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Viele Rock-Biografien folgen einem immer gleichen Schema: Die unglückliche Kindheit, die Entdeckung der Musik als Überlebens-Droge, die Ochsentour durch die Clubs, der Kampf an die Spitze und schließlich: Hybris und Niedergang – der Teil, an dem die Fans das meiste Interesse haben. Nicht so diese wahnwitzige Rockgeschichte, die ein Crash-Kurs für alle angehenden Rock-Götter ist: Slash, alias Saul Hudson, geboren am 23.7.1965 in London, ist ein echter "Guitar-Hero". Seine Geschichte, das erste autobiografische Buch eines Mitglieds von Guns 'n' Roses, ist beispielhaft und doch einzigartig. Slash erzählt die ganze Wahrheit über seine Jahre als Rockstar in einer der größten Bands des letzten Jahrhunderts und verschweigt nichts. "Extrem unterhaltsam und gleichzeitig mit erzieherischem Anspruch." (Entertainment Weekly) "Slash verzichtet auf Selbstmitleid und platte Binsenweisheiten, die man sonst so oft in ähnlichen Geschichten findet. Beim Lesen ist man immer in Gesellschaft eines auf ganz eigene Art und Weise liebenswerten Typs." (Time Out, New York)
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Seitenzahl: 926
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Widmung
Meiner Familie für ihre Unterstützung in guten wie in schlechten Zeiten.
Und allen Guns-N'-Roses-Fans überall auf der Welt, den alten wie den neuen; ohne ihre sagenhafte Treue und grenzenlose Geduld wäre all dies bedeutungslos.
Es war wie ein Schlag mit dem Baseballschläger gegen die Brust, nur eben von innen. Helle blaue Flecken blitzten am Rand meines Blickfeldes auf. Es war ein jäher, unblutiger, lautloser, gewaltiger Punch. Nicht dass ich sichtbar verletzt gewesen wäre, mit bloßem Auge war nichts zu erkennen, aber der Schmerz hatte meine Welt zum Stillstand gebracht. Ich spielte weiter; ich brachte den Song zu Ende. Das Publikum hatte nichts davon mitbekommen, dass mein Herz kurz vor dem Solo einen Salto geschlagen hatte. Mein Körper hatte mir seine Quittung präsentiert und mich auf der Bühne daran erinnert, wie oft ich ihm ganz absichtlich ähnliche Achterbahnfahrten zugemutet hatte.
Im Handumdrehen war der Schlag einem dumpfen Schmerz gewichen, der fast schon wieder angenehm war. Jedenfalls fühlte ich mich lebendiger als noch einen Augenblick zuvor, weil ich lebendiger war. Der Apparat in meinem Herzen hatte mich daran erinnert, wie kostbar das Leben ist. Sein Timing war tadellos: Vor ausverkauftem Haus, die Gitarre in der Hand, erreichte mich die Nachricht laut und deutlich. Und das gleich mehrmals an diesem Abend. Und dann bei jedem Auftritt für den Rest der Tour, wobei ich nie wusste, wann es so weit war.
Ich war fünfunddreißig, als mir ein Kardioverter-Defibrillator implantiert wurde, ein knapp acht Zentimeter langes, batteriebetriebenes Gerät, das über einen Einschnitt in der Achselhöhle eingesetzt wurde. Er überwacht meine Herzfrequenz und gibt einen Stromstoß ab, wenn mein Herz gefährlich schnell oder langsam zu schlagen beginnt. Fünfzehn Jahre Alkohol- und Drogenmissbrauch hatten es anschwellen lassen, es stand kurz vor der Explosion. Als ich schließlich ins Krankenhaus kam, sagte man mir, ich hätte noch sechs Wochen zu leben. Das ist jetzt sechs Jahre her, und der kleine Apparat hat mir so einige Male das Leben gerettet. Er hat auch eine praktische Nebenwirkung, die vom Arzt so nicht beabsichtigt war: Wenn ich es wieder mal so arg getrieben habe, dass sich mein Herzschlag bedrohlich verlangsamt, funkt mein Defibrillator dazwischen und verschafft mir einen weiteren Tag. Außerdem bekommt mein Herz eins drauf, wenn es so schnell wird, dass es einen Stillstand heraufbeschwört.
Zum Glück habe ich das Ding vor der Velvet-Revolver-Tour nachstellen lassen. Die habe ich größtenteils nüchtern absolviert oder immerhin so nüchtern, dass mich die Aufregung darüber, mit einer Band, an die ich glaubte, vor Fans zu spielen, die an uns glaubten, bis ins Innerste rührte. Seit Jahren hatte ich keinen solchen Schwung mehr verspürt. Ich nutzte die Bühne voll aus; ich aalte mich in unserer kollektiven Energie. Mein Herz raste vor Aufregung, sodass es bei jedem Auftritt den Apparat in mir auslöste. Angenehm war das nicht, aber ich begann, mich auf die Denkzettel zu freuen. Ich nahm sie als das, was sie waren: merkwürdig klare Augenblicke der Entfremdung, Augenblicke außerhalb der Zeit, von denen jeder einzelne die mühsam erworbene Weisheit eines ganzen Lebens enthielt.
Geboren wurde ich am 23. Juli 1965 in England, in Stoke-on-Trent, wo zwanzig Jahre vor mir Lemmy Kilmister von Motörhead das Licht der Welt erblickt hatte. Es war das Jahr, in dem sich der Rock'n'Roll, wie wir ihn kennen, zu etwas entwickelte, das plötzlich weit mehr war als die Summe all seiner Bestandteile, das Jahr, in dem eine Handvoll Bands unabhängig voneinander die Popmusik für immer veränderte. Die Beatles brachten in diesem Jahr Rubber Soul heraus, die Stones mit Rolling Stones No. 2 die beste Sammlung ihrer Blues-Coverversionen. Es war eine kreative Revolution im Gange wie seither nie wieder, und ich bin stolz darauf, eines ihrer Nebenprodukte zu sein.
Meine Mutter ist Afroamerikanerin, mein Vater ein weißer Brite. Sie haben sich in den 60er-Jahren in Paris kennengelernt und verliebten sich ineinander - und dann kam ich. Ihre Kontinente und Rassen übergreifende Beziehung entsprach genauso wenig der Norm wie ihre grenzenlose Kreativität. Ich bin ihnen dankbar dafür, dass sie sind, wie sie sind. Sie haben mir ein so einzigartiges, schillerndes Umfeld geboten, dass schon in frühester Kindheit jedes Erlebnis einen bleibenden Eindruck bei mir hinterließ. Meine Eltern haben mich wie einen Gleichgestellten behandelt, kaum dass ich laufen konnte. Und ganz nebenbei haben sie mir beigebracht, mit allem fertig zu werden, was so auf mich zukommen sollte in der einzigen Art Leben, die ich je gekannt habe.
Ola, meine Mom, war siebzehn, mein Dad Anthony (»Tony«) zwanzig, als sie sich kennenlernten. Er war ein begnadeter Maler, und wie das für Maler so üblich ist, kehrte er seiner miefigen Heimatstadt den Rücken und landete irgendwann in Paris. Meine Mutter war frühreif, überschwänglich, jung und schön; sie hatte Los Angeles verlassen, um etwas von der Welt zu sehen und sich Connections in der Modebranche aufzubauen. Als ihre Wege sich kreuzten, verliebten sie sich und heirateten dann in England. Schließlich kam ich, und sie stellten sich darauf ein, ein Leben als Familie zu führen.
Die Karriere meiner Mutter als Modedesignerin und Kostümbildnerin begann etwa 1966, und im Lauf der Zeit gehörten Flip Wilson, John Lennon und Ringo Starr zu ihren Kunden. Außerdem arbeitete sie für die Pointer Sisters, Helen Reddy, Linda Ronstadt und James Taylor. Auch der leider bereits verstorbene Sylvester, der als Discokünstler in den 70er-Jah-ren eine Art schwuler Sly Stone gewesen war, gehörte zu ihren Kunden. Er schenkte mir eine schwarz-weiße Ratte, der ich den Namen Mickey gab. Mickey war ein ganz harter Knochen; er zuckte nicht mal mit der Wimper, wenn ich Ratten an meine Schlangen verfütterte. Einmal überlebte er sogar einen Sturz aus dem Schlafzimmerfenster, aus dem ihn mein kleiner Bruder geworfen hatte; ihm war nicht das Geringste anzusehen, als er drei Tage später wieder vor unserem Hintereingang auftauchte. Mickey überlebte auch die unbeabsichtigte Amputation seiner Schwanzspitze, als er damit in die Mechanik unseres Schlafsofas geriet. Und einmal musste er fast ein Jahr ohne Wasser und Nahrung auskommen, weil wir ihn in einer Wohnung vergessen hatten, die wir nur als Lager benutzten. Als wir schließlich vorbeischauten, um ein paar Kartons abzuholen, kam Mickey so freundlich auf mich zu, als sei ich gerade mal einen Tag weg gewesen und als wolle er sagen: »Hey, wo bleibst du denn, Mann?«
Mickey war eines meiner erinnerungswürdigsten Haustiere. Und ich hatte eine Menge, von meinem Berglöwen Curtis bis zu den Hunderten von Schlangen, die ich aufgezogen habe. Im Grunde bin ich ein Zoowärter. Die nötigen Kenntnisse habe ich mir selbst beigebracht - und ich bin mit den Tieren, mit denen ich gelebt habe, besser zurechtgekommen als mit den meisten Menschen, die mir untergekommen sind. Tiere und ich teilen eine Weltsicht, die den meisten Menschen nicht mehr geläufig ist: dass es letzten Endes nur ums Überleben geht. Hat man das erst mal begriffen, kann man das Vertrauen eines Tieres gewinnen, das einen in der Wildnis fressen würde. Das ist eine wertvolle Erfahrung, so etwas prägt.
Kurz nach meiner Geburt ging meine Mutter zurück nach Los Angeles, um ihr Geschäft auszubauen und unserer Familie eine finanzielle Basis zu sichern. Mein Dad zog mich in England auf, bei seinen Eltern Charles und Sybil Hudson - deren Haus für vier Jahre mein Zuhause wurde -, was nicht leicht für ihn war. Ich war ein ziemlich aufgewecktes Kerlchen, bekam aber nichts mit von den enormen Spannungen zwischen ihm und seinem Dad Charles. Nach allem, was ich weiß, war das Verhältnis zwischen den beiden alles andere als entspannt. Tony war der zweite von drei Söhnen und genau der Ausreißertyp, zu dem Mittelkinder wohl häufig werden. Sein jüngerer Bruder Ian und David, der ältere, taten sich mit den häuslichen Regeln weniger schwer als er. Mein Dad ging auf die Kunstschule; er war alles, was sein Vater nicht war. Tony identifizierte sich mit den Sixties, und er stand für seine Überzeugungen genauso rückhaltlos ein, wie sein Vater sie verurteilte. Mein Großvater Charles war in Stoke bei der Feuerwehr; und Stoke war eine Stadt, in der sich praktisch nie etwas verändert hatte. Die meisten, die dort geboren wurden, blieben auch dort; viele, wie meine Großeltern, hatten sich noch nicht einmal ins rund hundert Meilen entfernte London gewagt. Für Tonys sehnlichsten Wunsch, auf die Akademie zu gehen und von der Malerei zu leben, hatte Charles einfach kein Verständnis. Die Unvereinbarkeit ihrer Meinungen mündete in ständige Debatten und führte immer wieder zu heftigem Streit; Tony behauptet, sein Vater habe ihn den größten Teil seiner Jugend über regelmäßig verprügelt.
So vollkommen wie mein Großvater das England der 1950er-Jahre repräsentierte, stand sein Sohn für die 60er. Charles sah gerne alle Dinge an ihrem angestammten Platz; Tony dagegen hätte gern alles komplett umgekrempelt. Ich kann mir das Entsetzen meines Großvaters vorstellen, als sein Sohn mit seiner großen Liebe, einer unbekümmerten Afroamerikanerin, aus Paris zurückkam. Ich frage mich, wie er wohl reagiert hat, als Tony ihm sagte, er würde sie heiraten und ihren Kleinen unter seinem Dach aufziehen, bis er und Mom alles geregelt hätten. Es rührt mich, wenn ich darüber nachdenke, wie diplomatisch sich mein Vater und mein Großvater in dieser Situation verhielten.
Kaum dass ich alt genug für ein Bahnfahrt war, nahm mein Dad mich mit nach London. Ich war vielleicht zwei oder drei, wusste aber instinktiv, wie weit London entfernt war von den endlosen Reihen brauner Backsteinhäuser und ihrer vermeintlichen Familienidylle, schließlich war mein Dad ein richtiger Bohemien. Wir pennten auf Sofas und kamen tagelang nicht mehr nach Hause. Ich lernte Lavalampen, Schwarzlicht und die elektrisierende Atmosphäre der Buden und der Künstler in der Portobello Road kennen. Dad hätte sich nie als Beatnik bezeichnet, doch er hatte diesen Lebensstil osmotisch aufgesogen. Es war, als hätte er sich die Highlights dieses Lebens herausgepickt: eine Liebe zum Abenteuer, mit nichts weiter als dem Hemd auf dem Leib losziehen, Nacht für Nacht in Wohnungen voller interessanter Leute unterkommen. Meine Eltern haben mir eine Menge beigebracht, aber eine ihrer ersten Lektionen war zugleich auch die wichtigste: Nichts ist vergleichbar mit einem Leben auf Achse.
Ich erinnere mich noch an alles, was gut war an England. Ich stand im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit meiner Großeltern. Ich ging zur Schule. Ich trat in Theaterstücken auf: The Twelve Days of Christmas; ich spielte die Hauptrolle in The Little Drummer Boy. Und einmal die Woche guckte ich Mit Schirm, Charme und Melone und die Thunderbirds. Das englische Fernsehen Ende der 60er-Jahre war ziemlich beschränkt und reflektierte die Weltsicht meiner Großeltern und ihrer Generation, die Weltsicht Churchills und der Nachkriegsgesellschaft. Es gab damals nur drei Kanäle, und abgesehen von den zwei Stunden pro Woche, zu denen die Serien liefen, wurden nur Nachrichten ausgestrahlt. Wen wundert es da, dass sich die Generation meiner Eltern kopfüber in den kulturellen Umbruch stürzte, der damals im Gange war?
Nachdem Tony und ich zu Ola nach Los Angeles gezogen waren, sprach mein Vater nie wieder auch nur ein Wort mit seinen Eltern. Meine Großeltern verschwanden praktisch über Nacht aus meinem Leben und fehlten mir nicht selten. Meine Mutter hielt meinen Vater immer wieder an, die Verbindung nicht abreißen zu lassen, aber es half nichts, ihm lag nichts daran. Ich sah meine englischen Verwandten erst wieder, nachdem Guns N' Roses bekannt geworden waren. Als wir 1992 im Wembley Stadion spielten, rückte der Hudson-Clan in voller Stärke an. Noch vor dem Konzert wurde ich backstage Zeuge, wie einer meiner Onkel, mein Cousin und mein Großvater - auf seiner ersten Reise von Stoke nach London - uns den Alkohol in der Garderobe wegsoffen. Hätten wir alles getrunken, was man uns damals laut Vertrag hinter die Bühne zu stellen hatte, wir wären daran krepiert.
Meine erste Erinnerung an Los Angeles ist, dass vom Plattenspieler meiner Eltern »Light My Fire« dröhnte, und das rund um die Uhr, Tag für Tag. Ende der 60er, Anfang der 70er war L. A. die angesagteste Stadt, vor allem für junge Briten, die sich für Kunst und Musik interessierten. Im Vergleich zum nach wie vor altbackenen Kulturbetrieb in England gab es jede Menge Arbeit für Kreative, und wettermäßig war die Stadt verglichen mit dem regnerischern und nebligen London ein Paradies. Außerdem hätte man dem System und den Erziehungsmethoden in England den Stinkefinger nicht besser zeigen können als dadurch, zu den Yankees zu ziehen - und nichts hätte meinem Dad mehr Freude bereitet.
Meine Mutter arbeitete weiterhin als Modedesignerin, und mein Vater begann, Kapital aus seinem Talent als Grafiker zu schlagen. Durch die Beziehungen meiner Mom zur Musikbranche erhielt er bald die ersten Aufträge für die Gestaltung von Albumcovern. Wir wohnten damals in der Nähe des Laurel Canyon Boulevard, an der höchsten Stelle der Look-out Mountain Road, mitten in einer typischen Sixties-Szene. Diese Gegend von Los Angeles ist immer ein Hort der Kreativität gewesen, schon allein der unkonventionellen Landschaft wegen. Die Häuser sind direkt ins üppige Grün der Hänge gebaut. Es gibt Bungalows mit Gästehäusern und Bauten jeder nur erdenklichen Art, alle wie geschaffen für ein ursprüngliches, natürliches Gemeinschaftsleben. Als ich in meiner Kindheit da oben wohnte, gab es dort eine gemütliche kleine Enklave von Künstlern und Musikern: Joni Mitchell wohnte nur ein paar Häuser von uns entfernt. Jim Morrison wohnte hinter dem Canyon Store ebenso wie der junge Glen Frey, der damals gerade die Eagles gründete. Es war ein Umfeld, in dem jeder mit jedem verbandelt war: Meine Mom entwarf Jonis Klamotten; mein Dad machte Albumcover für sie. David Geffen war ein enger Freund meiner Eltern; an ihn erinnere ich mich noch sehr gut. Er nahm später Guns N' Roses unter Vertrag, obwohl er zu dem Zeitpunkt nicht wusste, wer ich war - und ich habe es ihm nicht gesagt. Als er Weihnachten 1987 Ola anrief, erkundigte er sich danach, wie es mir geht. »Du solltest doch wissen, wie's ihm geht«, sagte sie, »schließlich hast du gerade die Platte seiner Band rausgebracht.«
Nach ein, zwei Jahren im Laurel Canyon zogen wir ein Stück weiter südlich in eine Wohnung am Doheny Drive. Ich wechselte die Schule, und erst da wurde mir klar, dass gewöhnliche Kinder ganz anders lebten als ich. Ich hatte nie so etwas wie ein Kinderzimmer voller Spielzeug gehabt. Keine Wand in einer unserer Wohnungen war auch nur in annähernd neutralen Farben gestrichen. Für gewöhnlich hing der Duft von Pot und Räucherstäbchen in der Luft. Die Atmosphäre war immer licht, das Farbschema ausnahmslos dunkel. Mir war das recht, ich hatte nie Interesse daran, mich mit Kindern meines Alters abzugeben. Ich zog die Gesellschaft Erwachsener vor, nicht zuletzt weil die Bekannten meiner Eltern noch heute zu den interessantesten Leuten zählen, die mir je begegnet sind.
Ich hörte rund um die Uhr Radio, für gewöhnlich den Mittelwellensender KHJ. Ich schlief sogar bei laufendem Radio. Ich machte meine Hausaufgaben und bekam gute Noten, obwohl meine Lehrer behaupteten, meine Aufmerksamkeitsspanne sei zu kurz und ich träume die ganze Zeit vor mich hin. In Wahrheit gehörte meine Leidenschaft der Malerei. Ich stand auf den französischen Postimpressionisten Henri Rousseau und malte wie er Dschungelszenen mit meinen Lieblingstieren. Schon sehr früh begann ich, mich für Schlangen zu begeistern. Als mich meine Mutter das erste Mal zu einem Besuch bei einer Freundin nach Big Sur mitnahm, war ich sechs Jahre alt. Wir zelteten, und ich verbrachte Stunden damit, im Wald Schlangen zu fangen. Ich stocherte unter jedem Strauch, unter jedem Baum herum, bis ich ein ganzes altes Aquarium damit voll hatte. Dann ließ ich sie wieder frei.
Die Schlangen waren nicht das einzige Aufregende während dieses Ausflugs. Mom und ihre Freundin waren wilde, unbekümmerte junge Frauen, und beide hatten einen Heidenspaß dabei, mit Moms VW-Käfer die kurvenreiche Steilküste entlangzurasen. Ich erinnere mich noch genau, dass ich auf dem Beifahrersitz saß, wie gelähmt vor Angst, und eine Handbreit neben der Tür die Felsen und das Meer vorbeirauschen sah.
Die Plattensammlung meiner Eltern war tadellos. Sie hörten alles von Beethoven bis Led Zeppelin, und noch als Teenager fand ich in ihrer Sammlung unentdeckte Juwelen. Da meine Eltern mich ständig auf Konzerte schleppten und Mom mich oft zur Arbeit mitnahm, kannte ich damals jeden Künstler. Schon im zartesten Alter lernte ich die Mechanismen des Showbusiness kennen: Ich bekam eine Menge Plattenstudios und Proberäume sowie Film-und Fernsehsets zu sehen. Ich durfte eine ganze Reihe von Joni Mitchells Aufnahme- und Probe-Sessions miterleben; ich war dabei, als Flip Wilson, damals ein äußerst bekannter, heute völlig vergessener Komiker, einige seiner TV-Shows aufzeichnete. Ich habe die Australierin Helen Reddy proben und auftreten sehen, und ich war bei Linda Ronstadts Auftritten im Troubadour dabei. Mom nahm mich mit, wenn sie Bill Cosby für seine Stand-up-Gigs ausstaffierte; sie entwarf auch einige Maßkleider für seine Frau. Ich weiß noch, dass ich mit ihr bei den Pointer Sisters war. Das alles geschah natürlich im Laufe mehrerer Jahre, doch nachdem wir in die Wohnung am Doheny Drive gezogen waren, blühte Moms Geschäft richtig auf. Carly Simon kam zu uns nach Hause, die Soulsängerin Minnie Riperton auch. Ich lernte Stevie Wonder und Diana Ross kennen. Mom sagt, ich sei auch John Lennon begegnet, aber daran kann ich mich leider überhaupt nicht mehr erinnern. Ringo Starr hingegen ist mir im Gedächtnis geblieben: das Parliament-Funkadelic-Outfit, das Ringo auf dem Cover seines 74er Albums Goodnight Vienna trägt, hat meine Mom gemacht. Es ist metallic-grau, die Hose ist weit bis über die Taille geschnitten und mitten auf der Brust glitzert ein Stern.
Jede dieser Szenen mit meiner Mutter hinter der Bühne oder im Tonstudio hatte eine merkwürdig magische Wirkung auf mich. Ich hatte keine Ahnung, was da vor sich ging, war aber von allem, was mit der Bühne zu tun hatte, schon damals so fasziniert, wie ich es heute immer noch bin. Eine Bühne voller Instrumente, die nur noch auf die Band wartet, die auf ihr spielen soll, finde ich aufregend. Der Anblick einer Gitarre turnt mich heute noch an. Hinter beidem verbirgt sich ein wunderbares Versprechen: Beide bieten die Möglichkeit, die Realität zu transzendie-ren; es braucht nur die richtigen Musiker.
Mein Bruder Albion kam im Dezember 1972 zur Welt. Er verschob das Gleichgewicht in der Familie ein wenig; plötzlich gab es eine neue Person in unserer Mitte. Es war cool, einen kleinen Bruder zu haben, und ich kümmerte mich gerne um ihn. Ich freute mich, wenn meine Eltern mich baten, auf ihn aufzupassen.
Es dauerte jedoch nicht lange, bis ich eine weitaus größere Veränderung in unserer Familie bemerkte. Meine Eltern waren nicht mehr dieselben, wenn sie zusammen waren, was ohnehin nur noch selten vorkam. Ich denke, ihre Beziehung begann in die Brüche zu gehen, als wir in die Wohnung am Doheny Drive zogen und sich bei meiner Mutter so richtig der Erfolg einstellte. Unsere genaue Adresse lautete damals übrigens 710 North Doheny; heute befindet sich an dieser Stelle eine Baulücke, wo im Dezember Weihnachtsbäume verkauft werden. Ich sollte außerdem erwähnen, dass unser Hausnachbar der originale, selbst ernannte Black Elvis war; man kann ihn heute noch für Partys in Las Vegas buchen - falls das jemanden interessiert.
Jetzt, wo ich älter bin, ist mir einiges, das die Beziehung meiner Eltern belastete, klarer geworden. Es hatte meinem Vater nie so recht gefallen, dass meine Mutter ihrer Mutter so nahe stand. Es verletzte seinen Stolz, wenn seine Schwiegermutter uns finanziell aushalf, und er konnte es schon gar nicht leiden, wenn sie sich in unsere Familienangelegenheiten einmischte. Dass er trank, war dabei nicht gerade hilfreich. Und mein Vater trank gerne. Und viel. Er entsprach dem Klischee des melancholischen Trinkers. Nicht dass er je gewalttätig geworden wäre. Dad war zu clever und auch nicht rücksichtslos genug, um sich mit brutaler Gewalt Geltung zu verschaffen, aber er hatte furchtbar miese Laune, wenn er trank. Wenn er betrunken war, benahm er sich immer völlig daneben; so reagierte er sich ab. Dass er auf die Weise viele Brücken hinter sich abbrach, versteht sich wohl von selbst.
Ich war erst acht, aber ich hätte wissen sollen, dass da etwas nicht stimmte. Meine Eltern sind immer respektvoll miteinander umgegangen, aber in den Monaten vor ihrer Trennung gingen sie einander völlig aus dem Weg. Mom war nachts meist unterwegs, und Dad saß während dieser Nächte in der Küche, alleine und trübsinnig, trank Rotwein und hörte Klaviermusik von Erik Satie. Wenn Mom zuhause war, unternahmen Dad und ich lange Spaziergänge.
Er ging überhaupt überall zu Fuß, in England wie in Los Angeles. In der Zeit vor Charles Manson, also bevor Mansons Clan Sharon Tate und ihre Freunde ermordet hatte, sind wir überallhin getrampt. Los Angeles hatte damals seine Unschuld noch nicht verloren; die Morde signalisierten das Ende der utopischen Ideale der 60er-Jahre, die Flower-Power-Ära war damit vorbei.
Meine Kindheitserinnerungen an Tony ähneln Filmszenen. Ich denke stets an all die Nachmittage, die ich zu ihm aufsah, während ich neben ihm herlief. Auf einem dieser Spaziergänge landeten wir bei Fatburger, wo er mir sagte, dass Mom und er sich trennen würden. Ich war wie vor den Kopf gestoßen; das einzig Verlässliche, das ich je kennengelernt hatte, war plötzlich dahin. Ich fragte nicht weiter nach; ich starrte nur meinen Hamburger an. Als Mom sich später am Abend zu mir setzte, um mir die Situation zu erklären, wies sie mich auf die Vorteile hin: Ich hätte von jetzt ab zwei Heime. Ich dachte ein Weilchen darüber nach. Irgendwie hatte es Hand und Fuß, aber es klang wie eine Lüge. Ich nickte, während sie auf mich einredete, hörte aber nicht weiter zu.
Meine Eltern trennten sich einvernehmlich; es war nur irgendwie merkwürdig, weil sie sich erst Jahre später scheiden ließen. Immer wieder wohnten sie nur einen Katzensprung voneinander entfernt, und sie hatten sogar denselben Freundeskreis. Als sie sich trennten, war mein kleiner Bruder erst zwei Jahre alt. Sie entschieden aus naheliegenden Gründen, dass er bei meiner Mutter bleiben sollte. Mir überließen sie die Wahl, bei wem ich leben wollte, und ich entschied mich für Mom. Ola kümmerte sich um uns, so gut sie konnte, aber sie war ihrer Arbeit wegen viel unterwegs. Und so zogen mein Bruder und ich zwischen der Wohnung meiner Mutter und der meiner Großmutter hin und her. Bei uns war immer was los, unser Zuhause war interessant und unkonventionell - aber immer ein fester Halt. Nachdem das Band zwischen meinen Eltern jedoch erst mal zerrissen war, wurde die ständige Veränderung in meinem Leben zur Norm.
Die Trennung machte meinem Vater schwer zu schaffen, und ich bekam ihn eine ganze Weile nicht mehr zu sehen. Sie traf uns alle schwer; doch so richtig bewusst wurde sie mir erst, als ich meine Mutter zum ersten Mal mit einem anderen Mann sah. Und dieser Mann war David Bowie.
1975 begann die enge Zusammenarbeit meiner Mutter mit David Bowie. Bowie nahm damals gerade Station To Station auf, und Mom hatte seit Young Americans seine Garderobe entworfen. Als er die Hauptrolle in Der Mann, der vom Himmel fiel übernahm, wurde meine Mutter Kostümbildnerin bei dem Film, der in New Mexico gedreht wurde. Während des Drehs begannen sie und Bowie eine mehr oder weniger leidenschaftliche Affäre. Rückblickend war das womöglich gar keine sonderlich ernste Geschichte, aber damals hatte ich das Gefühl, einen Außerirdischen in unserem Hinterhof landen zu sehen.
Nach der Trennung meiner Eltern zogen wir - Mom, mein Bruder und ich - in ein Haus am Rangely Drive. Unsere Wohnung dort war ziemlich cool: Die Wohnzimmerwände waren himmelblau und voller Wolken. Es gab ein Klavier dort, und die Plattensammlung meiner Mutter nahm eine ganze Wand ein. Es war freundlich, richtig gemütlich. Bowie kam oft mit seiner Frau Angie und seinem Sohn Zowie vorbei. Die 70er-Jahre waren in dieser Hinsicht einzigartig: Es schien völlig normal, dass ein Mann mit seiner Frau und seinem Sohn bei seiner Geliebten vorbeischaute, damit alle zusammen abhängen konnten. Meine Mutter praktizierte damals dieselbe Art Meditation wie David. Sie hatte einen Schrein im Schlafzimmer aufgebaut, vor dem sie zusammen Mantras sangen.
Als ich ihn erst mal näher kennengelernt hatte, akzeptierte ich David, weil er intelligent, witzig und ungeheuer kreativ war. Da ich ihn persönlich kannte, konnte ich seine Bühnenpersönlichkeit noch besser verstehen. Ich sah ihn mit Mom 1975 bei einem Konzert im L. A. Forum, und schon damals war ich, wie seither immer wieder, völlig fasziniert von dem Augenblick an, in dem er - ganz in seiner Rolle aufgehend - die Bühne betrat. Das ganze Konzert war Performance pur. Ich sah die vertrauten Eigenschaften eines Menschen, den ich kennengelernt hatte, ins Extrem überhöht. Bowie hatte das Phänomen des Rockstars auf seine Essenz reduziert: Ein Rockstar ist die Schnittmenge dessen, was er tatsächlich ist, und dessen, was er gerne wäre.
Kein Mensch ist darauf gefasst, dass man ihm plötzlich den Boden unter den Füßen wegzieht; lebensverändernde Ereignisse kündigen sich normalerweise nicht an. Instinkt und Intuition mögen uns helfen, das eine oder andere Warnsignal zu bemerken, gegen das Gefühl der Entwurzelung, das uns befällt, wenn das Schicksal plötzlich unsere Welt auf den Kopf stellt, wappnen sie uns nicht. Du fühlst dich auf den Kopf gestellt wie eine Schneekugel und findest dich wieder in einem Sturm aus Ratlosigkeit, Traurigkeit, Frustration und Zorn. Es dauert Jahre, bis sich der emotionale Staub gelegt hat; bis dahin tust du dein Bestes, um in dem Sturm wenigstens die Hand vor Augen zu sehen.
Die Trennung meiner Eltern verlief geradezu harmonisch. Es gab keinen Streit, keine Szenen, keine Anwälte, kein Gericht. Trotzdem brauchte ich Jahre, um mit meinem Kummer fertig zu werden. Ich hatte ein Stück von dem verloren, was mich ausmachte, und ich musste mich aus mir selbst heraus neu definieren. Ich habe dabei viel gelernt, aber das half mir trotzdem nicht, als später die einzige andere Familie, die ich je hatte, zerbrach. Ich erkannte die Zeichen, die den Beginn der Auflösung von Guns N' Roses markierten. Und obwohl damals ich derjenige war, der ging, geriet ich in denselben emotionalen Strudel, und wie schon beim ersten Mal gelang es mir nur unter großen Schwierigkeiten, mein Leben wieder in die richtige Bahn zu lenken.
Die Trennung meiner Eltern machte über Nacht einen anderen Menschen aus mir. Nicht, dass ich innerlich ein schlechter Mensch geworden wäre, aber nach außen hin wurde ich ein schwieriges Kind. Gefühle auszudrücken gehört noch heute nicht zu meinen Stärken, und damals konnte ich, was in mir vorging, erst recht nicht in Worte fassen. Also folgte ich meinem Instinkt, begann, mich abzureagieren, und wurde in der Schule, was die Disziplin anbelangt, zu einem Problemfall.
Aus dem Versprechen meiner Eltern, es würde sich zu Hause nichts ändern, außer dass ich künftig zwei Wohnsitze hätte, war nichts geworden. Meinen Vater sah ich das erste Jahr so gut wie überhaupt nicht mehr, und die wenigen Begegnungen verliefen eher merkwürdig und völlig un-entspannt. Wie schon gesagt: Die Trennung hatte ihn hart getroffen, und es war nicht einfach für mich, zusehen zu müssen, wie er damit umging. Eine ganze Weile konnte er nicht mehr arbeiten; er schlug sich mehr recht als schlecht durch und hing mit seinen Künstlerfreunden herum. Wenn ich ihn besuchte, beachtete er mich kaum; er saß mit seinen Freunden beisammen und diskutierte bei Unmengen von Rotwein über Kunst und Literatur, wobei er unweigerlich auf seinen Lieblingskünstler Picasso zu sprechen kam. Wir hatten aber auch unsere Abenteuer, gingen in die Bibliothek oder ins Museum, wo wir nebeneinandersaßen und zeichneten.
Meine Mutter war weniger zu Hause denn je; sie arbeitete ununterbrochen, um meinen Bruder und mich durchzubringen. Wir waren meist bei unserer Großmutter, Ola senior, die regelmäßig unsere letzte Rettung war, wenn bei Mom wieder mal das Geld nicht reichte. Oft waren wir auch bei meiner Tante und deren Kindern in South Central. Mit so vielen Kindern im Haus war bei ihr immer mächtig was los. Unsere Besuche rückten unsere Vorstellung davon, was eine Familie war, in gewisser Weise zurecht. Aber alles in allem hatte ich eine Menge Zeit für mich, und das nutzte ich aus.
Als ich zwölf war, wurde ich sehr schnell erwachsen. Ich hatte Sex, ich trank, ich rauchte Zigaretten, ich nahm Drogen, ich klaute, man warf mich von der Schule, und wäre ich nicht minderjährig gewesen, ich wäre einige Male im Gefängnis gelandet. Ich rebellierte; mein Leben war so intensiv und instabil wie meine Gefühle. Während dieser Zeit kam eine Eigenschaft, die bei mir schon immer stark ausgeprägt war, voll zur Geltung: die Besessenheit, mit der ich alles angehe, was immer mich interessiert. Spätestens mit zwölf hatte ich meine erste große Leidenschaft, das Zeichnen, durch eine neue ersetzt: BMX.
1977 war Bicycle-Motocross der neueste Extremsport nach den Surfund Skating-Wellen Ende der 60er-Jahre. Es gab sogar schon einige wenige Stars wie Stu Thompson oder Scott Breithaupt und ein paar Magazine wie Bicycle Motocross Action und American Freestyler. Ständig fanden neue professionelle und semiprofessionelle Wettbewerbe statt. Meine Großmutter kaufte mir ein Webco, und ich war hin und weg. Ich gewann meine ersten Rennen und wurde in einigen Magazinen sogar als vielversprechender Fahrer in der Altersgruppe zwischen dreizehn und vierzehn geführt. Ich war wie besessen; ich wäre sofort Profi geworden, wenn ich einen Sponsor gefunden hätte. Dennoch ging dem Sport etwas ab. Ich war mir meiner Gefühle nicht ausreichend bewusst, um genau sagen zu können, was mir an BMX zur absoluten Befriedigung fehlte. Ich sollte es ein paar Jahre später erfahren, als ich das Richtige fand.
Nach der Schule hing ich in Bike Shops herum und gehörte bald zu einem Team, das für einen Laden namens Spokes and Stuff fuhr. Dort freundete ich mich mit einigen Typen an, die alle viel älter waren als ich -einige von ihnen arbeiteten bei Schwinn in Santa Monica. Zu zehnt oder so kurvten wir jeden Abend in Hollywood rum. Mit Ausnahme von zwei Brüdern kamen wir alle aus Familien, in denen es immer das ein oder andere Problem gab. Wir fanden Trost beieinander; unsere Kameradschaft war das einzig Geregelte in unserem Leben, das Einzige, worauf Verlass war.
Wir trafen uns jeden Nachmittag in Hollywood und fuhren dann kreuz und quer durch die Stadt - von Culver City zu den Teergruben von La Brea im Hancock Park. Die Straßen waren für uns ein einziger großer Bike Park. Wir sprangen von jeder schrägen Fläche, die uns unterkam, und egal, ob Mitternacht oder Rush Hour, die Rechte der Fußgänger waren uns scheißegal. Wir waren nur abgerissene kleine Draufgänger auf noch kleineren Bikes, aber wenn wir zu zehnt im Pulk volle Kanne den Gehsteg lang pesten, dann ging man uns besser aus dem Weg. Wir sprangen auf die Bänke an Bushaltestellen, auch wenn mal einer drauf saß, und bunnyhoppten über Hydranten; und natürlich versuchten wir, einander ständig zu übertrumpfen. Wir waren desillusionierte Teenager, die versuchten, eine schwierige Phase in ihrem Leben zu meistern, und das machten wir eben mit Bunnyhoppen auf den Gehsteigen von L. A.
Außerdem fuhren wir auf dem Dirt Track des Jugendzentrums von Reseda drüben im Valley. Es waren fünfzehn Meilen Anfahrt von Hollywood aus, und weil das auf einem BMX-Rad eine ziemlich strapaziöse Strecke ist, ließen wir uns auf dem Laurel Canyon Boulevard von den Autos mitziehen. So sparten wir eine Menge Zeit. Nicht dass ich das jemandem raten möchte, aber für uns waren Autos eine Art besserer Schlepplift: Wir warteten am Bürgersteig, schnappten uns, einer nach dem anderen, einen Wagen und ließen uns wie auf einer Skipiste den Hügel hochziehen. Auf einem Fahrrad, selbst auf einem mit derart niedrigem Schwerpunkt, die Balance zu halten, während man sich bei fünfzig, sechzig Sachen mitziehen lässt, ist schon auf ebener Strecke aufregend und nicht ganz einfach, aber bergauf durch eine Reihe enger S-Kurven wie im Laurel Canyon ist es der reine Wahnsinn. Im Nachhinein ist kaum zu fassen, dass nie einer von uns unter die Räder gekommen ist. Noch erstaunlicher finde ich, dass ich die Strecke bergauf und bergab absolviert habe, meist auch noch ohne zu bremsen. Da ich der Jüngste war, musste ich mich meiner Ansicht nach meinen Freunden bei jedem Ausflug aufs Neue beweisen, und wenn ich den Ausdruck auf ihren Gesichtern nach einigen meiner Stunts richtig interpretiert habe, gelang mir das auch. Meine Freunde mochten noch Teenager sein, aber leicht zu beeindrucken waren sie nicht.
Um die Wahrheit zu sagen, wir waren eine beinharte kleine Gang. Nehmen wir Danny McCracken. Danny war sechzehn, ein starker, schwerer, stiller Typ, von dem man instinktiv wusste, dass man sich mit ihm besser nicht anlegt. Eines Abends stahlen Danny und ich ein Rad mit gebogener Gabel, und während er Bunnyhops machte, um die Gabel zu brechen, lachten wir anderen uns schier tot. Schließlich fiel er über den Lenker und riss sich das Handgelenk auf. Ich sah es kommen und guckte paralysiert zu, als das Blut umherzuspritzen begann.
»Ahhh!«, rief er aus. Noch unter Schmerzen hörte Danny sich merkwürdig leise an, bedenkt man seine Größe - fast wie Mike Tyson.
»Verdammte Scheiße!«
»Fuck!«
»Danny hat's voll erwischt.«
Danny wohnte gleich um die Ecke, also drückten ihm zwei von uns die Hände aufs Handgelenk, und während uns das Blut durch die Finger quoll, brachten wir ihn nach Haus.
Wir erreichten seine Veranda und klingelten. Seine Mutter machte auf, und wir zeigten ihr Dannys Arm. Sie sah uns ungerührt an, als könnte sie es nicht glauben.
»Was zum Teufel, meint ihr, soll ich denn da machen?«, fragte sie und knallte die Tür wieder zu.
Wir hatten keine Ahnung, was wir tun sollten; Danny war mittlerweile blass geworden. Wir wussten nicht mal, wo das nächste Krankenhaus war. Während er uns noch immer mit Blut vollspritzte, brachten wir ihn wieder zur Straße und hielten das erste Auto an, das wir sahen.
Ich steckte meinen Kopf durch das Fenster. »Hey, mein Freund verblutet«, rief ich hysterisch, »können Sie ihn ins Krankenhaus fahren? Er stirbt!« Zu unserem Glück war die Frau, die am Steuer saß, Krankenschwester.
Sie setzte Danny auf den Beifahrersitz, und wir rasten auf den Rädern hinter ihr her. In der Notaufnahme brauchte Danny nicht zu warten; das Blut quoll ihm aus dem Handgelenk wie einem Opfer in einem Horrorfilm, also nahmen sie ihn sofort dran. Die Ärzte flickten ihm das Handgelenk, aber damit war es noch nicht ausgestanden: Als er zu uns in den Wartesaal zurückkam, riss eine der frischen Nähte irgendwie wieder auf, und das Blut schoss bis an die Decke. Es war richtig eklig, und die Leute rundum flippten völlig aus. Logisch, dass Danny gleich wieder drankam. Diesmal hielten die Nähte.
Die ganz normalen unter uns waren John und Mike, die wir die Cowabunga Brothers nannten. Sie waren normal, weil sie aus geordneten Verhältnissen stammten. Sie kamen aus dem Valley, wo das typische amerikanische Vorstadtleben blühte; ihre Eltern vertrugen sich, sie hatten Schwestern und wohnten in einem netten, putzigen Haus. Aber sie waren nicht unser einziges Brüderpaar: Da gab es noch Jeff und Chris Griffin; Jeff war der Ältere und arbeitete bei Schwinn, Chris war sein jüngerer Bruder. Jeff war sozusagen der Erwachsene in der Crew; er war achtzehn und hatte einen Job, den er ernst nahm. Er und Chris waren nicht so normal wie die Cowabungas, weil Chris verzweifelt versuchte, seinem älteren Bruder nachzueifern, was ihm aber absolut nicht gelang. Die beiden hatten eine heiße Schwester namens Tracey, die sich die Haare bloß deshalb schwarz gefärbt hatte, weil alle anderen in der Familie blond waren. Tracey lief schon rum wie ein Grufti, lange bevor das ganze Goth-Zeug in Mode kam.
Und da war noch Jonathan Watts, der größte Spinner von uns allen. Er war schlicht verrückt; er machte einfach alles, was ihm in den Sinn kam, es war ihm egal, ob er sich dabei etwas brach oder er im Gefängnis landete. Ich war erst zwölf, aber schon damals verstand ich genug von Musik, um es etwas merkwürdig zu finden, dass Jonathan und sein Dad voll auf Jethro Tull abfuhren. Die beiden beteten Jethro Tull regelrecht an. Leider ist Jonathan nicht mehr unter uns; er starb an einer Überdosis, nachdem er erst jahrelang ein schlimmer Säufer und dann ein fanatischer Antialkoholiker gewesen war. Ich hatte ihn lange aus den Augen verloren, bevor ich ihn schließlich bei einem AA-Meeting wiedersah, zu dem mich ein Richter nach einer Verhaftung Ende der 80er-Jahre verdonnert hatte (dazu kommen wir später noch). Erst wollte ich meinen Augen nicht trauen: Ich ging zu dem Treffen, hörte mir an, was die Leute zu sagen hatten, und nach einer Weile wurde mir klar, dass der Typ, der das Treffen leitete, der Typ, der genauso fanatisch über Nüchternheit sprach wie Lieutenant Bill Kilgore, Robert Duvals Figur aus Apocalypse Now, übers Surfen, kein anderer war als Jonathan Watts. Die Zeit ist ein erstklassiger Katalysator für Veränderungen; man kann nie wissen, was aus verwandten Seelen so wird - oder wann sie wieder zueinander finden.
Damals verbrachte ich mit diesen Typ so manchen Abend hinter der Laurel Elementary School, deren Spielplatz wir ziemlich kreativ nutzten. Es war ein Treff für die Kids aus Hollywood, für jeden, der ein Bike oder ein Skateboard hatte, einen Schluck Alkohol oder ein bisschen Gras. Der Spielplatz teilte sich in zwei Hälften, davon lag eine höher und war mit der anderen durch lange Betonrampen verbunden. Es war einfach eine Herausforderung für Biker wie Skater. Wir nutzten den Platz ganz für unsere Zwecke aus, indem wir die Picknicktische zerlegten und zu Rampen umfunktionierten, mit denen der Höhenunterschied zwischen den beiden Ebenen zu überwinden war. Ich bin nicht stolz darauf, ständig öffentliches Eigentum demoliert zu haben, aber auf meinem Bike die beiden Rampen hinunterzurasen und über den Zaun zu springen, war ein Kick, der es einfach wert war. So kriminell sie gewesen sein mochte, die Szene dort zog eine Menge kreativer Typen an; Kids aus Hollywood, die später Großes leisteten, hingen dort rum. Ich erinnere mich noch daran, dass Mike Balzary, heute besser bekannt als Flea, dort Trompete spielte und Graffitikünstler immer wieder ihre Pieces an die Wände sprühten. Es war nicht das richtige Forum, aber alle waren stolz auf die Szene, die sie dort geschaffen hatten. Leider waren die Schüler und Lehrer der Grundschule wenig begeistert, ständig die Zeche zahlen zu müssen: Jeden Morgen mussten sie erst mal aufräumen und den Müll wegschaffen.
Der Direktor entschied sich unklugerweise, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, indem er uns eines Abends auflauerte, um uns zur Rede zu stellen. Das kam gar nicht gut an; wir zogen ihn auf, er regte sich fürchterlich auf, und schließlich gerieten wir aneinander. Die Sache lief rasch aus dem Ruder, und ein Passant rief die Bullen. Es gibt nichts, was einen Haufen Kids schneller auseinandertreibt als eine Sirene, also gelang es den meisten zu entkommen. Dummerweise gehörte ich nicht dazu. Ich und noch ein anderer waren die Einzigen, die man erwischte. Sie ketteten uns mit Handschellen an ein Geländer vor der Schule, direkt an der Straße, wo alle uns sehen konnten. Wir ähnelten zwei gefangenen Tieren, die nicht weglaufen konnten, und wir waren alles andere als glücklich darüber. Wir verweigerten die Zusammenarbeit, machten auf Klugscheißer und verkniffen uns gerade noch, sie als Bullenschweine zu beschimpfen. Immer wieder stellten sie uns Fragen und gaben sich alle Mühe, uns Angst einzujagen, aber wir nannten ihnen weder unsere Namen noch unsere Anschrift, und da Zwölfjährige keinen Ausweis bei sich haben müssen, ließen sie uns schließlich laufen. Was hätten sie sonst auch tun können?
Ich kam in die Pupertät, als ich etwa Dreizehn war. Ich besuchte gerade die Bancroft Junior High in Hollywood. Das Durcheinander meiner Gefühle wegen des Zerfalls meiner Familie trat mit dem gnadenlosen Ansturm der Hormone erst mal in den Hintergrund. Den ganzen Tag in der Schule herumzusitzen, schien mir sinnlos, also begann ich, blau zu machen. Ich fing an, regelmäßig Pot zu rauchen, und fuhr wie ein Besessener Rad. Ich hatte Schwierigkeiten, mich zu beherrschen; ich wollte einfach immer das tun, worauf ich gerade Lust hatte. Eines Abends, als ich mit meinen Freunden überlegte, wie wir bei Spokes and Stuff, dem Fahrradgeschäft, in dem wir immer herumhingen, einbrechen könnten - ich weiß noch nicht mal mehr warum - sah ich einen Jungen, der uns durch das Fenster einer Wohnung auf der anderen Seite der Gasse beobachtete.
»Was glotzt 'n so?«, rief ich. »Glotz mich nicht an!« Dann warf ich einen Ziegel nach ihm durch das Fenster.
Seine Eltern riefen natürlich die Bullen, und das Duo, das auf die Beschwerde reagierte, jagte mich und meine Freunde für den Rest der Nacht kreuz und quer durch die Stadt. Wir radelten um unser Leben: erst Hollywood, dann West Hollywood. Wir nahmen Einbahnstraßen und fuhren direkt in den entgegenkommenden Verkehr, wir rasten durch Gassen und Parks. Die beiden Bullen waren hartnäckiger als Gene Hackmans Jimmy »Popeye« Doyle in French Connection; jedes Mal, wenn wir um eine Ecke kamen, waren sie auch schon da. Schließlich flohen wir in die Hollywood Hills und versteckten uns in einem abgelegenen Canyon wie eine Bande Outlaws im Wilden Westen. Und genau wie in einem Cowboyfilm fingen uns die Deputys genau in dem Moment ab, als wir dachten, es sei sicher, das Versteck wieder zu verlassen und auf die Ranch zurückzukehren.
Als meine Freunde und ich auseinanderstoben, beschlossen sie, sich nur mir an die Fersen zu heften, vermutlich weil ich der Jüngste war. Ich strampelte um mein Leben durchs ganze Viertel, konnte sie aber nicht abschütteln, bis ich schließlich mein Glück in einer Tiefgarage suchte. Ich schoss einige Ebenen hinab, raste im Zickzack zwischen den geparkten Autos hindurch und versteckte mich zuletzt in einer finsteren Ecke. Ich legte mich auf den Boden und hoffte, sie würden mich nicht finden. Sie waren zu Fuß in die Garage gelaufen, und als sie endlich auf meine Ebene kamen, war ihnen wohl die Lust vergangen. Zunächst suchten sie mit ihren Taschenlampen zwischen den Autos, doch vielleicht dreißig Meter von mir entfernt machten sie kehrt. Ich hatte noch mal Glück gehabt. Diese Schlacht zwischen uns Kids und der Polizei von Los Angeles zog sich den ganzen Sommer hin, und sicher hätte ich mit meiner Zeit etwas Besseres anfangen können, aber genau das verstand ich damals eben unter Spaß.
Ich war zu dieser Zeit schon ziemlich gut, wenn es darum ging, meine Angelegenheiten für mich zu behalten, und als man mich schließlich erwischte, gingen Mom und Großmutter ziemlich nachsichtig mit mir um. Während des ersten Jahres auf der High School war ich so selten wie möglich zu Hause. Daher hatte ich im Sommer 1978 auch gar keine Ahnung, dass meine Großmutter in eine Wohnung zog. Sie lag in einem wirklich monströsen neuen Gebäudekomplex, der einen ganzen Block zwischen Kings Road und Santa Monica Boulevard einnahm. Ich kannte ihn gut, weil wir schon oft auf der Baustelle herumgedüst waren. Meine Freunde und ich rauchten was und fuhren dann Rennen durch die Korridore und über die Treppen; wir knallten einander Türen vor der Nase zu, sprangen auf Treppengeländer und hinterließen Reifenspuren auf jeder frisch gestrichenen Wand. Einmal, als wir wieder mal voll dabei waren und ich wie ein Irrer um eine Ecke raste, standen plötzlich meine Mutter und meine Großmutter vor mir. Ich hätte sie beinahe über den Haufen gefahren, als sie mit dem Kram meiner Oma beladen auf dem Weg in die neue Wohnung waren. Nie werde ich den Blick auf dem Gesicht meiner Großmutter vergessen - eine Mischung aus Schock und Entsetzen. Ich riss mich zusammen, warf einen Blick über die Schulter und sah meine Freunde um eine Ecke verschwinden. Ich hatte einen Fuß auf dem Boden, einen auf dem Pedal und dachte immer noch, ich käme davon.
»Saul?«, sagte Oma in ihrer viel zu lieben hohen Großmutterstimme. »Bist du das?«
»Ja, Großmama«, sagte ich. »Ich bin's. Wie geht's? Wir wollten dich eben besuchen, meine Freunde und ich.«
Bei meiner Mutter kam ich mit dieser Tour natürlich nicht durch, aber meine Oma schien beinahe froh, mich zu sehen. Letztlich ging alles sogar so gut, dass ich ein paar Wochen später selbst in die Wohnung einzog, und von da an gingen meine Abenteuer an der Junior High in Hollywood erst richtig los. Aber dazu kommen wir gleich.
Ich spare mir eine grosse Analyse hinsichtlich meiner zweiten neuen Leidenschaft - der Kleptomanie. Belassen wir es einfach dabei, dass ich ein pubertierender Jugendlicher war und wütend auf die ganze Welt. Ich klaute, was ich zu brauchen meinte, mir aber nicht leisten konnte. Ich klaute, was mich meiner Ansicht nach glücklich machen würde. Manchmal klaute ich auch einfach nur, um zu klauen.
Ich klaute eine Menge Bücher, weil ich schon immer gern gelesen habe; ich stahl zentnerweise Kassetten, weil ich gern Musik hörte. Für die, die zu jung sind, um die Dinger noch kennengelernt zu haben: Kassetten hatten einige Nachteile; sie nutzten sich ab oder verhedderten sich in der Mechanik des Abspielgeräts, und wenn die Sonne direkt darauf schien, begannen sie zu schmelzen. Aber sie ließen sich einfach klauen. Weil sie dünner als Zigarettenschachteln waren, konnte man sich als ehrgeiziger Langfinger unbemerkt das gesamte Werk einer Band in die Klamotten stecken und damit aus dem Laden gehen.
In meiner schlimmsten Zeit stahl ich so viele Tapes wie in meine Tasche passten, lud meine Beute dann in einem Gebüsch ab und ging noch mehr stehlen, manchmal sogar im selben Laden. Eines Nachmittags stahl ich in der Aquarium Stock Company ein paar Schlangen. Ich hing so oft in dieser Tierhandlung herum, dass meine Anwesenheit dort gar nicht weiter auffiel, und so kamen sie wohl nicht auf den Gedanken, ich könne dort etwas stehlen. Völlig daneben lagen sie nicht: Ich war wirklich wegen der Tiere dort - ich hatte nur zu wenig Respekt vor dem Laden, um nicht ab und an eines von ihnen mit nach Hause zu nehmen. Ich klaute die Schlangen, indem ich sie mir ums Handgelenk wickelte und dann die Jacke darüber zog; ich musste nur aufpassen, dass ich sie hoch genug um den Unterarm wand. Eines Tages ging ich wirklich in die Vollen und nahm gleich einen ganzen Schwung Schlagen mit, die ich dann draußen zwischenbunkerte, um auch gleich noch die Bücher zu klauen, in denen stand, wie man diese exotischen Viecher versorgte.
Bei einer anderen Gelegenheit ließ ich ein Dreihornchamäleon mitgehen, was wegen seiner langen Hörner gar nicht so einfach war. Diese Viecher fressen Fliegen, sind knapp dreißig Zentimeter lang - ungefähr so groß wie kleine Leguane - und haben ganz merkwürdige, vorstehende Glubschaugen. Ich muss damals schon eine ganze Menge Mumm gehabt haben - es war ein wirklich seltenes und teures Exemplar. Ich bin damit einfach aus dem Laden gegangen. Als ich mit dem kleinen Kerl nach Hause ging, wollte mir kein Märchen einfallen, mit dem ich meiner Mutter seine Anwesenheit in meinem Zimmer hätte erklären können. Ich beschloss daher, ihn draußen zu lassen, neben unseren Mülltonnen in dem umzäunten Hof hinterm Haus. Da ich auch gleich ein Buch über Dreihornchamäleons hatte mitgehen lassen, wusste ich, dass er gern Fliegen fraß, und ich hätte mir keinen besseren Platz für Old Jack vorstellen können als den Zaun hinter unseren Mülltonnen, wo es Fliegen in Hülle und Fülle gab. Es war jeden Tag ein Abenteuer, den Knaben zu finden, so gut passte er sich seiner Umgebung an - schließlich war er ein Chamäleon. Ich brauchte also immer einige Zeit, um ihn aufzuspüren; das war eine Herausforderung, die mir gefiel. Ich verbrachte etwa fünf Monate mit dem kleinen Kerl. Seine Tarnung wurde von Tag zu Tag besser, und eines Tages fand ich ihn einfach nicht mehr. Zwei Monate lang ging ich jeden Tag hin, um ihn zu suchen, aber es hatte keinen Sinn. Ich habe keine Ahnung, was aus Old Jack geworden ist, aber wenn ich daran denke, was ihm alles widerfahren sein könnte, hoffe ich, dass es ihm gut ergangen ist.
Ich kann wirklich von Glück sagen, dass man mich bei meinen Abenteuern als Langfinger größtenteils nie erwischte, weil ich es echt übertrieb. Um nur ein Beispiel dafür zu nennen, welches Ausmaß meine Eskapaden annahm: Auf eine Wette mit meinen Freunden hin klaute ich ein aufgeblasenes Schlauchboot aus einem Sportgeschäft. Es bedurfte einiger Planung, das durchzuziehen, und man hat mich auch dabei nicht erwischt.
Weil es mittlerweile egal ist, werde ich mal meine »Methode« verraten, wenn man das überhaupt so nennen will. Das Schlauchboot hing in dem Laden an einer Wand in der Nähe der Hintertür, die über einen Korridor auf die Gasse hinter dem Haus führte. Nachdem ich die Hintertür einmal aufgekriegt hatte, ohne Verdacht zu erregen, war es ein Klacks, das Boot von der Wand zu nehmen. Und als es erst mal auf dem Boden lag, hinter einem Regal mit Campingkram oder was immer es gewesen sein mochte, wartete ich einfach den richtigen Augenblick ab, um es nach draußen zu zerren. Ich schleppte es um die Ecke, wo mich meine Freunde erwarteten. Nachdem ich auf diese Weise bewiesen hatte, dass mein Plan aufging, packte ich das Ding und zerrte es einen Block weiter, wo ich es auf dem Rasen vor einem Haus einfach liegen ließ.
Ich bin nicht stolz darauf, aber wenn mein Rad zehn Meilen von zu Hause einen Platten bekam und ich kein Geld bei mir hatte, war ich froh, dass ich bei Toys „R" Us einfach einen Schlauch mitgehen lassen konnte. Wer weiß, was mir passiert wäre, wenn ich damals nach Hause hätte trampen müssen. Trotzdem muss ich, wie jeder, der das Schicksal wiederholt herausfordert, eines gestehen: So oft man sich die Notwendigkeit seines eigenen Tuns, von dem man genau weiß, dass es nicht in Ordnung ist, auch einreden mag: Irgendwann holen einen die Folgen ein.
Beim Klauen erwischte man mich letzten Endes bei Tower Records am Sunset Boulevard, dem Lieblingsplattengeschäft meiner Eltern. Ich erinnere mich an den Tag, als wäre es gestern gewesen: Es war einer jener Augenblicke, in denen ich genau wusste, dass irgendwas in die Hose gehen würde, und trotzdem ließ ich mich auf das Abenteuer ein. Ich war fünfzehn, glaube ich, und ich erinnere mich noch genau: Als ich mein BMX-Rad draußen abstellte, dachte ich mir, ich sollte in dem Laden künftig vorsichtig sein. Auf kurze Sicht half mir die Erkenntnis leider nicht; ich stopfte mir gierig Kassetten in Jacke und Hose, und zwar derart viele, dass ich mir dachte, ich sollte besser ein paar Alben kaufen, um bei den Kassierern keinen Verdacht aufkommen zu lassen. Ich glaube, ich hatte Cheap Tricks Dream Police und Led Zeppelins Houses of the Holy in der Hand, als ich zur Kasse ging. Und nachdem ich bezahlt hatte, dachte ich, ich hätte es geschafft.
Ich war schon draußen und wollte eben in die Pedale treten, als ich eine schwere Hand auf meiner Schulter spürte. Ich stritt natürlich alles ab, aber sie hatten mich ja erwischt. Sie brachten mich in einen Raum über dem Laden, von wo aus sie mich über einen venezianischen Spiegel beim Klauen beobachtet hatten. Sogar die Videoaufzeichnung spielten sie mir vor. Sie riefen meine Mutter an; ich rückte die Tapes raus, und sie stapelten sie auf einem Tisch auf, um sie meiner Mutter zeigen zu können. Man hat mir ja eine Menge durchgehen lassen als Kind, aber ausgerechnet beim Kassettenklauen in dem Laden erwischt zu werden, in dem meine Eltern seit Jahren Kunden waren, das war ein schlimmes Vergehen - weniger des Gesetzes als der Familienehre wegen. Nie werde ich den Ausdruck auf Olas Gesicht vergessen, als sie in das Büro kam und mich neben all dem Kram sitzen sah, den ich geklaut hatte. Sie sagte nicht viel, aber das brauchte sie auch nicht. Die Zeit, da sie glaubte, ich würde schon nichts Schlimmes anstellen, war damit vorbei, soviel war mir klar.
Letzten Endes verzichtete Tower Records auf eine Anzeige, schließlich hatten sie die Ware wieder zurückbekommen. Sie waren gnädig und ließen mich unter der Bedingung, den Laden nie wieder zu betreten, gehen, höchstwahrscheinlich weil einer der Manager meine Mutter erkannt hatte und wusste, dass sie eine Stammkundin war.
Als man mich sechs Jahre später in der Videoabteilung dieses Ladens einstellte, arbeitete ich die ersten sechs Monate dort in der ständigen Überzeugung, irgendjemand würde sich daran erinnern, dass man mich dort einst beim Klauen erwischt hatte, und dass sie mich dann feuern würden. Ich fürchtete, jeden Augenblick würde einer darauf kommen, dass ich auf dem Antragsformular das Blaue vom Himmel herunter gelogen hatte, und daraus auf die Wahrheit schließen: nämlich, dass das, was ich dort hatte mitgehen lassen, bevor ich erwischt worden war, mehr als nur einige Monatsgehälter wert war.
Mein ganzes aus den Fugen geratenes Leben sollte sich im Lauf der nächsten acht Jahre stabilisieren, so richtig allerdings erst, als ich eine Familie fand, die meinem eigenen Geschmack entsprach.
In dem Vakuum, in dem mich die Auflösung meiner Familie zurückgelassen hatte, schuf ich mir meine eigene Welt. Ich hatte das große Glück, trotz meiner damals jungen Jahre und in einer Zeit, in der ich meine Grenzen auslotete, einen Freund zu finden, der seither nie außer Reichweite gewesen ist, auch wenn uns gerade einmal Welten trennten. Er ist heute noch einer meiner engsten Vertrauten, und das will nach dreißig Jahren eine ganze Menge heißen.
Ich spreche von Marc Canter. Seiner Familie gehört mit dem Canter's Deli an der North Fairfax Avenue eine der ganz großen Institutionen der Stadt. Die Canters stammten aus New Jersey und hatten das Restaurant in den 1940ern aufgemacht. Es war von Anfang an ein Treff für Leute aus dem Showbusiness gewesen, nicht nur wegen des Essens, sondern auch weil es rund um die Uhr geöffnet hat. Es liegt nur eine halbe Meile vom Sunset Strip entfernt, wurde in den 60ern eine Anlaufstelle für Musiker und ist es bis heute geblieben. In den 80ern pfiffen sich Bands wie die Guns dort so einige Male spät nachts noch was ein. Der Kibbitz Room, die Bar mit Bühne gleich nebenan, gehört ebenfalls den Canters; hier haben mehr große Acts gespielt, als ich aufzählen könnte. Die Canters waren wie eine Offenbarung für mich. Sie gaben mir einen Job und ließen mich bei ihnen schlafen; ich kann ihnen gar nicht genug danken.
Kennengelernt habe ich Marc in der Grundschule in der Third Street. Angefreundet haben wir uns allerdings erst, als ich in der fünften Klasse um ein Haar sein Bike geklaut hätte.
Unsere Freundschaft war von Anfang an sehr eng. Er und ich hingen im Hancock Park rum, der in der Nähe der besseren Gegend lag, in der er wohnte. Wir gingen meist runter zur Ruine des Pan Pacific Theaters, wo heute das Grove Shopping Center steht. Das Pan Pacific war ein ganz unglaubliches Relikt. In den 40ern war es ein nobler Filmpalast mit Kuppelgewölbe und riesiger Leinwand gewesen, ein Ort, der die Kinokultur einer ganzen Generation versinnbildlichte. Selbst zu meiner Zeit war es noch schön: Die grünen Art-Deco-Bögen waren noch intakt, wenn auch der Rest schon zu Bruch gegangen war. Gleich daneben gab es eine Stadtbibliothek und einen Park mit Freibad und Basketballplatz. Wie die Laurel Elementary war auch das Kino ein Treffpunkt für zahlreiche Kids zwischen zwölf und achtzehn, die Nacht für Nacht ihren Weg dorthin fanden.
Meine Freunde und ich gehörten zu den Jüngeren dieser Szene. Es gab dort Mädchen, die für uns so unerreichbar waren, dass wir nicht mal von ihnen träumen durften - nicht dass wir's nicht trotzdem taten. Es gab dort Schulabbrecher und allerhand sonstige Randfiguren, von denen einige sogar in der Kinoruine hausten; sie lebten von Lebensmitteln, die sie auf dem Farmer's Market klauten, der zweimal die Woche gleich nebenan stattfand. Marc und ich waren fasziniert. Man akzeptierte uns dort, weil wir für gewöhnlich Gras hatten, und das kam immer gut an. Marc kennenzulernen veränderte etwas in mir; er war mein erster bester Freund - er verstand mich, wenn ich das Gefühl hatte, dass mich sonst keiner versteht. Keiner von uns führte ein Leben, das man als normal hätte bezeichnen können, aber ich bin stolz darauf, sagen zu können, dass wir uns heute noch so nahestehen wie eh und je. Das ist meine Definition von Familie. Ein Freund kennt einen nach Jahren immer noch genauso gut wie früher, selbst wenn man sich eine Ewigkeit nicht gesehen hat. Ein wahrer Freund ist nicht nur im Urlaub oder an den Wochenenden für einen da; ein wahrer Freund ist da, wenn man ihn braucht.
Ich erfuhr das einige Jahre später am eigenen Leib: Es war mir damals egal, wenn ich kaum genug zu Essen hatte, so lange ich nur ausreichend Geld besaß, um die Werbetrommel für Guns N' Roses zu rühren. Und als ich kein Geld hatte, um Flyer zu drucken oder mir auch nur einen Satz neuer Gitarrensaiten zu kaufen, da war Marc für mich da. Er lieh mir das Geld, das ich brauchte, um zu tun, was unbedingt getan werden musste. Ich gab es ihm zurück, sobald ich dazu in der Lage war, also nachdem die Guns ihren Plattenvertrag hatten, doch ich werde Canter nie vergessen, dass er für mich da war, als es mir dreckig ging.
Sich anders als in seiner üblichen Selbstwahrnehmung zu erfahren, fernab des gewohnten Standpunkts, relativiert die eigene Perspektive - das ist so, als hörte man die eigene Stimme auf dem Anrufbeantworter. Fast möchte man meinen, einem Fremden zu begegnen - oder auch ein Talent an sich zu entdecken, von dem man bis zu diesem Zeitpunkt gar nichts wusste. Als ich zum ersten Mal auf einer Gitarre eine Melodie so gut hinbekam, dass sie sich wie das Original anhörte, war das so eine Erfahrung. Je länger ich mich mit diesem Instrument beschäftigte, desto öfter kam ich mir vor wie ein Bauchredner. Was ich da durch das Medium dieser sechs Saiten zu hören bekam, war, wie mir bald klar wurde, die Stimme meiner eigenen Kreativität - und gleichzeitig noch etwas völlig anderes. Seither sind mir Noten und Akkorde zur zweiten Sprache geworden, und in der Regel drückt dieses Vokabular aus, was ich fühle, wenn die normale Sprache versagt. Außerdem ist die Gitarre mein Gewissen - wann immer ich vom Weg abgekommen bin, hat sie mich wieder aufs rechte Gleis zurückgeführt; wann immer ich vergesse, warum ich auf der Welt bin, erinnert sie mich daran.
Der Mensch dem ich alles verdanke, heißt Steven Adler. Er brachte mich überhaupt erst dazu, Gitarre zu spielen. Wir lernten uns eines Abends auf dem Spielplatz der Laurel Elemen-tary kennen, als wir beide dreizehn waren. Soweit ich mich erinnere, fuhr er Skateboard, hatte es aber einfach nicht drauf. Als er sich einmal ziemlich übel hinlegte, fuhr ich mit dem Bike zu ihm rüber und half ihm auf die Beine. Von dem Moment an waren wir unzertrennlich.
Steven war mit seinen beiden Brüdern bei seiner Mutter und seinem Stiefvater im Valley aufgewachsen, bis seine Mutter seine Allüren satt hatte und ihn nach Hollywood zu seinen Großeltern abschob. Dort blieb er dann den ganzen Sommer über bis zum Ende der Junior High. Anschließend schickte man ihn wieder zurück zu seinen Eltern, um dort die High School zu besuchen. Steven ist einmalig; er ist so eine Art schwieriger Fall, wie ihn nur eine Großmutter gernhaben kann - ohne dass sie ihn deshalb gleich bei sich wohnen haben wollte.
Steven und ich lernten uns in dem Sommer kennen, bevor wir in die achte Klasse kamen, und wir hingen dann bis zur High School zusammen rum. Ich war gerade in die neue Wohnung zu meiner Großmutter in Hollywood gezogen; meine Mutter wohnte damals am Hancock Park. Steven und ich waren daher sowohl neu an der Bancroft Junior High als auch neu im Viertel. In all der Zeit brachte es Steven, was Schulstunden anbelangte, noch nicht einmal auf eine Woche im Monat. Ich schaffte es immer irgendwie, weil ich in Kunst, Musik und Englisch gut genug war, um auf einen ordentlichen Durchschnitt zu kommen. In diesen Fächern hatte ich Einsen, weil es die einzigen waren, die mich interessierten. Ansonsten hatte ich für die Schule nicht viel übrig, weshalb ich meistens blau machte. Da ich im Schulsekretariat einen Block mit Entschuldigungsformularen gestohlen hatte und die Unterschrift meiner Mutter fälschte, wann immer es nötig war, fehlte ich in den Augen der Schulleitung weit seltener unentschuldigt, als das tatsächlich der Fall war. Der einzige Grund, weshalb ich den Abschluss an der Junior High schaffte, war trotz allem ein Lehrerstreik im letzten Jahr. Unsere regulären Lehrer wurden durch Aushilfslehrer ersetzt, mit denen ich locker fertig wurde, manchmal mit Quatsch, manchmal mit Charme. Ich möchte hier nicht groß darauf eingehen, aber ich erinnere mich daran, mehr als einmal den Lieblingssong eines Lehrers vor der Klasse auf der Gitarre gespielt zu haben. Belassen wir es dabei.