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Wenn du die Sterne erst für dich beansprucht hast, kannst du auch ihre Freiheit garantieren? »Skyward Flight« versammelt drei actionreiche Kurzgeschichten aus dem Universum von Brandon Sandersons Science-Fiction-Reihe »Claim the Stars«. Während die Sternenjäger-Pilotin Spensa im Nirgendwo festsitzt, bleiben ihre Gefährten FM und Jorgen mit einem neuen Auftrag auf dem Planeten Detritus zurück: Sie sollen herausfinden, wie die von Spensa gestohlenen Hyperantriebe funktionieren. Denn nur so kann die Menschheit von Detritus entkommen und Verbündete unter anderen Spezies finden, die ebenfalls von der Superiority unterdrückt werden. Dann erhalten FM und Jorgen einen Notruf der Ministerin Cuna vom verlassenen Außenposten Sunreach. Und auch Alaniks Volk auf dem Planeten ReDawn sowie die Kitsen auf Evershore brauchen dringend die Unterstützung von Skyward Flight in ihrem verzweifelten Kampf um Freiheit … Zusammen mit Co-Autorin Janci Patterson hat Bestseller-Autor Brandon Sanderson sein Science-Fiction-Universum rund um die junge Pilotin Spensa um drei actiongeladene Kurzgeschichten erweitert: Die Erzählungen »Sunreach«, »ReDawn« und »Evershore« werden aus der Perspektive von Spensas Freunden erzählt und spielen zwischen »Starsight« und »Cytonic« bzw. während der Ereignisse von »Cytonic« Der hochwertig ausgestattete Sammelband »Skyward Flight« enthält exklusive Illustrationen der Hauptfiguren – ein tolles Geschenk für Science-Fiction-Fans. Die SF-Romane der Reihe »Claim the Stars« im Überblick: - Skyward – Der Ruf der Sterne - Starsight – Bis zum Ende der Galaxie - Skyward Flight (Kurzgeschichten »Sunreach«, »ReDawn« und »Evershore«) - Cytonic – Unendlich weit von Zuhause
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Seitenzahl: 825
Brandon Sanderson / Janci Patterson
Sunreach - Redawn - Evershore
Aus dem amerikanischen Englisch von Oliver Plaschka
Knaur eBooks
Während die Sternenjägerpilotin Spensa im Nirgendwo festsitzt, bleiben ihre Gefährten FM und Jorgen mit einem neuen Auftrag auf Detritus zurück: Sie sollen herausfinden, wie die Hyperantriebe funktionieren, damit die Menschheit von dem Planeten entkommen und Verbündete unter anderen Spezies finden kann, die ebenfalls von der Superiority unterdrückt werden. Dann erhalten die Freunde einen Notruf der Ministerin Cuna vom verlassenen Außenposten Sunreach. Und auch Alaniks Volk auf dem Planeten ReDawn sowie die Kitsen auf Evershore brauchen dringend die Unterstützung von Skyward Flight in ihrem verzweifelten Kampf um Freiheit …
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Widmung
Sunreach
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
Epilog
ReDawn
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
Epilog
Evershore
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
Epilog
Und falls nicht – dann [...]
Gestrichene Szenen aus Skyward
Kommentar
1. Kapitel
Kommentar
2. Kapitel
Kommentar
1. Kapitel
Kommentar
43. Kapitel
Kommentar
46. Kapitel
Danksagungen
Für Cortana Olds, meine erste Leserin.
Für Kenton Olds, der mich täglich zum Lachen bringt.
Für Darci Cole, die mir eine Weile
ihren Glauben lieh.
–J. P.
Am Tag, an dem der Delver kam, sah ich gerade zu den Sternen auf.
Selbst nach vielen Monaten hatte ich mich noch nicht an das Leben im Himmel gewöhnt. Ich war unterirdisch aufgewachsen, in einer Höhle so tief, dass es Stunden brauchte, von dort die Oberfläche zu erreichen. Ich hatte mich sicher gefühlt, begraben unter mehreren Kilometern Felsgestein, von anderen Höhlen über unserer geschützt. So tief unten konnte nichts uns behelligen.
Mittlerweile nannten mich alle FM – meine Eltern aber hatten mir den Namen Freyja gegeben, nach der Kriegergöttin unserer Vorfahren. Eine große Kämpferin war ich aber nie. Dass ich zur Flugschule ging und meinen Abschluss machte, hatte man von mir erwartet; aber dass ich danach weitermachte, hatte alle überrascht. Als Pilotin hätte ich so ziemlich jeden Job in unserer Höhle haben können. Stattdessen war ich von der Oberfläche des Planeten – so fremd und offen und ungeschützt – auf eine der enormen Plattformen umgezogen, die Detritus umkreisten und uns vor Gefahren aus dem All schützten. Mein Vater pflegte zu sagen, dass ich wohl an Himmelssehnsucht litt, dabei war es genau andersrum – der Himmel jagte mir Angst ein. Er war so endlos groß, dass er mich zu verschlingen drohte.
Über mir kreuzten sich die Bahnen der anderen Plattformen, die den Himmel beherrschten. Sie versperrten den Blick auf die ewige Schwärze und die sonderbaren weißen Sterne darin, von denen ich erst kurz vor meinem Eintritt in die Defiant Defense Forces erfahren hatte. Mein Alarm ging los – ein drängendes Piepsen meines Empfängers, das meine Staffel in den Einsatz rief. Dass man Staffeln von einem Moment auf den anderen brauchte, war völlig normal; auf plötzliche Sirenen hatte ich seit meinem ersten Tag als Kadettin reagiert.
Heute aber war die Hälfte meiner Staffel gar nicht da, und wir Übrigen hatten angenommen, dass wir uns etwas Freizeit leisten konnten. Schließlich würde man uns doch kaum losschicken, solange unser Staffelführer Jorgen unten auf Detritus war?
Anscheinend hatten wir uns getäuscht. Als ich den Hangar erreichte, begriff ich auch sofort, weshalb: Man hatte nicht bloß uns zu den Schiffen beordert. Alle Jäger wurden startbereit gemacht, und die Piloten sprangen schon in ihre Cockpits, während die Bodencrew noch hektisch ihre Checklisten durchging.
Ich hielt nach dem Rest meiner Staffel Ausschau. Ohne unseren Staffelführer mussten wir erst klären, wer das Kommando hatte. Außer mir wohnten noch vier von uns auf Plattform Eins: Kimmalyn, die schon zur ursprünglichen Staffel gehört hatte, und unsere drei jüngeren Mitglieder: Sadie, T-Stall und Catnip. Nedd und Arturo waren mit Jorgen auf Detritus unterwegs, von daher waren Kimmalyn und ich die wahrscheinlichsten Kandidaten. Ich wollte es aber gar nicht haben, und ich war mir sicher, dass es Kimmalyn ähnlich erging.
Gerade konnte ich niemanden von uns entdecken, aber meine Freundin Lizard von der Nightmare-Staffel winkte mir aus dem offenen Cockpit zu. Sie hatte hellblaue Augen und hüftlanges schwarzes Haar. Ich hatte keine Ahnung, wie sie es damit aushielt – mein Haar störte mich schon schulterlang. Lizards richtiger Name war Leiko, doch genau wie bei mir benutzten die Leute fast nur ihr Rufzeichen.
»FM!«, rief sie. »Sie legen unsere Staffeln zusammen. Nose hat gesagt, ihr sollt eure Funkgeräte auf unseren Kanal einstellen.«
Den Sternen sei Dank. Natürlich hätte ich die Befehle jedes Staffelführers befolgt, aber Nose kannte ich schon, und viele Mitglieder der Nightmare-Staffel waren meine Freunde. Lizard war ungefähr so alt wie ich – sie hatte das Kadettentraining direkt vor mir durchlaufen. Normalerweise hatte der jüngste Jahrgang es immer schwer, aber dank unserer Pilotin Spin war die Skyward-Staffel fast so was wie eine Legende. Die meisten frischgebackenen Piloten konnten von dem Respekt, den man uns entgegenbrachte, bloß träumen.
»Irgendeine Ahnung, was passiert ist?«, fragte ich Lizard.
»Keinen Schimmer. Aber Nose ist schon gestartet. Wir beeilen uns besser.«
»Danke, Lizard.« Ich rannte zu meinem Jäger und sah, dass auch Kimmalyn bereits in ihrem Cockpit saß. Kaum dass ich eingestiegen war, blinkte es an meinem Funkgerät.
»FM, weißt du, was los ist?«, fragte Kimmalyn auf einem privaten Kanal, während ich mein Schiff startklar machte.
»Leider nein. Ein Angriff vielleicht?« Wir hatten es oft mit kleineren Gruppen von Krell zu tun – aber nur eine Großoffensive würde es rechtfertigen, uns alle zugleich loszuschicken.
»Ich weiß es auch nicht«, sagte Kimmalyn. »Aber ich habe gerade Spin getroffen. Sie ist zurück.«
Blinzelnd hielt ich inne. Mit ihren seltsamen Psychokräften hatte Spensa unsere kleine hoffnungslose Heimatwelt verlassen und sich auf einen verrückten Agenteneinsatz begeben, um die Hypersprungtechnologie unserer Feinde zu stehlen. Ohne die saßen wir nämlich hier fest wie Fische in einem Zuchtbecken, den Speer schon über uns. Seit Wochen war Spensa nun schon weg, und Jorgen und Admiral Cobb sorgten sich, ob sie jemals zurückkam.
»Hatte sie ein Hypersprungtriebwerk dabei?«, fragte ich.
»Keine Ahnung. Aber es dürfte kaum ein Zufall sein, dass man uns ausgerechnet jetzt braucht, oder? Vermutlich hat Spensa Ärger im Gepäck. Wie die Heilige schon sagte: Ärger zieht Ärger an.«
Insgeheim gab ich Kimmalyn recht. So froh ich über Spensas Rückkehr war, ich hielt es für kein gutes Zeichen: Wenn es eine Katastrophe gab, steckte Spin meist mittendrin. Nicht dass sie zwangsläufig Schuld daran trug – sie folgten ihr schlicht auf dem Fuß.
Ich aktivierte meinen Flugring, dann schoss ich aus dem Hangar ins All zu den dort wartenden Schiffen. Die Plattform schwebte hoch über dem Planeten und war Teil der vielen Schichten von Stationen und Trümmerteilen, die von unten gesehen den kompletten Himmel bedeckten.
Dreck, das waren wirklich viele Schiffe. Was für Probleme Spin uns auch mitgebracht hatte, Admiral Cobb ließ uns alle dran teilhaben. Wenn dies der Tag war, an dem die Superiority vorhatte, uns zu vernichten, dann mussten wir alles aufbieten, um sie zurückzuschlagen.
Ich aktivierte den Kanal der Nightmare-Staffel, und Kimmalyn und ich flogen zu den von Nose genannten Koordinaten. Dort im leeren Raum zwischen den Plattformen erwartete uns der Rest unserer Staffel: T-Stall und Catnip – zwei lässige Typen, mit denen man eine Menge Spaß haben konnte, die manchmal aber auf dumme Ideen kamen – und Sadie, Rufzeichen Sentry, die in Spins Abwesenheit meine Wingmate geworden war.
»Willkommen in der Nightmare-Staffel«, begrüßte uns Nose. »Quirk, du fliegst heute mit Sushi.«
»Verstanden«, sagte Kimmalyn.
»Damit sind wir vollzählig«, fuhr Nose fort. »Wir folgen unseren Navidaten zwischen den Plattformen durch und fliegen dann rüber zur rechten Flanke. Alle bestätigen.«
Der Reihe nach gaben die Schiffe ihre Nummern und Rufzeichen durch, erst Nightmare, dann wir. Wir hatten unsere interne Nummerierung bereits mehrfach geändert; im Augenblick war ich Skyward Fünf.
In gerader Formation folgten wir Nose mit Mag-3 zwischen den Plattformen durch, der Krümmung des Planeten folgend. Sobald wir die autonomen Geschützplattformen hinter uns gelassen hatten, bildeten wir ein weites V, um uns den angreifenden Schiffen zu stellen.
Tief in der Schwärze des Alls sah ich die beiden Schlachtschiffe, die uns die letzten Wochen beobachtet hatten – monströs große Schatten, so anders als unsere stromlinienförmigen Jäger. Sie waren eindeutig nicht auf Atmosphärenflug ausgelegt. Wir Menschen besaßen so etwas nicht. Selbst unsere größten Transporter nahmen nicht mehr als ein paar Dutzend Passagiere auf.
Dahinter sah ich nun ein neues großes, klobiges Schiff – sowie einen Schwarm kleinerer Schiffe, vor dem dunklen Hintergrund kaum zu erkennen. Wahrscheinlich rasten sie auf uns zu, doch selbst auf dem Monitor war es auf diese Entfernung schwierig zu sagen.
»Unsere Befehle lauten, den Feind von der rechten Flanke aus anzugreifen«, erklärte Nose. »Sie setzen eine Menge Drohnen ein, außerdem fünfzig bemannte Schiffe.«
Fünfzig? Wir waren es gewohnt, gegen größere Drohnenaufgebote zu kämpfen, auch gegen einzelne Piloten – aber nicht gegen fünfzig auf einmal.
»Den Informationen des Oberkommandos zufolge handelt es sich nicht um Toppiloten«, fuhr Nose fort. »Aber Genaueres wissen wir nicht, von daher sollen wir sie beschäftigen und möglichst weit von Plattform Eins weglocken.«
Weitere Staffeln sammelten sich vor den Verteidigungsplattformen, warteten aber noch auf Befehle. Unser erster Anflug war also ein Testballon: Da das Oberkommando noch nicht wusste, was von diesen Gegnern zu halten war, studierten sie erst ihr Verhalten, ehe sie die komplette Flotte losschickten. Strategisch war das durchaus sinnvoll.
Selbst ein Teil dieses Tests zu sein, war hingegen weniger erfreulich. In meiner Heimathöhle hatte es ein Versuchslabor gegeben, in dem man alles von neuer Zahnpasta bis hin zu giftigen Chemikalien untersucht hatte. Nur zu gern würden meine Freunde bei den Streitbaren die Ratten dort befreien, die ein kurzes und unglückliches Dasein als Versuchstiere fristeten. Einmal hatte ich eine gesehen: Sie hatte sich das Fell von den Hinterbeinen gerissen, die voller Bläschen gewesen waren, wohl von irgendeiner chemischen Reaktion – hoffentlich nicht von der Zahnpasta.
Manchmal fühlte ich mich diesen Ratten jedenfalls sehr verbunden.
Wir zogen über die Plattformen hinweg.
»Was soll das heißen, wir wissen nichts Genaues über unsere Gegner?«, fragte Sadie auf einem privaten Kanal. »Woher wollen wir dann wissen, dass es keine Toppiloten sind?«
»Keine Ahnung«, erwiderte ich. »Aber wir werden es wohl vor allen anderen rausfinden.«
Sadie schwieg kurz, dann leuchtete die Anzeige ihres Kanals abermals auf. »Ich wünschte, die anderen wären auch hier.«
»Damit meinst du Spin.« Es war offensichtlich, dass Sadie Spin verehrte. Ich versuchte, sie nicht deshalb aufzuziehen. Andere, besonders Nedd, hielten sich weniger zurück.
»Ich meine, sie ist eine unglaubliche Kämpferin! Meinst du nicht, unsere Chancen stünden besser, wenn sie hier wäre?«
»Quirk sagte, sie hätte Spin noch kurz vorm Start gesehen. Wahrscheinlich ist sie also hier.«
Bloß war sie nicht mit uns im Einsatz. Was hatte das zu bedeuten?
»Wirklich?«, fragte Sadie. »Das sind dann doch gute Nachrichten, oder?«
Sadie hatte schon ein paarmal mit uns gekämpft, doch die Krell-Attacken waren seit der Ankunft der Schlachtschiffe seltener geworden. »Wahrscheinlich schon. Aber noch besser wäre es, nicht lange über unsere Chancen nachzudenken und uns stattdessen auf unsere Arbeit zu konzentrieren.«
»Klar«, sagte Sadie. »Konzentrieren. Das würde auch Spin so machen.«
»Sie würde den Gegner auch lautstark beschimpfen und bedrohen. Vielleicht wäre das ja auch für dich was.«
»Au ja! Nieder mit euch, ihr scheußlichen … Schiffe … der Scheußlichkeit! Möget ihr einen schmerzhaften Flammentod sterben! Wie war das?«
»Das war auf jeden Fall ein Anfang. Geht es dir schon besser?«
»Ein bisschen. Wahrscheinlich brauche ich noch etwas Übung. Möget ihr in feurigen Explosionen explodieren, ihr Schiffe höchstwahrscheinlich ohne Toppiloten!«
»Hm, Sentry? Vielleicht solltest du in Ruhe üben und uns nur an den Highlights teilhaben lassen.«
»Oh, sicher. Mach ich.«
Sie beendete die Verbindung und ließ mich mit meinen Gedanken allein. Was ich über Konzentration gesagt hatte, stimmte zwar – aber es war mir immer schon leichter gefallen, Ratschläge zu erteilen, als sie zu befolgen.
»Staffel bereit?«, fragte Nose.
»Skyward Fünf bereit«, bestätigte ich und hörte die anderen meinem Beispiel folgen. Wir waren mehr Schiffe als sonst, aber dass Jorgen, Nedd und Arturo fehlten, fühlte sich seltsam an.
Sicher war niemand von uns dumm genug – abgesehen von T-Stall vielleicht –, den offiziellen Grund für ihre Abwesenheit zu glauben. Man schickte den Staffelführer samt seiner beiden Vertreter doch nicht gleichzeitig in den Urlaub, wenn es keinen echten Anlass dafür gab.
Als wir uns der rechten Flanke näherten, verließen mehrere feindliche Schiffe die Formation und hielten auf uns zu.
»Sentry, FM«, rief uns Nose. »Übernehmt die Führung und stellt Feindkontakt her. Dann Ausweichmanöver. T-Stall, Catnip, hinterher. Seht, ob ihr sie ködern könnt!«
Sadie und ich beschleunigten und rasten auf die Gegner zu. Vier feindliche Schiffe nahmen sofort die Verfolgung auf.
Wir flogen Ausweichmanöver, damit sie uns nicht mit ihren Destruktoren erwischten, und lockten sie am Rande der Verteidigungsplattformen entlang. Laut meinen Sensoren waren zwei Verfolger Drohnen und die anderen beiden bemannt. Normalerweise waren diese Schiffe deutlich gefährlicher.
»FM und Sentry, Kurs halten!«, befahl Nose. »Quirk, schnapp sie dir.«
»Verstanden, Sir!«, rief Kimmalyn. Nur Sekunden später erlitt das Schiff hinter mir einen Treffer und musste die Verfolgung abbrechen.
Ich rief Sadie. »Wir kommen gleich an einer intakten Geschützstellung vorbei. Schauen wir mal, ob wir Quirk etwas automatische Unterstützung verschaffen können.«
»Ich gebe dir Deckung.« Sadie begab sich in Position, während ich über die teilweise zerstörten Plattformen hinwegglitt, die Detritus wie eine weite, zersplitterte Schale umgaben. Noch immer flog ich Zickzack, um den gegnerischen Feuerstößen zu entgehen. Doch mit jedem Manöver sank ich etwas tiefer, die Anzeigen, die mir meine Höhe verrieten, sorgsam im Blick. Die meisten Plattformen arbeiteten autonom und würden mich genauso ins Visier nehmen wie meine Gegner. Dem Ingenieurskorps war es noch nicht gelungen, sämtliche Systeme unter unsere Kontrolle zu stellen. Die feindlichen Schiffe – Drohnen wie Piloten – waren klug genug, Abstand zu den Geschützen zu halten; aber manchmal, wenn wir sie in eine Hetzjagd verwickelten, gelang es uns, sie nahe genug …
Jetzt.
Einer meiner Verfolger scherte zu weit aus, und die Geschützstellung auf der nächstgelegenen Plattform eröffnete das Feuer. In einer stillen Explosion verschwand das Drohnenschiff von meinem Schirm. Kimmalyn schoss auf die andere Drohne, während Sadie das verbliebene Schiff in eine schlaue Reihe von Manövern verwickelte, um es mir vors Visier zu treiben. Ich erwischte es mit meiner Lichtlanze, katapultierte mich um es herum und beförderte es damit gleichsam vor die Läufe einer Geschützstellung. Die Plattform schoss, die Tanks des Schiffs flammten gleißend auf, und das Schiff zerplatzte in seine Bestandteile.
»Nett«, kommentierte Sadie.
Ich hätte unsere Leistung eher als passabel eingestuft, aber ich wollte nicht mitten in der Schlacht mit ihr streiten. Sonst verletzte ich noch ihre Gefühle, und das wäre schlecht für die Moral.
»Danke«, sagte ich darum. »Gute Arbeit.«
»Das meiste hast ja du gemacht.«
Sadie war durchaus besser im Cockpit, als sie sich eingestand, aber auch die Diskussion hob ich mir besser für später auf.
Wir machten kehrt und flogen zügig zur rechten Flanke und unserer Staffel zurück. Auch andere Staffeln hatten sich dem Kampf inzwischen angeschlossen, und es sah ganz gut für uns aus.
Wenn das alles war, was die Superiority zu bieten hatte, standen unsere Chancen vielleicht doch nicht so schlecht.
Wir erreichten Nose und die anderen und halfen ihnen mit ein paar Gegnern. Einem kam Sadie nahe genug, um seinen Schild mit ihrem IMP auszuschalten, dann scherte sie aus, während ich vorstieß und das nunmehr schutzlose Schiff mit meinen Destruktoren beschoss.
»Quirk, kannst du Sentry Deckung geben?«, fragte ich Kimmalyn auf dem allgemeinen Kanal.
»Quirk ist gerade beschäftigt«, meldete sich Lizard. »Ich übernehme.«
Das getroffene Schiff verging in einer Explosion; ohne jeden Luftwiderstand flogen seine Trümmer aber weiter geradeaus. Ich kehrte zurück zu Sadie und Lizard und erreichte sie gerade, als Sadie ihren Schild wieder zündete.
»Gute Arbeit«, lobte Nose auf dem allgemeinen Kanal. »Skyward-Staffel, es ist mir stets ein Vergnügen.«
Ich lächelte. Wir funktionierten gut als Team, obwohl wir nicht so oft gemeinsam flogen. Ehe ich zu den DDF gekommen war, hatte ich die Mentalität, die Gruppen zum Kämpfen trieb – selbst dann noch, wenn ihre Freunde ringsum starben –, nicht verstanden. Ich hatte Gewalt nie für die beste Lösung gehalten; natürlich war sie unsere einzige Rettung vor dem Untergang gewesen, solange die Krell uns ständig bombardiert hatten. Das Gerede von Ruhm hatte mich dennoch verstört – oder wie die Nationalversammlung immer alles mit der Behauptung rechtfertigte, es würde uns im Kampf gegen die Krell helfen. Ich hatte Piloten für Schafe gehalten. Begabte, entschlossene und respektierte Schafe, die taten, wozu man sie trieb, weil sie es nicht besser wussten.
Mittlerweile begriff ich, was uns zusammenschweißte – und das war nicht Dummheit. Es war das Band zwischen Menschen, die gemeinsam dem Tod entgegentraten. Es war ein Gefühl der Zusammengehörigkeit; das Gefühl, Teil von etwas Größerem und Wichtigerem zu sein. Obgleich ich nach wie vor nicht überzeugt war, dass alles daran gut war. Ich hatte nie ein Militär gebraucht, um mir meinen Platz in der Welt zu zeigen, und ich brauchte es auch heute nicht.
Doch das Wissen, dass meine Freunde ohne mich schlechter dran wären, ließ mich weiterfliegen, sosehr ich mich auch fürchtete.
»Neue Befehle«, meldete sich Nose auf dem allgemeinen Kanal. »Wir fliegen bloß noch Ausweichmanöver und schalten dann unseren Funk ab.«
Wie bitte? »Nose, hast du gesagt, den Funk abschalten?«
»So lauten die Befehle, FM. Alle Funkgeräte aus! Unter gar keinen Umständen wieder einschalten.«
Das konnte doch nicht stimmen. Ohne jede Verständigungsmöglichkeit funktionierten wir nicht mehr als Team. Man würde uns übers ganze Schlachtfeld verirren. Gute Piloten sprachen sich gut ab – das hatte ich von Cobb gelernt. Wenn wir nicht mehr miteinander reden konnten …
Nun, es war nicht ganz dasselbe, wie blind zu fliegen, aber verdammt nahe daran für meinen Geschmack.
»Heißt das, wir ziehen uns zurück?«, fragte Lizard.
Das ließe sich leichter bewerkstelligen – im Schutze der Verteidigungsplattformen und des Trümmergürtels konnten wir uns wenigstens verstecken oder zu Plattform Eins zurückkehren.
»Negativ«, sagte Nose. »Funkgeräte aus und Ausweichmanöver. Versucht, den Gegner beschäftigt zu halten, und wartet auf weitere Anweisungen.«
»Anweisungen?«, rief ich. »Wie willst du uns denn Anweisungen geben, wenn unser Funk aus ist?«
»Piloten, wir müssen Stille bewahren«, sagte Nose. »Der Befehl kommt direkt von Admiral Cobb. Bleibt bei eurem Wingmate. Wenn ihr euch verliert, sucht nach anderen Staffelmitgliedern und bleibt beieinander. Später sammeln wir euch wieder ein. Nose aus.«
Dreck. »Sentry!«, rief ich sie auf einem privaten Kanal. »Du hast Nose gehört. Wir müssen dicht beieinanderbleiben.« Ich hatte keine Ahnung, was der Kommandostab vorhatte, aber einen solchen Befehl gab Cobb nicht ohne guten Grund. »Folg mir.« Ich war die ältere Pilotin. Es war mein Job, sie am Leben zu halten.
»Oh … okay.« Sadie klang wie kurz vor einer Panik, und ich konnte es ihr nicht verübeln. Das Entsetzen kroch auch mir die Kehle hoch, als ich die Hand auf den Hauptschalter des Funks legte.
Dann legte ich ihn um.
Die Welt wurde still – abgesehen vom Summen meiner Instrumente. Die Schlacht ringsum tobte weiter, aber ohne jedes Geräusch. Zum ersten Mal neidete ich Spensa die KI ihres Schiffs. Sie plapperte zwar wie Kimmalyn nach zu viel Nachtisch, aber wenigstens war es bei Spensa niemals … still.
Sadie und ich flogen in enger Formation, damit wir einander nicht verloren. Das Schlachtgeschehen zersplitterte zusehends; Schiffe fanden sich paarweise mit ihren Wingmates zusammen, während die Gegner ihre Formation weitgehend beibehielten und zu dritt oder viert Jagd auf uns machten. Zahlenmäßig waren sie uns überlegen, doch wir flogen besser und führten sie im Kreis.
Wahrscheinlich wartete Sadie ab, was ich tat. Ich brauchte einen Plan, musste einen Weg finden, diese neue Situation zu unserem Vorteil zu wenden und Befehle einzig durch meine Manöver zu kommunizieren.
Aber Sterne – diese Stille war kaum auszuhalten.
Umständlich griff ich nach dem persönlichen Empfänger an meinem Gürtel. Ich benutzte ihn sonst nie im Cockpit – Jorgen wollte nicht, dass man unnötige Gespräche beim Fliegen führte. Der Empfänger konnte aber noch etwas viel Besseres: Er spielte Musik ab.
Solche tragbaren Geräte waren selten und teuer. Mein Vater hatte ihn mir zur Abschlussprüfung geschenkt, weil ich mehr Verwendung für ihn hatte als er. Und in diesen Minuten brauchte ich etwas mit Schwung – etwas, das sich garantiert nicht von der typischen dreiköpfigen Trauerfeierband spielen ließ.
Ich wählte eins meiner Lieblingsstücke; mein Vater klassifizierte es als »Big Band«, obwohl es auch Lieder mit deutlich mehr Instrumenten gab. Ich glaubte, die Logik dahinter jedoch zu verstehen: Die Band war nicht »Big« wegen der Anzahl der Musiker (dabei waren es immer noch mehr, als in unseren Höhlen jemals gemeinsam spielten), sondern wegen ihres Sounds, so laut und kräftig, als würde die Musik einen herumschwingen und stoßen wollen.
Ich wippte mit den Füßen im Takt, während ich am Rande der Schlacht entlangflog und auf eine gute Gelegenheit wartete. Unsere Befehle lauteten, uns auf Ausweichmanöver zu beschränken, aber auch mit denen ließ sich mit etwas Glück durchaus Schaden anrichten.
Mein Moment kam, als sich drei Schiffe aus dem Schlachtgetümmel lösten und auf uns zurasten. Ich flog voraus, nickte im Rhythmus der Trommeln, und die Schiffe jagten mir nach, während Sadie zurückblieb und freies Schussfeld hatte. Sie ballerte noch etwas wild – sie hatte im Gegensatz zu uns nicht Cobb als Ausbilder gehabt, von daher hatten wir ihr noch etwas Nachhilfe geben müssen.
Die Destruktoren richteten gegen die Schilde der Krell auch nur wenig aus; aber ich konnte schlecht meinen IMP einsetzen und das als »defensiv« deklarieren. Außerdem würde der IMP auch meinen Schild vernichten, und das traute ich mich nicht, solange ich im Falle von Problemen keine Hilfe über Funk rufen durfte.
Defensiv hieß aber auch nicht, uns von diesen drei Schiffen abschießen zu lassen. Mit rhythmisch wippendem Kopf flog ich eine Schleife, zurück zu ein paar Trümmern, die gerade außerhalb der Geschützreichweite über den Plattformen schwebten.
Dann schnappte ich mir eins der Drohnenschiffe mit meiner Lichtlanze und gab Schub, zog es auf den nächsten Brocken zu. Sadie lockte die anderen beiden Schiffe hinterher. Sobald ich die Trümmer erreicht hatte, rotierte ich meine Steuerdüsen und löste in letzter Sekunde die Lichtlanze, sodass das feindliche Schiff gegen den Fels krachte und ich dahinter in Deckung verschwand.
Ich hatte es wohl etwas übertrieben: Meine Gravikaps versagten, und die g-Kräfte pressten mir das Blut in den Kopf. Einen Augenblick lang wurde alles rot, aber ich machte langsamer und schaffte es, bei Bewusstsein zu bleiben, wenngleich die Musik in meinen Ohren sich zu leiern schien und die Lichter meiner Anzeige verschwammen.
Sobald ich wieder bei Sinnen war, sah ich Sadie auf mich zufliegen. Ihre beiden Verfolger hatte sie in der Zwischenzeit entweder abgeschüttelt oder zerstört – in jedem Fall war ich froh, Sadie zu sehen. Ich hob schon den Finger, um sie zu rufen, da fiel es mir wieder ein.
Funkstille – wir sollten Funkstille wahren.
Und ich verstand noch immer nicht, wieso.Während die Musik zu einem donnernden Crescendo anschwoll, machten Sadie und ich kehrt und schwebten abermals der Schlacht entgegen.
Das Piepen meines Annäherungssensors übertönte die Musik und warnte mich vor den Krell, die mit hoher Geschwindigkeit auf mich zukamen. Ich wagte es nicht, die Musik lauter zu drehen, sosehr sie mich auch lockte. Im Takt der Trompete flog ich Zickzack, doch schon passte sich der erste Gegner an mich an. Fast schien es, als wollte er mit mir kollidieren. Ich tauchte ab, Sadie folgte mir …
Einer unserer eigenen Jäger zog direkt vor meiner Nase vorbei. Ich riss mein Schiff herum.
Nightmare Sieben – Lizards Schiff. Vier Gegner folgten ihr, nur einer scherte aus, um mich mit Destruktorfeuer einzudecken.
Dreck. Wo steckte Lizards Wingmate? Sie war dicht an mir vorbeigeflogen, um meine Aufmerksamkeit zu erregen – weil sie nicht nach Hilfe rufen konnte. Ich kippte meinen Booster und folgte ihr. Hinter mir entlud Sadie ihre Destruktoren auf unseren einzelnen Gegner. Die Schüsse schienen dem Takt der Snare Drum zu folgen. Dann flog sie einen Ahlstrom-Looping und mir nach. Ich musste mich darauf verlassen, dass sie mit ihrem Verfolger allein zurechtkam.
Lizard schwebte mit ihren vier Verfolgern in weitaus größerer Gefahr. Wir hatten zwar das bessere Training, die Superiority dafür die stärkeren Waffen und Schilde. Ich beschleunigte auf Mag-4, um Schritt zu halten. Lizard vollführte eine gerollte Doppelschere, doch ihre Verfolger ließen sich nicht abschütteln. Es handelte sich um pilotengesteuerte Schiffe, die sich besser abstimmten als die Drohnenschiffe. Zum Ende des Manövers erwischte ein Krell sie mit seinem Destruktor.
Wir mussten Lizard helfen. Sie hatte noch ihren Schild, doch der flackerte schon. Sie wusste, was sie tat – schon hielt sie Kurs auf die Plattformen, wo wir die Gegner in Reichweite der Geschütze drängen konnten. Wir waren aber noch zu weit entfernt. Sie würde es nicht schaffen.
Mein ganzer Körper bebte zu den Synkopen der Musik. Ich eröffnete das Feuer auf den nächsten Krell, zwang ihn auszuweichen und die Verfolgung aufzugeben. Sadie schloss zu mir auf, beschleunigte und übernahm die Führung.
Dass Sadie nun das Feuer auf sich zog, gab mir Gelegenheit, mich um die verbleibenden Schiffe zu kümmern. Es war ein riskantes Manöver – die Destruktoren der Krell konnten selbst einen vollen Schild leicht zerstören. Hätte ich den Funk benutzen dürfen, hätte ich sie dafür angeschrien. Jorgen hätte einem solchen Leichtsinn niemals zugestimmt.
Doch anfunken durfte ich sie nicht. Stattdessen folgte ich ihr und griff einen Krelljäger an.
Wir näherten uns nun den Plattformen. Ein weiterer Krell schluckte Sadies Köder und stürzte sich auf sie; sie entging dem Beschuss perfekt mit einer doppelten S-Schleife.
Ich feuerte meine Lichtlanze ab, verfehlte jedoch. Die restlichen beiden Schiffe stießen auf Lizard herab und feuerten aus allen Rohren.
Den meisten Schüssen konnte sie entgehen, doch nicht allen. Mit einem hellen Blitzen brach ihr Schild zusammen.
Meine Hand fuhr zum Funkgerät, dann riss ich sie wieder zurück. Wir waren auf uns allein gestellt. Mit vollem Schub versuchte ich, die Krell von Lizard abzulenken. Wenn sie mir folgten, hatte Lizard Zeit, ihren Schild neu zu zünden.
Es funktionierte nicht. Die Krell konzentrierten sich weiter auf Lizard, und ein Destruktorschuss traf ihren Booster und schleuderte den Jäger in Richtung der Plattformen. Hilflos sah ich mit an, wie das trudelnde Schiff in die Reichweite der Geschützstellungen geriet und dort in einer hellen Flamme verging. Ein Schlag des Beckens schien die Explosion zu untermalen.
»Nein«, flüsterte ich. Nein.
Sadie flog dicht an mich heran. Lizard war fort, einfach so. Niemals wieder würde sie mir sagen, dass meine Stiefel blöd zum Overall aussahen, niemals wieder würde sie Nedd zu einem Turmbau mit Algenstreifen herausfordern. Wir konnten nichts mehr tun.
Ich konnte nicht einmal Nose Bescheid geben. Selbst Lizards Pilotennadel konnten wir nicht bergen – bei einer Explosion im Vakuum blieb nicht viel übrig. Sie würde bloß eine symbolische Zeremonie bekommen, kein echtes Pilotenbegräbnis.
Ich lauschte auf die Musik. Der Song strebte nun seinem Ende entgegen, baute sich auf, das Schlagwerk trommelte wilde Synkopen. Die Schiffe, die Lizard erwischt hatten, machten kehrt; Sadie immerhin hatte ihren Verfolger anscheinend abgeschüttelt. Gemeinsam flogen wir Schlangenlinien, bis die Verfolger es aufgaben und sich leichtere Ziele suchten.
Der Song endete, und die Stille hallte in meinen Ohren wider.
Lizard war tot. Nie wieder würde ich ihre Stimme hören. Ich startete einen weiteren Song, ein eindringliches Stück auf einem Instrument, das mein Vater als Klavier bezeichnete. Er hatte mir in den Archiven ein Bild gezeigt, aber ich begriff nicht, wie eine große Bank mit Tasten derartige Klänge erzeugen konnte, so flink und trällernd, harmonisch wie eine gut gepflegte Maschine.
Das Stück war sehr viel ruhiger als die Big Band, aber ich spürte auch kein Verlangen mehr nach so viel Schwung. Ich überholte Sadie und führte sie aus der Kampfzone. Ich brauchte einen Moment, um meinen Verstand zu klären. Wenn ich abgelenkt war, mochte das uns beiden das Leben kosten. Trauern konnte ich später noch – jetzt musste ich mich konzentrieren. Ich musste Sadie beschützen. Ich musste …
Plötzlich schien die Schwärze des Alls in Bewegung zu kommen, als zöge man verschiedene Schichten des Raums auseinander. Das Schlachtgeschehen schlug Wellen, und alles verzerrte sich. Verunsichert schüttelte ich den Kopf. Hatten die g-Kräfte irgendwelche Nachwirkungen gehabt? Was sollte ich tun, wenn ich hier draußen einen medizinischen Notfall hatte? Ich konnte weder um Hilfe rufen noch um die Erlaubnis zum Rückzug bitten.
Und so war ich selbst mit Sadie direkt neben meiner Tragfläche vollständig allein, als der tiefe Schatten die Schwärze des Alls noch mehr verfinsterte und sich wie ein Laken über alles legte. In der Ferne, jenseits der kreisenden Schiffe, erschien ein Objekt, ein weiteres Schiff vielleicht, obgleich eines, wie ich es noch nie gesehen hatte. Spitzen stachen aus seinem Zentrum hervor wie Dornen aus dem Kopf eines Morgensterns. Seine Größe war enorm – schwierig zu bestimmen auf die Distanz, vielleicht so groß wie Detritus. Fast augenblicklich verdeckten unwirkliche, unmögliche Staubwolken und Schemen die Erscheinung. Sie wogten auf den sich teilenden Falten der Realität über die Weiten des Alls. Die Klaviermusik schwoll an und ab, eine unheimliche Begleitung.
Dreck, was war das?
Mein Finger schwebte zitternd über dem Funkgerät. Immer wieder sah ich vor meinem geistigen Auge Lizards Schiff explodieren, sosehr ich den Anblick auch zu verbannen versuchte. Verlor ich den Verstand? War das eine Folge des Traumas? Ich musste doch mit jemandem reden, oder? Musste berichten, was ich da gerade sah. Je länger ich die Reaktion der anderen Schiffe studierte, desto sicherer wurde ich, dass ich nicht halluzinierte.
Ich war nicht die Einzige, die zauderte. Jäger kamen mitten im Manöver vom Kurs ab und trieben davon. Das Schlachtfeld dünnte sich aus, weil sich Schiffe an die Ränder flüchteten – wahrscheinlich, weil sie erst einmal begreifen mussten, was sie eigentlich sahen.
Ich dagegen war mir nicht mal sicher, ob es möglich war, diesen Anblick zu begreifen. Es konnte einfach nicht wahr sein – diese Farben, diese Formen waren einfach zu unverständlich, zu unerträglich.
Es musste ein Hologramm sein – oder eine Illusion wie die, der Spensas Vater erlegen war, als er seine eigenen Freunde angegriffen hatte. Nur dass solche Täuschungen eigentlich bloß bei Cytonikern funktionierten, Menschen mit einem mentalen Defekt – oder Vorzug, wie wir zu lernen begannen –, mit dem sie durch die Weiten des Universums reisen oder kommunizieren konnten. Andere Menschen sollten davon aber nicht betroffen sein.
Und falls es ein Hologramm war, war es furchtbar groß. Was sollte so etwas projizieren? Die feindlichen Schlachtschiffe? Die waren seit Wochen über Detritus geparkt und hatten bislang nichts Vergleichbares getan. Davon abgesehen schien die Vision denselben Effekt auf Defiant- wie auf Superiority-Schiffe zu haben. Ich gab einen einzelnen Schuss ab und sah den Staub entlang der Schussbahn wallen, eine direkte Reaktion.
Der Staub wenigstens war also echt. Aber was war dieses Ding, woher war es gekommen?
Als Sadies Schiff an mir vorbeiglitt und sich wieder zurückfallen ließ, zuckte ich zusammen. Sie flog gefährlich nahe, so nahe, dass ich durch ihr gläsernes Verdeck sehen konnte.
Sadie sah mich an, die Augen weit vor Angst. Ich hatte keinen Schimmer, was ich tun sollte – ich konnte nicht mit ihr reden. Also schüttelte ich bloß den Kopf. Ich wusste nicht, was da gerade vorging. Wie es aussah, wusste niemand, was geschah.
Und dann, einfach so, schlugen die Falten der Wirklichkeit abermals Wellen, und das fremde Phänomen verschwand. Das Schlachtfeld wurde wiederhergestellt, klar und deutlich. Der Staub war fort, als hätte man ihn abgesaugt, zurück die Risse der Realität, aus denen er gekommen war.
Mein Finger verharrte über dem Funkgerät, dann ließ ich die Hand sinken und packte die Konsole. Man hatte mir befohlen, Funkstille zu wahren, und seitdem nichts Gegenteiliges.
Feindliche wie verbündete Schiffe formierten sich neu, als fiele allen plötzlich wieder ein, dass wir einander eigentlich bekämpfen sollten.
Und dann machte der Feind auf einen Schlag kehrt und zog sämtliche Streitkräfte zu den enormen Trägerschiffen ab. In einem solchen Fall nahmen wir normalerweise nicht die Verfolgung auf, wir traten aber auch nicht ohne Befehle den Rückzug an.
War es in Ordnung, den Funk wieder einzuschalten? Ich suchte die Umgebung nach anderen Mitgliedern unserer Staffel ab und fand Nose und seinen Wingmate. Mit flammenden Boostern rasten sie uns entgegen, dann bremsten sie ab und passten ihre Geschwindigkeit an uns an. T-Stall und Catnip folgten kurz darauf. Nose wedelte wild mit der Hand und zeigte mehrmals auf sein Funkgerät.
Ich schaltete die Musik aus und den Funk wieder ein. »Nose? Was zum Dreck war das da eben?«
»Kommando sagt, Delver«, antwortete er. »Ich weiß nicht, was das heißt, aber ich habe Gerüchte gehört.«
Diese Gerüchte kannten wir alle. Kimmalyn und andere Staffelmitglieder waren dabei gewesen, als die Ingenieure die Video-Logs der ursprünglichen Bewohner unserer abgeschiedenen Welt entschlüsselt hatten. Ich hatte es verpasst, aber davon gehört: Ein riesenhaftes Etwas war im All über dem Planeten erschienen und hatte alles und jeden auf der Welt verschlungen. Ich hatte mir dieses Etwas wohl … substanzieller vorgestellt. Stofflicher. Das, was ich gerade gesehen hatte, hatte gar nicht wie ein Lebewesen gewirkt.
Aber wenn es ein Delver gewesen war, wieso waren wir dann noch am Leben?
»Nose«, sagte ich. »Lizard wurde getroffen. Die Krell haben sie über den Geschützstellungen erwischt. Wir haben versucht, sie zu retten, aber …«
»Verstanden, FM«, sagte Nose. »Sicher, dass sie nicht überlebt hat?«
Ich schluckte. »Positiv. Sie ist beim Absturz in Reichweite der Stellungen geraten. Ihr Schiff wurde vernichtet.«
Einen Augenblick lang herrschte Stille. Nose war Lizards Staffelführer. Ich hatte es nicht geschafft, sie zu retten – aber Nose war nicht mal vor Ort gewesen.
Er fühlte sich für ihren Tod genauso verantwortlich wie ich, wahrscheinlich mehr noch.
»FM? Nose?« Sadie hatte eben erst vom Ende der Funkstille erfahren. »Was ist passiert?«
»Wir werden sicher bald mehr wissen«, sagte Nose. »Unsere Befehle lauten, uns zu sammeln, zu warten, bis der Gegner abgezogen ist, dann sollen wir zurück zur Station.«
Das leuchtete ein. Wir durften das Feld nicht räumen, solange die Superiority noch Kampfeswillen zeigte.
Doch unsere Sorge erwies sich als unbegründet. Die feindliche Flotte sammelte sich bei den Trägern, dann verschwanden die von einem Augenblick auf den anderen aus der Wirklichkeit, als wären sie niemals hier gewesen.
»Vielleicht hätten wir versuchen sollen, einen Hypersprungantrieb zu stehlen«, überlegte ich mit Kimmalyn auf einem privaten Kanal.
»Vielleicht hat Spin das ja für uns erledigt«, gab sie zurück.
Ich hoffte es; denn das Chaos dieser Schlacht hatte es klarer denn je gemacht, dass wir auf verlorenem Posten kämpften. Ja, wir hatten die besseren Piloten, und wir hatten es geschafft, im Weltraum Fuß zu fassen. Plattform Eins war ein praktischer Stützpunkt, aber er war auch sehr angreifbar. Wenn es uns nicht gelang, unseren Heimatfelsen zu verlassen und den Kampf zu unseren Gegnern zu tragen, statt immer nur in der Defensive zu sein – dann waren unsere bescheidenen Fortschritte bedeutungslos.
Generell hielt ich Selbstverteidigung für sehr viel ehrenhafter als den Angriff, aber ein Fisch überlebte nur gewisse Zeit in seinem Tank, bis man ihn grillte.
Wir waren auf Detritus gefangen, während der Feind das ganze Universum bereiste und unermessliche Ressourcen zur Verfügung hatte. Wir dagegen brauchten von allem mehr: mehr Rohstoffe, mehr Piloten, mehr Unterstützung. Mehr, als wir meistern konnten, mit nichts als den Überresten der alten Defiant-Flotte, die vor beinahe hundert Jahren hier abstürzte.
Heute hatte wir Lizard verloren; wir wurden immer weniger. Ich war Pilotin. Ich konnte Befehlen folgen. Und mein Team war das beste, selbst wenn es nicht vollständig war. Ich war aber auch nicht töricht.
Ich besaß vielleicht nicht Cobbs Erfahrung oder Spensas Weitsicht, aber mir war klar, dass wir den Kriegsverlauf rasch wenden mussten – sonst würde die Menschheit nicht überleben.
Vier Tage nach der Schlacht wanderte ich durch den Irrgarten der Korridore von Plattform Eins zur Messe. Ich wusste nicht, wozu diese Anlage ursprünglich gebaut worden war, aber offensichtlich hatte man bei den Entwürfen keine große Not gesehen, sein Ziel rasch und ohne Karte zu erreichen.
Ich war immer noch wie benebelt. Die Schlacht galt allenthalben als großer Sieg, einfach weil der Delver uns nicht komplett vernichtet hatte. Doch eigentlich hatten wir bloß sehr viel Glück gehabt – mehr als die bedauernswerten Menschen damals, als zuletzt ein Delver Detritus heimgesucht und alle getötet, ja eine komplette Zivilisation ausgelöscht hatte. Obgleich wir nicht wussten, weshalb er gekommen und wieder gegangen war, waren wir noch am Leben. Die Superiority hatte uns nicht ausradiert. Ich sollte glücklich sein.
Wir waren aber nicht mehr alle am Leben. Lizard war nicht die erste Freundin, die ich in der Schlacht verloren hatte – auch nicht die erste, an deren Tod ich mir die Schuld gab. Dabei war mir klar, dass ich technisch gesehen weder Hurls noch Bims Tod zu verantworten hatte. Der Delver konnte jederzeit wiederkommen, ohne Warnung, genau wie die Streitkräfte der Superiority. Dann würden meine Freunde und ich abermals da draußen kämpfen. Wir waren Piloten – das Einzige, was zwischen den Resten unserer Spezies und der totalen Auslöschung stand.
Von daher glaubte ich an das, was wir taten, sosehr ich auch hasste, was es aus uns gemacht hatte. Ich kannte die Gründe dafür. Eigentlich sollte es mir also besser gehen.
Es ging mir aber nicht besser. Ich fühlte nur Leere.
Nach Hurls Tod hatte man die ganze Staffel vom Dienst freigestellt. Dieses Mal hatte niemand freibekommen – weder Nightmare noch wir oder sonst wer. Das hieß wohl, dass sich das Oberkommando sorgte, der Delver könne zurückkehren, die Superiority uns angreifen. Nur Jorgen, Nedd und Arturo waren immer noch in ihrem mysteriösen Einsatz auf dem Planeten. Spensa war wieder verschwunden, zeitgleich mit dem Delver, und laut Kimmalyn wusste diesmal selbst Cobb nicht, wohin.
Weswegen ich auch erst dachte, ich bildete es mir nur ein, als ich im Flur auf einmal das sanfte Flöten von Spensas Schoßtier Schreckschneck hörte.
Das Flöten kam von hinter einer Ecke, aus entgegengesetzter Richtung zur Messe. Ehe Spensa zu ihrer geheimen Mission aufgebrochen war, war Schreckschneck ständig irgendwo hier aufgetaucht. Einmal hatte ich sie in unserer Umkleide bei den Waschkapseln gefunden, schlafend in der warmen Abluft. Sie saß auch gern auf meiner Schulter, um Musik aus meinem Headset mitzuhören, und wenn ich ihr Plattfisch-Kaviar anbot, blieb sie auch länger.
Meine Eltern wären wahrscheinlich entsetzt gewesen, dass ich ihr teures Geschenk an eine Schnecke verfütterte, aber Schreckschneck mochte den Kaviar, ich teilte gern, und meine Eltern hatten keine Ahnung; also waren alle glücklich.
Ich bog um die Ecke, und da saß Schreckschneck, zusammengerollt auf einem Abluftgitter. Ihre blauen Rückenstacheln regten sich im Luftzug.
»Hey, Mädchen.« Ich kniete mich neben sie. Die Schnecke wandte sich meiner Stimme zu, wobei ich nicht sicher war, ob sie mich sah oder einfach nur wahrnahm … und ich zog die Hand zurück.
Diese Schnecke hatte ein blaues Muster am Hals, das fast aussah wie ein Paar kleiner Brustflossen – Schreckschnecks Kopf dagegen war komplett gelb. Das war nicht Schreckschneck, sondern eine andere Schnecke derselben Art.
Ich blinzelte. Ich hatte solche Schnecken das erste Mal gesehen, als Spensa ihre nach Plattform Eins mitgebracht hatte. Spensa hatte sie in ihrer Höhle gefunden – damals, als man ihr noch verwehrt hatte, mit uns anderen Kadetten in Alta zu schlafen.
Was hatte eine andere Schnecke hier auf der Plattform verloren?
»Hey, Kleine.« Ich streckte die Finger aus und ließ die Schnecke sie mit ihrem knolligen Gesicht untersuchen. Ehrlich gesagt, hatte ich keine Ahnung, wie man das Geschlecht einer Schnecke bestimmte oder ob sie überhaupt eines hatte. Vielleicht hatte Spensa einfach willkürlich verfügt, dass Schreckschneck weiblich war.
Ich strich ihr mit den Fingern übers Kinn – sie besaß keine Knochen, aber eine Stelle ihrer ledrigen Haut fühlte sich ein bisschen so an –, worauf sie erst zurückzuckte, dann näher kroch und sich kraulen ließ. »Was treibst du denn hier?«
»Hier!«, trällerte die Schnecke leise. Schreckschneck tat das auch – Worte und Laute wiederholen. Diese hier hatte eine leisere Stimme; vielleicht war sie auch einfach gelassener.
Beim Klang schwerer Schritte erschrak die Schnecke und schmiegte sich Schutz suchend an meine Knie. Sie war aber zu groß, sich komplett zu verstecken. Die Schritte kamen rasch näher, dann stolperte mein Staffelführer Jorgen Weight um die Ecke. Er und ich waren in derselben Kaverne aufgewachsen und hatten dieselbe Grundschule besucht, von daher kannten wir uns zumindest flüchtig schon seit Kindheitstagen. Er hatte tiefbraune Haut und kurzes gekräuseltes Haar, und er schwitzte, als wäre er gerade um die Obstgärten von Alta gejoggt. Keuchend blieb er stehen, die Hände auf die Knie gestützt. »Da ist sie ja.« Er zeigte auf die Schnecke. »Das ist die Letzte … denke ich.«
»Die Letzte?« Ich nahm die Schnecke auf den Arm, wobei ich darauf achtete, ihr nicht ins Gesicht zu fassen. Ihr Mund war zwar nicht sichtbar, aber bei Schreckschneck hatte sich dort immer eine Stelle geöffnet, wenn sie Kaviar verschlang, und eine Reihe biegsamer, aber scharfer Zähne entblößt. Ich legte keinen Wert darauf, herauszufinden, wie sich ein Biss anfühlte.
»Die kleinen Teufel!«, sagte Jorgen. »Keine Ahnung, wie sie es immerzu aus ihrer Kiste schaffen.«
Hm. »Mehr Haustiere für Spensa?« Das schien mir selbst für Jorgen etwas kitschig. Er und Spensa hatten sich schon in Alta angeschmachtet, allerdings war ich mir ziemlich sicher, dass er das für ein großes Geheimnis hielt.
»Nicht direkt«, sagte Jorgen.
»Ernsthaft, wo habt ihr gesteckt?« Das Oberkommando hatte uns sicher nicht alles erzählt.
Jorgen seufzte. »Also schön. Wenn du mir hilfst, die Schnecke zurück zu den anderen zu packen, erzähl ich’s dir.«
Ich betrachtete die Schnecke, die mir gutmütig den Kopf zuwandte. Ich wollte wissen, was Jorgen und die anderen auf dem Planeten getrieben hatten, und ein Schneckentransport schien mir keine gewaltige Aufgabe zu sein. Ich erkannte gute Gelegenheiten.
»Einverstanden.« Ich folgte ihm den Flur hinab in einen Raum, der bis auf zwei gestapelte Kisten in der Mitte und weitere an der Wand fast leer war. Auf der oberen Kiste saß Nedd, einer von Jorgens Stellvertretern. Er war groß und breitschultrig, sodass ich mir neben ihm ganz klein vorkam, was nur wenigen Leuten gelang. Arturo, Jorgens anderer Stellvertreter, stand neben der Tür an die Wand gelehnt. Er war ein gutes Stück kleiner als ich, hatte braune Haut und dunkles Haar.
»FM!«, rief Nedd deutlich lauter als nötig. »Schön, dich zu sehen!«
»Ebenso«, sagte ich mit weitaus weniger Elan, während Arturo und Nedd Blicke wechselten.
Nedd war ein Experte darin, auf der Leitung zu stehen. Vor einem guten Monat hatte er mich mal auf ein Date eingeladen. Mir war sein Interesse schon länger bewusst gewesen; aber so nett er auch war, er war schlicht nicht mein Typ, und so hatte ich ihm schließlich ins Gesicht gesagt, dass ich lieber Freunde bleiben würde. Er hatte es ganz gut aufgenommen, aber irgendwie war er seitdem übertrieben freundlich, so als müsste er unbedingt beweisen, wie unverkrampft doch alles war … indem er es noch verkrampfter machte.
Was genau das war, was ich von vornherein hatte vermeiden wollen.
Jorgen bedeutete ihm, von der Kiste zu klettern. »Haben wir sie jetzt alle?«
»Keine Ahnung«, sagte Nedd. »Ich dachte, wenn ich mich auf sie setze, bleiben sie vielleicht, wo sie sind – aber der Deckel war die ganze Zeit über zu, von daher bin ich mir nicht sicher, wie wir sie überhaupt verloren haben.«
»Sind glitschige Kerlchen«, sagte ich. Obwohl das eigentlich nicht stimmte: Die Schnecke fühlte sich beim Streicheln eher wie ein gut polierter Stiefel an. »Schreckschneck ist auch ständig aus Spensas Quartier entkommen, selbst bei geschlossener Tür.« Ich wandte mich Jorgen zu. »Du schuldest mir eine Erklärung, glaube ich.«
»Erst die Schnecke in die Kiste.« Jorgen hob den Deckel.
»Kiste!«, erschallte ein flötender Schneckenchor.
Mir war immer noch nicht klar, wo das Problem damit war. Ich kraulte der Schnecke noch einmal den Kopf, dann setzte ich sie in die Kiste …
Eine Kiste, die bereits randvoll mit Schnecken war, die alle übereinanderkrochen. Es gab gelb-blaue wie Schreckschneck, aber auch welche, die ich noch nie zuvor gesehen hatte: lila mit orangefarbenen Stacheln, und rote mit schwarzen Streifen.
»Wo hast du die her? Und was machen sie hier?« Hatte Cobb sie als so was wie Therapietiere für uns Piloten im Sinn? Ich hätte nichts gegen eine Schnecke einzuwenden. Für derart fremdartige Wesen waren sie bemerkenswert lieb und beruhigend …
Vielleicht vermisste ich aber auch einfach schon viel zu lange mein Leben zu Hause.
»Ich weiß nicht, was euch Cobb erzählt hat …«, hob Jorgen an.
»Dass ihr ein paar Tage freihattet«, sagte ich. »Alle drei, zur selben Zeit. Was ich ihm keinen Moment abgekauft habe.«
»Gut«, sagte Nedd. »Wenn das nämlich Urlaub gewesen sein soll …«
»Wir haben in den Höhlen nach etwas gesucht«, erklärte Jorgen. »Etwas, das dieselben Schwingungen aussendet, die Spensa von den Sternen hört.«
Ich starrte ihn an. »Du hast nach etwas gesucht, das Schwingungen verursacht, die nur Spensa hören kann?«
Jorgen senkte betreten den Blick.
»Oh«, sagte ich.
»Genau«, wand sich Jorgen. »Ich habe den Defekt – genau wie Spensa.«
»Du sollst es doch nicht so nennen«, mahnte Arturo. »Wenn du mit Geisteskraft quer durchs Universum reisen kannst, ist das kein Defekt. Das ist doch großartig!«
»Theoretisch kann ich wohl durchs Universum reisen«, sagte Jorgen. »In der Praxis habe ich keine Ahnung, wie es geht. Spensa schon – aber sie ist weg und kann es mir nicht erklären. Und die Schwingungen, die ich gespürt habe, kamen von …« Zweifelnd blickte er zu der Kiste voller Schnecken. »Denen da.«
Ich verkniff mir ein Glucksen. »Spensa redet also mit den Sternen, und du redest … mit Schnecken?«
Jorgen wirkte, als bereute er jetzt schon, mir davon erzählt zu haben, also versuchte ich, die Wogen zu glätten. »Ich meine, die Schnecken sind süß, und du hast jetzt eine ganze Kiste, das ist doch …«
»Gut«, sagte eine Stimme hinter uns. Im Eingang stand groß Cobb. Er trug seine Admiralsuniform und betrachtete uns mit strenger Miene. »Sehr gut sogar.« Er humpelte herein, gefolgt von Rig. Rig war erst in unserer Staffel gewesen, dann war er dem Ingenieurkorps beigetreten. Sein echter Name war Rodge, doch jeder aus der Staffel benutzte noch sein Rufzeichen. Er war fast so groß wie Nedd, aber schlaksig, blass und rothaarig. Auf eine nerdige Weise fand ich ihn süß. Alle sagten, er sei praktisch ein Genie – ich wünschte, wir hätten uns besser kennengelernt, ehe er das Fliegen aufgegeben hatte.
Cobb studierte die Schnecken. »Anscheinend heißen diese Wesen Taynix. Was haben die verschiedenen Färbungen zu bedeuten?«
Man sah Jorgen sein Entsetzen an, dass er keine klare Antwort hierauf wusste. »Schwer zu sagen … Vielleicht gar nichts? Wieso haben wir verschiedene Haarfarben, Sir?«
»Vergiss die Frage«, sagte Cobb. »Aber cytonisch sind sie alle? Da bist du dir sicher?«
»Wir haben sie alle in derselben Gegend gefunden«, führte Jorgen aus. »In den Höhlen, wo ich die … Klänge gehört habe. Es fällt mir schwer, sie einzeln wahrzunehmen, aber die ganze Kiste, sie vibriert regelrecht. Es ist schwer zu beschreiben.«
»Es wäre denkbar, dass bloß manche Arten Taynix cytonisch sind«, überlegte Rig. »Könnte aber auch sein, dass die Farbe egal ist und alle dieselben Anlagen besitzen.«
Das waren definitiv mehr Worte, als ich bislang je am Stück von Rig gehört hatte. Anscheinend war er doch kein stummes Genie.
»Nur was für Anlagen das sind, das wissen wir nicht«, sagte Jorgen. »Ich habe die Schnecken mitgebracht, damit wir an ihnen experimentieren können.«
»Experimentieren?«, wiederholte ich. »Du willst sie doch hoffentlich nicht verletzen?«
»Nein«, sagte Cobb. »Dazu sind diese Wesen zu wertvoll. Sie sind Sprungantriebe.«
Da starrten wir ihn alle an. Also alle außer Rig, für den das anscheinend nichts Neues war. Er ließ den Blick schweifen, aber kaum, dass er auf meinen traf, entwickelte er auf einmal großes Interesse an seinen Fingernägeln.
»Sir?«, fragte Jorgen. »Die Schnecken sind Sprungantriebe? Woher wissen wir das?«
»Spensa hat es mir gesagt.«
»Spensa ist zurück?« Jorgen klang so hinreißend hoffnungsvoll, dass es selbst einem sozial Ahnungslosen wie Nedd auffallen musste.
»Sie war zurück«, präzisierte Cobb. Ich war mir zu neunundneunzig Prozent sicher, dass Jorgens und Spensas Schmachtfest auch Cobb nicht entgangen war, er ließ sich aber nichts anmerken, zumindest nicht in unserer Gegenwart. »Sie tauchte kurz vor dem Angriff auf und ist mit der Flotte der Superiority wieder verschwunden. Es ist ihr nicht gelungen, einen Hyperantrieb zu stehlen. Dafür hat sie herausgefunden, dass diese Dinger da den Schlüssel zu der Technik darstellen.« Er zeigte auf die Kiste.
»Sie ist wieder verschwunden?«, fragte Jorgen. »Wohin?«
»Das wissen wir nicht«, sagte Rig.
Man sah Jorgen die Enttäuschung an, und Rig wirkte mitfühlend. Er und Spensa waren gemeinsam aufgewachsen. Sie waren eng befreundet, und ich hatte immer den Verdacht gehegt, dass Rig auch ein bisschen verknallt in sie war, weil er ihr wie ein Hündchen überallhin folgte. Ich fragte mich, ob sie mit ihm über Jorgen sprach. Die Vorstellung, dass Spensa überhaupt je über ihre Gefühle sprach, fiel … schwer.
»Ich hab Spin ja auch schrecklich gern«, sagte Nedd, obwohl er da wohl etwas übertrieb. »Aber sollten wir uns nicht eher mit der Tatsache befassen, dass wir auf einer Kiste voller Sprungantriebe sitzen?«
»Du sitzt doch gar nicht mehr darauf«, stellte Arturo fest.
»Und das ist auch gut so, denn wenn das stimmt, sind diese Schnecken mehr wert als alle Schiffe der DDF!«
»Das mit Sicherheit«, sagte Cobb. »Aber wenn wir nicht rausfinden, wie sie funktionieren, sind sie überhaupt nichts wert.«
Von einem taktischen Standpunkt aus war das richtig, aber es schmeckte mir nicht, dass Cobb von diesen Lebewesen wie von Ausrüstungsstücken sprach, die keinen Wert jenseits ihres praktischen Nutzens hatten. Ich wollte wirklich nicht, dass man an ihnen herumexperimentierte wie an den Laborratten zu Hause.
»Keine Ahnung«, sann Rig. »Wäre auch denkbar, dass die Superiority ihnen die cytonischen Organe entfernt und damit ihre Antriebe baut. M-Bots Sprungantrieb befand sich aber in einem Kasten – vielleicht ist das ja der Käfig für die Schnecken?«
»Hey Jorg«, kommentierte Nedd. »Was meinst du, wo hast du deine cytonischen Organe gelassen?«
»Halt die Klappe, Nedd«, sagte Arturo – wahrscheinlich, weil es Jorgen peinlich war, Nedd in Cobbs Gegenwart zu sagen, wo er sich seine Organe hinstecken konnte. Cobb verzog keine Miene.
»Die Schnecken sind übrigens ziemlich intelligent«, warf ich ein. Schreckschneck imitierte uns zwar meistens bloß, aber ich hatte ihr auch schon beigebracht, vor jedem Bissen Kaviar »Bitte« zu sagen. Wirklich süß. »Sie sind definitiv nicht bloß … Dinger.«
»Dinger!«, rief eine Schnecke in der Kiste.
»Nicht hilfreich«, ermahnte ich sie.
»Ist mir völlig gleich, wie schlau die sind«, sagte Cobb. »Wir müssen rausfinden, wie wir diesen Planeten verlassen können, bevor die Superiority mit einer Streitmacht anrückt, die uns hinwegfegt. Einmal war es fast so weit – wenn sie nicht wieder abgezogen wären, wären wir heute nicht hier. Ist das klar?«
»Ja, Sir«, sagte Jorgen, und wir anderen sprachen ihm nach. Die Wahrheit war, es stand nicht in meiner Macht, diese Schnecken zu beschützen – keiner von uns konnte das.
»Rigmarole, Jorgen, ihr leitet die Untersuchung.«
»Sir?«, protestierte Jorgen. »Ich kenne mich rein gar nicht aus mit Tieren …«
»Die Nationalversammlung will, dass wir uns völlig auf unsere Verteidigung konzentrieren, und ich kann es ihnen nicht verdenken. Von daher ist das Ingenieurkorps mit den Plattformsystemen beschäftigt. Sie leihen uns Rig, weil er sich dank seiner Arbeit an M-Bot am besten mit Hypertechnologie auskennt. Und du bist ein Cytoniker, und die Schnecken sind cytonische … Dinger.« Er fuchtelte mit dem Arm und schaffte es, autoritär zu klingen, obwohl er nicht die richtigen Begriffe kannte. Wobei ich unsicher war, ob es die überhaupt gab. Das hier war Neuland für uns alle.
»Sir, ich würde gern helfen«, sagte ich.
Cobb musterte mich. »Fein. FM ist also auch dabei. In vierundzwanzig Stunden will ich Bericht über die Fortschritte.«
Rig erbleichte. »Ich weiß nicht, ob wir da schon Resultate …«
»Einfach das, was ihr herausgefunden habt. Mit ist klar, dass du und deine Kollegen am liebsten einen Monat lang alles Mögliche ausprobieren möchtet, aber die Zeit haben wir nicht. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?«
»Ja, Sir«, murmelte Rig.
»Zunächst mal müssen wir die Schnecken daran hindern, ständig abzuhauen«, sagte Jorgen. »Irgendwie schaffen sie es immer aus der Kiste.«
»Ich hoffe, dass dein Bericht morgen nicht bloß die Frage erhellt, ob du es schaffst, eine Schnecke in eine Kiste zu sperren«, ätzte Cobb.
»Sie kennen diese Tiere nicht, Sir.«
Dass sie entkamen, war wirklich eigenartig. Die Kiste sah eigentlich ziemlich sicher aus, und die Schnecken waren kaum stark genug, den Deckel anzuheben. Jedenfalls nicht, solange Nedd darauf saß. Das hätte sogar er bemerkt.
»Ob sie vielleicht Hypersprünge ausführen?«, stellte ich in den Raum.
Jorgen und Cobb blinzelten erst mich an, dann die Schnecken. Eine lila Schnecke erklomm gerade einen Freund, sah uns an und runzelte fragend ihr Knollengesicht.
»Schreckschneck ist ständig aus Spensas Quartier entwischt«, fuhr ich fort. »Und hat jemals irgendwer die Schnecken größere Strecken kriechen sehen? Sie scheinen doch einfach immer nur … da zu sein.«
»Das wäre allerdings eine Erklärung«, gab Jorgen zu. »Die Schnecke, die du vorhin gefunden hast, war wirklich ziemlich unvermittelt weg.«
»Wenn das so ist, sollten wir sie vielleicht gar nicht erst festzusetzen versuchen«, sagte Rig. »Beobachten wir einfach genau, was sie tun.«
Cobb klopfte Rig und Jorgen auf die Schultern. »Das überlasse ich mal euch.«
»Sir?« Eine Adjutantin Cobbs schaute vom Flur herein. »Sie haben Gäste in der Zentrale.«
»Was für Gäste?«
Die Adjutantin sah uns an, unsicher, wie offen sie reden konnte. »Die Versammlung hat Repräsentanten entsandt, um unsere Verteidigungsmöglichkeiten zu erörtern. Jeshua Weight ist bei ihnen.«
Alle sahen Jorgen an. Seine Mutter war eine berühmte Pilotin, die gemeinsam mit Cobb in der Schlacht von Alta gekämpft hatte. Selbst unter Piloten war sie eine Legende. Heute arbeitete sie vor allem mit Jorgens Vater, dem Führer der Nationalversammlung, zusammen.
»Wusstest du, dass deine Mutter hier ist?«, fragte Nedd.
»Nein«, sagte Jorgen. »Die letzten Tage war ich doch mit dir unterwegs, weißt du nicht mehr?«
»Keine Ahnung. Konnte Spensas Großmutter nicht angeblich Gedanken lesen oder irgendwie so?«
»Ich kann das jedenfalls nicht«, schnappte Jorgen. Er klang mehr wütend auf sich selbst als auf Nedd, so als sollte man als Cytoniker auch eine Betriebsanleitung erhalten haben.
Typisch Jorgen. Wahrscheinlich dachte er das tatsächlich.
»Dann werde ich sie mal nicht warten lassen«, sagte Cobb. »Ich erwarte euren Bericht bis morgen.« Und damit schritt er aus dem Raum und ließ uns mit der Kiste voller Schnecken allein.
»Also dann.« Jorgen nickte entschlossen. »Rig möchte die Schnecken studieren, damit wir sehen, wie sie entwischen. Nedd, Arturo – schaffen wir die Kisten in die Technikabteilung, dann kann Rig seine Geräte aufbauen.«
»Und was soll ich machen?«, fragte ich. Ich wollte mich ja nicht beklagen, dass ich keine Kisten schleppen musste, aber außen vor bleiben wollte ich auch nicht.
»Du darfst gern dafür zuständig sein, dass die Schnecken in ihrer Kiste bleiben«, sagte Jorgen. »Finde sie, wenn sie uns entwischen, und markiere sie vielleicht irgendwie, damit wir sie unterscheiden können.«
Er sah Rig an. Ich hatte das mit den Geräten erst für einen Scherz gehalten, aber ehrlich gesagt, hatte ich keine Ahnung, was die Ingenieure trieben, und wollte mir meine Unwissenheit lieber nicht anmerken lassen.
Rig wirkte auf einmal sehr angespannt. »Klingt gut.«
Er schien es aber alles andere als gut zu finden. Hielt er mich für zu inkompetent, die Babysitterin für die Taynix zu spielen? Jorgen überging es mit einem Nicken.
»Ihr habt Cobb gehört. Los, Bewegung.« Jorgen zählte die Schnecken in der Kiste. »Dreck, es fehlt schon wieder eine!«
Alle Augen richteten sich auf mich. Vielleicht wäre es doch einfacher gewesen, die Kisten zu schleppen. »Dann mache ich mich wohl mal auf die Suche.«
»Es wäre gut, wenn sie den Ort markiert, an dem sie die Schnecke findet«, merkte Rig an. »Damit bekommen wir einen Überblick, was für Distanzen sie für gewöhnlich zurücklegen.«
»Sie steht direkt neben dir!«, wies ich ihn zurecht. »Und wenn du mir was zum Markieren gibst, dann mach ich das gern.«
»Oh … Okay.« Rig schien verlegen und vermied es noch immer, mich anzusehen.
Offensichtlich wurde mein Interesse, ihn besser kennenzulernen, nicht erwidert. Ein Jammer – es herrschte ein echter Mangel an niedlichen Nerds hier auf Plattform Eins. Vor allem solchen, die keinen monatelangen Wettbewerb daraus machen, wie viele Rufzeichen sie in einem Rülpser unterbekamen.
Ich sagte mir, dass es egal sei. Ich hatte was zu tun – also drehte ich mich um und marschierte hinaus, auf der Suche nach einer Taynix.
Nach ein paar Stunden war ich mir sicher, dass sich die Schnecken teleportieren konnten. Die gelb-blauen verschwanden mit schöner Regelmäßigkeit, egal, ob der Deckel geschlossen war oder nicht. Manchmal fand ich sie in einer anderen Ecke der Technikabteilung, manchmal draußen auf dem Flur. Ein paarmal brauchte es den ganzen Weg zur Kommandozentrale oder bis zu den Hangars, um sie auf jemandes Sessel oder der Tragfläche eines Schiffes lungern zu finden.
Es schien unmöglich, sie am Entkommen zu hindern. Immerhin befiel nur die gelb-blauen die Wanderlust. Die Übrigen blieben in ihrer Kiste und krochen übereinander. Die Schnecken schienen auch seltener wegzuspringen, wenn ich ihnen Musik vorspielte; also stellte ich ihnen ein ruhiges, melodisches Lied auf Endlosschleife. Die Schnecken flöteten mit, imitierten die Klänge. Falls die Ingenieure sich an der Musik störten, so akzeptierten sie sie als notwendigen Teil der Studie. Jedenfalls bat mich niemand, sie auszumachen.
Gerade kehrte ich mit meiner fleißigsten Ausreißerin zurück, der Schnecke mit der blauen Flossenzeichnung. Sie zitterte ein bisschen – das war bei vielen so, wenn ich sie fand, besonders, wenn es mir rasch glückte. Sie erschraken auch, wenn ich mich näherte, als hätten sie vor etwas Angst.
Sie immer wieder einzusammeln, war nicht gerade ein toller Zeitvertreib; aber immerhin lenkte es mich von Lizard ab, von daher war ich dankbar.
»Wenigstens kriegst du eine Menge Daten darüber, wie weit sie springen«, sagte ich.
Rig saß an seinem Tisch und studierte die besagten Daten. Zumindest nahm ich an, dass es sich darum handelte, aber ehrlich gesagt, hätte es sonst was sein können. Er schaute nicht mal auf. »Ja«, sagte er. »Danke.«
Ich bedachte seinen Hinterkopf mit einem finsteren Blick. Seit man Jorgen zum Termin mit seiner Mutter gerufen hatte, benutzte Rig wieder bloß einsilbige Sätze.
Vielleicht war ich nicht die schillerndste Erscheinung der Station, aber es schmerzte doch, dass er meine Anwesenheit kaum zur Kenntnis nahm. Oder schlimmer noch, er bemerkte mich zwar, wirkte aber nicht sonderlich glücklich darüber.
Ich kraulte meiner kleine Ausbrecherin, die ich aus offensichtlichen Gründen Flossi getauft hatte, den Kopf. Dann zählte ich die Schnecken: Alle waren wieder da – zumindest alle, die ich kannte, seit ich die Verantwortung für sie übernommen hatte. Sie verschwanden jetzt immer häufiger, und ich ahnte auch, wieso.
»Ich glaube, sie haben Hunger«, sagte ich zu Rig, ohne meine Augen von den Schnecken zu nehmen. Ich lauerte immer noch darauf, sie beim Teleportieren zu erwischen, was sie aber nie zu tun schienen, solange ich zusah. »Weißt du, wie wir sie füttern sollen?«
Da sah Rig mich an, doch sein Gesichtsausdruck zeigte bloß blankes Entsetzen; so ähnlich wie Jorgen, als Cobb ihn gefragt hatte, wieso die Schnecken wohl verschiedene Farben hatten.
»Hast du eine Ahnung, was wir ihnen zu essen geben?«, fragte ich noch einmal. »Ich glaube, sie reißen immer schneller aus, weil sie Hunger haben, und ich habe nicht genug Kaviar für alle.«
»Kaviar?«, fragte Rig. »Wieso willst du …«
»Wir haben eine Kiste mit Pilzen«, sagte Jorgen. Ich fuhr herum und sah ihn in der Tür stehen. »Wir nahmen an, dass sie die fressen, weil es massig Pilze in der Höhle gab, wo wir sie gefunden haben. Sie scheinen ihnen auch zu schmecken.« Er schritt zu einer Kiste und nahm den Deckel ab. Wie versprochen war die Kiste voll mit Pilzen, cremefarben und braun mit breiten Hüten.
Flossi flötete begierig. Ich gab ihr den ersten Bissen und warf dann mehrere Pilze zu den übrigen Schnecken in ihrer Kiste. Die machten sich sofort darüber her; hoffentlich hieß das auch, dass sie jetzt eine Weile an Ort und Stelle blieben.