellen, sah er ihn – oder sie; seine Vorstellungskraft konnte sich nie für das Geschlecht oder das Aussehen entscheiden – einfach nur dastehen, den Kopf gesenkt. Niemals sitzend, niemals gehend – nur stehend. Er konnte es förmlich in der Stille spüren, diese Erwartung, dieses spannungsgeladene Potenzial. Als würde der Anrufer Energie sammeln … sich darauf vorbereiten, zuzuschlagen.

Er wusste nicht, wer es auf ihn abgesehen hatte oder warum. Zweifellos hatte irgendein Jugendlicher, der sich beim Videospielen langweilte oder etwas in der Art, diese Nummer wahllos eingetippt und beschlossen: »Ja, das ist die Person, die ich quälen werde.« Jugendlicher – im Singular. Nicht Jugendliche. Dies war kein lustiger Streich, den man mit Freunden spielte. Im Hintergrund war kein Kichern zu hören oder leise Stimmen in der Leitung. Nur die lange, einsame Stille.

Also tat Gavin, was jeder tun würde – er nahm keine Anrufe von unterdrückten Nummern mehr entgegen. Eine einfache Lösung, dachte er, während er zur Arbeit ging, mit seinem Hund spielte, neben seiner Frau einschlief. Er hatte wirklich Besseres zu tun, als die Anrufe irgendeines dummen Witzbolds anzunehmen. Zum Beispiel sich Gedanken über das Wasser machen. Es bereitete ihm wieder Probleme. Die Gemeindeverwaltung war zwar so hilfsbereit, wie sie nur sein konnte, aber sie erinnerte ihn auch immer wieder daran, dass sein Haus genau genommen außerhalb ihrer Zuständigkeit lag, und er merkte, dass man dort langsam genug von seinen Beschwerden hatte.

Dabei beschwerte Gavin sich nicht gern. Er hatte noch nie einen Teller an die Küche eines Restaurants zurückgeschickt und konnte sich nicht vorstellen, dass er jemals verlangen würde, sofort mit dem Geschäftsführer eines Ladens zu sprechen.

Das bedeutete allerdings nicht, dass er ein Schwächling war. Er war der Typ im Kino, der zu einem Störenfried ging und ihn höflich, aber bestimmt aufforderte, leise zu sein oder sein Handy wegzulegen. Wenn es darum ging, in Ruhe einen Film zu genießen, war Gavin durchaus bereit, Wirbel zu machen.

Als dann sein eigenes Handy klingelte, laut und unangenehm, in einem überfüllten Kino, genau in dem Moment, als der maskierte Mörder das letzte Mädchen durch das alte, mit den Leichen ihrer toten Freunde gepflasterte Haus verfolgte, war das mehr als beschämend.

Er schaltete sein Mobiltelefon immer in den Flugmodus, sobald er sich auf seinen Platz setzte. Das war sein Ritual: Er stellte sein Getränk in den Becherhalter, schob dann den Strohhalm in den Becher, schaltete den Flugmodus ein und putzte zum Schluss seine Brillengläser – ob sie es nötig hatten oder nicht.

Während sich der ganze Saal umdrehte und ihn anfunkelte, zerrte er das Handy aus seiner Hemdtasche und tippte wie wild auf dem Display herum. Aber das Ding wollte einfach keine Ruhe geben. Er versuchte es auszuschalten, machte dabei aber irgendetwas falsch, wodurch es nur noch lauter wurde. Also hastete er durch den Gang, klemmte sich das Gerät unter die Achselhöhle und stürmte durch die Tür in den stillen, mit Teppich ausgelegten Korridor.

Gavin hielt das Handy so fest umklammert, dass es ihn nicht gewundert hätte, wenn es ihm in der Hand zerbrochen wäre. Er erkannte die Nummer auf dem Display nicht, genauso wenig wie den Klingelton. Er benutzte nicht mal einen Klingelton – er hasste die verdammten Dinger und ließ sein Handy immer nur vibrieren. Dann wischte er zum Abheben über den Bildschirm und hielt sich das Gerät ans Ohr.

»Ja?«, fragte er und hasste den Anrufer jetzt schon – egal, wer es war. Als keine Antwort kam, nahm seine Wut zu. »Ja? Hallo?«

Noch immer nichts. Der Anrufer konnte zweifellos die Wut in seiner Stimme hören – aber das Ganze war nicht seine Schuld. Gavin war derjenige, der es vermasselt hatte. Er atmete tief durch und sagte dann so ruhig wie möglich: »Hallo, hier spricht Gavin Fahey.«

Der Anrufer antwortete nicht, legte aber auch nicht auf.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Gavin.

Nichts. Es war wieder dieser Scherzkeks. Er musste es sein. Nur dieses Mal hatte er seine Nummer nicht unterdrückt – was bedeutete, dass Gavin sie jetzt blockieren konnte. Er legte auf und tat genau das. Dann stellte er das Handy auf Vibrationsalarm und schob es wieder in die Tasche, bevor er den Kinosaal betrat.

Allerdings kehrte er nicht auf seinen Platz zurück. Er wollte nicht noch mehr Unruhe stiften als ohnehin schon und hatte keine Lust auf weitere wütende Blicke der anderen Kinobesucher. Außerdem war der Film fast zu Ende. Er hatte sich gerade an die Rückwand gestellt, als das letzte Mädchen den maskierten Killer erschoss, der rückwärts über das Treppengeländer kippte und in die Tiefe stürzte.

Das letzte Mädchen stieg die Treppe hinunter, den Mörder die ganze Zeit fest im Blick. Sie kannte sich aus, dieses Mädchen. Sie wusste: Wenn sie den Killer auch nur für einen Moment aus den Augen ließ, würde er verschwinden. Also ging sie die Treppe hinunter, die Waffe in den zitternden Händen, während ein dünnes Rinnsal Blut aus einem perfekten Schnitt quer über ihrem Wangenknochen lief.

Ihre Schuhe knirschten über zerbrochenes Glas, als sie sich der regungslosen Gestalt näherte. Gavin schätzte, dass sie höchstens noch zwei Kugeln übrig hatte. Das Mädchen bewegte sich vorsichtig durch den Raum und hielt sich von den Händen des Mörders fern. Langsam ging sie in die Hocke, griff nach der Maske, zog sie ab und entblößte den Schauspieler aus dieser Fernsehserie.

Hm. Normalerweise wusste Gavin immer lange im Voraus, wer der Täter in diesen Filmen war. Dieser hier hatte ihn überrascht. Das gefiel ihm.

Plötzlich riss der Mörder die Augen auf, und das letzte Mädchen zuckte zurück und drückte ab. Aber die Waffe war leer, wie sich jetzt herausstellte, und der Mörder stürzte sich auf sie, und Gavins Handy klingelte erneut.

Er wirbelte herum, stürmte aus dem Saal und entfernte sich von der Tür, die sich hinter ihm schloss. Eine weitere Nummer, die er nicht kannte. Er wischte über das Display, um das Telefonat anzunehmen.

»Ja?«, fragte er, dieses Mal richtig wütend.

Keine Antwort.

Gavin sagte nichts, beschimpfte den Scherzkeks nicht, wollte ihm nicht die Genugtuung geben, dass er ihn wieder erwischt hatte. Stattdessen legte er einfach auf, blockierte die Nummer und schaltete sein Handy erneut auf Vibrationsalarm. Morgen früh würde er herausfinden, was hier schiefgelaufen war. Aber heute Abend war er nicht in der Stimmung dazu.

Das Einkaufszentrum lag ruhig da, als Gavin zum Parkhaus ging. Es war immer eine surreale Erfahrung, ein weites Areal zu durchqueren, das eigentlich total belebt sein sollte, jetzt aber leer war. Die Schaufenster waren dunkel, die Türen verriegelt. Irgendwo in der Ferne polierte jemand den glatten Fußboden.

Er bezahlte sein Parkticket und ging dann die Treppe hinauf. Die Glastüren glitten auf, und er betrat den vierten Stock des Parkhauses. Sein Lexus – zwölf Jahre alt, silbern, in gutem Zustand, obwohl er dringend eine Wäsche brauchte – wartete ganz allein auf dem Beton. Beim Gehen hallten seine Schritte durch die Leere. Die Szene hätte aus dem Horrorfilm stammen können, dessen letzte Minuten er gerade verpasste.

Gavin war auf halbem Weg zu seinem Auto, als die Titelmelodie von Halloween aus seiner Tasche ertönte und ihn regelrecht zusammenzucken ließ.

Er holte das Handy hervor – er hatte gar nicht gewusst, dass er den Halloween-Klingelton überhaupt besaß – und wollte den Anruf beenden, ohne abzunehmen. Aber der Name seiner Frau blinkte ihm entgegen. Er atmete tief durch und setzte seinen Weg fort, bevor er das Gespräch annahm.

»Hey«, sagte er. »Ich komme gerade aus dem Kino. Mit meinem Handy stimmt irgendwas nicht, also wundere dich nicht, wenn die Verbindung plötzlich abbricht. Alles in Ordnung bei dir?«

Jessica antwortete nicht sofort.

»Hallo?«, fragte Gavin. »Kannst du mich hören? Wahrscheinlich ist der Empfang nicht so gut – ich rufe dich zurück, wenn ich unterwegs bin. Okay, Schatz?«

»Schatz«, sagte eine Stimme, die nicht seiner Frau gehörte.

Eiswasser schoss durch Gavins Adern. Er blieb stehen und blinzelte.

Irgendetwas stimmte nicht mit der Leitung – eine Verfälschung des Klangs, die ihre Stimme verzerrte, das war schon alles.

»Jessica?«, fragte er.

»Jessica«, wiederholte der Anrufer spöttisch.

Eine ganz neue Art von Angst machte sich in Gavin breit – eine Angst, wie er sie noch nie gekannt hatte, während die Möglichkeiten und die Auswirkungen dieser Möglichkeiten seine Gedanken überfluteten. Jemand hatte das Handy seiner Frau. Jemand war in diesem Moment in seinem Haus, mit dem Handy seiner Frau in der Hand, und seine Frau war … was? … verletzt? Verwundet? Tot?

»Wer ist da?«, fragte er. »Wo ist Jessica?«

»Unten«, sagte der Anrufer.

Ein Rauschen erfüllte Gavins Ohren, das ihn ins Stolpern brachte. »Tun Sie ihr nicht weh«, flüsterte er.

Der Anrufer lachte leise.

»Tun Sie meiner Frau nichts!«, schrie Gavin in das Handy. Er stürzte zum Auto, schloss es auf und sprang hinein. Dann ließ er den Motor an, und schon während er ausparkte, übernahm die Freisprechanlage den Anruf und er konnte sein Handy auf den Beifahrersitz legen.

»Du wirst es nie rechtzeitig schaffen«, sagte der Anrufer.

Gavin ignorierte die höhnische Bemerkung und rollte die erste Rampe hinunter.

Das Fahrgestell krachte gegen den Boden, und in jeder anderen Situation hätte er deshalb gequält das Gesicht verzogen – aber ein Schaden an seinem Auto war im Moment die geringste seiner Sorgen. Die Rampe machte eine Kurve und er wurde schneller und raste in den dritten Stock des Parkhauses, der genauso leer dalag wie der vierte. Gavin raste auf die nächste Rampe zu, und seine Stoßstange kratzte kreischend über die Wand, während ein Reifen gegen die niedrige Bordsteinkante prallte, und er fluchte. Doch er fuhr weiter. Solange er das Auto nicht zu Schrott fuhr, solange er nur zu Hause ankam, spielte das alles keine Rolle.

Der Wagen schoss in den zweiten Stock. Noch zwei Rampen, dann ging es durch die Schranke. Gavin lenkte mit der linken Hand und suchte in seinen Taschen nach dem Parkticket. Wo zum Teufel hatte er es hingesteckt?

»Wie lange brauchst du bis nach Hause?«, fragte der Anrufer. »Fünfzehn Minuten? Meinst du, du schaffst es in der Hälfte der Zeit, wenn du schnell genug fährst? Um diese Uhrzeit, wenn die Straßen leer sind, könntest du Glück haben. Aber es wird trotzdem nicht schnell genug sein, um deine Frau zu retten.«

»Halt die Klappe«, schnauzte Gavin. Er fand das Ticket, schob es sich zwischen die Zähne, krachte fast gegen die Rampenwand, riss aber gerade noch rechtzeitig das Lenkrad herum.

»Beeil dich«, sagte der Anrufer. »Beeil dich.«

Gavin griff nach dem Handy, aber es rutschte ihm weg. Er fasste erneut danach, hielt es in der Hand und fuhr mit dem Daumen über das rote X auf dem Bildschirm. Um die Polizei anzurufen, würde er auflegen müssen. Und das würde bedeuten, dass er den Anrufer nicht länger ablenken konnte.

Das Fahrgestell des Wagens krachte erneut schwer auf den Boden, als Gavin in den ersten Stock raste und in die Kurve ging. Dann bremste er so heftig, dass er in seinem Sitz nach vorne schoss, und schlug mit dem Handballen auf die Hupe. Ein Hyundai mit Fahrschul-Kennzeichen, dessen Rückfahrscheinwerfer eingeschaltet waren, versperrte ihm die Einfahrt zur letzten Rampe. Gavins Fenster surrte herunter, und er riss sich das Parkticket aus den Zähnen.

»Weg da!«, schrie er. »Aus dem Weg!«

Die Stimme am anderen Ende des Handys lachte. Der Hyundai rollte ein Stück zurück und stoppte dann. Die weißen Lichter erloschen, als der Fahrer den Gang einlegte und Gavin erneut auf die Hupe drückte. Der Wagen bewegte sich langsam vorwärts, der Fahrer drehte verzweifelt am Lenkrad, aber das Manöver gelang ihm trotzdem nicht.

Gavin stieß einen weiteren Fluch aus, schaltete die Automatik auf Parken und öffnete die Tür, um herauszuspringen. Aber der Hyundai ruckte zurück, dann vorwärts und rollte schließlich geradeaus, und Gavin schloss die Tür. Der Hyundai begann, die Rampe hinunterzukriechen, Gavin direkt hinter ihm.

»Es klingt, als ob du beschäftigt wärst«, sagte der Anrufer. »Ich sollte wohl besser auflegen. Ich habe noch etwas zu erledigen.«

Bring den Anrufer zum Reden. Er musste den Anrufer zum Reden bringen. »Wer bist du?«, fragte Gavin. »Warum tust du das?«

Der Fahrschüler im Hyundai war zu nervös, zu zögerlich. Sie hatten erst die Hälfte der kurvigen Rampe hinter sich.

»Du willst wissen, wer ich bin, Gavin?«, fragte der Anrufer.

»Ja. Bitte, du musst es mir sagen.«

»Du wirst sterben, ohne es zu erfahren«, antwortete der Anrufer und beendete das Gespräch.

Vor ihm hielt der Hyundai an.

Gavin drückte auf die Hupe, aber der Hyundai rührte sich nicht. Dann stellte der Fahrer auch noch den Motor ab.

»Weg da!«, brüllte Gavin durch sein offenes Fenster.

Doch der Fahrer saß einfach nur da – kaum mehr als eine dunkle Gestalt.

Gavin öffnete seine Tür und stürzte aus dem Auto, und wie als Antwort öffnete sich die Tür des Hyundai.

»Fahren Sie Ihr Auto weg!«, rief Gavin. »Bitte! Dies ist ein Notfall! Bitte steigen Sie wieder ein und fahren Sie Ihr Auto weg!«

Der Fahrer stieg aus. Zuerst dachte Gavin, er hätte eine Mütze auf, eine Wollmütze vielleicht. Aber es handelte sich nicht um eine Mütze, weder aus Wolle noch aus einem anderen Material. Sondern um eine Maske, eine schwarze Maske aus Plastik oder etwas in der Art, die seinen ganzen Kopf bedeckte. Eine Maske mit einem leeren, ausdruckslosen Gesicht wie bei einer Schaufensterpuppe. Nur die Augen zeigten etwas Menschliches – oder zumindest die Augen hinter den schmalen Augenlöchern. Sie glitzerten im Licht von Gavins Scheinwerfern.

Tausend Gedanken stürzten auf Gavin ein. Das musste der Anrufer sein. Aber wenn der Anrufer hier war, dann hatte er nicht vor, nach unten zu gehen und Jessica zu töten. Also befand sich Jessica in Sicherheit. Gavin dagegen nicht – nicht mal ansatzweise.

Bei all den Filmen, die Gavin liebte, in denen der gute Kerl dem maskierten Mörder gegenüberstand, hatte er sich immer gefragt, wie es ihm in der gleichen Situation ergehen würde. Würde er schnell genug reagieren, um zu entkommen? Wäre er stark genug, um zu kämpfen? Wäre er clever genug, um zu gewinnen? Und nun stand er hier, starrte seinen ganz persönlichen Übeltäter an und hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Seine Beine funktionierten nicht, und er konnte nicht mal rufen oder fluchen oder drohen oder schreien.

Aber irgendetwas brodelte in ihm, eine aufgewühlte Energie, und er erkannte, dass es Adrenalin war … und plötzlich bewegte er sich, wirbelte herum, um in die Sicherheit seines Wagens zu stürmen. Aber der Fahrer bewegte sich ebenfalls und hob eine Hand … mit etwas darin: ein Messer? War das ein Messer? Und dann saß Gavin hinter dem Steuer, und das Auto klappte von allen Seiten um ihn herum zusammen und zerquetschte seine Beine, seine Rippen, seine Schultern, seine Arme, seine Wirbelsäule und seinen Schädel.

In der plötzlichen, reglosen Stille, die folgte, blieb er noch einige Sekunden am Leben, aber er konnte nichts sehen und hörte nur die Luft, die aus seiner zerstörten Lunge entwich, und Schritte, langsame Schritte, die immer leiser wurden. Und dann starb er.

CADENCE CLEARWATER HATTE DAS GEFÜHL, als hätte man sie verhaftet. Der Verhörraum war klein und grau. Links von ihr befand sich ein Einwegspiegel, der Beobachtern den Blick in den Raum erlaubte, sie aber nicht hinausschauen ließ. Zu ihrer Rechten leuchtete eine Bindesigille in der Wand, die jegliche Magie einschränkte. Der Stuhl, auf dem sie saß, hatte eine gerade Rückenlehne und war mit dem Boden verschraubt. Genau wie der kleine Tisch, der mit zwei Ringen aus rostfreiem Stahl versehen war, durch die Ketten gezogen werden konnten, falls die verdächtige Person mit Hand- oder Fußschellen gefesselt werden musste.

Cadence trug keine Handschellen. Sie war auch keine Verdächtige. Sie fühlte sich nur so.

Ihr Fuß klopfte unaufhörlich auf den Boden. Sie erkannte, dass sie an ihren Fingernägeln zupfte. Darunter befand sich getrocknetes Blut. Auch an ihrer Kleidung haftete getrocknetes Blut, und sie hatte Blutspritzer im Gesicht. Aber es war nicht ihr Blut.

Die Tür öffnete sich und sie erstarrte. Sie hatte einen anderen Detektiv erwartet – vielleicht jemanden, den sie kannte. Aber nicht sie.

Walküre Unruh betrat den Raum, mit zwei Tassen Kaffee in der Hand. Cadence kannte ihr Gesicht – jeder in den magischen Gemeinden kannte es. Es war das Gesicht der jungen Frau, die die Welt gerettet hatte, und zugleich das Gesicht von Darquise, einer Gottheit, die am Tag der Verwüstung Tausende von Magiern ermordet und danach in unzähligen Dimensionen verheerende Zerstörungen angerichtet hatte – bevor sie zurückkehrte, um die Realität zu retten, indem sie das Universum neu startete.

Walküre sah jünger aus, als Cadence erwartet hatte. Sie war etwa 1,80m groß, also genau wie Cadence gehört hatte, und besaß die breiten Schultern und kraftvollen Beine, die Cadence – wie jeder andere Magier auch – von den Fotos und den Videoaufnahmen aus dem Internet kannte. Auch ihr Outfit passte zu diesen Bildern: Jeans, abgetragene Stiefel und ein langärmeliges, olivgrünes T-Shirt, das sich über ihren Muskeln leicht spannte. Sie war so gekleidet, als wäre sie jederzeit bereit, einen Täter aufzuspüren oder mit ihm auf Leben und Tod zu kämpfen – je nachdem, was kam. Ihre dunklen Haare mit Mittelscheitel hatten inzwischen eine leichte Welle, die ihr Gesicht weicher erscheinen ließ. Sie sah ein paar Jahre jünger aus als Cadence mit ihren vierundzwanzig Jahren, obwohl sie inzwischen einunddreißig oder zweiunddreißig sein musste.

Doch als Walküre sich an den Tisch setzte, änderte Cadence ihre Meinung. Weder Falten noch Krähenfüße verrieten ihr wahres Alter, aber diese dunklen Augen: Sie hatten zu viel gesehen, und sie wirkten gequält. Leuchtend, aber gequält.

»Hi«, sagte Walküre sanft und hielt ihr einen der Kaffeebecher entgegen.

Cadence nahm den Becher entgegen. Eigentlich mochte sie keinen Kaffee, aber wenn Walküre Unruh einem einen Kaffee anbot, nahm man ihn an.

»Du weißt, wer ich bin?«, fragte Walküre.

Cadence nickte.

»Dann weißt du auch, dass ich hier bin, um dir zu helfen. Du hast ein traumatisches Erlebnis hinter dir und wirst Zeit brauchen, um das Geschehene zu verarbeiten. Aber du weißt auch, warum wir so schnell mit dir reden müssen, oder?«

»Es ist wichtig, möglichst viele Details von einem Zeugen zu erfahren, solange sie noch frisch im Gedächtnis sind«, erklärte Cadence ihr pflichtbewusst. »Bevor die Erinnerungen von sich aus Abkürzungen nehmen.«

»Mein Partner wird gleich zu uns stoßen, und dann werden wir anfangen. Wie geht es dir, Cadence?«

Cadence lächelte zittrig. »Nicht gut.«

»Das kann ich mir vorstellen. Wie lange arbeitest du schon als Detektivin für das Sanktuarium?«

»Zwei Monate.«

»Davor warst du … wie lange … zehn Monate lang im Einsatz? Und davor bei der Polizei von Roarhaven, richtig? Drei Jahre lang? Nicht viele vom dortigen Revier schaffen den Sprung ins Sanktuarium, und noch weniger schaffen den Sprung von der Beamtin zur Detektivin. Und dann hat man dich innerhalb von zwei Monaten mit einem Mordfall betraut? Ziemlich beeindruckend.«

»Ich musste … Ich wollte einfach etwas mit meinem Leben anfangen. Etwas Positives. Etwas, das Menschen helfen würde.«

»Es gibt einfachere Wege, Menschen zu helfen, als Detektivin zu werden.«

»Ich brauchte eine Veränderung. Ich war bei der Polizei nicht glücklich, und dann, na ja, dann habe ich mich von meinem Freund getrennt, und das hat mich ziemlich aus der Bahn geworfen. Ich war nicht gut drauf, verstehen Sie? Er … Na ja, ich fand heraus, dass er sich mit einer anderen traf, und hatte plötzlich das Gefühl, nichts mehr wert zu sein, also …« Sie lachte leise. »Tut mir leid. Das ist völlig unwichtig.«

Walküre sah nicht so aus, als ob ihr das etwas ausmachen würde. »Erzähl weiter.«

»Mir wurde klar, dass ich mich entweder mit dem Scheitern abfinden oder mich mit aller Kraft auf meine Karriere konzentrieren musste, also habe ich die Chance ergriffen. Dass ich diesem Fall zugeteilt wurde, mag beeindruckend klingen, aber ich habe Detektiv Garde praktisch angefleht, mich mitzunehmen.«

»Warum gerade dieser Fall?«

»Ich dachte, dass ich vielleicht helfen könnte. Dass ich eine andere Perspektive zu bieten hätte.«

»Du hast nicht geglaubt, dass Detektiv Garde das allein hinbekommt?«

»Nein, du lieber Himmel, nein, nichts dergleichen.«

»Ich würde es dir nicht verübeln, wenn du das angenommen hättest – schließlich ist er neu im irischen Sanktuarium. Wie viel weißt du über ihn?«

»Detektiv Garde spricht nicht viel über seine Vergangenheit, aber einiges wusste ich bereits über ihn. Er ist einer der Detektive, die von Cogent Badinage ausgebildet wurden. Ich weiß, dass er und Badinage in ihrer gemeinsamen Zeit einige ziemlich üble Typen gejagt haben, vor allem im amerikanischen Sanktuarium.«

»Es gibt nichts Schlimmeres als einen korrupten Sanktuariumsbeamten. Aber wie bist du nun darauf gekommen, dass du eine andere Perspektive zu bieten hättest?«

»Äh, also … Ich will nichts gegen Garde sagen, aber er wurde im 17.Jahrhundert geboren. Ich dachte, es würde den Ermittlungen helfen, wenn jemand dabei wäre, der dem Alter der Opfer etwas näher steht.«

»Und Detektiv Garde war einverstanden?«

»Letztlich ja. Ich kann manchmal ziemlich entschlossen sein.«

Walküre zuckte die Schultern. »An Entschlossenheit ist nichts auszusetzen.«

Cadence’ Stimme zitterte leicht, doch sie fing sich wieder. »Wie … wie geht es ihm?«

»Noch immer im OP.«

Cadence nickte erneut. Die Blutspritzer in ihrem Gesicht stammten von ihm.

Skulduggery Pleasant betrat den Verhörraum. Er war groß und hager, trug einen dunkelblauen dreiteiligen Anzug und dazu ein strahlend weißes Hemd mit einer dunklen Krawatte und passendem Hutband. Außerdem hatte er schwarze Handschuhe an. Er setzte sich auf den Stuhl neben Walküre und legte seinen Hut auf den Tisch. Das Licht schimmerte auf seiner Schädeldecke. Schatten tanzten in seinen leeren Augenhöhlen. Sein Kiefer öffnete sich beim Sprechen, und seine Stimme klang wunderbar klar und sanft – trotz der Tatsache, dass er keine Lippen und keine Zunge hatte.

»Das erste Opfer«, setzte er an, »war Gavin Fahey. Ein Sterblicher. Dreiundvierzig Jahre alt. Vor acht Tagen zerquetscht, als jemand sein Auto in Origami verwandelte.«

»Ja«, sagte Cadence.

»Das zweite Opfer war Sarah Boyle. Eine Sterbliche. Sechsunddreißig Jahre alt. Sie starb vor drei Tagen, als ihr Körper in den fünfzehn Sekunden, in denen sie nicht in Sichtweite ihrer Schwester war, in vierhundertachtzehn perfekt symmetrische Würfel zerteilt wurde.«

»Ja.«

»Und das dritte Opfer war Avant Garde«, sagte Skulduggery. »Magier. Detektiv. Vierhundertzwei Jahre alt. Vor vier Stunden von einem Unbekannten angegriffen und schwer verletzt worden.« Er beugte sich vor. »Berichten Sie von Anfang an, Detektivin Clearwater.«

Cadence stellte ihren Kaffee auf den Tisch, aber dann hatten ihre Hände nichts mehr zu tun, also griff sie wieder nach dem Becher. »Detektiv Garde wurde mit dem Mord an Gavin Fahey betraut. Ich habe den Bericht über den Fall Sarah Boyle gelesen und ihn ihm vorgelegt. Ich wies darauf hin, dass beide durch eine unbekannte Art von Magie getötet wurden, weshalb möglicherweise ein Zusammenhang bestand. Er, äh, stimmte zu, mich als Partnerin an dem Fall zu beteiligen, und wir fuhren zu Sarah Boyles Haus, um nach etwas zu suchen, das sie möglicherweise mit Gavin Fahey in Verbindung bringen konnte.«

»Und haben Sie etwas gefunden?«, fragte Skulduggery.

»Dazu blieb uns keine Chance.« Sie trank einen Schluck Kaffee. Er schmeckte furchtbar. »Ich war in der Küche, Detektiv Garde durchsuchte das Wohnzimmer. Bei unserer Ankunft hatten wir Sarah Boyles Schwester mit ihren Eltern im Haus vorgefunden, aber Detektiv Garde sprach mit ihnen, redete sie mit ihren eingetragenen Namen an. Er beruhigte sie, sagte ihnen, dass wir Polizisten seien und dass es das Beste wäre, wenn sie nach Hause gingen, um sich mit ihrem Verlust auseinanderzusetzen, um über ihre Gefühle zu sprechen und so weiter. Er klang wie ein … wie ein Therapeut, würde ich sagen.«

»Wie lange waren die drei aus dem Haus, als Sie angegriffen wurden?«

»Vielleicht fünf Minuten. Wir begannen also mit der Suche, und ich hörte, wie sich die Haustür öffnete, und dachte, sie seien zurückgekommen oder ein anderer Freund sei aufgetaucht. Also ging ich in den Flur, um sie aufzuhalten.«

»Wen haben Sie angetroffen?«

»Einen Mann mit einer schwarzen Maske. Ich bekam ihn nur flüchtig zu Gesicht, bevor er mit der Hand winkte und ich gegen die Wand krachte.«

»Er ist also ein Elementemagier?«, fragte Walküre.

»Möglicherweise«, sagte Cadence. »Aber ich habe keine Druckwelle gespürt. Ich habe nur gefühlt, wie mich etwas getroffen hat, und dann flog ich auch schon durch die Luft.«

»Was ist dann passiert?«

»Detektiv Garde stürmte in den Flur, und der Verdächtige drehte sich zu ihm um und winkte wieder mit der Hand. Zu diesem Zeitpunkt war meine Sicht blockiert, und ich nahm nur wahr, wie Blut spritzte und er zu Boden ging. Der Verdächtige sagte etwas zu ihm und kam dann auf mich zu.«

Skulduggery legte den Kopf schräg. »Sie haben den Verdächtigen sprechen hören?«

»Ja, Sir. Ich glaube, er sagte: ›Du hast versagt‹ – oder irgendetwas in der Art.«

»Haben Sie einen Akzent bemerkt? Könnten Sie die Stimme identifizieren, wenn Sie sie noch einmal hören würden?«

»Die Stimme werde ich nie mehr vergessen, aber da war kein Akzent, den ich erkennen konnte. Sie klang künstlich, unnatürlich. Das lag wahrscheinlich an der Maske.«

»Was hat der Verdächtige dann getan?«

»Er trat zu mir und schaute auf mich hinab. Ich bekam kaum Luft. Konnte nicht aufstehen.«

»Die Ärzte haben dich wegen drei gebrochener Rippen behandelt, richtig?«, fragte Walküre. »Wie geht es dir jetzt?«

»Ich fühle mich viel besser«, antwortete Cadence. »Ich habe nicht mal einen Bluterguss. Aber ich dachte, er würde mich umbringen. Ich glaubte tatsächlich, er würde mich umbringen, und trotzdem lag ich einfach nur da. Ich wäre nicht in der Lage gewesen, irgendetwas dagegen zu unternehmen. Ich hätte es einfach geschehen lassen müssen.«

Walküre griff mit beiden Händen nach Cadence’ rechter Hand und umfasste sie. »Du bist in Sicherheit, und du hast überlebt. Das bedeutet, dass das, was du getan oder nicht getan hast, genau richtig war.«

Cadence schluckte und wischte sich mit der anderen Hand eine Träne weg. »Er sah auf mich herab, der Verdächtige, und sagte: ›Gib dir mehr Mühe.‹ Dann ging er ins Wohnzimmer. Als ich mich aufrappeln konnte, war er verschwunden.«

»Meinen Sie, er hat sich wegteleportiert?«, fragte Skulduggery. »Oder ist er einfach aus dem Fenster geklettert?«

»Ich weiß es nicht, Sir. Danach gab ich eine Meldung ans Sanktuarium durch und leistete Erste Hilfe bei meinem Partner. Allerdings wusste ich kaum, wo ich anfangen sollte. Sein ganzer Torso war …«

»Schon gut«, sagte Walküre sanft.

Skulduggery lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und tippte mit den Fingerspitzen gegen sein Kinn.

»Darf ich eine Frage stellen?«, fragte Cadence. »Warum ermitteln Sie in diesem Fall? Zauberer, die Sterbliche töten, sind nicht gerade eine Seltenheit, vor allem in den letzten Jahren. Also warum mischen sich die Schlichter ein?«

»In dem Moment, in dem ein Sanktuariumsbeamter getötet oder verletzt wird, ist es immer am besten, wenn jemand Drittes die Ermittlungen leitet«, erklärte Skulduggery.

»Okay, das versteh ich. Wenn ich irgendetwas …«

Skulduggery hob die Hand. »Sie möchten uns Ihre uneingeschränkte Unterstützung anbieten, obwohl Sie wissen, dass Ihr persönliches Interesse an diesem Fall zu einer unbewussten Voreingenommenheit führen wird, die unsere Ermittlungen zum Scheitern bringen könnte. Daher müssen wir Ihr Angebot respektvoll ablehnen. Vielen Dank für Ihre Hilfe, Detektivin Clearwater. Ihr Vorgesetzter wird in Kürze hier sein und eine Abschlussbesprechung durchführen.«

»Aber ich kenne diesen Fall. Ich kann Ihnen helfen mit …«

»Wir arbeiten besser allein«, unterbrach Walküre sanft, aber bestimmt. »Du hast viel durchgemacht und dein Partner befindet sich in einem kritischen Zustand. Am besten konzentrierst du dich jetzt auf dich selbst, okay?«

Beide erhoben sich.

Cadence starrte sie an. »Haben Sie überhaupt die Befugnis dazu?«

»Wir sind Schlichter«, erwiderte Skulduggery und setzte seinen Hut auf. »Wir sind für alle Sanktuariumsermittlungen auf der ganzen Welt zuständig. Wir sind niemandem Rechenschaft schuldig und wählen unsere Fälle selbst aus. Wir haben uns diesen Fall ausgesucht, Detektivin. Und wir übernehmen ihn.«

Walküre nahm ihren Kaffee und verließ den Raum, dicht gefolgt von Skulduggery.

GAVIN FAHEYS FRAU HATTE IN DEM BEMÜHEN, seinen Tod zu verarbeiten, offensichtlich eine gründliche Reinigungsaktion durchgeführt. Die Böden ihres Hauses waren frisch geputzt, die Bücherregale poliert, die Kissen aufgepolstert und perfekt arrangiert. Alles stand an seinem Platz. Selbst die Kühlschrankmagnete waren symmetrisch angeordnet.

Sie befand sich jetzt im Obergeschoss, zusammen mit einer speziell ausgebildeten Sensitiven aus dem Sanktuarium – tief in Trance, die ihr nicht nur über ihren Kummer hinweghelfen sollte, sondern auch dazu diente, die Erinnerungen an diesen kleinen Besuch aus ihrem Gedächtnis zu löschen.

Walküre hatte bisher nichts Nennenswertes gefunden und durchsuchte nun sehr gründlich und gewissenhaft das Wohnzimmer. Dabei achtete sie darauf, jedes von ihr bewegte Objekt wieder an seinen ursprünglichen Platz zurückzustellen. Der Hund der Faheys, ein grinsender Golden Retriever, leistete ihr die ganze Zeit über Gesellschaft. Der Retriever war jung, gesund und kräftig und erinnerte Walküre an Xena als Welpe. Nur mit dem Unterschied, dass Xena um einiges schlauer gewesen war als dieser Dummkopf.

Sie hörte, wie draußen ein Auto vorfuhr, und ein paar Sekunden später kam Skulduggery herein. In dem Moment, als sich die Eingangstür hinter ihm schloss, verschwanden seine Haut, seine Haare und sein Gesicht wieder in den Sigillen auf seinen Schlüsselbeinen. Vor Jahren hatte er seine Fassade noch mit einem Fingertipp aktivieren müssen, doch heute genügte dafür bereits ein Gedanke.

»Du bist spät dran«, sagte Walküre, die gerade die Regale durchging. Neben einer Reihe gebundener Bücher von Stephen King, Grady Hendrix und Joe Hill hatte Gavin Fahey auch eine schöne Sammlung von Schallplatten und DVDs besessen. Walküre gefiel das.

»Tut mir leid, aber es ging nicht anders«, antwortete Skulduggery. Der Retriever trottete zu ihm und beschnupperte ihn. Für ein wandelndes Skelett hatte Skulduggery eine erstaunlich beruhigende Wirkung auf Tiere. »Hast du etwas gefunden?«

»Nichts, was auf eine Verbindung zwischen Fahey und Sarah Boyle hindeuten würde. Er arbeitete im Finanzwesen, sie in einem Verlag. Sie war jünger und ging gern und viel aus, während er sich mit seiner Frau und ein paar engen Freunden zufriedenzugeben schien. Keines der beiden Opfer war besonders religiös; keines hatte ausgeprägte politische Überzeugungen; keines hatte irgendwelche extremen oder extremistischen Ansichten … Die beiden scheinen alles in allem ziemlich normal gewesen zu sein.«

Skulduggery ging langsam durch den Raum und beugte sich dabei über verschiedene Gegenstände.

»Wir könnten es mit zwei zufällig ausgewählten Opfern zu tun haben«, sagte Walküre.

»Das wäre in der Tat möglich«, bestätigte Skulduggery. »Aber selbst dann könnte ein Muster existieren. In den 1970er-Jahren gab es in New York einen Serienmörder, der seine Opfer auswählte, wenn sie aus verschiedenen U-Bahn-Ausgängen in der Stadt kamen. Um sechs Minuten nach sechs, egal, an welchem Tag, wartete er auf die sechste Person, die an ihm vorbeiging, und folgte ihr dann nach Hause. Er verbrachte einige Zeit damit, sein neues Opfer zu beobachten und dessen Gewohnheiten und Alltagsabläufe kennenzulernen, bevor er schließlich in das Haus einbrach und die Person tötete.«

»Und wie haben sie ihn genannt?«, fragte Walküre. »Den Sechs-sechs-sechs-Schlitzer? Den Satansschlächter? Subway Jack? Irgendwas in der Art?«

»Niemand hat ihn je irgendetwas genannt«, sagte Skulduggery. »Denn niemand hat die Morde je miteinander in Verbindung gebracht. Ich bin ihm wegen einer einzigen ausgedrückten Zigarette auf die Spur gekommen, die ich vor dem Fenster eines der Opfer gefunden habe. Wie er seine Ziele ausgewählt hat, erzählte er erst hinterher im Verhörraum.«

»Manche Mistkerle reden einfach wahnsinnig gern. War er ein Magier?«

»Ein Sterblicher. Ein seltsamer, kleiner Mann von durchschnittlicher Intelligenz, der einen Groll gegen die ganze Welt hegte.«

»Wie kommt es dann, dass du dich mit dem Fall beschäftigt hast?«

Skulduggery zuckte die Schultern. »Gute Rätsel haben mir schon immer gefallen.«

Walküre hob ihre Jacke aus Lederimitat auf und zog sie an. »Also, ich bin hier fertig. Wenn du die Wohnung noch einmal inspizieren willst … ich warte dann draußen.«

Sie ließ ihn zurück und trat in den nassen Junimorgen hinaus. Dort tippte sie die Nummer der Krankenstation des Obersten Sanktuariums in ihr Handy, wo man sie sofort zu Doktor Synecdoche durchstellte.

»Hey, Reverie«, sagte sie. »Irgendwas Neues von Detektiv Garde?«

Reverie klang müde. »Sein Zustand ist stabil«, sagte sie. »Die Wunden an seinem Oberkörper sind groß, und einige lebenswichtige Organe wurden schwer beschädigt, was ihn fast das Leben gekostet hätte.«

»Wird er wieder gesund?«

»Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, aber im Moment haben wir ihn in ein Koma versetzt, um seine Heilungschancen zu verbessern.«

»Weißt du, wann er aufwachen wird?«

»Wir können nicht sicher sein, ob er überhaupt wieder aufwachen wird – also brauchen wir gar nicht erst über einen möglichen Zeitpunkt zu reden. Tut mir leid.«

»Und was ist mit der Art der Magie, die bei dem Angriff verwendet wurde?«

»Wir wissen es nicht. Seine Verletzungen sind … ungewöhnlich. Mehr kann ich im Moment nicht sagen. Ich rufe dich sofort an, wenn sich etwas Neues ergibt.«

Während Walküre das Handy wegsteckte, begann es zu regnen. Schwere graue Wolken überzogen den zugebauten, von Gebäuden eingepferchten Himmel – aber das war ihr egal. Wenigstens gab es einen Himmel. Wenigstens gab es Regen, der fallen konnte, und eine Stadt wie Dublin, auf die er fallen konnte. Wenigstens drehte sich die Erde noch, und die Galaxie wirbelte noch, und das Universum existierte noch. Sie würde sich von etwas schlechtem Wetter nicht die Laune verderben lassen – solange es noch eine Realität gab, in der sich schlechtes Wetter bilden konnte.

Skulduggery trat aus dem Haus, und der Regen floss um ihn herum, während seine Fassade über seinen Schädel und seinen Körper glitt und die Knochen seines Handgelenks bedeckte, das in dem kleinen Spalt zwischen seinem Ärmel und seinem Handschuh zu sehen war.

Walküre zog eine Augenbraue hoch. »Das ging aber schnell. Hast du das ganze Haus durchsucht?«

»Ja.«

»Sogar das Obergeschoss?«

»Ja, obwohl es der Sensitiven nicht gefiel, dass ich einfach durch die Tür spaziert bin. Sie meinte, es könnte MrsFahey beunruhigen. Ich vermisse die Zeiten, in denen wir für solche Dinge keine Sensitiven hinzuziehen mussten.«

»Tja, jetzt müssen wir das aber.«

»Ich meine mich erinnern zu können, dass zu deinen vielen Talenten …«

»Ich mache den medialen Kram nicht mehr«, unterbrach sie ihn.

»Aber es war sehr praktisch.«

»Es war auch sehr gefährlich, ich hatte oft rasende Kopfschmerzen davon und war anfällig für Besessenheit.«

»Aber so praktisch.«

»Und als ich das letzte Mal besessen war, habe ich versucht, eine ganze Reihe von Leuten zu töten.«

»So unglaublich praktisch.«

Walküre zeigte auf ihr Haar, das schnell nass wurde, und er seufzte und bog den Regen auch um sie herum.

»Du willst nur, dass ich diese Fähigkeiten einsetze, weil du erkannt hast, dass die Sensitiven dich nicht mögen«, sagte sie.

»Sie mögen niemanden, dessen Gedanken sie nicht lesen können.«

»Es hängt also nicht damit zusammen, dass du dich ganz offen über sie lustig gemacht hast?«

»Ich mache mich nicht über alle Sensitiven lustig. Cassandra oder Finbar habe ich nie verspottet. Ich mache mich auch nicht über Philomena lustig. Ich mache mich nur über die Angeber lustig – über die, die mich nerven. Gott, sie sind so nervig. Alles an ihnen nervt mich. Besonders ihre Schuhe.«

»Zurück zu unseren Ermittlungen: Hast du im Haus irgendetwas gefunden, das die Opfer miteinander in Verbindung bringt?«

»Nein, leider nicht«, sagte er, während sie zum Bentley gingen, »aber wenn die Aufklärung von Morden einfach wäre, Walküre, würde es schließlich jeder tun.«

Sarah Boyles Apartment war klein, aber hübsch. Sie hatte allein gelebt, und ihre Wohnung wirkte auf angenehme Weise unordentlich – als ob alles kurz davorstand, weggeräumt zu werden. Walküre lebte ähnlich, und sie wusste, dass es Sarah kaum Zeit gekostet hätte, alles aufzuräumen, wenn sie Besuch bekam. Der einzige Grund, warum Grimwood House nicht genauso aussah wie Sarahs Wohnung, war die Tatsache, dass Militsa gern jederzeit wusste, wo sich alles befand, und darauf bestand, Ordnung in das Chaos zu bringen, das Walküre halbwegs im Griff hatte.

Ein Großbildfernseher beherrschte das Wohnzimmer. Lichterketten zogen sich über gerahmte Schwarz-Weiß-Fotos an der Wand entlang. Bei dem Sofa handelte es sich um einen orangefarbenen Zweisitzer mit schokoladenbraunen Kissen, und in der Ecke daneben hing eine Akustikgitarre in einem Ständer.

In der Küche standen Weingläser auf dem Abtropfbrett. Der Kühlschrank musste dringend gereinigt werden. An einem kleinen Tisch standen drei Stühle, von denen zwei ordentlich unter die Tischplatte geschoben waren. Auf dem dritten lag ein Haufen Wäsche, den Sarah nun nicht mehr sortieren würde.

Im Schlafzimmer befand sich ein Schrank, der mit Kleidungsstücken vollgestopft war, ein Stoffschuhregal unter dem Fenster und eine Frisierkommode, auf der Make-up der verschiedensten Marken verstreut lag. Auf dem Bett saß ein alter, zerknitterter Teddybär auf einem Kopfkissen.

An einem Ende des Korridors, der von der Küche zur Wohnungstür führte, war ein Spiegel von der rissigen Wand gefallen und zerbrochen. Dort musste Cadence Clearwater dagegengeprallt sein. Am anderen Ende des Korridors waren die Dielen und Wände mit dunklem, getrocknetem Blut bespritzt. Ein einzelner brauner Lederschuh lag auf der Seite. Das war die Stelle, an der Avant Garde fast gestorben wäre.

Skulduggery und Walküre sahen sich gründlich um. Sie fanden nichts, was Sarah mit Gavin Fahey in Verbindung bringen konnte, und keine Hinweise darauf, warum Sarah überhaupt ins Visier genommen worden war. Als sie fertig waren, schaute Skulduggery sich ein letztes Mal kurz in der Wohnung um, um nachzusehen, ob ihm etwas auffiel. Er hatte eine besondere Begabung dafür: das Bemerkenswerte im scheinbar Unbedeutenden zu erkennen.

Während Walküre auf ihn wartete, erledigte sie einige Anrufe und veranlasste, dass das Reinigungsteam vorbeikam, um die Beweise zu sichern und das Blut zu beseitigen. Skulduggery gesellte sich zu ihr, und sie sahen einander an.

»Wir sind aufgeschmissen, oder?«, fragte Walküre. »Ich hab doch recht, oder?«

Er legte den Kopf schräg. »Nein, natürlich nicht. Wir haben einfach nicht genug Daten, um irgendwelche Schlüsse zu ziehen. Dafür bräuchten wir ein weiteres Opfer.«

»Du weißt aber schon, dass es irgendwie morbide ist, auf weitere tote Sterbliche zu hoffen, oder?«

»Mord ist ein morbides Geschäft.«

»Das sollte unser Motto werden.«

»Wir können es auf die Liste setzen.«

Walküres Mobiltelefon vibrierte, und sie warf einen Blick auf das Display.

»Jemand hat Sarahs Handy gelöscht, aber ich sehe mir gerade ihre archivierten Daten an. Sie wurde am Fünften getötet, abends um 20.13Uhr. Eine Minute vorher hatte sie einen Anruf von einer blockierten Nummer erhalten, der elf Sekunden dauerte. Eine weiterer Anruf erfolgte ein paar Stunden früher, und zwar für neun Sekunden, von einer anderen blockierten Nummer. Ein ähnlicher Anruf am Vortag dauerte einunddreißig Sekunden. Und am Tag davor waren es siebenundzwanzig Sekunden. Ich werde die Techniker des Sanktuariums bitten, diese Sperre zu umgehen, aber wenn der Mörder der Anrufer war, hat er wahrscheinlich ein abgeschirmtes Handy benutzt, sodass wir nicht viel in Erfahrung bringen werden.«

»Aber selbst das würde uns etwas verraten«, erwiderte Skulduggery. »Es würde uns den Hinweis geben, dass der Mörder seine Opfer gern anruft. Bitte die Techniker, uns auch die Daten von Gavin Fahey zugänglich zu machen.«

»Wir sollten Sarahs Familie erlauben, die persönlichen Dinge zusammenzupacken. Du weißt doch noch, wo alles ist, falls das mal relevant werden sollte, oder?«

»Ja, kein Problem.«

»Dann darfst du mich jetzt nach Roarhaven fahren. Ich bin mit meiner Freundin zum Mittagessen verabredet.«

TIER DEUTETE MIT DEM KINN auf ein blondes Mädchen, das auf der anderen Seite des Schulhofs ging – ein hübsches Mädchen, das sich seine Bücher an die Brust drückte und mit seinen Freundinnen lachte.

»Weißt du, wer das ist?«, fragte er. »Das ist Walküre Unruhs Schwester.«

Winter schaute dem blonden Mädchen nach. »Bist du sicher?«

»Sie ist in meinen Kursen für Geschichte und Geschichte der Magie«, sagte Tier. »Alle wissen, wer sie ist, aber niemand spricht es laut aus.«

»Wie ist sie denn so?«

Er zuckte die Schultern. »Irgendwie hochnäsig. Sie nutzt Unruhs Ruf schamlos aus und gibt sich mit niemandem ab, der ihren hohen Ansprüchen nicht genügt. Nach dem Motto: Meine Schwester hat die Welt gerettet, also rede mich nicht von der Seite an, wenn du verstehst, was ich meine? Wir haben zur gleichen Zeit hier angefangen, und sie hat nie mehr als drei Worte mit mir gewechselt.«

Winter beschloss, nicht darauf einzugehen, dass Tier bis vor fünf Minuten kaum mehr als ein Dutzend Worte mit ihr gewechselt hatte – und sie daher nicht recht wusste, worüber er sich eigentlich beschwerte. Außerdem war es eines der am schlechtesten gehüteten Geheimnisse in der Corrival-Schule, dass Tier Galling der Sohn von Eliza Scorn war, der berüchtigten ehemaligen Anführerin der Kirche der Gesichtslosen. Wenn also jemand den Ruf eines anderen schamlos ausnutzte, dann vermutlich er …

Aber er war irgendwie süß, und sein dunkles Haar fiel ihm immer wieder in die Augen, und er hatte einen gemeinen Zug um den Mund, den Winter aus irgendeinem Grund mochte. Also ging sie nicht weiter auf die Sache ein.

»Was machst du in den Sommerferien?«, fragte sie und versuchte, nicht vor Scham zusammenzuzucken, während ihr die Worte über die Lippen kamen.

Falls Tier bei dieser langweiligsten aller Fragen am liebsten die Augen verdreht hätte, beherrschte er sich jedoch auf bewundernswerte Weise. »Wahrscheinlich nichts«, antwortete er. »Ich werde die meiste Zeit allein in England verbringen, und da, wo ich herkomme, ist nicht viel los.«

»Ja«, sagte Winter. »Geht mir auch so.«

»Ich dachte, du hättest viele Freunde«, sagte er und sah sie an.

Winter lachte. »Ich habe ungefähr einen.«

»Verglichen mit mir ist das viel.«

»Okay«, sagte sie lächelnd. »Also, dann habe ich vergleichsweise viele Freunde, aber die wohnen nicht in meiner Nähe. Also bin ich allein.«

Die Glocke läutete, und Tier murmelte etwas und hüpfte dann von der Mauer, auf der sie gesessen hatten. Er streckte ihr seine Hände entgegen, und Winters Herz begann tatsächlich zu flattern, als sie sie ergriff und er ihr hinunterhalf, obwohl sie mindestens so groß war wie er. Plötzlich standen sie Nase an Nase, seine Hände hielten noch immer ihre Finger umfasst, und ihr Herz flatterte noch immer.

»Soll ich dich zum Unterricht bringen?«, fragte er.

»Klar.«

Zwar hielten sie sich nicht länger an den Händen, gingen aber so eng nebeneinander, dass sich ihre Arme mehrfach berührten. Jede Berührung löste ein Kribbeln in Winters Bauch aus. Zugegeben, sie verhielt sich im Moment einfach unfassbar dämlich, aber es war ihr egal.

Sie kamen an Tenacity Yates vorbei, die in die andere Richtung ging. Sie nickte Tier zu, der ihr Nicken erwiderte.

»Kennst du sie?«, fragte Tier, als Tenacity außer Hörweite war.

»Na ja, wir haben uns schon mal unterhalten«, sagte Winter.

»Hast du gehört, dass sie kurz vor Weihnachten die Welt gerettet hat?«

Winter warf einen Blick über die Schulter. »Ernsthaft?«

»Es gab da eine … Ach, Himmel, warum kann ich mich nicht an dieses Zeugs erinnern? Da war so eine Sache mit einem Typen, der versucht hat, einen alten Zauberer von den Toten zu erwecken, der während des Kriegs gestorben war, glaub ich zumindest. Na, jedenfalls hat Tenacity das verhindert. Und den Typen windelweich geprügelt, wie ich gehört habe.«

»Wow.«

»Ja«, sagte Tier und runzelte dann die Stirn. »Das habe ich sowieso nie verstanden.«

»Welchen Teil?«

»Den Teil mit der Rettung der Welt. Tenacity ist eigentlich eine ziemlich coole Person, und ich bin froh, dass sie es getan hat, denn ich lebe schließlich in dieser Welt, und so grässlich sie auch manchmal sein mag, gefällt mir einiges daran echt gut. Aber ich verstehe einfach nicht, warum so viele Schüler dieser Schule in solch blöde Abenteuer hineingezogen werden.«

»Ach so«, sagte Winter. »Ja, das ist mir auch schon aufgefallen.«

»Es geht also nicht nur mir so, richtig?«

»Nein, nicht nur dir.«

»Und sie werden nicht nur in blöde Abenteuer hineingezogen, sie lassen sich auch noch in blöde Abenteuer hineinziehen. Sie wollen es offenbar so. Sie wollen ein Geheimnis aufklären oder einen Übeltäter aufhalten oder Roarhaven vor irgendeiner Sache oder die Welt vor einer anderen Sache bewahren.«

»Aber haben wir dafür nicht die Sanktuarien?«, fragte Winter.

»Danke!«, rief Tier und grinste jetzt tatsächlich. »Genau, das ist ihr Job. Wenn irgendjemand einen verrückten alten Zauberer aus dem Jenseits zurückholen will, ruft man Tanith Low an, und sie lässt ihn von ihren Sensenträgern in kleine Stücke häckseln. Oder das Sanktuarium schickt seine Detektive aus. Oder Walküre Unruh und Skulduggery Pleasant kommen aus dem Himmel herangerauscht und retten uns alle in letzter Sekunde. Aber warum sollte man so etwas selbst tun wollen? Ich komm morgens kaum aus dem Bett, um zum Unterricht zu gehen, und du willst, dass ich die Welt rette? Oh nein. Kommt nicht infrage.«

»Wenn es also an dir läge …«

»Ach, dann wären wir alle tot«, antwortete Tier. »Wir wären so tot wie nur was – so tot, wie du es dir nicht vorstellen kannst.«

»Tier, um die Welt zu retten, musst du nur fünfzehn Minuten früher als sonst aufstehen und dann auf diesen Knopf drücken.«

»Nee, lass mal, keine Lust«, sagte Tier, und beide lachten.

Die Schulkorridore leerten sich jetzt schnell, und plötzlich erkannte Winter, wo sie waren. »Warte mal«, sagte sie. »Meine Klasse ist in die andere Richtung.«

Verblüfft schaute er sie an. »Warum gehen wir dann hier lang?«

»Ich bin dir gefolgt.«

»Aber ich weiß doch gar nicht, wo dein nächster Kurs stattfindet.«

Plötzlich stand Mia Pizazz neben ihnen, hakte sich bei Winter unter und zog sie den Weg zurück, den sie gekommen waren. Winter blieb kaum Zeit für ein kurzes Winken, bevor sie ihrer Freundin ihre volle Aufmerksamkeit schenken musste.

»Oi, oi«, sagte Mia und grinste, »was geht denn da ab?«

»So redet er überhaupt nicht.«

»Da bin ich anderer Meinung, Perle«, entgegnete Mia. »Hinter seinem Feld-Wald-und-Wiesen-Akzent versteckt sich ein Cockney, der so echt ist wie Dick van Dykes Akzent. Das kann ich dir sagen, Puppe.«

»Ich weiß nicht, wer oder was ein Dick van Dyke ist.«

»Du hast nie Mary Poppins gesehen? Oder Tschitti Tschitti Bäng Bäng? Meine Güte, Winter, was hast du nur mit deinem Leben angestellt?«

»Jedenfalls habe ich mir keine uralten, lahmen Musicals im Fernsehen angesehen, so wie gewisse andere Personen.«

»Ich möchte dich darauf hinweisen, dass diese uralten, lahmen Musicals ein wichtiger Teil des kulturellen Erbes meiner Mutter sind.«

»Deine Mutter ist Äthiopierin.«

»Und sie schwärmt für Mary Poppins, also würde ich es begrüßen, wenn du die Erhabenheit dieses Musicals aus den 1960er-Jahren nicht monierst.«

»Monierst?«

»Es bedeutet, etwas schlecht zu machen.«

»Ich weiß, was das Wort bedeutet. Ich dachte nur nicht, dass du weißt, was es bedeutet.«

»Tja, ich hab eben mehr zu bieten als nur ein hübsches Gesicht, Winter.« Die Schulkorridore waren inzwischen völlig leer, und sie beschleunigten ihre Schritte. »Also, wie ist das eigentlich passiert? Du und der Grübelkönig von Grübelland?«

»Ich hab auf der Mauer gesessen und auf dich gewartet, und er saß auch auf der Mauer und las ein Buch, und ich hab irgendwas zum Thema Lesen gesagt, und das brachte das Gespräch in Gang.«

»Und was hast du zum Thema Lesen gesagt?«

»Etwas in der Art, dass Lesen gut ist.«

Mia starrte sie an. »Du hast gesagt, Lesen sei gut?«

»Nicht direkt, aber … ja.«

»Und er hat sich trotzdem mit dir unterhalten? Wow.«

»Halt die Klappe. Und Lesen ist gut.«

»Ja, Lesen ist sehr gut. Da sind wir uns wohl einig. Um welches Buch ging es?«

Winter schwieg, und Mias Grinsen wurde breiter. »Welches Buch war es, Winter? Was hat er gelesen? Was hat der Grübelkönig von Grüblistan gelesen?«

»Ich dachte, es wäre Grübelland.«

»Das Königreich wurde größer und musste umbenannt werden. Was hat er gelesen?«

Winter holte tief Luft. »Der Fänger im Roggen.«

Mia brüllte vor Lachen.

»Du übertreibst«, sagte Winter und versuchte, eine finstere Miene aufzusetzen. »Und sei um Himmels willen leise.«

Sie hasteten an den geschlossenen Klassenzimmertüren auf beiden Seiten des Korridors vorbei, und Mia gelang es, sich wieder zu fassen. »Der grüblerischste Junge von ganz Grübelau mit den floppigsten Haaren und den verträumtesten Augen, der gequälte Sohn von Eliza Scorn und Baron Vengeous, hockt zufällig auf der Mauer neben dir und liest eine vermutlich ziemlich ramponierte Ausgabe von Der Fänger im Roggen. Hab ich das richtig verstanden?«

»Stimmt, das Buch hatte einige Eselsohren. Und was zum Teufel ist aus Grüblistan geworden?«

»Es gab einen Bürgerkrieg, und das Reich wurde in einzelne Fürstentümer aufgeteilt.« Mia hielt sich die Hand vor den Mund. »Oh, Winter. Oh, er ist perfekt für dich.«

»Halt die Klappe. Außerdem ist sein Vater nicht Baron Vengeous.«

»Doch, na klar.«

»Wie soll das gehen? Tier ist fünfzehn, so alt wie wir, und Vengeous ist schon seit … neunzehn Jahren tot.«

»Baron Vengeous ist garantiert sein Vater. Das weiß doch jeder.«

»Nein, das weiß nicht jeder.«

»Wo hat er das Buch hingetan?«

»Baron Vengeous?«

»Tier«, sagte Mia. »Wo hat Tier das Buch hingesteckt? Vorhin hatte er es nicht bei sich, also …«

»Er hat es sich in seine Tasche geschoben.«

»Seine Gesäßtasche?«

»Könnte sein …«

»Der große, gut aussehende, angstgeplagte Existenzialist, der Sohn von Eliza Scorn und Baron Vengeous, läuft also durch die Schule mit einem abgenutzten, mit Eselsohren versehenen Fänger im Roggen in seiner Gesäßtasche? Wie schnell hat dein Herz geschlagen?«

»Er ist kein Existenzialist.«

»Wer so fabelhaft aussieht, kann nur ein Existenzialist sein. Wie schnell schlug es?«

»Ziemlich schnell.«

»Ihr seid füreinander bestimmt.«

»Wir haben erst vor zehn Minuten zum ersten Mal miteinander gesprochen.«

»Ja, nach Jahren der langen, schmachtenden Blicke im Klassenzimmer. Das ist der Stoff, aus dem Liebeslieder gemacht werden. Ich würde mir auf jeden Fall einen koreanischen Popsong zu diesem Thema anhören. Das wäre der Hammer, oder etwa nicht? Ein absoluter Knaller. Der Titel wäre so was wie Luv U, Girl oder In the Stars oder … Der Grübelkönig und die Eiskönigin treffen sich auf ein Eis und einen Stimmungsring.«

»Den Song sollte es definitiv geben. Und ich bin die Eiskönigin in diesem Szenario?«

»Du heißt Winter Grieving«, sagte Mia. »Natürlich bist du die Eiskönigin.«

Mia betrat das Klassenzimmer, ohne anzuklopfen. MrHerringbone stand an der Tafel und sah sie mit hochgezogener Augenbraue an.

»Entschuldigen Sie die Verspätung, Sir«, sagte Mia. »Winter hatte einen Toilettennotfall.«

Die Klasse johlte, MrHerringbone musste sich ein Lächeln verkneifen, und Winter funkelte ihre grinsende Freundin wütend an, während sie zu ihren Plätzen gingen.

»Und ihr wart nur zu zweit?«, fragte MrHerringbone. »Brazen war während dieses Notfalls nicht bei euch?«

»Nur Winter und ich, Sir«, antwortete Mia.

Brazens Schultisch auf der anderen Seite des Klassenzimmers war leer.

»SIE STARREN DICH SCHON WIEDER AN«, sagte Militsa, schnitt eine Tomate durch und spießte dann eine Hälfte mit der Gabel auf. Während sie sie in ihren Mund schob, schaute sie sich noch einmal um. »Ja. Sie starren definitiv.«

»Lass sie doch«, sagte Walküre und konzentrierte sich auf ihr eigenes Essen. »Solange sie nicht rüberkommen, ist es okay.«

Militsa musterte sie amüsiert. »Sie werden auf jeden Fall rüberkommen. Das weißt du genau. Sie können gar nicht anders, als rüberzukommen. Das da sind Touristen, und du bist einer der Gründe dafür, dass es in Roarhaven überhaupt Touristen gibt.«

Walküre schnaubte spöttisch, auch wenn sie wusste, dass Militsa recht hatte. Sie wollte es nur nicht zugeben. Das wäre ihr irgendwie … geschmacklos vorgekommen.

Und natürlich kamen sie an ihren Tisch. Eine ganze Familie von Zauberern: die Mutter in einem – offen gesagt atemberaubenden – Trägertop mit Leopardenmuster, der Vater in einem frisch gekauften irischen Rugby-Trikot und der Junge und das Mädchen mit so großen Augen, wdass ihre Köpfe kaum noch Platz für den Rest ihrer Gesichtszüge hatten.

»Entschuldigen Sie«, sagte die Mutter. Es handelte sich um Amerikaner. »Sie sind nicht zufällig Walküre Unruh, oder? Es ist nur so, wir sind zu Besuch hier … und wir sind alle große, wirklich riesige Bewunderer von Ihnen, und wir haben Sie gesehen, und ich sagte zu meinem Mann, du weißt, wer das ist, oder? Aber er hatte Sie noch gar nicht gesehen.«

»Ich stand mit dem Rücken zu Ihnen«, fügte der Vater erklärend hinzu.

Die Mutter nickte. »Er stand mit dem Rücken zu Ihnen. Und ich sagte zu ihm, weißt du, wer das ist? Das ist Walküre Unruh. Und die Kinder – das sind unsere beiden, der kleine Kyle und die kleine Amanda – haben zum ersten Mal von ihren Tablets aufgeschaut, und, na ja, Sie sehen es ja an ihren Gesichtern. Kinder, sagt bitte Hallo zu Miss Unruh.«

Der Junge wurde rot und brachte kein Wort heraus, und das Mädchen krächzte ein »Hi«.

Walküre schenkte den beiden ein Lächeln und schüttelte ihnen die Hand. »Hallo, Kyle. Hallo, Amanda.«

»Wenn ich älter bin, möchte ich mich auch Walküre nennen«, flüsterte Amanda.

Die Mutter lachte verlegen. »Das sagt sie praktisch seit dem Tag, an dem wir ihr von angenommenen Namen erzählt haben, aber wir haben ihr gesagt …«

»Wir haben ihr gesagt, dass es nur eine Walküre Unruh gibt«, sagte der Vater mit einem leisen Lachen.

»›Nur eine Walküre Unruh‹, haben wir ihr gesagt. Miss Unruh, es tut uns leid, dass wir Sie beim Mittagessen gestört haben, aber wir mussten einfach vorbeikommen und … wir mussten einfach Danke sagen. Darquise ist … Sie ist ein Teil von Ihnen. Sie ist gewissermaßen Sie, und Sie sind sie, und wir … wir beten jeden Tag zu ihr, um ihr für diese Welt zu danken und dafür, dass sie uns alle zurückgebracht hat. Seit der Auslöschung, seit dem Großen Neustart erfreuen wir uns an jedem einzelnen Moment, der uns gegeben ist. Ich danke Ihnen dafür, Miss Unruh. Vielen Dank.«

»Vielen Dank«, wiederholte der Mann und verbeugte sich förmlich.

Walküre lächelte und wusste nicht, was sie sagen sollte. Also erwiderte sie: »Cool.«

Die Mutter wischte sich eine Träne aus dem Auge. »Dürfen wir Sie um ein Foto bitten?«

Militsa fuhr mit ihrem Mittagessen fort und tat ihr Bestes, um ihr Grinsen zu verbergen, während Walküre für eine Reihe von Fotos posierte und sich dann von der Familie verabschiedete. Als diese zum Ausgang lief, rief sie Amanda zurück, und das kleine Mädchen kam noch einmal zu ihr.

»Wenn du älter bist, kannst du definitiv den Namen Walküre annehmen, falls du das möchtest«, sagte sie.

Amanda strahlte und hüpfte dann aus der Tür.

Walküre wandte sich wieder ihrem Teller zu.

»Du bist so ein Softie«, sagte Militsa.

»Pssst. Ich tue mein Bestes, ein Vorbild und eine Inspiration für alle kleinen Mädchen zu sein.«

»Du wirst eines Tages eine tolle Mutter werden«, sagte Militsa lachend, und Walküre verschluckte sich fast an ihrem Essen. Glücklicherweise wurde sie durch eine Nachricht auf ihrem Handy gerettet.

»Ich muss los«, verkündete sie.

»Grüß Skulduggery von mir.«

Walküre gab ihr einen Kuss und verließ das Café. Der Himmel hatte sich seit dem Morgen aufgeklart. Also band sie ihre Haare zurück und tippte auf den schwarzen Metallschädel an ihrem Gürtel. Der Nekronautenanzug floss über ihre Kleidung, und sie stieg in die Luft, wobei sie einen Strahl weißer Energie hinter sich herzog.

Auf ihrem Weg flog sie über die Corrival-Schule hinweg. Dort wimmelte es normalerweise nur so von Schülern, aber in den Sommermonaten wurde es auf dem Campus etwas ruhiger, mit viel weniger Dramen und lebensgefährlichen Verletzungen. Zwar kam es immer noch zu Unfällen – selbst erwachsene Zauberer wie Militsa brachten sich bei ihren Forschungen und Experimenten in alle möglichen Schwierigkeiten –, aber sobald die Zahl gewisser abenteuerlustiger und unerschrockener Schüler zurückging, entspannte sich die Lage deutlich.

Walküre schwebte langsam über die Straßen hinweg. Eigentlich hätte sie die weiße, stilisierte Schädelmaske unter ihrer Kapuze hervorziehen und tragen sollen. Beim letzten Mal, als ihr ein Staubpartikel ins Auge geraten war, hatte sie eine Bruchlandung auf dem Enthauptungspfad hingelegt, vor Dutzenden von Leuten, die viel zu sehr damit beschäftigt waren, Fotos von ihr zu machen, um ihr aufzuhelfen. Aber sie liebte das Rauschen des Winds in ihrem Gesicht, also ließ sie die Maske in der Kapuze und die Kapuze, wo sie war.

Schließlich näherte sie sich den Zwillingsbauten, die hoch über der Stadt aufragten: die Dunkle Kathedrale, in der Darquise angebetet und Walküre besungen wurde, und das Oberste Sanktuarium, das sich der Großmagier und sein Ältestenrat mit dem Bürgermeister von Roarhaven teilten. Sie steuerte auf das Sanktuarium zu und landete so plötzlich auf der obersten Stufe der Treppe, dass ein dort stehender Mann aufschrie und die Akten fallen ließ, die er bei sich trug.

»Tut mir leid«, sagte sie, während ihr Anzug in den schwarzen Schädel zurückfloss und sie auf die Tür zusteuerte. Rasch durchquerte sie die Eingangshalle und nahm den Aufzug nach oben.

Skulduggery erwartete sie bereits. Er klopfte auf seine Taschenuhr, bevor er sie wieder einsteckte. »Du bist spät dran.«

»Jetzt weißt du, wie sich das anfühlt«, erwiderte Walküre, löste ihre Haare aus dem Pferdeschwanz und schüttelte sie aus, während sie sich auf den Weg machten. »Aber wenigstens weißt du, warum ich mich verspätet habe – ich war mit einer scharfen Braut essen. Weshalb warst du heute Morgen zu spät?«

»Ich hatte Dinge.«

»Dinge?«

»Zu erledigen.«

»Dinge zu erledigen. Du hattest Dinge zu erledigen. Mehr willst du mir nicht verraten?«

»Ich würde dir wirklich gern mehr erzählen, aber allem Anschein nach werden wir jeden Moment unterbrochen.«

Cerise trat zu ihnen, ihr Tablet eng an die Brust gepresst. »Schlichter«, sagte sie, »der Großmagier hat jetzt Zeit für euch. Wenn ihr mir bitte folgen wollt?«

Sie führte sie zum Büro des Großmagiers, öffnete die Tür und ließ sie passieren.

Seit seinem Amtsantritt hatte Grässlich dem Bürgermeister das riesige Büro im obersten Stock des Sanktuariums überlassen und war in etwas bescheidenere Räumlichkeiten umgezogen, die ein paar Stockwerke tiefer lagen. Es handelte sich noch immer um ein großes Büro, mit Regalen an den Wänden, in denen wichtige Bücher und uralte Artefakte standen, und es bot noch immer einen grandiosen Blick über die Stadt, aber es schien weniger in seine eigene Autorität verliebt zu sein. In der Mitte des Raums stand ein runder Eichentisch, und an der Seite befand sich Grässlichs Schreibtisch – ein Schreibtisch, auf den Grässlich Schneider seinen schlafenden Kopf gebettet hatte.