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Ein neues Medikament kommt auf den Markt: Sleepless. Es bietet Menschen die Möglichkeit, auf Schlaf zu verzichten, ohne müde zu werden. Der Hersteller, ein pharmazeutisches und biotechnologisches Start-up in Hamburg namens Harmony, möchte viel Geld damit verdienen. Doch wie verändert sich das Leben der Menschen durch den Konsum? Wie verändert sich unsere Gesellschaft, wenn die Menschen 24 Stunden am Tag aktiv bleiben? Schon bald stellt sich heraus, dass die Schlaflosigkeit, die den Menschen mehr bewusste Lebenszeit gibt, nicht ohne Folgen bleibt ...
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Seitenzahl: 865
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Abdruck des Zitats von Hermann Hesse mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags: »Beim Schlafengehen«, aus: Hermann Hesse, Sämtliche Werke in 20 Bänden. Herausgegeben von Volker Michels. Band 10: Die Gedichte. © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2002.
Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin.
© Piper Verlag GmbH, München 2021
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Cover & Impressum
Motto
Prolog
Heute
1 Konstantin Der Auftrag
2
3
Zwei Jahre zuvor
4 Alexander RiekerSchlaflose Nacht
5
6
7
8 Carolin Alberts
9
10 Alexander Rieker
11 Carolin Alberts
12
13
Heute
14 KonstantinAbschied
15
Zwei Jahre zuvor
16 Alexander RiekerEine schwarze Lilie
17
18
19
20 Carolin Alberts
21 Alexander Rieker
22
23 Carolin Alberts
24 Gilbert Fournier
25 Alexander Rieker
26 Carolin Alberts
27
28
Heute
29 KonstantinEin alter Freund
30
31
Zwei Jahre zuvor
32 Christian LangwerKaltes Gift
33 Alexander Rieker
34
35 Carolin Alberts
36
37 Alexander Rieker
38
39
40 Gilbert Fournier
41 Alexander Rieker
42
Heute
43 KonstantinEin Mann namens Mancini
44
45
46
Zwei Jahre zuvor
47 Carolin AlbertsTreffen wir uns?
48
49 Black Lily
50 Carolin Alberts
51
52 Alexander Rieker
53
54
Heute
55 KonstantinZeta
Zwei Jahre zuvor
56 Black LilyDunkle Risse
57
58 Alexander Rieker
59
60
61
62 Noah Gunnason
63
64 Alexander Rieker
65 Black Lily
66
Heute
67 KonstantinDer Geruch des Feuers
68
Zwei Jahre zuvor
69 Alexander RiekerLüge und Wahrheit
70
71
72 Oskar Brois
73 Noah Gunnason
74 Oskar Brois
75 Black Lily
76
77
78 Alexander Rieker
79 Noah Gunnason
Heute
80 KonstatinEin Wiedersehen
81
82
83
Zwei Jahre zuvor
84 Noah GunnasonFatale Abgründe
85
86 Carolin Alberts
87
88
89 Richard M. Richardson
90
91
92 Black Lily
93
94
95 Oskar Brois
96
97
98
Heute
99 KonstantinTot und lebendig
100
101
Zwei Jahre zuvor
102 Alexander RiekerNeue Wege
103 Noah Gunnason
104
105 Black Lily
106
107 Alexander Rieker
108 Carolin Alberts
109 Noah Gunnason
110 Carolin Alberts
111 Alexander Rieker
112
Heute
113 KonstantinVerräterische Signale
Zwei Jahre zuvor
114 Alexander RiekerSplitternde Finsternis
115
116
117
118 Noah Gunnason
119
120 Alexander Rieker
121
122
123
124 Carolin Alberts
Heute
125 KonstantinDie Agentur
126
127
128
129
130
Zwei Jahre zuvor
131 Alexander RiekerIch bin so müde
132
133 Carolin Alberts
134 Noah Gunnason
135
136 Alexander Rieker
137
138
139
140 Carolin Alberts
141 Alexander Rieker
142
Heute
143 KonstantinBegegnungen
144
Zwei Jahre zuvor
145 Alexander RiekerTiefe Fluchten
146 Oskar Brois
147 Carolin Alberts
148 Alexander Rieker
149 Black Lily
150
151 Matthias Teubner
152
153 Noah Gunnason
154
Heute
155 KonstantinAussichten
156
Zwei Jahre zuvor
157 Alexander RiekerIn geheimer Mission
158
159
160 Carolin Alberts
161 Black Lily
162
163
164
165 Alexander Rieker
166
167
168
169
Heute
170 KonstantinVorbereitung
171
172
Zwei Jahre zuvor
173 Alexander RiekerBrennender Himmel
174
175
176 Carolin Alberts
177
178
179 Oskar Brois
180 Alexander Rieker
181
182
Ein Jahr zuvor
183 Carolin AlbertsWechselspiele
184
185 Alexander Rieker
186
187
188
189
190 Carolin Alberts
191 Alexander Rieker
192
193
194
195
196 Carolin Alberts
197 Alexander Rieker
198
Kurz vorher
199 KonstantinEin letzter Tag
200
Heute
201 Alexander RiekerIn Feuer vereint
202
203 Konstantin
204 Alexander Rieker
Heute
205 Carolin AlbertsWas sein wird
Epilog
Und die Seele unbewacht
Will in freien Flügen schweben,
Um im Zauberkreis der Nacht
Tief und tausendfach zu leben.
Hermann Hesse, Beim Schlafengehen
Der Flammenmann kam aus dem Dunkeln auf ihn zu.
Konstantin bemerkte das Licht, bevor er ihn sah, und er hörte das Knistern und Prasseln des Feuers, noch bevor die Schatten zwischen den alten Lagerhäusern in Bewegung gerieten und flohen. Flammenschein spiegelte sich in den Regenpfützen wider, und dann trat sie hinter der Ecke des nächsten Gebäudes hervor: eine feurige Gestalt, der er zum dritten Mal begegnete.
Diesmal wich er nicht zurück.
»Wer bist du?«, fragte er, seine Stimme rau. »Was willst du?«
Der Flammenmann antwortete nicht, vielleicht konnte er gar nicht sprechen. Langsam setzte er einen brennenden Fuß vor den anderen.
Konstantin blieb stehen. In der rechten Hand hielt er eine Schusswaffe, einen Colt Python aus seiner Sammlung. Er richtete den Revolver auf die lodernde Gestalt. »Bleib stehen!«
Ein weiterer Schritt. Zischend verdampfte das Regenwasser unter glühenden Füßen.
»Ich schieße, wenn du nicht stehen bleibst!«, warnte Konstantin und spannte den Hahn.
Der Flammenmann ging weiter, einen ruhigen Schritt nach dem anderen.
Konstantin drückte ab. Der Knall des Schusses zerriss die Stille der Nacht.
Die lodernde Gestalt gab noch immer keinen Ton von sich, abgesehen vom Knistern ihrer Flammen, und zeigte sich völlig unbeeindruckt. Sie setzte ihren Weg fort, ohne langsamer zu werden.
Konstantin schoss zwei weitere Male und war sicher, dass er traf. Die großkalibrigen Geschosse hätten einen Menschen zu Boden geschickt, doch dem Flammenmann konnten sie nichts anhaben. Er blieb auf den brennenden Beinen und kam noch näher.
Hitze wogte Konstantin entgegen. Er kniff die Augen zu, geblendet vom hellen Licht des Feuers, und fühlte, wie ihm der Schweiß ausbrach.
»Ich weiche nicht zurück, siehst du?«, rief er. »Ich habe keine Angst vor dir! Dies ist nur ein Traum!«
Zwei letzte Schritte, dann stand der Flammenmann direkt vor ihm. Die Hitze schien unerträglich.
Eine Stimme flüsterte: »Bist du sicher, dass dies wirklich nur ein Traum ist?«
Konstantin öffnete die Augen.
Warmer Wind bewegte die nur halb zugezogenen Gardinen des offenen Fensters. Eine schmale Mondsichel zeigte sich am Nachthimmel. Im Zimmer rührte sich nichts. Von draußen kamen die Geräusche einer Stadt, die nicht mehr schlief.
Konstantin sah zur Uhr auf dem Nachtschränkchen – halb drei. Er hatte nur eine halbe Stunde geschlafen, und es war nicht einmal richtiger Schlaf gewesen, nur ein leichtes Dösen. Trotzdem fühlte er sich frisch und ausgeruht.
Es wurde immer weniger. Zu Anfang waren es noch zwei oder drei Stunden Schlaf gewesen, dann nur noch eine und eine halbe. Wenn es so weiterging, brauchte er am Ende der Woche wahrscheinlich gar nicht mehr zu schlafen.
Konstantin schwang die Beine vom Bett, stand auf und ging zum Fenster. Zwei Lichterteppiche lagen vor ihm ausgebreitet, durch den dunklen Streifen der Straße von Messina voneinander getrennt: hier Archi, nördlicher Stadtteil von Reggio Calabria, und auf der anderen Seite der Meerenge die Stadt Messina auf Sizilien. Musik tönte aus offenen Restaurants und Cafés, zahlreiche Menschen waren unterwegs.
Mit bloßem Oberkörper stand Konstantin am Fenster, spürte den warmen Nachtwind und war sich auf eine seltsam deutliche Art und Weise der eigenen Lebendigkeit bewusst. Die Gerüche der Stadt und des Meeres hatten eine neue Intensität, ebenso das Licht der Straßenlampen, Werbeleuchten und Autoscheinwerfer und die Geräusche, die der Wind zu ihm trug. Wenn er die Augen schloss, glaubte er, die Stimmen von Menschen zu hören, die Hunderte von Metern entfernt sprachen und lachten.
Er betrachtete seine Hände. Sie steckten voller Kraft, voller Leben. Es waren Hände, die töten würden, wenn die Sonne aufging.
Konstantin wandte sich vom Fenster ab und ließ den Blick durchs Zimmer wandern. Es war auf den Namen Frederic Meyers gemietet, seit einem Monat, das gehörte zu den Vorbereitungen.
Er ging zur alten Kommode neben der Tür, bückte sich und öffnete die unterste Schublade. Auf halbem Weg knarrte sie leise und schien zu klemmen. Konstantin tastete mit der Hand hinter die zusammengefaltete Bettwäsche, fand den kleinen Hebel und betätigte ihn, woraufhin sich die Schublade ganz aus der Kommode ziehen ließ.
In der linken Ecke – nur zu erreichen, wenn man den Arm weit in die Kommode streckte – befand sich ein flacher Karton. Konstantin zog ihn näher, nahm den Deckel ab und betrachtete die beiden Waffen, die der Karton enthielt: eine Beretta 92, eine gute Allzweckpistole, und den Colt Python mit sechs Zoll langem Lauf, groß und schwer.
Nachdenklich nahm Konstantin den Revolver und richtete sich auf. Mit dieser Waffe hatte er auf den Flammenmann geschossen.
Langsam drehte er sich um und blickte erneut durchs Zimmer. Der blasse Mondschein erreichte nicht alle Ecken. Dunkelheit herrschte in der dem Fenster gegenüberliegenden Seite, und der Rest war ein Reich des Zwielichts.
Nirgends regte sich etwas. Die einzigen Geräusche kamen von draußen. Eine brennende Gestalt hätte sich kaum in dem Zimmer verstecken können.
Und doch hatte Konstantin noch den Geruch von Feuer in der Nase.
Zum dritten Mal hatte er vom Flammenmann geträumt. Obwohl man eigentlich nicht von Träumen sprechen konnte, denn er hatte in keinem Fall richtig geschlafen, nur ein wenig gedöst.
Er überprüfte den Colt und stellte fest, dass alle sechs Patronen in der Revolvertrommel steckten. Er roch an Hahn und Lauf – die Waffe war schon seit einer ganzen Weile nicht mehr benutzt worden.
Konstantin nahm auch die Beretta, legte beide Waffen aufs Bett, aufs Kopfkissen, und griff nach der Schachtel auf dem Nachtschränkchen. Sie war kleiner als ein Päckchen Zigaretten und wies eine Art Balkendiagramm aus grünen Streifen auf, flankiert von dem großen grünen Sleepless-S. Von den beiden Blistern in der Schachtel war der eine noch gefüllt, der andere enthielt nur noch eine grüne Pille. Konstantin drückte sie heraus und betrachtete sie zwei oder drei Sekunden lang, bevor er sie in den Mund steckte und schluckte. Wache Sinne, darauf kam es in den nächsten Stunden an.
Er ging ins Bad und erleichterte sich. Nach einer kurzen Dusche brachte er Zähneputzen und Rasur hinter sich, streifte Jeans und Hemd über, legte die beiden Waffen in seine kleine Reisetasche und fügte ihnen die Sleepless-Schachtel hinzu. Bevor er das Zimmer verließ, strich er Kissen und Laken glatt.
Unten auf der Straße wich er mehreren Jugendlichen aus, die auf lauten Scootern an ihm vorbeirasten. Seine Armbanduhr zeigte kurz vor drei.
Zeit genug für den Auftrag.
Er machte sich auf den Weg.
Der Wagen stand zwei Straßen weiter, ein in die Jahre gekommener cremefarbener Alfa Romeo Mito mit einer Delle am linken Kotflügel. Ein Mittelsmann hatte ihn vor zwei Tagen in Gioia Tauro gestohlen und mit neuen Nummernschildern versehen.
Konstantin blieb einige Meter entfernt unter einer Markise stehen und gab vor, die Auslagen im Schaufenster zu betrachten, während seine Aufmerksamkeit in Wirklichkeit der Straße galt. Autos fuhren vorbei. Ein Pärchen ging Arm in Arm. Zwei junge Leute stritten laut in einem Hauseingang. Musik plärrte aus einem offenen Fenster.
Konstantin holte den Funkschlüssel hervor, drückte den Knopf, und beim Mito blinkten die Lichter. Er ging zum Wagen, setzte sich ans Steuer und stellte die kleine Reisetasche in den Fond-Fußraum auf der Fahrerseite, damit sie bei einer eventuellen Verkehrskontrolle nicht sofort gesehen wurde.
Als er den Motor startete, öffnete sich plötzlich die Beifahrertür.
»Keine Sorge, ich bin’s.« Ein junger Mann stieg ein, gertenschlank und mit schwarzem Haar, an den Seiten rasiert. »Du hast mich nicht bemerkt, oder?« Dario Cutri – »Il Piccolo«, der Kleine, genannt, weil er mit seinen neunzehn Jahren der Jüngste von drei Brüdern war – lächelte zufrieden und zeigte dabei perlweiße Zähne. »Ich hab dich überrascht.«
Konstantin nickte langsam. »Hast du, ja.«
»Ich komme mit.«
»Nein.«
Dario deutete nach vorn. »Fahr los, Kosta.«
»Nein.«
Das Lächeln verschwand aus Darios Gesicht. »Ich komme mit. Ich will dabei sein.«
»Ich arbeite allein«, sagte Konstantin, beide Hände am Lenkrad.
»Diesmal nicht. Sieh es als eine Erweiterung deines Auftrags. Du wirst mir zeigen, wie man es anstellt. Wie man es richtig macht. Angeblich bist du einer der Besten.«
»Ich werde mit deinem Vater reden«, sagte Konstantin.
»Ich rede mit ihm, wenn du jetzt nicht losfährst«, zischte Dario. »Ich werde ihm sagen, dass du vergessen hast, von wem du deine Anweisungen bekommst.«
Dario war immer ein Hitzkopf gewesen. Vor einigen Jahren hatte das noch keine große Rolle gespielt, weil er zu jung gewesen war, um ernsten Schaden anzurichten, und seine Brüder stets auf ihn aufgepasst hatten. Aber inzwischen war »Il Piccolo« groß genug geworden, um sich ihrer Kontrolle zu entziehen. Er zeichnete sich durch eine gefährliche Art von unreifer, unerfahrener Selbstüberschätzung aus, gepaart mit einer toxischen Portion Ehrgeiz.
Aber er war der Sohn des berüchtigten Don Michele Cutri, dessen Zorn sich niemand zuziehen wollte.
Konstantin nahm eine Hand vom Lenkrad, legte den ersten Gang ein und fuhr los, nach Norden, in Richtung Villa San Giovanni.
»Wie willst du vorgehen?«, fragte Dario nach einer Weile. »Du planst immer alles ganz genau, nicht wahr?«
Konstantin sah ihn kurz an und erkannte die Zeichen. In den letzten Tagen schien er einen besonderen Sinn dafür entwickelt zu haben. Ein oder zwei Blicke genügten, und er wusste, ob jemand Sleepless nahm oder nicht. Er konnte zwischen Wachen und Schläfern unterscheiden. Woran das lag, hätte er nicht zu sagen vermocht: etwas in den Augen und im Gesicht, vielleicht auch in den Bewegungen. Dario Cutri gehörte zu den Wachen, im Gegensatz zu seinen Brüdern und dem Rest der Familie.
»Der Zufall ist ein sehr unzuverlässiger Verbündeter«, sagte Konstantin.
»Immer alles planen und organisieren. Es ist dein deutsches Blut, nicht wahr?« Dario hielt das für lustig und lachte.
Konstantin nahm den Fuß vom Gas, hielt an der dunklen Stelle zwischen zwei Straßenlampen und stellte den Motor ab.
Auf der anderen Seite der breiten Straße erstreckte sich eine der neuen Wohnanlagen mit teuren Villen hinter bewachten Sicherheitszäunen. Dort residierte Francesco Castelli, der aus Mailand stammende Direktor der Banca Antonia.
»Wohnt er da?«, fragte Dario.
»Ja.«
»Das ist eine Gated Community, mit zahlreichen Sicherheitskameras, Bewegungsmeldern und Wachposten. Wie willst du da unbemerkt reinkommen?«
»Will ich nicht.«
»Was hast du vor?«
»Wir warten.« Konstantin sah auf die Uhr. Es war zwanzig vor vier. Noch zwei Stunden bis Sonnenaufgang.
»Wie lange?«
»Zwei Stunden.«
Der junge Dario sah ihn mit großen Augen an. »Zwei Stunden sitzen wir einfach nur hier im Wagen?«
»Wenn sich Castelli an seine übliche Routine hält. Man kann nie wissen. Ausgerechnet heute könnte er es sich anders überlegen. Deshalb bin ich schon jetzt hier und warte.«
Eine Zeit lang schwiegen sie und beobachteten die Wohnanlage. Hinter einigen Fenstern brannte Licht. Zwischen den Bäumen und Büschen erschienen gelegentlich die Silhouetten von Wachleuten.
»Castelli ist ein Schläfer, nicht wahr?«, fragte Dario nach einer Weile.
»Ja«, bestätigte Konstantin. »Aber er steht jeden Tag früh auf. Nur sonntags schläft er etwas länger, meistens bis um acht.«
»Du kennst seine Angewohnheiten.«
»Ich habe mich vorbereitet.«
»Deshalb beauftragt mein Vater dich. Weil er weiß, dass du sorgfältig arbeitest.« Dario lachte kurz. »Früher hab ich mir gewünscht, so zu sein wie du.«
»Heute nicht mehr?«, fragte Konstantin, den Blick noch immer auf die Wohnanlage gerichtet.
»Nein. Heute möchte ich so sein wie mein Vater. Er hat die wahre Macht.«
»Kommt darauf an«, sagte Konstantin leise.
»Worauf?«
»Darauf, wer die Pistole in der Hand hält.«
Dario schien nicht recht zu wissen, was er davon halten sollte. Nach einigen Sekunden entschied er, die Worte als Scherz zu verstehen, und sein kurzes Lachen wiederholte sich.
Wieder schwiegen sie einige Minuten lang. Das Scheinwerferlicht von Autos und Lastwagen strich an ihnen vorbei. Gelegentlich schlenderten Passanten über die Bürgersteige.
»Du bist wach«, sagte Dario.
»Natürlich bin ich wach. Ich habe einen Auftrag zu erledigen.«
»Nein, ich meine, du bist kein Schläfer. Du gehörst zu den Wachen. Ich ebenfalls. Seit einigen Wochen. Hast du gehört, dass sie Sleepless in Deutschland verbieten wollen? Und nicht nur dort. Angeblich wird auf ein weltweites Verbot hingearbeitet.«
»Das wäre dumm«, kommentierte Konstantin. »Wenn sie Sleepless verbieten, wird es wie bei der Prohibition vor hundert Jahren in Amerika.«
»Ich schätze, in dem Fall wartet ein Riesengeschäft auf uns.« Dario lachte zum dritten Mal, diesmal etwas länger.
Konstantin mochte sein Lachen nicht. Er wandte den Kopf und sah Dario an. »Schläfst du überhaupt nicht mehr?«
»Nicht eine Minute. Seit Wochen nicht.«
»Döst du manchmal ein bisschen?«
»Es kommt vor, dass ich mich irgendwo in eine Ecke setze, die Augen schließe und meine Gedanken treiben lasse. Aber ich schätze, Dösen kann man das nicht nennen. Und Schlafen erst recht nicht.«
»Und wenn du die Gedanken treiben lässt …« Konstantin überlegte, wie er es ausdrücken sollte. »Was siehst und hörst du?«
Dario grinste. »Du willst wissen, was ich sehe, wenn ich die Augen zuhabe? Nichts, Mann! Ich sehe nichts, weil meine Lider nicht durchsichtig sind.«
»Hattest du irgendwann einmal … Halluzinationen?«
»Hallus? Von Sleepless? Nein, nie. Warum fragst du?«
»Schon gut.« Konstantin beobachtete wieder die Wohnanlage. Ein Wachmann stand zwischen zwei Büschen. Es ließ sich nicht erkennen, in welche Richtung er sah.
Dario schaffte es fast zehn Minuten lang, keinen Ton von sich zu geben. »Zwei Stunden können ziemlich lang sein, wenn man einfach nur dasitzt.«
»Kommt darauf an.«
»Schon wieder? Worauf diesmal?«
Konstantin seufzte. »Ein Mensch wird sterben. Das ist keine geringe Sache. Denk darüber nach, dann wird dir die Zeit nicht zu lang.«
Hinter den Bergen im Osten kroch das erste Licht des neuen Tages hervor, als Francesco Castelli seine Villa verließ, wie immer in Begleitung von zwei Leibwächtern. Einer saß neben ihm auf dem Beifahrersitz des kirschroten Lancia, der andere am Steuer eines weißen Fiat Tipo Sport.
Konstantin wartete, bis beide Wagen vorbeigefahren waren, bevor er den Motor startete. Er wahrte einen Abstand von etwa hundert Metern zu Castelli und seiner Eskorte.
»Endlich«, sagte Dario.
Die beiden Wagen vor ihnen in der Morgendämmerung fuhren ein Stück nach Süden, in Richtung Reggio Calabria, und bogen dann nach links ab. Konstantin blieb auf der breiten Straße.
»Was machst du?«, fragte Dario erstaunt. »Warum folgst du ihnen nicht?«
»Castelli ist nicht dumm«, erklärte Konstantin. »Und seine beiden Leibwächter erst recht nicht. Sie würden merken, dass ihnen jemand folgt.«
»Du weißt, wohin sie fahren.«
»Nach Sambatello. Dort läuft Castelli jeden zweiten Morgen, begleitet von einem der beiden Leibwächter, der manchmal Mühe hat, sein Tempo zu halten. Ich kenne den Ort und die Zeit.«
Nach einem Kilometer bog Konstantin ebenfalls ab und setzte die Fahrt über eine schmale, holprige Straße nach Osten fort, durch eine von Hügeln geprägte Landschaft. Hier gab es kaum Verkehr. Die meisten Wachen, vor allem die Jungen unter ihnen, verbrachten Nacht und frühen Morgen lieber in der Stadt.
»Was hat er ausgefressen?«, fragte Konstantin, als die Lichter der Stadt hinter ihnen zurückblieben.
Dario spähte in die Reste der Nacht. »Ausgefressen?«
»Warum soll Francesco Castelli sterben?«
»Musst du das wissen?«
»Nein«, sagte Konstantin, »muss ich nicht.«
Dario sah ihn von der Seite her an und lächelte dünn. »Aber du würdest gern.«
Konstantin bedauerte bereits, gefragt zu haben. In seiner Branche konnte Neugier an der falschen Stelle sehr gefährlich sein.
Erstes Sonnenlicht erreichte die Gipfel der Berge im Osten, und sie schienen Kronen aus rötlichem Gold zu tragen.
»Mein Vater traut ihm nicht mehr«, sagte Dario und spähte ins Halbdunkel vor ihnen. »Es hat was mit der Banca Antonia zu tun. Beim Geldwaschen soll er zu viel für sich abgezweigt haben, heißt es.«
Sie bogen irgendwann ebenfalls ab, auf eine schmale Straße, kamen an einigen alten Häusern vorbei, die längst nicht mehr bewohnt waren. Der Asphalt wurde zu einem Weg voller Schlaglöcher. Konstantin schaltete die Scheinwerfer aus und fuhr langsam. An den nahen Hängen ragten Feigenkakteen auf.
»Es könnte auch etwas mit Zeta zu tun haben«, fügte Dario hinzu. »Vor ein paar Tagen hat Achille gesagt, Castelli hätte seine Fühler zu weit nach Europa ausgestreckt.«
Achille, das war Bruder Nummer zwei, der Mittlere.
Konstantin hörte zum ersten Mal von »Zeta«, hütete sich aber davor, eine weitere Frage zu stellen. Er hielt vor mehreren Bäumen, stellte den Motor ab und öffnete die Tür. Die Stille der Nacht strömte herein.
»Kommt er bei seinem Lauf hier vorbei?«, fragte Dario. »Warten wir hier auf ihn?«
»Wir haben noch eine kleine Kletterpartie vor uns.« Konstantin beugte sich zwischen die Sitze und zog die kleine Reisetasche aus dem Fußraum des Fond.
»Was ist da drin?«, fragte Dario neugierig.
»Mein Werkzeug.«
»Darf ich mal sehen?«
»Nein.« Konstantin stieg mit der Tasche aus und schaute sich um. Es gab keine Lichter in der Nähe, und die Schatten blieben unbewegt.
Dario verließ den Wagen ebenfalls. Konstantin deutete zum nahen Hang. »Dorthinauf.«
Ein schmaler, halb überwucherter Pfad führte steil nach oben, dem heller werdenden Himmel entgegen. Konstantin kannte jede kleine Kurve und wäre auch im Dunkeln zurechtgekommen. Dario hingegen stolperte mehrmals über Steine und aus dem Boden ragende Wurzeln.
Hundert Meter weiter oben ging Konstantin zwischen zwei Felsen in die Hocke, die kleine Reisetasche an seiner Seite. Dario ließ sich neben ihm nieder.
»Wo sind sie?«, fragte er.
Konstantin streckte den Arm aus und zeigte nach Norden. »Es ist von hier aus nicht zu sehen. Die beiden Wagen stehen hinter der Anhöhe dort, ein ganzes Stück weiter unten, etwa sechs Kilometer von hier entfernt. Der Lancia ist leer. Im weißen Tipo Sport sitzt der zweite Leibwächter und wartet auf Castellis Rückkehr. Wenn er ausgestiegen und ein Stück gegangen ist, was er manchmal macht, könnte er die Schüsse hören. Aber vor einer Viertelstunde kann er nicht hier sein. Wir haben Zeit genug.«
»Und Castelli und der andere Leibwächter?«, fragte Dario leise. »Wo sind sie jetzt?«
Konstantin blickte auf die Armbanduhr. »Wenn Castelli so schnell läuft wie sonst, dürfte er in zwanzig Minuten hier sein.«
»Wo hier?«, wollte Dario wissen. »Wo genau?«
Konstantin deutete auf die Büsche und Bäume weiter unten. Ein kleiner Weg schlängelte sich dort den Hügeln entgegen, hinter denen die Berge des Aspromonte aufragten.
Dario schüttelte den Kopf. »Warum läuft er ausgerechnet hier und um diese Zeit?«
Konstantin zog den Reißverschluss der Reisetasche auf. »Weil es um diese Zeit noch angenehm kühl ist. Und weil ihn an diesem Ort niemand stört. So früh kann er erwarten, hier niemandem zu begegnen.«
»Aber da irrt er sich«, sagte Dario mit einem Grinsen. »Zumindest heute.«
Konstantin nahm die Beretta 92 aus der Reisetasche und überprüfte sie. Dario entdeckte den Revolver.
»He, was ist das?« Er langte nach dem Colt.
»Nicht«, sagte Konstantin scharf. »Leg ihn wieder in die Tasche.«
Dario drehte den Colt bewundernd hin und her. Die Beretta war dunkel, ein Schatten in Konstantins Hand, doch der Colt glänzte silbern bis auf den hellbraunen Griff.
»Schwer und groß«, stellte Dario fest. »Beeindruckend. Ein echtes Prachtstück.«
»Ein Colt Python aus meiner Sammlung.«
»Schenkst du ihn mir?«, fragte Dario.
Konstantin sah ihn grimmig an.
Der junge Cutri lachte. »War nur ’n Scherz. Ich schätze, so etwas verschenkt man nicht, oder?«
»Nein.«
»Welche Waffe willst du benutzen?«
»Diese hier.« Konstantin hob die Beretta. »Leicht und zuverlässig. Hat mich noch nie im Stich gelassen. Nicht sechs Schuss, sondern fünfzehn. Leg den Colt in die Reisetasche.«
»Nachher, wenn alles vorbei ist«, widersprach Dario. »Ich bin deine Reserve, für den Notfall.«
Ärger regte sich in Konstantin. »Es wird keinen Notfall geben.«
»Man kann nie wissen. Sollte man nicht auf alles vorbereitet sein?«
Einige Minuten vergingen. Die Stille des frühen Morgens schloss sich um sie. Es sangen keine Vögel, es zirpten keine Grillen, es war einfach nur still.
Dann zeigte sich unten ein tanzendes Licht zwischen den Büschen.
»Das ist Castelli«, flüsterte Konstantin. »Er läuft mit Stirnlampe.«
Die Nacht hatte sich noch etwas weiter zurückgezogen, der Morgen war heller geworden. Der Mann, der mit der Stirnlampe über den Hügelpfad lief, trug zitronengelbe Runner-Kleidung, Shorts und ärmelloses Shirt, war um die fünfzig und gertenschlank. Castelli lief konzentriert, sah nur den Weg und sonst nichts.
»Und der Leibwächter?«, fragte Dario leise. »Wo ist er?«
»Einige Hundert Meter hinter ihm, nehme ich an. Er schafft die Steigungen nicht so gut wie Castelli. Wir warten, bis wir ihn sehen.«
»Warum? Das ist doch eine gute Gelegenheit.« Dario erhob sich und lief den Hang hinunter, den Colt in der rechten Hand.
Auf halber Höhe blieb Dario stehen, zielte mit dem Colt – er hielt ihn in beiden Händen – und schoss.
Er traf den linken Arm, und der nächste Schuss ging ins Leere, weil sich Castelli schmerzerfüllt zur Seite wandte.
»Du verdammter kleiner Idiot!«, zischte Konstantin und sprang den Hang hinunter.
Es knallte erneut, zum dritten Mal, und diesmal ging Castelli zu Boden.
Konstantin sah, dass er sich noch bewegte – er versuchte, hinter einen nahen Busch zu kriechen.
Dario erreichte den Weg, war wenige Sekunden später beim Verletzten und schoss ihm in den Kopf.
»Erledigt!«, rief er und drehte sich um. »He, Kosta, er ist tot!«
»Bist du vollkommen übergeschnappt?«, knurrte Konstantin und stapfte auf den jungen Mann zu.
»Auftrag ausgeführt.« Dario Cutri grinste zufrieden und hob den Revolver, der noch zwei Patronen enthielt. »Tolles Ding, dieser Colt.«
Hinter ihm erschien der Leibwächter, verschwitzt und außer Atem, aber mit einer Waffe in der Hand – er hatte die Schüsse natürlich gehört.
Konstantin glaubte, den kleinen Mündungsblitz der Pistole zu sehen, bevor der Knall über die Hügel zog – bis hin zum sechs Kilometer entfernten weißen Tipo Sport mit dem zweiten Leibwächter, der sich vielleicht schon auf den Weg gemacht hatte und in einer Viertelstunde zur Stelle sein würde.
Die Kugel bohrte sich Dario in den Nacken, und sein Hals schien regelrecht zu explodieren. Ihm blieb gerade noch Zeit genug, überrascht zu sein, dann sank er tot zu Boden.
Eine zweite Kugel pfiff dicht an Konstantins Ohr vorbei. Vielleicht hatte sie ihn nur verfehlt, weil der Leibwächter nach dem für ihn sehr anstrengenden Lauf die Waffe nicht ruhig genug hielt.
Konstantin ging in die Hocke, zielte mit der Beretta und schoss dreimal schnell hintereinander. Eine Kugel streifte die Seite des Leibwächters, die beiden anderen schlugen mitten in seiner Brust ein.
Mit einem Schnauben ging er zu Boden, versuchte noch einmal, den Kopf zu heben, und blieb dann reglos liegen.
Die Stille kehrte zurück, dicht und schwer.
Konstantin richtete sich auf, die Beretta bereit. Wie viel Zeit blieb noch? Zwölf oder dreizehn Minuten. Falls der andere Leibwächter im weißen Tipo gesessen oder in dessen Nähe gestanden hatte. Falls er nicht beschlossen hatte, diesmal an dem Lauf teilzunehmen.
Konstantin behielt den Weg im Auge, doch die Schatten zwischen den Büschen, Sträuchern und Felsen blieben unbewegt, und es sprang kein zweiter Mann aus ihnen hervor.
Er bückte sich neben Dario Cutri und tastete nach dem Puls, was gar nicht nötig gewesen wäre – ein Blick auf den Hals und ins Gesicht genügte.
»Dummkopf«, murmelte er und ging zum Leibwächter, der ebenfalls tot war.
Noch elf Minuten.
Er kehrte zu Darios Leiche zurück, nahm den Colt Python und schob ihn halb in die Hosentasche. Dann griff er nach den Händen des Toten und zog ihn vom Weg und den Hang hinauf. Oben angelangt war er ins Schwitzen geraten, hielt kurz inne, legte den Colt in die Reisetasche, streifte den Trageriemen der Tasche über die Schulter und ergriff erneut Darios Hände.
Der Rest des Weges zum Mito vor den Bäumen war leichter, denn es ging bergab. Konstantin öffnete die Heckklappe, verstaute die Leiche im Kofferraum und warf einen Blick auf die Armbanduhr.
Noch fünf Minuten.
Zeit genug.
Als er im Wagen saß, hatte er plötzlich den Geruch von Feuer in der Nase, und aus dem Augenwinkel glaubte er, den Widerschein von Flammen zu sehen. Er blickte sich um.
Nirgends brannte etwas.
Er startete den Motor, wendete und fuhr langsam über den Weg mit den vielen Schlaglöchern zurück in Richtung Sambatello. Nach einer Weile wurde aus dem Weg die schmale Straße, und auf ihr kam er etwas schneller voran.
Als Konstantin wieder auf die Uhr sah, waren die fünf Minuten vergangen – der zweite Leibwächter hatte die beiden Toten erreicht und vielleicht schon die Polizei verständigt. Bis sie eintraf, würden noch einmal zwanzig Minuten oder gar eine halbe Stunde vergehen. Bis dahin konnte Konstantin längst in Reggio Calabria sein.
Aber so weit fuhr er nicht. Er stellte den Mito in einer Seitenstraße von Gallico ab, ein paar Kilometer nördlich von Archi, und nahm den Bus nach Reggio. Unterwegs dachte er darüber nach, wie er Don Michele Cutri die Nachricht vom Tod seines jüngsten Sohns nahebringen sollte.
Nebel lag über der Elbe, so dicht, dass man das andere Ufer nur schemenhaft ausmachen konnte. Ein Horn ertönte in der Ferne, eine Möwe schrie, doch die Geräusche erklangen nur gedämpft. Links ragte die Elbphilharmonie wie eine Fata Morgana aus den trägen grauweißen Schwaden auf.
Alexander Rieker ging über die Landungsbrücke zur Anlegestelle, wo sich neugierige Nachtschwärmer und Frühaufsteher drängten. Er hatte den Kragen der Jacke hochgeschlagen und die Hände tief in den Hosentaschen. Noch war es kalt an diesem Morgen Anfang Mai, aber nach der Wettervorhersage stand der erste heiße Tag des Jahres bevor, mit Temperaturen bis zu 27 °.
Er schob sich an den Gaffern und Neugierigen vorbei und erreichte die Absperrung, an der zwei junge Polizisten, ein Mann und eine Frau, Wache hielten. Der Mann versperrte ihm den Weg, als sich Rieker unter dem rot-weißen Band hinwegducken wollte.
»Sie können hier nicht durch«, sagte der Beamte.
»Ich kann und ich muss.« Rieker zeigte seinen Ausweis.
»Oh, Entschuldigung, Herr Kommissar.« Der junge Beamte hielt das Band für ihn hoch.
»Ist die Spurensicherung schon da?«
»Soll unterwegs sein. Bitte verzeihen Sie meine Neugier, aber sind Sie der Kommissar Rieker, der …«
»In die Sache mit dem Innensenator verwickelt war, ja«, kam ihm Rieker zuvor. »Genau der. Wo liegt er?«
Der junge Polizist zeigte zum nächsten Boot.
Rieker sah den Toten: Er hing halb über der Reling, wie ein Betrunkener, der sich übergeben hatte und dabei eingeschlafen war.
In der rechten Schläfe steckte ein Dolch.
Der Kapitän des Ausflugsboots, noch ohne Uniform, stand neben dem alten Harry und sah Rieker entgegen.
»Ich nehme an, Sie sind für diese Sache zuständig«, sagte er, ohne zuvor zu grüßen, als Rieker das Boot erreichte. »Wann wird die Leiche weggebracht? Ich muss mich um mein Schiff kümmern.«
»Auch Ihnen einen schönen guten Morgen«, erwiderte Rieker und nickte Harry zu. »Früh auf den Beinen.«
»Hatte Nachtdienst«, erklärte Harald Bargmann, den alle »Harry« nannten. Er gehörte seit vielen Jahren zum St.-Pauli-Streifendienst und hatte es irgendwie geschafft, nie in ein Büro befördert zu werden. Er war über sechzig, und wenn man ihn fragte, wann er in Rente gehen würde, antwortete er stets: »In ein paar Monaten.« Aber das sagte er schon seit Jahren. »Bin dabei, das junge Gemüse dort drüben einzuarbeiten.«
»Mein Beileid.« Rieker deutete auf den Toten. »Hat ihn jemand angefasst?«
Der alte Harry schüttelte den Kopf. »Du kennst mich, Alex, ich fass keine Toten an, wenn’s sich vermeiden lässt. Und meine Lehrlinge sind mit den Regeln vertraut und jung genug, sich daran zu halten.«
»Was ist mit Ihnen?«, wandte sich Rieker an den Kapitän.
Der rümpfte die Nase. »Ich hab Harry gerufen, genügt das nicht? Den Rest überlasse ich gern Ihnen.«
»Wir waren in der Nähe.« Harald Bargmann deutete zum Kuppelbau des alten Elbtunnels, direkt bei der Landungsbrücke Sieben. »Reiner Zufall.«
»Was macht der Mann an Bord Ihres Bootes?«, fragte Rieker.
»Meines Schiffes«, sagte der Kapitän. »Ich hab keine Ahnung. Fragen Sie ihn.«
»Er scheint noch sehr frisch zu sein, Alex.« Der alte Harry deutete auf das Blut an der Reling und auf dem Deck.
Rieker ging an Bord, und der Kapitän wich so schnell zur Seite, als hätte der Kommissar eine ansteckende Krankheit.
Die Arme des Toten reichten über die blutverschmierte Reling hinweg, der Kopf war zur Seite geneigt, nach links – der Dolch steckte in der rechten Schläfe. Rieker sah genauer hin und stellte fest, dass noch immer Blut aus der Wunde rann.
»Sieht tatsächlich ziemlich frisch aus«, sagte er.
»Wie ich schon sagte«, brummte der alte Harry. »Kann noch nicht lange tot sein, der Junge.«
Der Dolch allein erklärte nicht das viele Blut auf dem Deck. Rieker trat zur anderen Seite des Toten und entdeckte weitere Verletzungen, im Oberschenkel, an der Hüfte, im Oberkörper.
»Da hat jemand ziemlich oft zugestochen, mindestens fünf- oder sechsmal.« Rieker berührte den Hals des Toten. Kein Puls, wie zu erwarten. Aber die Haut war noch warm.
Er hob den Kopf. »Der Täter kann nicht weit sein.«
»Haben Sie mich gerade angesehen?«, fragte der Kapitän. »Ich hab hiermit nichts zu tun. Ich kenne den Burschen nicht mal. Er hing hier, als ich vorhin an Bord gegangen bin. Keine sehr angenehme Morgenüberraschung.«
Rieker hob die Jacke des Toten an, zog das Portemonnaie aus der Gesäßtasche und öffnete es. Eins der drei Kartenfächer enthielt den Personalausweis.
»Adrian Ludson«, las Rieker. »Neunundzwanzig Jahre, deutscher Staatsbürger, wohnhaft in Stade.«
»Ah, da kommen Maria und Josef von der Spurensicherung«, sagte der alte Harry.
Die beiden jungen Polizisten an der Absperrung ließen zwei Personen passieren, die Rieker gut kannte: Marianne Süder, ernst und in den Vierzigern, mit himmelblauen Augen, das blonde Haar kurz geschnitten, und Joris Goverts, ein paar Jahre älter, mit lichtem braunem Haar und so dünn, dass man glauben konnte, seine Knochen klappern zu hören. Was ihnen den Spitznamen Maria und Josef eingebracht hatte, wusste niemand, aber so nannte man sie seit Jahren.
»Guten Morgen, die Herrschaften«, sagte Marianne. Joris nickte nur. Beide öffneten ihre Taschen und entnahmen ihnen dünne weiße Handschuhe und Kameras. Dann kamen sie an Bord. Der Kapitän wich noch etwas weiter zurück, bis zur Reling auf der anderen Seite.
»Ich gehe davon aus, ihr habt ihn nicht angerührt.« Joris begann damit, den Toten aus verschiedenen Blickwinkeln zu fotografieren. Marianne sah sich das Deck an.
»Wo kämen wir da hin«, brummte der alte Harry.
»Alexander?«, fragte Marianne.
»Er heißt Adrian Ludson und kommt aus Stade. Das hier gehört ihm.« Rieker reichte ihr das Portemonnaie.
»Oh, danke für deine Fingerabdrücke darauf.«
»Gern geschehen«, sagte Rieker gutmütig. »Ich wollte wissen, mit wem wir es zu tun haben. Wie lange braucht ihr, was meinst du?«
»Etwa eine halbe Stunde«, antwortete der dürre Joris. Er war ebenso ernst wie Marianne. »Hast du’s eilig?«
Rieker rieb sich die Hände. »Lasst die Leiche anschließend zur Pathologie bringen. Sag Kroge, dass ich die Ergebnisse der Autopsie spätestens um …« Er sah auf die Uhr. »… um elf brauche.«
»Das wird knapp.«
»Nicht, wenn er sich sofort an die Arbeit macht. Ein dringender Ermittlungsfall. Harry?«
»Bin noch hier«, brummte Harald Bargmann. Er stand mit verschränkten Armen da, unter denen sich sein Bauch wölbte.
»Sieh und hör dich um, Harry«, bat Rieker. »Dies ist eine gute Gelegenheit, deinen Lehrlingen beizubringen, wie man Zeugen befragt.«
»Wenn es welche gibt.«
»Nehmt euch die Gaffer dort drüben vor. Vielleicht gaffen einige von ihnen schon lange genug, um wirklich etwas gesehen zu haben.« Rieker ging von Bord.
»Und du?«, fragte Marianne Süder mit ein bisschen Gift in der Stimme. »Was machst du?«
»Ich wollte joggen gehen, als ich den Anruf bekam.« Die Sonne blinzelte durch den Nebel. Rieker blinzelte zurück. »Das hole ich jetzt nach.«
Das neue Büro befand sich in einem alten Gebäude, kaum mehr als einen Steinwurf von der Davidwache entfernt. Rieker hatte es nach der Sache mit Innensenator Brois vor drei Monaten zugewiesen bekommen, nicht als Belohnung, so viel stand fest. Er war nicht entlassen worden, das hätte in der Öffentlichkeit für einen noch größeren Skandal gesorgt, aber der Blick in den Altbau-Hinterhof sagte ihm jeden Tag: Leg dich nicht mit einflussreichen Politikern an.
»Hallo, Charlie«, sagte Rieker und schloss die Tür hinter sich.
Seine Assistentin Charlotte Matthiessen saß an ihrem Platz, die schmalen Hände, die so kräftig zuschlagen konnten – sie hatte den Schwarzen Gürtel in Karate –, an der Computertastatur.
Es war halb elf. Der Nebel hatte sich verzogen, die Sonne schien, aber nicht in den Hinterhof.
Charlotte, fast zwanzig Jahre jünger als Rieker, hatte ihr rotblondes Haar an diesem Morgen zu einem Zopf gebunden, was die Sommersprossen auf Wange und Nase zur Geltung brachte. Sie deutete auf die große, alte Uhr an der Wand. Wenn es leise genug war, konnte man sie ticken hören. »Kroge hat zweimal angerufen und nach dir gefragt.«
»Was hast du ihm gesagt?« Rieker ging zu seinem Schreibtisch am Fenster, mit Blick in den Hinterhof. Ein alter Mann saß dort unten neben der einsamen Buche. Seinen Namen kannte Rieker nicht, aber er wusste inzwischen, dass der Alte jeden Tag dort unten auf der Bank saß, von neun bis zwölf. Er saß einfach nur da, bei jedem Wetter, still und stumm. Rieker fragte sich, was ihm durch den Kopf ging.
»Dass du mit wichtigen Angelegenheiten beschäftigt bist«, antwortete Charlotte. »Wie war der Lauf im Park?«
Rieker setzte sich und schaltete den PC ein. »Abwechselnd Nebel und Sonnenschein.« Er atmete tief durch. »Sehr angenehm.« Er gab das Passwort ein. »Wie war’s bei dir gestern Abend? Wie geht es deinen Gegnern heute?«
Charlotte lächelte. »Sie haben wahrscheinlich Schmerzen.«
Das Telefon klingelte.
Charlotte sah aufs Display. »Es ist wieder Kroge. Soll ich …?«
Rieker winkte ab, griff nach dem Telefon und drückte die Taste.
»Ich wollte Sie gerade anrufen«, behauptete er. »Wann bekomme ich die Ergebnisse der Autopsie?«
»Dies ist mein dritter Anruf, Rieker!«
»Tut mir leid, ich musste einige wichtige Dinge erledigen.«
»Ich bin mit der Autopsie, die angeblich so dringend war, vor einer halben Stunde fertig geworden.«
»Und?«
»Ich habe eine gute Nachricht für Sie, Rieker.«
Rieker verzog das Gesicht. Charlotte beobachtete ihn voller Mitgefühl. »Gute Nachrichten höre ich immer gern, Kroge. Wie lautet sie?«
»Ich schlage vor, Sie kommen her und nehmen sie bei mir in Empfang. Können Sie in zehn Minuten hier sein?«
»Das wird knapp«, meinte Rieker.
»Na wunderbar. Also in zehn Minuten.« Kroge unterbrach die Verbindung.
Rieker legte das Telefon auf den Schreibtisch und fuhr den PC herunter. »Ein richtig netter Kerl. Wird mir von Tag zu Tag sympathischer.«
»Er und Innensenator Brois sollen miteinander befreundet sein«, sagte Charlotte, noch immer mit Anteilnahme in ihren himmelblauen Augen.
Rieker stand auf. »Ich hoffe nur, dass ich nie unter sein Messer gerate.« Er ging zur Tür und öffnete sie. »Oh, da fällt mir ein … Wie lautet dein Motto für heute, Charlie?«
»Funakoshis vierte Karateka-Regel«, antwortete Charlotte. »›Erkenne zuerst dich selbst, dann den anderen.‹«
Rieker nickte anerkennend. »Klingt sehr tiefsinnig. Vielleicht wäre es was für Kroge. Bis später, Charlie!«
Professor Dr. Dr. Konrad Kroge residierte in der rechtsmedizinischen Abteilung des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf und empfing Alexander Rieker in einem blitzblanken Laboratorium.
Er blickte demonstrativ auf die Uhr. »Zehn Minuten hatten wir vereinbart, nicht neunzehneinhalb, Rieker.«
»Der Verkehr, schneller ging’s selbst mit dem Fahrrad nicht.« Rieker lächelte gewinnend. »Nun, wie lautet die gute Nachricht, die Sie mir unbedingt persönlich mitteilen wollen?«
Er blickte sich um. Das Laboratorium sah aus, als hätte man gerade die Schutzfolien abgezogen. Alles war sauber, jeder Gegenstand lag millimetergenau an seinem Platz.
»Kommen Sie.« Kroge marschierte los, vorbei an silbernen Tischen und weißen Schränken.
Rieker folgte dem Pathologen, der etwa zehn Jahre jünger war als er, um die vierzig, und selbst in einem weißen Kittel sehr elegant wirkte. Er ging mit langen Schritten und hoch erhobenem Kopf, jede seiner Bewegungen schien zu verkünden: Dies ist mein Reich, Rieker, und Sie sind hier nur ein geduldeter Gast.
Auf dem Obduktionstisch eines Nebenzimmers lag die Leiche von Adrian Ludson, der Brustkorb zugenäht. Hinten bei den Spülbecken stand ein Student an die Wand gelehnt. Er hatte auf sein Handy gestarrt und ließ es rasch verschwinden, als Kroge und Rieker hereinkamen.
Der Pathologe winkte wie jemand, der ein lästiges Insekt verscheuchte. »Sie können gehen, Peter. Wir sind hier fertig.«
Der Student eilte hinaus.
Rieker deutete auf den Toten. »Was haben Sie herausgefunden?«
Kroge trat zum Obduktionstisch und zog das weiße Tuch, das Adrian Ludson bis zu den Hüften reichte, zu den Füßen herunter. »Sehen Sie sich die Wunden an, Rieker.«
»Ich sehe sie.«
»Was fällt Ihnen auf?«
Rieker schaute genauer hin. »Es sind viele, und alle scheinen von dem Dolch zu stammen.«
»Es sind insgesamt siebzehn Stichwunden«, dozierte Kroge. »Sieben in der linken Seite, drei in der rechten, hier, tief unten, sechs in Brust und Bauch und eine in der rechten Schläfe.«
»Dort steckte der Dolch.«
»In der Tat«, sagte Kroge zufrieden.
»Der Täter hat ziemlich oft zugestochen. Das könnte auf einen Raptus hindeuten.«
»Stimmt, Rieker. Ich vermute ebenfalls einen Raptus. Aber von anderer Art, als Sie glauben.« Kroge lächelte. »Es gibt keinen Täter.«
Rieker sah ihn fragend an.
»Ich will Sie nicht mit Fachausdrücken und den Einzelzeiten der Untersuchung langweilen …«
»Danke.«
Kroge holte einen USB-Stick hervor. »Falls Sie doch Wert darauf legen … Hier ist die Audiodatei der Untersuchung. Den schriftlichen Bericht bekommen Sie heute Nachmittag.«
»Was meinen Sie damit, es gibt keinen Täter?«
Kroge holte tief Luft und wippte auf den Zehenspitzen. »Adrian Ludson hat sich seine Verletzungen selbst zugefügt. Er hat sechzehnmal auf sich eingestochen, bevor er seinem Leben mit dem Dolchstoß in die rechte Schläfe ein Ende setzte.«
Rieker blickte misstrauisch auf den Toten hinab. »Sicher?«
Kroge wölbte die Brauen. »Ob ich sicher bin?«
»Entschuldigung, wie konnte ich nur daran zweifeln.«
»Hier kommen wir zu der guten Nachricht für Sie, Rieker.« Kroge lächelte erneut. »Da es keinen Mord gibt, müssen auch keine Mordermittlungen stattfinden. Für Suizid ist die Mordkommission nicht zuständig. Sie können Ihre Zeit wichtigeren Dingen widmen.«
Kroge langte nach dem weißen Tuch und zog es ganz hoch, bis über den Kopf des Toten.
»Warum sollte jemand auf diese Weise Selbstmord begehen?«, fragte Rieker. »Sechzehn Stiche in den Körper und der siebzehnte in die Schläfe …«
»Warum begeht überhaupt jemand Selbstmord, Rieker? Aus Liebeskummer. Aus Verzweiflung über irgendeinen schweren Schicksalsschlag. Es gibt tausend Gründe. In jedem Jahr nehmen sich in Deutschland mehr als neuntausend Menschen das Leben, und jeder von ihnen hat einen eigenen, sehr persönlichen Grund.« Kroge deutete zur Tür. »Hier gibt es nichts mehr für Sie zu tun, Rieker. Auf Wiedersehen!«
Als Rieker eine Dreiviertelstunde später sein Büro betrat, sagte Charlotte: »Er war in Behandlung.«
»Was? Wer?« Rieker ging zu seinem Schreibtisch.
»Adrian Ludson. Ich hab herausgefunden, wo er gewohnt hat und dass er in psychiatrischer Behandlung war. In Altona, in der Psychiatrischen Tagesklinik Sonnenblick.«
»Sonnenblick?«
»So heißt sie.« Charlotte musterte ihn. »Ist dir was über die Leber gelaufen?«
»Ja, Kroge.« Rieker blickte aus dem Fenster. Der Alte unten bei der Buche stand von der Sitzbank auf und schritt langsam, auf einen Gehstock gestützt, zur Hinterhoftür.
»Punkt zwölf«, sagte Rieker. »Man könnte die Uhr nach ihm stellen.« Er drehte sich um. »Sonnenblick?«
»Ja.«
»Wenn Ludson in psychiatrischer Behandlung war … Es würde passen.«
»Wieso?«
»Kroge behauptet – Verzeihung, er ist sich sicher –, dass Adrian Ludson Selbstmord begangen hat.«
»Er soll sich den Dolch selbst in die Schläfe gestoßen haben?«
Rieker nickte. »Nach sechzehn Stichen in den Körper. Selbstmord, sagt Kroge. Also braucht ein Kommissar der Mordkommission nicht zu ermitteln. Aber weißt du was?« Er ging wieder zur Tür. »Altona ist gleich nebenan, und Sonnenblick klingt gut. Ich werde mal fragen, wie man Depressionen vorbeugen kann.«
Die Psychiatrische Tagesklinik Sonnenblick war in einem hellen, lichtdurchfluteten Gebäude untergebracht, mit großen Fenstern und offenen Türen. Wie von Kindern angefertigte Malereien zierten die weißen, zitronengelben und ockerfarbenen Wände: bunte Farben, lustige Gestalten, lachende Gesichter. Prächtige Topfpflanzen reckten sich aus großen Kübeln, Vasen präsentierten bunte Blumen.
»Sie haben es hübsch hier«, sagte Rieker anerkennend, während ihn die Geschäftsführerin in ein Besucherzimmer brachte.
Dr. Monika Kiepenbusch lächelte zufrieden. »Wir möchten, dass sich unsere Patienten wohlfühlen.«
»Einer von ihnen hat sich offenbar nicht sehr wohlgefühlt«, sagte Rieker, als sie sich an einem Tisch niederließen, auf dem mehrere Zeitschriften lagen. Eine Schlagzeile lautete: Wie werde ich glücklich? »Ich spreche von Adrian Ludson. Wir haben ihn heute Morgen tot auf einem Ausflugsboot an den Landungsbrücken gefunden.«
»Oh, das tut mir sehr, sehr leid«, erwiderte Monika Kiepenbusch betroffen. Sie war ein mütterlicher Typ, fand Rieker: etwa fünfundvierzig, etwas mollig, doch durchaus attraktiv, mit dunklem, schulterlangem Lockenhaar und spitzer Nase. »Was ist passiert?«
»Wir fanden ihn mit zahlreichen Stichverletzungen im Körper und einem Dolch in der Schläfe«, erklärte Rieker.
Kiepenbusch hob die Hand zum Mund. »Wie schrecklich!«
»Ja, es war bestimmt kein angenehmer Tod. Adrian Ludson wurde hier bei Ihnen behandelt, nicht wahr? Er war Patient im Sonnenblick.«
»Ja, ja«, murmelte die Geschäftsführerin. »Seit einer Woche. Er kam jeden Tag zu uns, und solange er hier war, ging es ihm besser, das hat er stets gesagt.«
»Weshalb kam er zu Ihnen?«, fragte Rieker. »Woran litt er?«
Kiepenbusch zögerte.
»Die ärztliche Schweigepflicht dient dazu, den Patienten zu schützen«, erklärte Rieker geduldig. »Hier gibt es niemanden mehr, den man schützen könnte. Ihre Angaben würden uns dabei helfen, diesen Fall zu klären, Doktor Kiepenbusch.«
»Ja, Sie haben recht. Bei Adrian … bei ihm wurde der Beginn einer paranoiden Schizophrenie diagnostiziert.«
»Was genau bedeutet das?«
»Er fühlte sich verfolgt«, sagte Kiepenbusch. »Und manchmal hörte er Stimmen, die ihm ›den Weg wiesen‹, wie er sich ausdrückte.«
»Stimmen?«
»Ja. So klar und deutlich, wie Sie meine Stimme hören.«
»Und Sie haben ihn behandelt.«
»Ja«, bestätigte die Geschäftsführerin. »Machen Sie sich keine Notizen?«
Rieker lächelte freundlich. »Ich hab ein gutes Gedächtnis. Sind Ihre Patienten nur tagsüber hier?«
»Die meisten von ihnen. Bei besonders kritischen Fällen – wenn sich der Zustand eines Patienten verschlimmert und wir keine andere Möglichkeit sehen – bieten wir auch Übernachtungen an. Zu diesem Zweck stehen vier Zimmer zur Verfügung.«
»Aber das war bei Adrian Ludson nicht nötig?«
Kiepenbusch schüttelte den Kopf. »Nein. Wie gesagt, wenn er bei uns war, ging es ihm schnell besser.«
»Haben Sie ihm Medikamente gegeben?«
»Ja.«
»Welche?« Als Rieker die Namen hörte, holte er doch Notizbuch und Stift hervor. »Könnten Sie das bitte wiederholen?«
Kiepenbusch nannte noch einmal die Namen der Arzneien. »Wissen Sie schon, wer ihn umgebracht hat?«
Rieker wich der Frage aus. »Kennen Sie Ludsons persönlichen Hintergrund?«
»Der Arzt, der ihn zu uns geschickt hat, kann Ihnen da vermutlich besser helfen. Doktor Heinrichs in Stade.«
Ein Psycho, dachte Rieker. Jemand, der sich verfolgt gefühlt und Stimmen gehört hatte. Es passte zu Kroges Selbstmord-Diagnose. Vielleicht hatte sich Adrian Ludson den Dolch in den Kopf gestoßen, um die Stimmen zum Verstummen zu bringen.
Er stand auf. »Danke, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben, Doktor Kiepenbusch.«
Sie begleitete ihn zur Tür. »Da fällt mir ein … Vielleicht gibt es da noch jemand anders, der Ihnen mehr über den armen Adrian sagen könnte.«
»Wer?«, fragte Rieker auf der Türschwelle. Vögel zwitscherten, das Wasser eines Springbrunnens plätscherte. Die Sonne schien warm und hell. Es war kein Tag, um sich einen Dolch in den Kopf zu rammen.
»Adrian hat von Harmony erzählt. Offenbar war er sehr stolz darauf.«
»Harmony?«
»Ein Unternehmen, das die neuen Smart Drugs herstellt«, sagte Monika Kiepenbusch. Sie blinzelte im Sonnenschein. »Sie haben auch uns welche angeboten. Adrian erzählte, dass er für Harmony arbeitet. Es klang so, als hätte er sich viel davon versprochen.«
»Haben Sie die Adresse von Harmony?«, fragte Rieker.
»Ich hole sie Ihnen.«
Der Besucher stand am breiten Fenster und blickte in den parkartigen Garten. Er trug einen bleigrauen Anzug, der seine schlanke Gestalt betonte.
»Ist es nicht ein wundervoller Tag? Vor einer Stunde sind die letzten Nebelreste verschwunden, die Sonne scheint, es ist richtig warm geworden. Fast ein Sommertag, und das Anfang Mai.«
Er sprach akzentfreies Deutsch, stellte Carolin fest. Sie trug das Tablett zum Tisch des Empfangszimmers, das einem Salon ähnelte, und stellte es ab. Hinter ihr schloss Noah die Tür.
»Möchten Sie Kaffee, Monsieur Fournier?«, fragte Carolin.
Der Mann drehte sich um. Sie schätzte ihn auf etwa vierzig, er hatte dunkles kurzes Haar, glatte Wangen, wache graue Augen und das Gesicht eines Börsenmaklers, der es gewohnt war, seine Emotionen unter Kontrolle zu halten.
»Das ist sehr nett von Ihnen.« Fournier trat auf sie zu und streckte die Hand aus. »Frau Alberts, Herr Gunnason.«
»Bitte nehmen Sie Platz.« Carolin verteilte die Tassen, schenkte Kaffee ein und setzte sich in einen der vier großen, bequemen Sessel. Danach schlug sie die Beine übereinander und nahm Gilbert Fourniers Blick zur Kenntnis. Aber es war ein beiläufiger, kühler Blick, ohne Interesse.
Der Besucher trank einen Schluck, nachdem er sich gesetzt hatte, nickte anerkennend und deutete auf die gerahmten Fotos an den Wänden. Sie zeigten Menschen, junge und alte, in urbanen Landschaften.
»Gute Aufnahmen«, sagte er, die Tasse noch in der Hand. »Wirklich sehr gelungen. Die Bilder stammen von Ihnen, nicht wahr, Frau Alberts?«
Sie lächelte unverbindlich. »Ja. Ich fotografiere gern.« Es war eins von mehreren Hobbys, für die ihr leider allzu oft die Zeit fehlte.
»Sie haben etwas eingefangen«, sagte Fournier. »Eine Ausstrahlung. Die Menschen wirken zufrieden, einige von ihnen sogar glücklich, obwohl man es ihren Gesichtern nicht sofort ansieht. Und das trotz der manchmal eher tristen Hintergründe.« Fournier deutete auf ein Bild, das eine junge Frau zeigte, die dem Betrachter den Rücken zuwandte. Sie stand zwischen zwei alten Gebäuden, deren Fenster leer waren, ohne Glas. »Diese Frau, die man nur von hinten sieht … Vielleicht hat sie in einem der beiden Häuser gewohnt. Man kann das Gesicht nicht erkennen, aber trotzdem spürt man ihre Trauer. Und gleichzeitig vermittelt etwas den Eindruck von Hoffnung. Die Frau trauert um die Vergangenheit und erhofft sich eine bessere Zukunft.«
»Die Bilder haben eine Botschaft«, sagte Noah, der sich um Finanzen und Verwaltung kümmerte. Carolin sah den Schatten der Sorge in seinem Gesicht, vielleicht mit dem Auge der Fotografin. Sie hoffte, dass Gilbert Fournier es nicht bemerkte. »Unser Unternehmen versucht, die Welt ein kleines bisschen besser zu machen, indem wir Menschen helfen.«
Fournier stellte seine Kaffeetasse ab und saß mit geradem Rücken, ohne sich zurückzulehnen. »Bitte verzeihen Sie, wenn ich es ganz offen sage: Ihre Smart Drugs für ›physische und psychische Optimierung‹, wie es in einem Harmony-Slogan heißt, finden nicht gerade reißenden Absatz.«
»Wir sind ein Start-up«, erklärte Carolin. »Es dauert immer eine Weile, einen Markt zu öffnen. Unsere bisherigen Smarties sind nur der Anfang. Wir arbeiten an etwas Vielversprechendem. Man könnte sogar sagen: an etwas Revolutionärem.«
»Sie haben Schwierigkeiten mit der Zulassung«, entgegnete Fournier. »Das deutsche Arzneimittelgesetz ist recht streng. Wir könnten das neue Mittel außerhalb der EU genehmigen lassen.«
Mit »wir« meinte Gilbert Fournier den internationalen pharmazeutischen Konzern Kruither & Voch.
Der Mann von K & V öffnete seinen Aktenkoffer, entnahm ihm ein gefaltetes Blatt Papier und legte es in die Mitte des Tisches. »Das habe ich Ihnen mitgebracht. Ein Angebot.«
Carolin nahm das Blatt, entfaltete es und las eine Zahl. »Fünf Millionen Euro.« Sie lächelte erfreut. »Das ist sehr großzügig von Ihnen. Mit einer so hohen Beteiligung hatten wir nicht gerechnet.«
Fournier blieb ernst. »Es ist ein Übernahmeangebot, Frau Alberts. Wir würden Harmony gern kaufen.«
Aus dem Augenwinkel sah Carolin eine Unmutsfalte auf Noahs Stirn.
»Unser Unternehmen ist mindestens zehnmal so viel wert«, sagte er.
»Vielleicht war es das einmal, Herr Gunnason, aber inzwischen hat sich die Situation geändert. Tatsache ist: Die Banken geben Ihnen kein Geld mehr. Sie können nicht mehr investieren, nicht mehr forschen, nicht mehr weiterentwickeln. Ohne einen durchschlagenden Erfolg werden Sie in einigen Monaten Konkurs anmelden müssen.«
Carolin starrte auf das Papier in ihren Händen. »Wir brauchen … Bedenkzeit«, sagte sie vorsichtig.
Gilbert Fournier von Kruither & Voch stand auf. »Natürlich. Wir sind bereit, bis Freitag auf Ihre Antwort zu warten.«
»Drei Tage?«
»Ja. Und bitte denken Sie daran: Wenn Sie gezwungen sind, Konkurs anzumelden, verlieren Sie alles. Unsere fünf Millionen sind tatsächlich sehr großzügig. Bitte überlegen Sie es sich gut.« Er ging zur Tür. »Sie wissen, wie Sie mich erreichen können. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.«
Carolin sah dem Mann nach, wie er draußen durch den Garten zur Straße ging, den Rücken noch immer gerade, den Kopf noch immer hoch erhoben.
»Ich mag ihn nicht«, sagte sie.
»Leider spielt es keine Rolle, ob du ihn magst oder nicht.« Noah trat ebenfalls zum Fenster und blieb neben ihr stehen.
»Fünf Millionen sind ein schlechter Scherz«, sagte sie. »Nachdem wir so viel Zeit und Geld in Harmony investiert haben …«
Noah unterbrach sie mit einem Räuspern. »Wir stehen mit dem Rücken an der Wand. Ich bin vorhin bei der Bank gewesen. Ein neuer Kredit ist ausgeschlossen.«
Gilbert Fournier verschwand hinter der hohen Hecke am Ende des Gartens. Carolin fühlte kalten Zorn tief in ihrem Innern, wie einen Klumpen Eis im Magen.
»Wir sind kurz vor dem entscheidenden Durchbruch«, sagte sie.
»Wie kurz davor?«
Sie wandte sich Noah zu. Er kümmerte sich mit großem Geschick um die finanzielle Seite ihres Start-ups, aber auch er konnte das nötige Geld nicht einfach aus dem Hut zaubern. Er wusste natürlich, woran sie in den Laboratorien arbeiteten, ohne jedoch alle Einzelzeiten zu kennen.
Carolin sah Trauer in seinen braunen Augen, eine tiefe Niedergeschlagenheit, die ihr zu Herzen ging. Ihr gemeinsames Start-up – vor vier Jahren gegründet und »Harmony« genannt – war sein großer Traum von einer etwas besseren Welt und einem guten Leben. Er hatte gehofft, etwas bewirken zu können.
Sie hob die Hand zu seiner Wange und strich ihm über den rotbraunen Bart. »Wir schaffen es, Noah. Wir kriegen es hin.«
»Wann?«
»Wir sind nahe dran, ganz nahe dran.« Sie bemühte sich, überzeugt zu klingen. »Nur noch einige Wochen. Sleepless wird alle unsere Probleme lösen, auf einen Schlag.«
»Fournier hat uns drei Tage gegeben. Nächste Woche Dienstag ist eine große Zahlung fällig. Vielleicht kann ich die Gläubiger eine weitere Woche vertrösten, aber dann ist Schluss. Und Fournier hat recht. Wenn wir Konkurs anmelden, verlieren wir alles.«
Carolin suchte in seinem Gesicht nach Hinweisen darauf, was in seinem Kopf vor sich ging. »Du denkst doch nicht etwa daran, sein Angebot anzunehmen, oder?«
»Fünf Millionen … Mit fünf Millionen …« Noah gestikulierte hilflos. »Damit könnten wir noch einmal von vorn anfangen.«
Carolin blickte nach draußen. Eine Wolke schob sich vor die Sonne, Schatten strichen durch den Garten. »Alles noch einmal von vorn?«
Noah seufzte schwer. »Wie weit seid ihr? Ganz ehrlich?«
»Ich habe dafür gesorgt, dass die Entwicklung aller anderen Smarties hinter Sleepless zurückgestellt wird. Und wir sind fast am Ziel, Noah. Die letzten Testergebnisse waren sehr vielversprechend, vielleicht müssen wir die Formel nicht mehr ändern.«
»Bis wir eine Zulassung bekommen, könnte es zu spät sein.«
Carolin holte tief Luft. »Ich kenne da jemanden, der die ganze Sache etwas beschleunigen könnte.«
»Arents?« Noah schnitt eine Grimasse. »Du willst mit ihm …? O ja, das gefällt mir«, sagte er sarkastisch, »das gefällt mir wirklich.«
Sie schlang die Arme um ihn. »Ich lasse mir von jemandem wie Fournier nicht die Früchte meiner jahrelangen Arbeit nehmen. Auf keinen Fall. Das mit Arents wäre bei Weitem das kleinere von zwei Übeln.«
»Aber …«
Es klopfte an der Tür.
Carolin wich von Noah zurück. »Ja?«
Die tüchtige Dorothea vom Empfang sah herein. »Ein Kommissar Rieker möchte Sie sprechen.«
Das Anwesen lag eingebettet zwischen zwei sanften Hügeln, halb hinter einer hohen Hecke verborgen. Auf der linken Seite strömte die Elbe hinter hoch aufragenden, Schatten spendenden Bäumen. Ein Containerschiff, ein blau-roter Riese aus Stahl, glitt dort auf den Hamburger Hafen zu.
Rieker war an mehreren teuren Villen vorbeigefahren. Eine noble Gehend, der Wohnort von Oskar Brois, bevor ihn der Immobilienskandal ins Gefängnis gebracht hatte.
Ein Mann in einem bleigrauen Anzug kam Rieker entgegen, als er vor Harmonys offenem Tor anhielt und vom Rad stieg. Der Mann hatte die schlanke Statur eines Sportlers und bewegte sich mit der Selbstsicherheit von jemandem, der es gewohnt war, Verantwortung zu tragen und wichtige Entscheidungen zu treffen; Rieker hatte ein Auge für so etwas. Der Blick des Mannes streifte ihn, graue Augen musterten ihn kurz, dann stieg der Mann in eine silbergraue Limousine auf dem Parkplatz neben dem Tor, nahm im Fond Platz, hinter abgedunkelten Scheiben, und der Fahrer lenkte den Wagen auf die Straße.
Rieker trat durchs Tor, lehnte das Rad an die hohe Hecke und schritt über den Weg zum Eingang, vorbei an Bäumen, blühenden Büschen und Blumenbeeten, die geometrische Muster bildeten. Als der Weg einen Bogen beschrieb, sah er weitere weiße Gebäude hinter dem ersten, keins von ihnen höher als die Bäume, die sie umgaben; vom Elbufer aus waren sie sicherlich kaum zu sehen. Die Glastür des Eingangs öffnete sich vor ihm automatisch, und er betrat einen Raum wie die Lobby eines modernen Hotels. Die Frau am Tresen sah auf und lächelte.
»Mein Name ist Dorothea«, stellte sie sich vor. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ich bin Alexander Rieker.« Er zeigte seinen Ausweis.
Dorothea wölbte die Brauen. »Kriminalpolizei?«, fragte sie.
»Von der Mordkommission«, präzisierte Rieker. »Ich würde gern mit jemandem sprechen, der Auskunft über Ihr Personal geben kann. Am besten mit dem Geschäftsführer.«
Die junge, augenscheinlich besorgte Dorothea stand auf. »Natürlich. Bitte haben Sie einen Moment Geduld.«
Sie verschwand in einem nahen Flur, kehrte aber schon nach kurzer Zeit zurück.
»Bitte hier entlang, Herr Kommissar.«
Sie führte Rieker in ein Zimmer mit zwei Personen, einem Mann und einer Frau. Der Mann war kräftig gebaut, hatte einen rotbraunen Vollbart und etwas dunkleres, mittellanges Haar, hinter die Ohren zurückgestrichen. Er trug keinen Anzug, sondern eine helle Leinenhose und ein graues Hemd. Rieker schätzte ihn auf Mitte dreißig. Die Frau war einige Jahre jünger, ebenso groß wie der Mann und eine echte Schönheit, gehüllt in eine Aura klassischer Eleganz. Ihr kurzer mintgrüner Rock zeigte viel von den wohlgeformten langen Beinen, und die weiße Bluse darüber betonte die Brüste, ohne sie zu sehr hervorzuheben. Glattes, schulterlanges schwarzes Haar umrahmte ein Gesicht mit vollen Lippen, gerader Nase und großen Augen fast in der gleichen Farbe wie der Rock.
Die Frau reichte ihm die Hand. »Ich bin Carolin Alberts, und das ist Noah Gunnason. Wie können wir Ihnen helfen?«
Das war erstaunlich genug, fand Rieker. Sie fragte nicht: »Um Himmels willen, was ist passiert?«, und sie sprach ruhig und gefasst.
»Gehören Sie zur Geschäftsleitung?« Rieker warf einen Blick über die Schulter. Dorothea hatte die Tür geschlossen und war vermutlich zum Empfangstresen zurückgekehrt.
»Wir sind die Inhaber.« Carolin Alberts deutete auf den Mann. »Mein Partner Noah und ich. Oh, bitte entschuldigen Sie. Nehmen Sie Platz.«
Drei Kaffeetassen standen auf dem Tisch, wie Rieker bemerkte. Offenbar hatten Alberts und Gunnason Besuch gehabt. Ihm fiel der Mann im bleigrauen Anzug ein, den er draußen gesehen hatte.
»Sie sind von der Kriminalpolizei, hat uns Dorothea mitgeteilt«, sagte Gunnason, als sie saßen. »Von der Mordkommission. Wer ist ermordet worden?«
»Heute Morgen wurde die Leiche von Adrian Ludson bei den Landungsbrücken von St. Pauli gefunden. Ein Dolch steckte in seiner Schläfe.«
»Na so was«, murmelte Gunnason.
»Ach, der arme Adrian«, sagte Carolin Alberts.
»Er hat für Sie gearbeitet, nicht wahr?«
»Ja«, bestätigte Alberts. »Ja, er hat für uns gearbeitet. Er gehörte zu unseren Testpersonen.«
»Testpersonen?«
»Männer und Frauen, die unsere Produkte testen«, erklärte Carolin Alberts bereitwillig. »Sie probieren sie aus, unter kontrollierten Bedingungen.«
»Und in uneingeschränkter Kenntnis der Risiken, die damit verbunden sind«, fügte Noah Gunnason hinzu.
»Ja«, bestätigte Alberts. »Im frühen Stadium lassen sich Nebenwirkungen nicht ausschließen.«
Rieker stellte sich vor, was das bedeutete. »Menschliche Versuchskaninchen?«
Carolin Alberts lächelte nachsichtig. »Nein, ganz und gar nicht. Es handelt sich hierbei um Entwicklungsarbeit. Zur Perfektionierung fast fertiger und nahezu marktreifer Produkte. Wir stellen Smart Drugs her, auch ›Smarties‹ genannt. Wissen Sie, was Smart Drugs sind, Herr Rieker?«