Das Kosmotop - Andreas Brandhorst - E-Book
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Das Kosmotop E-Book

Andreas Brandhorst

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Beschreibung

Nur der letzte Mensch kann das Geheimnis lüften

Die ferne Zukunft: Die Galaxis wird von intelligenten außerirdischen Zivilisationen regiert – und die Menschheit steht kurz vor dem Aussterben. Einer der letzten Menschen, ein Mann, der sich schon seit Jahrhunderten selbst immer wieder geklont hat, ist inzwischen zum Berater der galaktischen Regierung aufgestiegen. Als auf der alten Erde ein seltsames Artefakt gefunden wird, soll er ermitteln, was es damit auf sich hat. Es birgt, das wird bald klar, das Geheimnis der Zukunft des Universums …

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Seitenzahl: 755

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DAS BUCH

Die Zukunft: Die Galaxie wird von einem gewaltigen interstellaren Bündnis regiert, das aus neunundzwanzig hoch entwickelten Zivilisationen besteht: der Kompetenz. Sogenannte Pazifikatoren bereisen im Auftrag der Kompetenz die gesamte Galaxie, um mögliche Konflikte diplomatisch beizulegen. Einer von ihnen ist Corwain Tallmaster, der nach mehrfachem Klonen bereits Hunderte von Jahren alt ist. Als seine jüngste Mission kläglich scheitert, wird Corwain zu Unrecht des Mordes beschuldigt. Er ist sich sicher, dass er einem Komplott zum Opfer gefallen ist, doch noch bevor er das beweisen kann, passiert etwas völlig Unvorhergesehenes: das Kosmotop – ein gigantisches Weltenschiff, dessen Ziel es ist, »Proben« aus jeder Zivilisation zu integrieren – dringt in die Galaxie ein und hinterlässt eine Spur der Verwüstung. Für Corwain ist die neue Situation ganz besonders prekär, denn die einzige Person, die seine Unschuld beweisen kann, sitzt im Kosmotop fest. Corwain braucht sein ganzes Geschick und seine jahrhundertelange Erfahrung, um einen Plan zu entwickeln, von dessen Gelingen nicht nur sein eigenes Schicksal abhängt, sondern das der ganzen Galaxie …

DER AUTOR

Andreas Brandhorst, 1956 im norddeutschen Sielhorst geboren, schrieb bereits in jungen Jahren Erzählungen für deutsche Verlage. Es folgten zahlreiche fantastische Romane, darunter mit dem Kantaki-Zyklus eine episch angelegte Zukunftssaga. Sein Mystery-Thriller Äon war ein riesiger Publikumserfolg.

Mehr zu Andreas Brandhorst und seinen Romanen erfahren Sie unter:

ANDREAS BRANDHORST

DAS

KOSMOTOP

Roman

Originalausgabe

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Originalausgabe 07/2014

Redaktion: Rainer Michael Rahn

Copyright © 2014 by Andreas Brandhorst

Copyright © 2014 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

ePub-ISBN 978-3-641-13140-1

www.diezukunft.de

Hier ist ein Tropfen

im Ozean der Zeit,

und er enthält 14 721 Leben.

Aber es werden immer weniger.

SICH SELBST ZU GRABE TRAGEN

1

Es geschah zum siebzehnten Mal, dass Corwain Tallmaster – jetzt Corwain 18Tallmaster – seiner Bestattung beiwohnte. Mehr noch, er trug seinen Leichnam in den eigenen Armen. Ein kleiner Gravitator reduzierte das Gewicht, damit es für die gerade neu gewachsenen Armmuskeln keine zu große Anstrengung darstellte.

»Ich finde es ein bisschen … morbid?«, zwitscherte Solace.

»Das klingt nach einer Frage. Bist du nicht sicher?«

»Liebst du den Tod?«

Corwain blieb am Rand seines Friedhofs stehen. Wind strich übers violette Gras, und einige Meter weiter vorn wartete die Grube, ausgehoben von zwei Adjus. Dahinter ragten sechzehn Grabsteine auf, der erste von ihnen anderthalbtausend Jahre alt. Er bestand aus echtem Stein, aus dem kalten, toten Leib des Asteroiden gehauen, und Corwain erinnerte sich noch daran, wie er die Inschrift hineingemeißelt hatte, mit seinen eigenen Händen. Jetzt war sie kaum mehr zu lesen.

»Ob ich den Tod liebe? Natürlich nicht.« Wie konnte sie so etwas fragen? Wie konnte sie das für möglich halten? Dann fiel ihm ein, dass sie zum ersten Mal dabei war. So lange kannten sie sich noch nicht, nur … zehn Jahre? Vielleicht elf. Kaum mehr als ein Wimpernschlag. Dort stand sie, schlank und schön, von Kopf bis Fuß in winzige Federn gehüllt, halb Mensch und halb Vogel, aber ganz und gar Frau. Ein leises Knistern kam jetzt vom Federflaum, der an den sichtbaren Stellen einen lehmbraunen Ton zeigte, und Solace schlang die dünnen Arme um sich, als wäre ihr kalt. Zwar neigte sich die künstliche Sonne vor ihnen dem nahen Horizont entgegen, aber hinter ihnen ging die nächste bereits auf – die Temperatur der Gashülle unter dem Schirmfeld sank nie unter zwanzig Grad. Eine kleine Welt, die ganz allein ihnen gehörte, immer warm und immer hell, mit einem Maschinenkern, der alles zur Verfügung stellte, was sie brauchten. Die Tallmaster-Residenz seit vielen Jahrhunderten. Wenn er nicht in der Galaxis unterwegs war, um seine selbst gewählte Aufgabe wahrzunehmen und Frieden zu stiften.

Er blickte auf die Leiche in seinen Armen, einen Mann in den besten Jahren, der die Augen geschlossen hatte und zu schlafen schien. Er hätte noch zehn oder fünfzehn Jahre leben und altern können, aber Corwain hatte beschlossen, vorher in einen neuen Körper umzuziehen, vielleicht weil er sich vor dem Alter fürchtete.

Kurzes Zwielicht setzte ein, als beide Sonnen den Horizont berührten, die eine auf dem Weg nach unten und die andere nach oben.

»Es ist meine Art, das Leben zu ehren«, sagte Corwain und ging weiter, zum offenen Grab, wo er den Toten – seine siebzehnte Inkarnation – in den Sarg aus leicht abbaubarem Syntho legte. »Wenn ich mich selbst begrabe, habe ich die Kostbarkeit des Lebens vor Augen.«

»Deines Lebens?«

Corwain gab den beiden Adjus ein Zeichen, und sie ließen den Sarg ins Grab hinab. Er griff nach der Schaufel; dies gehörte zum Ritual.

»Auch mein Leben ist kostbar«, sagte er, fast so, als müsste er sich rechtfertigen. »Es gehört zu den wenigen, die noch geblieben sind.«

»Meinst du deine Spezies?«

Er nahm die Nervosität in Solace’ Stimme wahr, und er hörte auch, wie Erde von der Schaufel auf den Sarg fiel, etwas von der zwanzig Meter dicken, biologisch aktiven Krume, die den Asteroiden bedeckte.

»Es ist nicht nur meine, sondern auch deine, das weißt du. Du bist zur Hälfte Mensch, mindestens.« Corwain ließ die Schaufel fallen und beobachtete, wie die mechanischen Adjutanten das Grab füllten. »Wir sind nur noch wenige«, sagte er nachdenklich, jemand, der vor wenigen Stunden gestorben und wiedergeboren war. »Mit ›wir‹ meine ich …«

»Alle Menschen?«, trillerte Solace.

»Ja. Nur noch 14 722 sind von uns übrig, in der ganzen Galaxis verstreut.«

Eine andere Stimme erklang, eine, die er jetzt, in diesem neuen Körper, zum ersten Mal hörte, obwohl sie ihm vertraut war: die Stimme der Nadel, die noch heiß und spitz in seinem Rückgrat steckte, jung wie er selbst, aber bereits mit den Membranen und dem Kommunikationssystem der Kompetenz verbunden. Während er sprach, stellte sie Verbindung mit seinem Nervensystem her und übermittelte ein Ping Es sind nur noch 14 721. Avvin Gelder geriet gestern auf Nodderat in eine Falle der Incera. »14 721«, verbesserte er sich. »Ich erfahre gerade, dass gestern einer von uns gestorben ist, für immer.«

»Das Ding in dir spricht?«

»Ja, das ›Ding‹ in mir, die Nadel. Ich habe es dir erklärt.« Hatte er das? Der Bewusstseinstransfer spielte manchmal den einen oder anderen Streich, wenn es um Erinnerungen an das vorherige Leben ging.

»Offenbar fiel er den Incera zum Opfer. Sie haben es noch immer auf uns abgesehen, nach all der Zeit.«

Die Adjus hatten das Grab zugeschaufelt und stellten den Grabstein auf. Die Inschrift lautete: Hier ruht Corwain 17Tallmaster, der 21 Konflikte löste und damit zahlreiche Leben rettete.

»Die Incera sind böse«, sagte Solace. Ihre Augen verfärbten sich. »Schlimm und böse.«

Sie hatten einmal ihre Heimatwelt Sirmion überfallen, vor hundert Jahren; Solace wusste, wovon sie sprach, denn sie hatte damals das Chaos als Schlüpfling miterlebt.

Corwain ging zu ihr und umarmte sie. Wie weich sie war, wie zart und doch stark; es erstaunte seine neuen Hände. Als sie zur Hütte am See zurückkehrten – die er selbst gebaut hatte, aus gewachsenem Holz und einigen wenigen Syntho-Materialien –, sagte er: »Es tut mir leid, Solace. Ich hätte dich darauf vorbereiten sollen. Auf die Bestattung.«

»Du zelebrierst den Tod.« Diesmal klang es nicht wie eine Frage.

»Wir sind ein sterbendes Volk«, sagte Corwain. »Vielleicht liegt es daran.« Er schaute über den See, der spiegelglatt dalag, jetzt nur noch im Licht einer künstlichen Sonne; die andere war hinter dem Horizont versunken. Dann hob er den Blick zum Himmel, an dem sich einige andere nahe Asteroiden der Residenzgruppe zeigten wie kleine Monde. »Wenn es mir wie Avvin Gelder ergeht, dem Mann, der gestern gestorben ist, wie mir die Nadel gesagt hat …«

»Die Incera kommen nicht hierher, unmöglich.« Solace schüttelte heftig den Kopf. »Die Koryphäen verhindern das, bestimmt.«

Corwain strich ihr über die flaumige Wange. »Ich könnte einem Unfall zum Opfer fallen. So was passiert. Selbst die Unsterblichen sind damals gestorben. Niemand lebt ewig. Wenn ich sterbe …«

»Nein«, zwitscherte Solace.

»Dann möchte ich im Mausoleum beigesetzt werden, bei Esebian, der damals die Drei Feldzüge gegen die Incera führte. Versprichst du mir, meinen letzten Leichnam dorthin zu bringen, zum Mausoleum auf der Alten Erde, damit ich bei Esebian, Leandra und all den anderen toten Unsterblichen ruhen kann?«

Ihre Augen wurden groß. »Du redest dummes Zeug.«

Corwain grinste plötzlich. »Ich bin gerade neu geboren. Neugeborene müssen viel lernen.«

»Oh.« Solace ergriff seine Hand und zog ihn zur Hütte. »Ich helfe dir, das eine oder andere zu lernen.«

2

Später lag Corwain erschöpft auf der Ruhematte und sehnte sich nach Dunkelheit, die Solace fürchtete. Sein neuer Körper reagierte gut, wenn auch vielleicht noch nicht gut genug. Der Sex mit Solace war immer anstrengend gewesen, auf eine sehr angenehme Art und Weise, aber diesmal fühlte er sich erschöpft; das durch die Fenster strömende Licht lastete schwer auf seinen Lidern und hielt den Schlaf fern. Seltsame Gedanken gingen ihm durch den Kopf, im schmalen Niemandsland zwischen Wachen und Schlafen, Bruchstücke von Erinnerungen, und eine alte Frage tauchte dazwischen auf: Wie viel ist mir geblieben von meiner Seele? Wie viel ist noch von ihr übrig? Solace nahm ein Stück davon, ein kleines Stück, bei jedem Orgasmus, der ihrer eigenen Seele die Flügel verlieh, die ihrem Körper fehlten. Unbewegt lag sie jetzt da, wie erstarrt, die Federn an ihrem Leib still, während die Seele flog, getragen von den Schwingen der Ekstase. Auf den Ellenbogen gestützt beobachtete Corwain sie: das schmale, flaumige Gesicht mit der spitzen Nase, die beinahe wie ein Schnabel aussah, die großen Augen, die ihre Farben ebenso verändern konnten wie das Gefieder und sich unter den geschlossenen Lidern bewegten. Es geschah oft, wenn sie den Höhepunkt erreichte, und Corwain wusste noch immer nicht, ob es sich um eine absichtlich herbeigeführte Veränderung des Bewusstseinszustands handelte – um eine gut genutzte Gelegenheit – oder um eine unwillkürliche psychische Reaktion. Für einige Sekunden, manchmal auch für ein oder zwei Minuten, sank Solace in Trance, in die »Kognition«, wie sie es nannte. Sie hatte von Fenstern und Türen im Haus des Wissens gesprochen, die sich dann für sie öffneten, und vom »Seelenwind«, der ihr Geschichten erzählte von Vergangenheit und Zukunft.

Corwain wartete geduldig, bis die Bewegungen unter den ockerfarbenen Lidern aufhörten und Solace die Augen öffnete.

»Schlimm«, gurrte sie. »Schlimm.«

Corwain hob die Brauen. »Das ist ein vernichtendes Urteil«, sagte er. »Mir ist klar, dass ich im Bett schon besser gewesen bin, aber bitte denk daran, dass dieser Körper erst wenige Stunden alt ist.«

»Nein, nicht das.« Sie drückte ihm einen Finger auf die Nase. »Ich meine, etwas anderes ist schlimm«, sagte sie und blinzelte, wodurch sich die Farbe der Augen veränderte. Sattes Gold ging in ein leuchtendes Smaragdgrün über. »Ich habe den Seelenwind gehört, und er hat mir erzählt …« Sie zögerte kurz. »Er hat mir eine schlimme Geschichte erzählt, die dich betrifft.«

»Mich?« Corwains Brauen kamen noch etwas weiter nach oben.

»Ein Schiff ist hierher unterwegs, ein Resonanzschiff der Kompetenz«, sagte Solace. »Es soll dich abholen. Damit beginnt alles. Bitte sei vorsichtig, Corwain, dies ist wirklich schlimm, glaub mir.«

»Vielleicht ein neuer Auftrag.« Corwain atmete tief durch und spürte, wie sich die Müdigkeit verflüchtigte. »Neue Arbeit für den neuen Tallmaster.«

Die Nadel in seinem Rückgrat meldete sich mit einem Ping Wichtige Nachricht.

Durch die offene Tür sah er, dass im Salon der Hütte die Funktionssäule ganz aus dem Boden gekommen war. Er hob die Hand für das Gesteninterface, und die Adju-Stimme des Hauses sagte:

»Die Kondor befindet sich im Anflug und bittet um Landeerlaubnis. ID-Signatur bestätigt. Kompetenz-Sicherheitscode. Priorität eins.«

»Höchste Priorität?«

»Wichtig und schlimm«, zwitscherte Solace leise.

PingWir brauchen dich. Mach dich abflugbereit.

»Landeerlaubnis erteilt«, sagte Corwain. Er sah Solace an, die sich aufgesetzt hatte. »Tsertser kommt, mit der Kondor. Und ja, er will mich abholen. Zumindest in dieser Hinsicht hat dein Seelenwind die Wahrheit gesagt.«

»Er lügt nie.«

»Manchmal glaube ich, du hättest das Zeug zu einem Pattern-Master«, sagte Corwain nachdenklich.

»Zeug?«

»Die Begabung, die Fähigkeit«, erklärte er. »Wir könnten einen Pattern-Master gut gebrauchen. Es gibt nur noch einen, die Veritas auf Lundblad im Perseus-Arm. Sie kann Lüge und Wahrheit voneinander unterscheiden, immer und überall.«

»Hört sie auch den Seelenwind? Wandert sie in der Kognition durch das Haus des Wissens?«

»Das weiß ich nicht«, sagte Corwain. »Aber ich weiß, dass sie Entwicklungsmuster erkennt, noch bevor die Koryphäen dazu imstande sind, und das will einiges heißen. Sie sieht die Muster, die Patterns, wie es in einer unserer alten Sprachen heißt, und in ihnen sieht sie die Zukunft. Du könntest deine Kognition von der Kompetenz untersuchen lassen und …«

»Nein, und wieder nein«, sagte Solace heftig. »Wir haben schon einmal darüber gesprochen. Der Seelenwind ist etwas sehr Persönliches. Zu persönlich für die Kompetenz. Und außerdem … Du hast mir gesagt, dass sich die Veritas von der Kompetenz getrennt hat, schon vor hundert Jahren.«

Wir haben schon einmal darüber gesprochen?, dachte Corwain. Und ich habe es vergessen? Und er dachte, ein wenig besorgt: Wie viel lassen wir in unseren alten Leben zurück? Und wie viel stiehlt mir Solace’ Ekstase, Stück für Stück?

»Wie viel Zeit bleibt uns?«, fragte Solace.

PingDie Kondor trifft in einer Stunde ein, sagte die Nadel.

»Eine Stunde«, sagte Corwain.

»Nicht viel Zeit, aber genug«, zwitscherte Solace. Sie nahm ihn in die Hand, und er wurde schnell groß darin, ein Vogel, der in sein Nest zurückwollte.

*

Ein anderer Vogel, aus silbernem Syntho und vom Maschinenkern unter der Hütte als Schiff der Kompetenz identifiziert, fiel vom Himmel und landete auf einem opalblauen Gravkissen beim See, nicht weit vom Friedhof entfernt, auf dem es jetzt siebzehn Gräber gab. Die Luke der Kondor schwang auf, und Corwain Tallmasters Nadel empfing die persönliche ID-Signatur, noch bevor Tsertser auf die Rampe trat, die Beine nur halb entfaltet, den Thorax – fast so blau wie das Gravitationskissen unter dem Schiff – nach vorn gestreckt. Die Sensorhaare über den großen, glänzenden Augen des Insektomorphen zitterten unruhig.

»Seid ihr fertig?«, fragte Tsertser ohne einen Gruß. »Können wir los?«

Die vagen orangefarbenen Schlieren der Resonanzaura an den Flanken des Schiffes wiesen darauf hin, dass die Resonatoren der Kondor noch immer arbeiteten. Es bestand nach wie vor Kontakt mit den Membranen, was darauf hindeutete, dass Tsertser den Transit sofort fortsetzen wollte.

»Du scheinst es sehr eilig zu haben«, sagte Corwain. Mit Solace an seiner Seite ging er zum Schiff. »Was ist passiert?«

»Eine große Sache«, erwiderte Tsertser. »Im wahrsten Sinne des Wortes. Die Koryphäen sind alarmiert.«

Corwain blieb stehen. »Die Koryphäen sind alarmiert?«

Tsertser winkte ungeduldig mit einem mehrgelenkigen Arm. »Kommt an Bord. Ich erkläre es euch unterwegs.«

Als der Asteroidenschwarm mit insgesamt siebzehn Menschenresidenzen nur noch ein kleiner Fleck in den Sichtfeldern war und nicht mehr die Gefahr bestand, seine Stabilität durch Resonanzwechselwirkungen mit den lokalen Gravitationsfeldern zu beeinträchtigen, fuhr Tsertser die Resonatoren hoch, brachte die Kondor in die Membranen und beschleunigte sie auf ein Vielfaches der Lichtgeschwindigkeit.

»Etwas ist am Rand der Galaxis erschienen«, sagte er dann. »Beim Cygnus-Arm. Etwas Großes. Der Transitschock hat erhebliche strukturelle Schäden bei den Katapulten des dortigen Sprungbretts zur Sagittarius-Zwerggalaxie angerichtet.«

»Befürchtet ihr einen Angriff?«, fragte Corwain. »Braucht ihr mich deshalb?«

»Wir sind noch nicht sicher, ob es sich um einen Angriff handelt. Die Koryphäen haben auf dich verwiesen und uns zu verstehen gegeben, dass vielleicht deine Dienste als Pazifikator gebraucht werden. Der Hinweis stammt von Jael höchstpersönlich.«

Damit meinte er Jae-al-Escoe-Hoivinio-tan-Mauleon-Caliquire-tan-Nesluzan, eine der alten Maschinenintelligenzen, aus denen sich die Koryphäen entwickelt hatten. Jaels Wurzeln – wenn man sie so nennen konnte – reichten angeblich bis in die Zeit des legendären Esebian zurück.

Die virtuellen Kontrollen vor ihnen zeigten, dass die Kondor direkt upstream zum Sagittarius-Sprungbrett flog, mit der stärksten Resonanz, zu der sie fähig war. Ein solcher Upstream-Transit – gegen die mächtige Gravitation der Milchstraße und den daraus resultierenden Downstream-Sog der Membranen – bedeutete, dass ihre Resonatoren ausgebrannt sein würden, wenn sie das Ziel erreichte.

»Dies verspricht interessant zu werden«, sagte Corwain, und in seinen Worten lag die noch jugendliche Unbekümmertheit seines neuen Lebens.

»Es wird schlimm«, pfiff Solace leise. »Schlimm.«

CODE L

DER LENKER

»Wach auf, MeT«, sagte die Stimme. So nannte sie ihn, MeT, obwohl sein richtiger Name anders lautete. »Wach auf, es wird Zeit für dich, du wirst gebraucht.«

Bin ich nicht wach?, dachte er. Dies war Nacht und Ruhe, eine Zeit für Träume und Erinnerungen, für Wünsche und Hoffnungen, auch – obwohl er nicht zu den Entscheidern zählte – für Pläne und Überlegungen, wie man sie am besten in die Tat umsetzte. Während des Flugs durch die gewaltigen leeren Räume zwischen den Galaxien, während der Sprünge durch das Große Nichts, in dem man mit den richtigen Ohren das Brodeln des Quantenschaums hören konnte und darin den knisternden, prasselnden Gesang der Wahrscheinlichkeitswellen, brauchten die Lenker nicht zu lenken. Ein Fragment von ihnen – ein Wanderer in den Datensphären von Kh’smT’p – genügte, um nach Hindernissen Ausschau zu halten: braune Zwerge, die sich in der Dunkelheit versteckten; Irrläufer oder kleine Sternhaufen, vor Äonen von gravitationellen Gezeitenkräften aus Galaxien herausgerissen; manchmal auch mono- oder bidirektionale Anomalien, vergleichbar mit denen, deren Technik einst für die Sprünge geschaffen und seitdem immer wieder verbessert worden war, Anomalien, die in manchen Fällen künstlichen Ursprungs waren, hinterlassen von den Jak’h’nda, die das Universum vor Jahrmilliarden durch ein kosmisches Portal verlassen hatten, auf der Flucht vor der Metastabilität.

»Wach auf, hörst du, MeT?«, erklang erneut die Stimme. »Es wird Zeit für dich, es wird Zeit, dass du uns aus dem Sprung holst. Wir haben das Ziel fast erreicht.«

Das Ziel?, dachte Mebrat T’hr’rl; so lautete sein richtiger, vollständiger Name. Es ist nur eine Etappe auf einer langen Reise, denn es gibt noch viel zu sammeln, bevor wir dem Beispiel der Jak’h’nda folgen können.

»Die neue Galaxie, wir sind fast da, du bist ein Lenker, du musst lenken«, sagte die Stimme. »Wach auf, MeT!«

Sie sprach jetzt mit mehr Nachdruck, die Stimme; sie klang strenger, und vielleicht lag auch etwas Ärger in ihr. Ich bin wach, dachte er und schickte diesen Gedanken in die Datenräume, aus denen die Stimme kam.

»Hast du verlernt, mir zur vertrauen, MeT?«, fragte die Stimme. »Wach auf! Du bist noch immer in Nacht und Ruhe, wach auf, und erinnere dich an deine Pflicht. Kh’smT’p braucht deine Augen, deine Ohren, deine lenkende Hand.«

Wie dumm diese Worte waren, wenn man genauer über sie nachdachte, doch er behielt diesen Gedanken für sich. Immerhin, er war seit vielen Jahrmillionen blind und taub; er konnte sich nicht einmal daran erinnern, ob er jemals eigene Augen und Ohren gehabt hatte. Oder Hände, dazu imstande zu berühren und zu lenken.

Aber natürlich vertraute er der Stimme; es gab überhaupt keinen Grund für ihn, ihr nicht zu vertrauen. Deshalb öffnete er die Augen, die nicht seine waren, und wusste sofort, dass er tatsächlich geschlafen hatte, in Nacht und Ruhe. Wie lange?

»Lange genug«, sagte die Stimme. »Ich helfe dir, ich helfe deinem Körper, fühlst du ihn? Ich helfe ihm, ich wecke ihn ebenfalls. Du bist noch immer an ihn gebunden, erinnerst du dich?«

O ja, daran erinnerte er sich. Andere Lenker hatten die Bindung aufgegeben, um ganz in den Datensphären aufzugehen. Einige von ihnen waren in Nacht und Ruhe verlorengegangen, nicht nur Fragmente von ihnen, sondern ihr Haupt-Ich, mit allen Träumen und Erinnerungen. Sie existierten noch, nichts ging verloren, aber niemand – nicht einmal die Stimme – wusste, wo sie sich befanden und wie sie zurückgeholt werden konnten. Mebrat beneidete sie manchmal, denn sie konnten ganz in ihren Träumen aufgehen.

»Träume sind Träume, MeT«, sagte die Stimme. »Träume sind nicht die Wirklichkeit.«

»Welche Rolle spielt das, wenn es für die individuelle Wahrnehmung keinen Unterschied gibt?« Es hatte ein Gedanke sein sollen, leise, auf seinen eigenen Datenraum beschränkt, aber er war jetzt ganz und gar wach, nicht nur ein Fragment von ihm, und der Gedanke reiste über die Verbindungen und wurde laut.

»Auch du hast einen Traum, erinnerst du dich?«, fragte die Stimme, und jetzt sprach sie wieder sanft. »Einst bist du nur ein Jassid gewesen, der Traum hat dir den Aufstieg zum Lenker ermöglicht, weil du den Unterschied zwischen Vision und Realität kanntest.«

Ja, Mebrat erinnerte sich. Er stellte sich manchmal vor, ein Entscheider zu sein, Kh’smT’p nicht nur zu lenken, sondern auch zu bestimmen, wohin es flog, welche Galaxien es zu besuchen galt, was gesammelt werden sollte und was nicht. Und wann es Zeit wurde für den Letzten Sprung.

»Jetzt bist du wach«, sagte die Stimme. »Bist du auch bereit?«

Noch war seine Welt klein: ein Ruhesaal, in ihm Behälter, die die Körper von insgesamt neun Lenkern am Leben erhielten und Teile von ihnen erneuerten, wenn Erneuerung notwendig wurde. Die anderen acht schliefen, schon seit mehreren Sprungzyklen. Es bedeutete, dass seine Dienste den Entscheidern gefielen, denn sie hatten entschieden, ihm die Verantwortung für die letzten Sprünge zu geben.

»Bist du bereit, MeT?«, fragte die Stimme erneut.

Er sah sich selbst mit den Augen des Saals: ein Haufen aus lebendem Fleisch, aufgedunsen und fleckig, bedeckt von Sensoren, Stimulatoren und Signalgebern, gespickt mit Kathetern und multifunktionalen Maschinenkomponenten.

Der Mund öffnete sich.

»Ja, ich bin bereit«, sagte er und hörte er sich sagen.

Er bekam tausend neue Augen, dann eine Million, und ebenso viele Ohren, sah und hörte Kh’smT’p, nahm mit sensorischer Äquivalenz die angenehmen Aromen von Stabilität und energetischer Balance wahr – alle Teile diesseits der monodirektionalen und strahlungssynchronisierten Barriere des Ereignishorizonts befanden sich im Gleichgewicht. Kh’smT’p flog wie ein großer Vogel durch das Nichts des intergalaktischen Leerraums, und Mebrat fühlte die ausgebreiteten Schwingen wie seine eigenen. Wozu brauchte er Arme und Beine – und gewöhnliche Augen und Ohren –, wenn er solche Flügel hatte, und einen so großen, kräftigen Leib?

Dort vorn leuchteten die Sternenmassen der Galaxie, die das Ziel der aktuellen Etappe war, ihr Rand nur noch wenige Millionen Sprechlängen entfernt. Ein perfekter Zeitpunkt für das Ende des Sprungs; die gravitationellen Wechselwirkungen blieben hier auf ein selbst mit den Kompensatoren unvermeidbares Minimum beschränkt.

»Der Lenker soll lenken«, sagte die Stimme.

Aus den Flügeln wurden Datenarme, Hunderte an der Zahl und jeweils viele Sprechlängen lang, und mit diesen Armen bediente er die Kontrollen der Anomaliemotoren. Am Rand der Galaxie bildete sich ein Riss im Gefüge der Raumzeit, und durch diesen Riss kehrte Kh’smT’p aus der Sprungphase in den normalen Raum zurück.

EINE GESTOHLENE STADT

3

Die Sonne blähte sich blutrot an einem Himmel, aus dem es Trümmer regnete. Gravitatoren und mobile Schirmfelder lenkten sie ab, zum Ödland hinter der natürlichen Barriere des Tafelbergs, obwohl das eigentlich gar nicht mehr nötig war. Denn die Stadt, die sich vor dem Tafelberg erstreckt hatte, existierte nicht mehr, zumindest nicht auf diesem Planeten. Jetzt klaffte dort ein Loch, zwanzig Kilometer breit und fast drei Kilometer tief, und was bis vor einer knappen Stunde in diesem Loch gesteckt hatte, befand sich auf dem Weg zu dem riesenhaften Gebilde, das drei Lichttage über der Ekliptik des Tolomeo-Systems erschien – der wie eine Wunde in der Raumzeit wirkende Riss im All hatte sich noch nicht geschlossen und spie weitere Komponenten des Objekts in die relative Nähe des Sprungbretts. Die Stoßwellen hatten inzwischen nachgelassen. Der ersten und heftigsten war die größte der sieben Orbitalstationen von Amber zum Opfer gefallen – ihre Trümmer zogen feurige Bahnen am Himmel, bevor sie, abgelenkt, mit einem dumpfen Grollen hinter dem Tafelberg verschwanden.

»Eine ganze Stadt«, brachte Solace fassungslos hervor. »Sie haben eine ganze Stadt gestohlen?«

Sie standen bei dem kleinen Springer, mit dem sie nicht weit vom Rand des Loches entfernt gelandet waren: Corwain Tallmaster, Tsertser, zwei operative Spezialisten der Kompetenz und ein katzenartiger Kirawee, ein Beauftragter der Regierung von Amber – mit zischenden und fauchenden Lauten, die von mehreren Kommunikatoren an seinem Hals übertragen wurden, leitete er den Einsatz der Rettungskräfte. Dutzende Schweber, Gleiter und mobile Hospitäler flogen tief unten im Loch und suchten nach Überlebenden. Bisher waren nur einige wenige Leichen gefunden worden, und der Zustand der Toten wies darauf hin, dass sie aus großer Höhe gestürzt waren. Die anderen, Hunderttausende, mussten sich noch in der Stadt befinden.

»Eine ganze Stadt und ihre Bewohner«, sagte Tsertser. »Offenbar sind wir zu spät gekommen.«

Corwain blickte in das riesige Loch. »Wie mit einem Messer aus dem Leib des Planeten geschnitten. Haben wir Daten?«

»Jede Menge.« Tsertsers Gelenke knackten, als er sich abrupt zum Springer umdrehte. »Sie werden gerade ausgewertet. Kommt, hier können wir nichts mehr tun. Folgen wir der gestohlenen Stadt.«

Wie kann man eine Stadt stehlen?, fragte sich Corwain. Und warum?

PingKontakt.

»Tsertser?«

Der Vrytt war auf der Rampe stehen geblieben. »Ich habe es gehört.«

»Ist das Jael? Ist er hier?«

»Es ist Jaels Stimme«, sagte Tsertser. »Er hat einen Gesandten geschickt, der vor uns eintraf, einen Sondierer, der versuchen sollte, einen Kontakt herzustellen.«

Die Nadel in Corwains Rücken vibrierte mit einer Koryphäenstimme. Kontakt ist erfolgt. Ich warte auf euch.

Die Luke hatte sich kaum hinter ihnen geschlossen, als der Springer dem Himmel entgegensprang, an dem noch immer Trümmer verglühten.

Das alte Filigran hing wie eine zwei Lichtsekunden große Spinnwebe im All, in seiner Mitte eine Öffnung, hinter der sich einst, vor den Drei Feldzügen, der Zugang zu einem Wurmloch befunden hatte. Der alte Filigranport existierte noch, als Teil eines Komplexes aus mehreren mit Gravitationsankern verbundenen Raumstationen. Darunter rotierten die mehr als tausend Kilometer langen Zylinder der Resonatoren, aber das Fehlen einer Aura zeigte, dass sie keine Energie mehr für die Katapulte des intergalaktischen Sprungbretts produzierten. Mehrere Schiffe hatten dort ihre fünfundfünfzigtausend Lichtjahre lange Reise zur Sagittarius-Zwerggalaxie beginnen wollen, aber jetzt steckten sie in den von Stoßwellen halb zerschmetterten Resonanzkatapulten fest. Lichter schwebten zwischen ihnen: Kapseln mit Technikern und etwas größere IVs, Interventionsvehikel mit medizinischem Personal an Bord. Von der vorderen Station, direkt hinter den Katapulten, hatten sich mehrere Module gelöst, wie von einer riesigen Pranke fortgerissen und dann halb zerquetscht; einige tropfenförmige interplanetare Schiffe der Kirawee, die das Sprungbrett im Auftrag der Kompetenz verwalteten, fingen die Trümmer mit adaptiven Gravfeldern ein.

Über und hinter dem Stationskomplex, mehrere Lichtminuten entfernt, klaffte ein Riss im All, rot wie die Sonne über Amber, und aus dieser Öffnung in der Struktur von Raum und Zeit kamen unaufhörlich Objekte in allen geometrischen Formen, manche von ihnen allein, andere in Gruppen, verbunden durch gespinstartige Stränge, die an die Fäden des alten Filigrans erinnerten. Golden funkelnde Objekte bewegten sich zwischen ihnen wie die aufsteigenden Funken eines Feuers, das tief im Riss brannte. Und vielleicht loderte es in seinen Tiefen tatsächlich, denn die Anomalie flackerte und glühte in einem schwachen Violett, dehnte sich der Länge und Breite nach und gebar noch größere Objekte: Zylinder aus Dutzenden von Segmenten, die sich in unterschiedlichen Richtungen drehten, das kleinste von ihnen fast hunderttausend Kilometer lang; wie Perlmutt schimmernde Sphären, zwischen den Zylindern und Kugeln zu langen Ketten aneinandergereiht; Pyramidenpaare, die sich an den Spitzen berührten, umschwirrt von kleineren Kugeln, die ständig ihre Farben wechselten; langsam und gemächlich rotierende Oktaeder, wie Taktgeber für ein kolossales Uhrwerk, das immer größer wurde, je länger der Riss im All offen blieb.

»Was ist das?«, fragte Solace. Im Nacken und auf den Schultern richtete sich ihr Federflaum auf.

»Das sind Raumstationen und Habitate, wenn ich mich nicht sehr irre«, sagte Corwain. Sie saßen im Kontrollraum der Kondor, den Blick auf die Darstellungen der Sichtfelder und Situationsschirme gerichtet. Tsertsers dünne Arme strichen durch die virtuellen Kontrollen, und seine langen Finger durchbohrten leuchtende Symbole. Die Resonatoren ächzten, und das Schiff sagte: »Warnung. Membran-Kontaktverlust steht unmittelbar bevor.«

Tsertser zischte etwas in seiner Heimatsprache, vielleicht einen Fluch. »Die Resonatoren sind ausgebrannt. Aber wir schaffen es noch bis zu Jael und … Dort ist sie!«

Sie, das war die Stadt, die aus der planetaren Kruste von Amber geschnittene, gestohlene Stadt. Eine Masse aus Erde und Gestein, zwanzig Kilometer lang und fast dreitausend Meter dick, schwebte im Innern einer energetischen Blase durchs All, den ersten Objekten entgegen, die aus dem Riss gekommen waren. Leuchterscheinungen krochen wie Würmer aus Licht über die Blase, und wo sie sich trafen, flackerten Blitze. Dutzende von goldenen Objekten begleiteten die Stadt von Amber, deren Gebäude intakt und vor dem Vakuum des Alls geschützt zu sein schienen. Lebten die Kirawee in ihnen noch?

»Der Riss schließt sich«, sagte Tsertser, noch bevor die Veränderungen in den Sichtfeldern erkennbar waren. Datenkolonnen huschten durch dreidimensionale Anzeigenbereiche, viel zu schnell für gewöhnliche menschliche Augen. Die Arme des Vrytt blieben in Bewegung und bedienten die virtuellen Kontrollen, dirigierten das Schiff und seine Sensoren. »Eine … monodirektionale Anomalie. Fast wie ein Wurmloch. Aber mit einem energetischen Potenzial, das … atemberaubend ist.« Tsertser unterbrach sich, und zwei Sekunden lang hingen seine Arme reglos in der Luft. »Bei den transferierten Objekten findet so etwas wie eine Phasenverschiebung statt.«

»Sie hüllen sich in Schirmfelder«, sagte Corwain, der den Vorgang auf den Sichtfeldern beobachtete. Viele Millionen Kilometer hinter der gestohlenen Stadt entstand ein zarter Schleier, der sich um alle aus dem Raum-Zeit-Riss gekommenen Flugkörper legte. Konturen waberten und verschwanden hinter einem grauen Vorhang, durch den ein langsames Wogen ging, wie Wellen eines endlosen Ozeans.

»Unsere Sondierungssignale verschwinden hinter der Barriere.« Tsertsers Hände setzten ihren Tanz bei den virtuellen Kontrollen fort. »Sie ist wie ein … Ereignishorizont.«

Corwain richtete einen Gedanken an seine Nadel, bekam aber keine Antwort. Normalerweise hätte sie ihm Zugriff auf die lokalen Datennetze ermöglicht und alle von ihm gewünschten Informationen übermittelt, aber sie war noch jung, wie er selbst, und hatte noch nicht alle Nervenverbindungen hergestellt. Sie musste wachsen und lernen.

»Was haben wir hier?«, fragte er schnell. »Kurz und knapp, Tsertser. Wenn ich helfen soll, muss ich wissen, was los ist.« Er bemerkte den erstaunten Blick des Vrytt und fügte hinzu: »Ich habe gerade eine Erneuerung hinter mir; meine Nadel ist noch nicht so weit.«

Aus dem Heck der Kondor kam ein unangenehmes Geräusch: ein Kratzen und Quietschen wie von Metall, das gebogen wurde, bis es brach.

»Der Hauptresonator ist hin.« Mehrere Symbole zerstoben unter Tsertsers Fingern. »Damit war zu rechnen. Aber uns bleibt der relativistische Antrieb.«

PingIch sehe euch und schicke ein Signal.

»Dort ist er, Jaels Gesandter.« Das Sichtfeld direkt vor Corwain zeigte einen blinkenden Punkt über der gestohlenen Stadt, die sich, geschützt von der Blase, langsam dem riesigen Etwas näherte, das nun hinter einem künstlichen Ereignishorizont verborgen lag. Der graue Vorhang war nicht homogen. An mehreren Stellen gab es Öffnungen, durch die goldene Objekte flogen, und einem dieser Zugänge näherte sich die von Amber stammende Stadt, gezogen von Gravitationsfeldern der goldgelb schimmernden Flugkörper in ihrer Nähe.

»Sie nennen sich ›Jassid‹ und ›Sammler‹«, sagte Tsertser schnell, während er die Kondor anwies, dem Peilsignal zu folgen. »Vor vier Jahren erschien eine Gruppe von Fremden auf Tarhelion in der Nawattna-Assoziation, beim dortigen logistischen Zentrum der Kompetenz. Sie spazierten einfach hinein; die Sicherheitsbarrieren reagierten nicht auf sie.«

»Das ist unmöglich«, entfuhr es Corwain. Er wusste genau, wie gut die Basen der Kompetenz, nicht nur die logistischen, geschützt waren. Sie verfügten über Koryphäentechnik; es gab nichts Besseres.

»Ich habe dir gesagt, dass die Koryphäen alarmiert sind, nicht wahr?«

Corwain wechselte einen Blick mit Solace, deren große Augen noch immer das Grün der Sorge zeigten.

»Kallisto befand sich auf Tarhelion, und du weißt ja, wie schwer er zu beeindrucken ist.«

»Kallisto hat das aufregende Gemütsleben eines Steins«, sagte Corwain.

»Wenn du dich auf die intelligenten Steine von Gawahele beziehst – die lassen sich leichter aus der Ruhe bringen.« Tsertsers Kiefer klickten. »Er soll nervös geworden sein. Die Fremden kündigten etwas an, das sie ›Kh’smT’p‹ nannten.«

»Es klingt wie … Kosmotop«, sagte Solace.

Inzwischen waren sie der gestohlenen Stadt recht nahe, und aus den goldenen Punkten, die sie mit Gravfeldern durchs All zogen, wurden Flugkörper, deren Struktur Corwain an Eiskristalle erinnerte oder Sterne mit dünnen Erweiterungen an den Zacken. Sie ließen sich keinem ihm bekannten galaktischen Volk zuordnen.

»Die Fremden, die Jassid, stellten sich als Kundschafter vor, die im Auftrag der Sammler gekommen waren, um sich einen ersten Eindruck von unserer Galaxis zu verschaffen.« Während Tsertser sprach, steuerte er die Kondor dem Schiff des Gesandten entgegen. »Sie gaben Kallisto mit ihrer besonderen Ausdrucksweise zu verstehen, dass wir bereit sein sollten, ›für die Fülle zu opfern‹. Das Kh’smT’p, das Kosmotop …« Bei diesen Worten nickte der Vrytt Solace zu. »… sei unterwegs, um ›Proben‹ von allen Zivilisationen in der Milchstraße zu nehmen.«

Corwains Nadel empfing etwas.

PingBereitschaft Erforderlichkeit, Proben notwendig, Unumgänglichkeit, Rettung vor Metastabilität, Widerstand inakzeptabel, Widerstand intolerabel, Widerstand brechen, Sammler sammeln, Sammlung Priorität.

»Das klingt nicht gut«, sagte Corwain langsam. »Verstehe ich das richtig? Die Fremden sind nicht bereit, Widerstand hinzunehmen, wenn sie kommen und Städte aus Planeten schneiden?«

»Es geht nicht nur um Städte«, erwiderte Tsertser. Die von Amber stammende Metropole befand sich genau unter ihnen, und der Sichtfeldzoom zeigte ihnen Tausende Kirawee auf den Straßen. »Die Koryphäen befürchten, dass die Sammler beabsichtigen, ihrem Kosmotop ganze Planeten hinzufügen.«

Corwain begann zu verstehen, warum man ihn, den besten Pazifikator der Kompetenz, hierhergeholt hatte. Ein gewaltiger Konflikt kündigte sich an, und er konnte die ganze Galaxis betreffen.

Das Schiff des Gesandten, ein aus Dutzenden von autarken Komponenten bestehendes, zweihundert Meter durchmessendes Oval, schwoll vor ihnen an.

Tsertser stand auf. »Den Rest des Anflugs erledigt die Kondor allein. Gehen wir zur Schleuse.«

4

Das Treffen fand an einem Ort statt, der eine Mischung aus Salon, Hangar und vielleicht auch Kommunikationszentrale darstellte. Die eine Seite dieses Raums an Bord des Gesandtenschiffes hatte sich zum All hin geöffnet, und ein transparenter Atmosphärenschild verhinderte, dass die Luft ins All entwich. Dahinter, nur einige Dutzend Meter entfernt, schwebte etwas, das wie eine goldene Schneeflocke aussah, mit mehr als fünfzig Meter langen Zacken. Das fremde Schiff hatte zwei Individuen gebracht, und Corwain fragte sich, ob sie eine Rüstung aus Hornplatten trugen oder ob die hellbraunen runden Elemente, aus denen sich die »Rüstung« zusammensetzte, integraler Bestandteil des Körpers waren. Lange graue Hautlappen hingen von der unteren Gesichtshälfte herab, und die obere verbarg sich hinter breiten schwarzen Spangen. Stoffbahnen aus einem wie Seide glänzenden Material und Gurte braun wie die Hornplatten umgaben die Oberkörper. Zylinder, dünne Stangen und an leuchtenden Fäden befestigte, unterschiedlich große Kugeln ragten darunter hervor, wie Miniaturversionen der gewaltigen Objekte, aus denen das Kosmotop bestand.

Die Fremden standen wortlos da, unbeweglich wie die Statuen an den dunklen Wänden, über die Lichtmuster krochen: Linien und Punkte, die sich zu komplexen Formen vereinten und dann weiterkrochen, um an anderen Stellen erneut Muster zu bilden. Ein Kommunikationsversuch?, fragte sich Corwain.

Er bekam Antwort von dem Mann, der wenige Meter vor der Rückwand des Raums in einem großen, gepolsterten Sessel saß, neben einem Tisch, auf dem eine Karaffe mit rubinrotem Aromawasser und ein Tablett mit Speisen aus Variform-Proteinen standen – die Geste eines Gastgebers.

PingDie beiden Besucher sind mechanische Zwitter. Ich möchte feststellen, ob sie die wechselnden Muster an den Wänden als Code erkennen und entschlüsseln können.

Ein Intelligenztest?, wandte sich Corwain in Gedanken an die Nadel.

PingOder eine kleine Spielerei, wie man’s nimmt.

Mechanische Zwitter?, dachte Corwain und wechselte einen Blick mit Tsertser, der die Worte des Gesandten ebenfalls empfangen hatte. Wer oder was waren die Fremden? Mehr Maschinen oder mehr organische Geschöpfe?

Der Mann im Sessel, autonomer Gesandter der Koryphäe Jae-al-Escoe-Hoivinio-tan-Mauleon-Caliquire-tan-Nesluzan, stand auf. Er sah wie einer der Letzten Menschen aus und schien in den besten Jahren zu sein, vielleicht siebzig oder achtzig, der Körper schlank und geschmeidig, die sichtbare Haut gebräunt, als hätte er die letzten Monate in der tropischen Region eines Terranormplaneten verbracht. Das dichte schwarze Haar reichte bis auf die Schultern und präsentierte auf der linken Seite eine schwefelgelb fluoreszierende Strähne. Corwain ließ sich von dem Anblick nicht täuschen. Dort stand kein Mensch aus Fleisch und Blut, sondern ein Avatar aus Pseudomaterie, durch die Membranen verbunden mit einer Maschinenintelligenz, die sich vor vielen Jahrtausenden entwickelt und als Magister die letzten Unsterblichen auf ihrem Lebensweg begleitet hatte bis zur Zerstörung der Hohen Welten während der Drei Feldzüge. Dieser Mann verkörperte ein großes Stück galaktischer Geschichte und gab dem Treffen allein durch seine Anwesenheit große Bedeutung.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie sich in Geduld gefasst haben«, wandte sich der Gesandte an die beiden Fremden. »Die Personen, auf die ich gewartet habe, sind jetzt hier. Die Verhandlungen können beginnen.«

»Inkorrekt«, erwiderte eine der beiden Gestalten. Die Stimme klang rau und kehlig. »Verhandlungen keine. Unnötigkeit. Sammler sammeln. Beginnen jetzt. Hier. Fülle erfordert Opfer. Notwendigkeit.«

Corwain wusste, warum Jaels Gesandter ihn gerufen hatte: um dabei zu helfen, einen Konflikt zu lösen, bevor er begann. Das war seine Mission, der Inhalt seines langen Lebens, die Aufgabe, die ihm sein zusätzlicher Master-Sinn gab. Als Pazifikator in Diensten der Kompetenz half er dabei, Frieden zu schaffen und ihn zu bewahren, die Gewalt einzudämmen. Er war wie ein Mediker, der im Lauf von Jahrzehnten und Jahrhunderten gelernt hatte, die Wunden der Seele zu heilen: Zorn, verletzter Stolz, der Wunsch nach Vergeltung. Er erkannte die wahren Gründe hinter rasselnden Säbeln und heulenden Blastern, und er fand die richtigen Worte, die Konfrontationen beendeten und Kompromisse ermöglichten. Er bildete eine Art Waage, auf der verschiedene Interessen ihr Gleichgewicht fanden, und wenn nichts anderes half, wenn alle Vermittlungsversuche scheiterten, wurde er zu einer schonungslosen Stimme, die keine Rücksicht auf Privilegien und Status nahm, Geltungssucht, Größenwahn oder einfach nur Böswilligkeit anprangerte und der Lächerlichkeit preisgab. Wenn selbst das nichts half, griff er zum letzten Mittel, drohte mit einem Eingreifen der Kompetenz oder der Koryphäen. Spätestens seit den Drei Feldzügen galt der Frieden als höchstes Gut, dem alles andere unterzuordnen war, denn er schützte das Leben. Und Leben war die größte aller Kostbarkeiten; das wusste niemand besser als die Letzten Menschen.

Corwain fand immer die richtigen Worte und Strategien, weil er die Leute verstand, um die es ging. Der Master in ihm verstand sie; mit empathischer Intuition erfasste er, was sie bewegte. Der zusätzliche Sinn zeigte ihm den Weg, den es zu beschreiten galt.

Doch hier zeigte er ihm … nichts.

Die beiden Fremden mit den Hornplatten, Kordeln und Gurten standen wie leer vor dem Atmosphärenschild. Es hätten genauso gut dreidimensionale Bilder statt lebender Geschöpfe beziehungsweise mechanischer Zwitter sein können, denn Corwain empfing absolut nichts von ihnen, kein einziges empathisches Signal, von welcher Art auch immer.

Corwain schickte seiner Nadel einen Gedanken, und die Nadel sendete in die lokalen Membranen: PingEs tut mir leid, Jael. Die Fremden sind mir … fremd. Ich gewinne keinen Eindruck von ihnen.

Der Gesandte trat vor. »Wir haben mit Ihren Kundschaftern gesprochen und nehmen an, dass Sie mit dem Konzept des Schutzes von Leben ebenso vertraut sind wie wir. Wenn Sie ›Proben‹ nehmen wie die Stadt von dem nahen Planeten, so löschen Sie individuelles Leben aus und richten auf den betreffenden Welten schwere Schäden an. Das gilt es unbedingt zu vermeiden.«

»Jassid, diese, sprechen: Vermeidung mit Bereitschaft für selektive Fülle-Opfer«, krächzte die zweite der beiden Gestalten. »Lenker sprechen: Metastabilität, Verhandlungen keine, Sammeln Priorität. Widerstand inakzeptabel, Widerstand intolerabel, Widerstand brechen, Sammler sammeln. Entscheider sprechen: Mission, Fortsetzung, alles ungeachtet.«

Die Linien, Punkte und Kreise krochen etwas schneller über die dunklen Wände, als Jaels Gesandter sagte: »Ich nehme an, mit Entscheider meinen Sie … Personen, die in der Lage sind, Entscheidungen für Kh’smT’p zu treffen.«

»Korrekt.«

»Bitte ermöglichen Sie mir einen Kontakt mit den Entscheidern. Ich bin …«

»Jassid wissen, Identität bekannt, Signifikanz ebenso«, sagte der erste Fremde. »Ort dieser, Kontakt Unmöglichkeit. Entscheider in Kh’smT’p, immer. Draußen nie, niemals. Horizontgebunden.«

»Dann lassen Sie mich zu ihnen«, sagte der Gesandte. »Bringen Sie mich zu Ihren Entscheidern, damit ich mit ihnen verhandeln kann.« Er lächelte. »Ich möchte ihnen etwas zeigen, eine Art Spiel.«

»Horizontgebundenheit für Sie ebenfalls, nach Transfer. Fenster Passierbarkeit für Jassid allein, definitiv.«

»Ich glaube, er will damit sagen, dass niemand das Kosmotop verlassen kann«, warf Tsertser ein. »Die Barriere, der Ereignishorizont, scheint nur von einer Seite durchlässig zu sein, zumindest für Leute wie uns.«

»Korrektheit konzeptionelle«, sagten beide Jassid gleichzeitig. Sie standen noch immer an Ort und Stelle; nur die Hautlappen in der unteren Gesichtshälfte bewegten sich. »Rückkehr aus Kh’smT’p Unmöglichkeit.«

»Wären die Entscheider bereit, mit mir zu sprechen, wenn ich auf die andere Seite des Horizonts wechsele?«, fragte der Gesandte.

Einige Sekunden verstrichen. Die beiden Fremden rührten sich nicht, aber Corwains Nadel empfing etwas, das wie ein leises Rauschen klang. Er formulierte eine Frage und bekam zur Antwort: PingNicht entschlüsselbare phasenverschobene Kommunikationssignale. Die Jassid sprechen mit jemandem.

Mit jemandem im Kosmotop, nahm Corwain an.

»Repräsentant der Koryphäen Sie?«, vergewisserte sich der erste Jassid.

Der Mann mit dem schwarzen Haar atmete tief durch und hob den Kopf. »In der Tat.«

»Begleitung Personen welche?«

Corwain hörte, wie Tsertser sendete: PingHalten Sie das für eine gute Idee, Jael? Vielleicht können Sie tatsächlich nicht zurückkehren. Und wenn die Fremden durch Sie einen Zugriff auf die Membranen und Datenströme der Koryphäen bekommen …

Die Antwort lautete: PingIch bin nur ein Gesandter, und die Aufgabe dieses Gesandten besteht darin, einen Kontakt herzustellen und zu verhandeln.

Corwain räusperte sich. »Ich …«

»Nein«, sagten Solace und der Gesandte gleichzeitig.

Der Mann wandte sich kurz Corwain zu. »Nein«, sagte er sanft. »Du bleibst hier, Corwain. Du wirst gebraucht.«

»Ich …«, begann er erneut.

»Wenn du gehst, gehe ich auch!«, sagte Solace.

Der Gesandte seufzte. »Tsertser?«

Der Vrytt zögerte nicht und trat vor. »Ich bin natürlich bereit.«

»Sehr gut. Ich habe die beiden operativen Spezialisten gerufen, die auf Amber geblieben sind. Sie sind ebenfalls bereit und unterwegs.« Und zu den beiden Jassid: »Meine Herren, wir können uns auf den Weg machen.«

Ich sehe und höre hier nur einen kleinen Teil dessen, was geschieht, trotz der Nadel, dachte Corwain. Hinter den Kulissen, vielleicht hinter denen der Koryphäen, geht mehr vor. Jaels Gesandter … er wusste Bescheid; der Transfer ins Kosmotop ist von Anfang an geplant gewesen, vielleicht seit dem ersten Kontakt mit den Kundschaftern.

Einer der beiden Jassid drehte sich um, und ein Teil des Atmosphärenschilds stülpte sich ins All, dem Schiff entgegen, das einer goldenen Schneeflocke ähnelte. Ein Tunnel entstand, eine energetische Brücke, die zu einer Luftschleuse in einem der Zacken führte. Der zweite Fremde hob die Hand zu einer der kleinen Stangen, die unter einem der Gurte auf seiner Brust hervorragte, und ein seltsames Geräusch erklang, wie eine Mischung aus Klimpern und Fauchen. Die hellen Linien und Punkte an den dunklen Wänden verharrten plötzlich.

»Einfachheit Code, Primzahlenbasis, mit Konstanten drei kosmologischen«, sagte der Jassid kehlig. »Verbesserung dieses, mit Metastabil-Komponentenhaltigkeit.«

Es kam zu neuer Bewegung an den Wänden, und ein großes Symbol entstand, eine Art Labyrinth, das kleinere Labyrinthe enthielt bis in fraktale Tiefen, die vom menschlichen Auge nicht mehr aufgelöst werden konnten. Corwains Nadel wurde ohne eine gedankliche Anweisung aktiv und zeichnete alle Details des Symbols auf.

Corwain erinnerte sich an die Worte des Gesandten. Der Code, nur eine kleine Spielerei? Wohl kaum.

Die beiden Jassid schritten über die energetische Brücke.

»Mein Schiff bringt dich zurück, Corwain«, sagte Jaels Gesandter. »Um die Kondor wird man sich kümmern.«

Ihr Hauptresonator ist durchgebrannt, erinnerte sich Corwain. Aber es war nur einer von vielen Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, und bei Weitem nicht der wichtigste. Nachdenklich stand er da und beobachtete, wie der Gesandte und Tsertser den beiden Fremden zu ihrem goldenen Schiff folgten. Sie hatten es fast erreicht, als Corwain rief: »Viel Glück!«

Der Mann mit dem schwarzen Haar drehte sich noch einmal um und winkte, bevor er mit dem Vrytt in der Luftschleuse verschwand.

Die energetische Brücke löste sich auf, und Kompositsegmente schoben sich hinter den Atmosphärenschild, schlossen die Lücke im Rumpf des Gesandtenschiffes. In der Rückwand öffnete sich eine Tür, und die Stimme des Schiffes sagte: »Alles für den Transit bereit. Bitte nennen Sie das Ziel, Corwain 18Tallmaster.«

»Bring uns nach Tarhelion in der Nawattna-Assoziation. Es wird Zeit, dass ich mich wieder an die Arbeit mache.« Und vielleicht erfahre ich dort etwas mehr über das Kosmotop, fügte Corwain in Gedanken hinzu.

Auf dem Weg zum Kontrollraum sah er Solace an und sagte: »Ich glaube, wir haben hier den Anfang einer neuen Entwicklung erlebt.«

»Ich habe für einen Moment befürchtet, dass es ein Ende sein könnte«, erwiderte sie.

CODE V

DIE VERITAS

»Diese Besprechung hat nie stattgefunden«, sagte Rahel Rahelia 29Kinmaster, als sie die Aussichtsplattform betrat. »Mein Schiff wird vergessen, dass wir hierhergekommen sind.« Sie deutete zur Conzilia, die etwa hundert Meter außerhalb der ambientalen Blase schwebte, schlank und elegant neben den klobigen Aggregatblöcken der Raumstation.

»Unsere Besprechung hat noch nicht einmal begonnen«, erwiderte jemand, dessen Stimme wie zwei aneinanderreibende Steine klang; sein Gesicht schien aus Fels gemeißelt, grau wie Granit. »Ich grüße Sie, Rahelia. Und ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind.«

Nur sein Mund bewegte sich, und das Funkeln in seinen Augen war wie ein Amethyst. Der Rest ruhte reglos wie ein kleiner Berg. Drei konkave Spiegel schwebten über ihm, fingen das Licht der fernen Sonne und des kalten Gasriesen ein, den die Station in einer Höhe von nur wenigen Zehntausend Kilometern umkreiste, und konzentrierten es auf ihn. Kallisto hieß dieses Geschöpf, und es war einer von neunundzwanzig Direktoren der Kernkompetenz.

»Warum haben Sie mich ausgerechnet hierhergebeten, fünfzehntausend Lichtjahre upstream?« Rahelia deutete am braungelben Gasriesen vorbei zur Milchstraße, deren Spiralarme wie die leuchtenden Tentakel eines Kraken über den dunklen Himmel reichten. Die energetische Kuppel des Atmosphärenschilds hielt die Luft gefangen, blieb aber unsichtbar.

»Wissen Sie es nicht?«, fragte Kallisto.

Rahelia seufzte innerlich. Solche Reaktionen erlebte sie oft, aber Kallisto hätte es eigentlich besser wissen sollen. »Ich bin eine Pattern-Master, keine Wahrsagerin.«

»Sie sind nicht eine Pattern-Master, sondern die letzte. Die letzte Veritas in der ganzen Galaxis.«

Neben ihr wuchs ein Variform-Sessel aus dem Boden, und sie nahm darin Platz. »Vermutlich haben Sie mich nicht hierhergebeten, um mir das zu sagen. Oh, fast hätte ich es vergessen.« Sie stand wieder auf, ging zum Direktor und holte dabei einen kleinen Gegenstand aus einer der Taschen ihres violetten Gewands. »Hier, ich habe Ihnen etwas mitgebracht.«

Kallisto streckte eine graue Pranke aus, nahm den kleinen Gegenstand entgegen und betrachtete ihn. »Was ist das?«

»Ich bin vor vier Monaten auf Botros gewesen, beim Goldenen Zwilling.«

»Der Doppelstern im Sektor Moggadin, im Norma-Arm?«, brummte Kallisto und drehte das Objekt hin und her.

»Haben Sie Botros jemals besucht, Direktor?«

»Nein.«

Rahelia kehrte zum Sessel zurück. »Der Planet würde Ihnen gefallen. Uhrmacher genießen dort besonderes Ansehen. Was Sie dort in der Hand halten, ist ein mikromechanisches Meisterwerk, eine Uhr, die individuelle Zeit anzeigt.«

Kallisto blickte aufs Zifferblatt. »Es gibt keine Zeiger. Es wird nichts angezeigt.«

Rahelia lächelte kurz. »Vielleicht steht Ihre Zeit still.«

Kallisto zögerte kurz, bevor er die kleine Uhr einsteckte. »Ich danke Ihnen, Veritas. Sie haben in all den Jahren meine kleine Leidenschaft nicht vergessen.«

»Nein.«

»Und Ihr Geschenk … Es zeigt, Sie haben gewusst, dass dieses Treffen stattfinden würde.«

»Ich habe gewusst, dass ein Treffen stattfinden würde.«

»Nun, Rahelia …« Kallisto winkte mit einer Hand, eine Geste, die der Raumstation galt. »Dies ist ein diskreter Ort für ein diskretes Gespräch. Veränderungen auf der galaktischen Bühne kündigen sich an. Große Dinge geschehen.«

»Sie meinen das Kosmotop.«

Die Augen wie Amethyst wurden etwas größer. »Sie wissen also doch …«

»Nein«, sagte Rahelia. »Aber ich bin auf dem Laufenden.«

»In unseren Kommunikationskanälen wurde noch nicht davon berichtet.«

»Ich habe meine Kontakte.«

Kallisto drehte die Halbkugel seines Kopfes, und ein deutliches Knacken begleitete diese Bewegung. »Ich will ganz offen sein, Veritas: Wir brauchen Sie. Ich möchte Sie bitten, zur Kompetenz zurückzukehren.«

»Ist das ein offizielles Ersuchen?«, fragte Rahelia. Diesmal wusste sie die Antwort, aber sie stellte die Frage trotzdem.

»Es ist ein persönliches Anliegen, das offiziell werden kann, wenn Sie bereit sind … Ihren Standpunkt zu überdenken.«

Rahelia seufzte erneut. »Dazu bin ich gern bereit, Kallisto. Sind Sie es ebenfalls?«

Der Direktor drehte den Kopf und beobachtete einen großen ovalen Fleck in der Atmosphäre des Gasriesen. »Das ist ein Sturm«, sagte er nachdenklich. »Mit Windgeschwindigkeiten von über sechshundert Stundenkilometern und einem Durchmesser von neuntausend Kilometern. Nach unseren Messdaten zu urteilen ist jener Orkan ebenso alt wie Sie, Rahelia, mehrere Tausend Jahre.«

Was willst du damit sagen?, dachte sie und erwiderte: »Wie Jupiters großer roter Fleck. Ich habe Geschichten darüber gelesen.«

»Jupiter? Oh, ein Gasriese im Sol-System, bei der Alten Erde, wenn ich mich richtig erinnere.«

»Ja, damals gab es auch in Jupiters Atmosphäre einen solchen Sturm, aber er war längst verschwunden, als die Drei Feldzüge die Erde erreichten.«

Eine Zeit lang schwiegen sie und beobachteten den gewaltigen Sturm in der Atmosphäre des Gasriesen. »Wir bekommen es mit einem Sturm zu tun«, grollte Kallisto schließlich. »Oder sagen wir: Es könnte ein Sturm daraus werden. Wir wissen es noch nicht genau.«

»Und Sie wissen nicht, wie Sie damit fertigwerden sollen. Deshalb brauchen Sie mich. Damit ich die Muster für Sie erkenne. Damit ich Ihnen sage, welchen Weg Sie einschlagen sollen.«

»Wir brauchen Sie bei vielen großen und kleinen Angelegenheiten, Rahelia. Das Kosmotop zählt zweifellos zu den großen. Es könnte zur größten Herausforderung der galaktischen Völker seit vielen Jahrmillionen werden.«

»Auch die Incera sind eine Herausforderung für die galaktischen Völker, Kallisto. Und insbesondere für uns Letzte Menschen.« Während Rahelia diese Worte sprach, bildeten sich bunte Linien vor ihrem inneren Auge, berührten sich an manchen Stellen, strebten an einigen voneinander fort. Ein neues Muster entstand, im Innern eines anderen, das sie zum ersten Mal vor vielen Jahren gesehen hatte, kurz vor ihrer Entscheidung, die Kompetenz zu verlassen.

»Wir sind eine Organisation des Friedens«, sagte Kallisto so sanft, wie es für jemanden wie ihn möglich war. »Wir führen keine Kriege.«

»Es geht um den Fortbestand eines ganzen Volkes«, betonte Rahelia und sprach mit mehr Nachdruck. »Es geht um das Überleben der Menschheit. Die Scummer wollen uns auslöschen, und die Kompetenz sieht tatenlos dabei zu.«

»Jetzt übertreiben Sie, Rahelia, und das wissen Sie auch. Wir sehen nicht tatenlos zu. Wir greifen ein, wo ein Eingreifen nötig ist. Und bitte nennen Sie die Incera nicht ›Scummer‹.«

»Sind sie das etwa nicht, Abschaum? Sie morden und plündern, wo sich ihnen Gelegenheit bietet. Und die Kompetenz agiert nicht, sie reagiert nur. Ich habe Ihnen damals gesagt, wo ein Eingreifen nötig ist. Die Incera sind eine Gefahr für alle. Es muss ein vierter Feldzug geführt werden, solange es noch nicht zu spät ist.«

»Unsere Prognostiker stufen die Incera nicht als prioritär ein«, knirschte Kallisto. »Guirgis hält sie für nebensächlich.«

»Guirgis ist kein Mensch, sondern ein Kappyan. Sonst sähe er die Dinge vermutlich anders. Und er mag mit noch so vielen Quantenmembranen verbunden sein … Dadurch wird er nicht zu einem Pattern-Master.« Zwei Linien vor Rahelias innerem Auge bildeten einen Knoten wie schon einmal. Sie stand auf; es wurde Zeit. »Ist das alles, Kallisto?«

»Nein.« Der Direktor gestikulierte, sodass die Spiegel zurückwichen, und stand ebenfalls auf. Rahel Rahelia hatte fast das Gefühl, dass die Aussichtsplattform unter seinem Gewicht schwankte. »Unsere Prognostiker … Sie sehen eine mögliche Korrelation zwischen dem Kosmotop und den Koryphäen. Sie fürchten, dass es zu einem Konflikt kommen könnte.«

Zwei andere Linien verbanden und krümmten sich, und daneben strichen Konzeptsymbole vorbei, Wanderer in den kausalen Räumen. Rahelia war mit ihnen allen vertraut, obwohl ihre Zahl in die Millionen ging; ihr Lehrer Quinto hatte sie vor dreitausend Jahren die Bedeutung dieser Zeichen gelehrt. Aber vielleicht noch wichtiger waren die nonkausalen Räume, in die sie den inneren Blick richten konnte, und die Verknüpfungen und Muster in ihnen, nicht geschaffen vom Wechselspiel aus Ursache und Wirkung, sondern von Ereignissen, die untereinander nicht in Verbindung standen, manche von ihnen so unbedeutend wie … der Flügelschlag eines Schmetterlings.

Es gab einen wichtigen Unterschied zwischen dem alten Quinto, der mit seinem Raumschiff in eine Sonne gestürzt war – ein Muster, das er nicht gesehen hatte –, und ihr, und er betraf nicht Ausmaß und Qualität des Talents. Quinto war ein passiver Pattern-Master gewesen, ein Beobachter, jemand, der die Muster las und deutete, mehr nicht. Rahelia hingegen hatte begonnen, die Muster zu beeinflussen, und ihre erste wichtige Entscheidung in diesem Zusammenhang hatte darin bestanden, die Kompetenz zu verlassen. Dadurch bekam sie mehr Handlungsspielraum.

»Es hat mich gefreut, Sie wiederzusehen, Direktor«, sagte sie, freundlich zwar, aber nicht ohne eine gewisse Förmlichkeit. »Ich respektiere und achte Sie, halte Sie sogar für einen Freund. Aber es bleibt dabei: Ich kehre nur zur Kompetenz zurück, wenn sie sich endlich dazu durchringt, einen längst überfälligen vierten Feldzug gegen die Nachfahren der Incera zu führen, die allen Menschen nach dem Leben trachten.«

»Sie wissen, dass ich Ihnen so etwas nicht versprechen kann.«

»Dann tut es mir leid, Direktor. Und das meine ich ernst: Es tut mir wirklich leid.« Rahelia wandte sich ab und ging zum Ausgang, mit der Absicht, zu ihrem Schiff zurückzukehren.

»Ich wünsche Ihnen gute Wege, Rahel Rahelia 29Kinmaster«, sagte Kallisto hinter ihr.

Sie zögerte kurz und warf einen letzten Blick zurück. »Und ich wünsche Ihnen … Zeit«, erwiderte sie. »Für Ihre Uhren, insbesondere für jene, die ich Ihnen geschenkt habe.« Sie beobachtete, wie Kallisto die kleine Uhr, das mikromechanische Meisterwerk, noch einmal hervorholte und auf das Zifferblatt ohne Zeiger blickte. Mit einem zufriedenen Nicken verließ sie die Plattform. Wie seltsam, dass ein kleines Objekt, hergestellt von den Uhrmachern auf Botros, in den richtigen Händen und im richtigen Moment nicht die Zeit selbst beeinflussen konnte, wohl aber die Ereignisse, die in ihr stattfanden und sogar ihren Fluss bestimmten.

Wenige Minuten später, als die Conzilia von der Raumstation ablegte und beschleunigte, warf die Veritas einen neuen Blick auf die Muster und stellte fest, dass sie ein wenig anders beschaffen waren. Die von ihr direkt beeinflussten nonkausalen Ereignisse hatten einen neuen Wahrscheinlichkeitsrahmen für die nahe Zukunft geschaffen.

»Darf ich fragen, ob die Besprechung erfolgreich war?«, fragte das Schiff.

»Ja.« Rahel Rahelia 29Kinmaster betrachtete die Muster und glaubte zu erkennen, dass ihre Ereignislinien in die richtige Richtung führten. »Ja, ich denke schon. Bitte vergiss, dass wir hier gewesen sind.«

»Die entsprechenden Datenreferenzen sind gelöscht. Wohin soll ich uns bringen?«

»Nach Lundblad.« Sie dachte laut, als sie hinzufügte: »Es müssen weitere Vorbereitungen getroffen werden. Ich werde dort Besuch von einem alten Bekannten erhalten, in siebzehn Jahren.«

17 JAHRE SPÄTER

GEWINNEN UND VERLIEREN