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Zwischen den Sternen tobt ein apokalyptischer Bruderkrieg: Riesige Flotten eines unbekannten Volkes fallen im Gebiet der Menschheit übereinander her. Niemand kennt die Gründe der Fremden. Perry Rhodan muss sie herausfinden - denn nur so kann er dem Sterben ein Ende bereiten... Der Sammelband enthält die Romane: "Die Lebenskrieger" von Frank Borsch "Die Trümmersphäre" von Andreas Brandhorst "Die Quantenfestung" von Marc Hillefeld
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Die Loower sind ein uraltes Volk. Einst streiften sie im Auftrag der allmächtigen Kosmokraten durch das All, verbreiteten Leben und Intelligenz im Universum – bis zum Bruch mit den Hohen Mächten. Die Loower wurden zu einer Millionen von Jahren währenden Flucht gezwungen, bis sie schließlich Frieden auf der abglegenen Welt Alkyra II fanden. Doch nun ist ihre Einheit zerbrochen. Ein Riss geht durch ihr Volk, der sich zu einem erbitterten Krieg Loower gegen Loower ausweitet.
PAN-THAU-RA
Gesamtausgabe
PAN-THAU-RA 1
Die Lebenskrieger von Frank Borsch
PAN-THAU-RA 2
Die Trümmersphäre von Andreas Brandhorst
PAN-THAU-RA 3
Die Quantenfestung von Marc Hillefeld
Impressum
EPUB-Version © 2012 Pabel-Moewig Verlag GmbH, PERRY RHODAN digital, Rastatt.
Chefredaktion: Klaus N. Frick.
ISBN: 978-3-8453-3196-6
Internet: www.perry-rhodan.net und E-Mail:
PAN-THAU-RA Band 1
Die Lebenskrieger
von Frank Borsch
Kapitel 1
»50 Sekunden bis zum Einschlag.«
Das feine Körperhaar An-Keyts war in Aufruhr. Es bebte unter den neuneckigen Scheiben, aus denen ihr Kampfanzug gewebt war, führte einen Tanz auf, als besäße es einen eigenen Willen. Die Loowerin bürstete mit dem freien Greiflappen über den Anzug, um es zu zähmen.
Sie warf einen verstohlenen Blick zu Belor-Thon. Der junge Loower kauerte in der Nische gegenüber. Er trug wie sie einen Kampfanzug, einer seiner Greiflappen klammerte sich um den Strahler, der andere rieb über seine linke Seite. Er war ein Spiegelbild ihrer selbst, ihrer Furcht, die trotz ihrer neo-entelechischen Schulung nicht weichen wollte.
Belor-Thon bemerkte ihren Blick. Sein Greiflappen verharrte in der Bewegung, die Spitze verdrehte sich zu einem zaghaften, verschwörerischen Winken.
An-Keyt erwiderte die Geste. Sie hatte mit Belor-Thon einen Pakt geschlossen, aus einer Laune heraus, in den wenigen – unendlich langen – Augenblicken im Hangar des Transporters, bevor sie ihren Helk bestiegen hatten und aufgebrochen waren.
Sie und Belor-Thon würden sich paaren – sollten sie den Tag überleben.
»Sind wir auf Kurs?«, wandte sich Negan-Parr an den Navigator. Der Angesprochene, Lef-Krar, gab einen Laut der Zustimmung von sich. Ein neues Hologramm entstand neben dem Hauptschirm, zeigte einen großen roten Punkt, eingebettet in viele Millionen weiße Punkte, die an einen Fliegenschwarm erinnerten.
Der rote Punkt, das waren sie, An-Keyt und die übrigen acht Angehörigen ihres Kommandos, eingezwängt in ihren Helk. Die Millionen weißen Punkte – das waren Helks verschiedenster Typen, aus allen verfügbaren Quellen zusammengezogen und dem neuen Zweck provisorisch angepasst, in ihren stählernen Bäuchen Loower wie An-Keyt, von Furcht vor dem gequält, was in weniger als vierzig Zeiteinheiten auf sie wartete, vor Ehrfurcht vor der Kühnheit ihres Unterfangens erstarrt und von der Erleichterung überkommen, endlich zurückzuschlagen, nicht länger ohnmächtig zuzusehen, wie höhere Mächte sich anmaßten, über ihr Schicksal zu bestimmen.
Und alle Helks, die stählernen Mutterleibe, die sich innerhalb eines Herzschlags in Särge verwandeln konnten, hatten Kurs auf ein einziges Ziel genommen.
Noch immer kein gegnerisches Feuer, kein Schirm flammte auf, um die anfliegenden Schiffe in seinen Energien zerschellen zu lassen. Gab es dort niemanden, der in der Lage gewesen wäre, Widerstand zu leisten? An-Keyt bezweifelte es. In den Monaten, die die Loower benötigt hatten, um hierher, zwischen die Dimensionen, zu gelangen, hatten die Gespräche immer wieder um das gekreist, was sie hier erwarten mochte. Kein Gedanke war zu verwegen, zu absurd oder zu phantastisch erschienen – bis auf den, dass sie ein Friedhof erwartete, bar jeden Lebens, biologischem wie elektronischem.
»30 Sekunden bis zum Einschlag.«
Der Navigator schaltete das Neben-Holo wieder ab. Lef-Krar hatte es ohnehin widerwillig aktiviert. Er und der Vordenker kamen nicht miteinander aus. Der Vordenker, der Kommandant des Trupps, hielt den Navigator für nachlässig, un-entelechisch, nicht mit jeder Faser seines Seins der gemeinsamen Aufgabe verpflichtet. Eine Gefahrenquelle, ein winziges Rädchen unter Millionen nur, aber eines, das mit seinen eigenwilligen Abweichungen den großen Zug der Zweidenker zum Entgleisen bringen konnte. Lef-Krar wiederum hielt den Vordenker für einen Pedanten, einen auf penibelste Genauigkeit versessenen Perfektionisten, dem die zwanghafte Aufmerksamkeit für selbst das unwichtigste Detail die Sicht auf das Gesamtbild versperrte. Und war der Punkt der Entelechie nicht das große Ganze, das auf dem Spiel stand?
An-Keyt brachte Verständnis für beide Seiten auf. Natürlich galt es, auf vermeintliche Kleinigkeiten zu achten. Ein Bild bestand aus vielen Milliarden Pixeln, und war nur eines von ihnen verfälscht, war das gesamte Bild verändert. Ihr Helk war wie alle übrigen eine autonome Maschine, mit mehrfach redundanten Systemen versehen, die jede noch so geringe Verfälschung – Kursabweichung oder anderes – registriert hätten. Überdies war er in diesem Augenblick Teil des Verbunds, den die Gesamtheit der anfliegenden Helks bildete.
Lef-Krar war überflüssig. Wie alle an Bord war er ausgezogen, um selbst über sein Schicksal zu bestimmen, und musste nun untätig darauf warten, ob es sich nicht in den nächsten Augenblicken erfüllen würde. Das machte ihn reizbar.
An-Keyt sah wieder zum Hauptholo. So nah waren sie bereits heran, dass ihr Ziel nicht mehr in seiner ganzen Größe zu überblicken war. An-Keyt glaubte, nicht mehr länger einem Schiff entgegenzusehen als vielmehr einer endlosen, zerklüfteten Landschaft. Tälern und Gebirgen aus Stahl, einstmals glänzend, doch im Lauf der Äonen vom kosmischen Staub erst poliert und anschließend zu einem matten Schwarz zerrieben, dessen einzige Abstufungen Schattierungen von Dunkelheit waren.
Ein schwarzes Loch, dachte sie in einem Anflug von ganz und gar un-entelechischer Panik. Ein schwarzes Loch, das uns verschlingen und nie wieder loslassen wird.
Sie wandte den Blick vom Holo ab, und einen Moment lang kreuzte er sich mit dem Belor-Thons. Der junge Loower, ein besseres Kind, nicht einmal halb so alt wie An-Keyt, hatte seine Augen ganz ausgefahren, wog sie mitfühlend auf und ab.
Er tröstete sie!
An-Keyt bereute ihren Entschluss, Belor-Thon eine Paarung angeboten zu haben. Sie hatte dem Jungen die Angst nehmen, es ihm leichter machen wollen, den Helk zu besteigen. Hätte sie geahnt, wie er ihre Geste auslegen würde, sie hätte ihn in seiner Furcht schmachten lassen.
Zu spät.
Sie hatte das Versprechen gegeben, es gab kein Zurück mehr. Nur der Tod – der ihre oder der seine oder der des gesamten Trupps – konnte sie davon befreien.
»20 Sekunden bis zum Einschlag.«
Der Helk gab seine Meldung in einem Gleichmut, den An-Keyt beneidete. Sie hatte sich in den Monaten, die der Transporter benötigte, in Angriffsreichweite zu kommen, diesen Moment oft ausgemalt. Es war immer ein Augenblick der Erlösung gewesen. Ein Augenblick, in dem das Übergleiten in das Tiefenbewusstsein sanft geschah, ohne Anstrengung. Nicht wie sonst im Ringen mit ihr selbst, mit ihren Selbstzweifeln, mit ihren störrischen Gehirnwindungen, die niemals so wollten, wie sie es sich wünschte, nein, ein Übertritt in eine andere, überlegene Ebene des Denkens. Ein Ort, an dem die nagenden Zweifel von ihr abfielen, als hätten sie nie existiert, sie eins wurde mit dem großen Ziel ihres Volkes. Eine wahre Zweidenkerin, endlich.
»15 Sekunden.«
An-Keyt hatte gehofft, ihren Vorfahren ganz nah zu kommen. Den Loowern, denen das entelechische Denken ein Teil ihrer Natur gewesen war, nicht anders als ihre lederne Haut oder der Kopfhöcker. Und nun? Plötzlich fühlte sie sich wie ein Krüppel, dem man die Fähigkeit zur Entelechie geraubt hatte, den Lebenssinn. Verzweiflung überkam sie. Sie wusste jetzt, dass sie versagen würde. Versagen musste. Sie spürte es.
»Neun Sekunden.«
An-Keyt gab die Versuche auf, in ihr Tiefenbewusstsein zu fliehen. Ihre Linke hob den schweren Strahler, überprüfte seine Funktionstüchtigkeit, seine Einstellungen. Anschließend rief sie den Status ihres Kampfanzugs ab. Sie ging langsam, fast umständlich durch die Checkliste – und mit jedem Punkt, den sie abhakte, drängte sie die Furcht einen Schritt zurück, eroberte sie sich einen Gleichmut, der zwar weit von der gelassenen Ekstase wahrer Entelechie entfernt war, aber wenigstens den lästig juckenden Aufruhr ihrer Haare besänftigte.
»Fünf Sekunden. Bereitmachen für den Einschlag!«
Das Ziel schien ihr nun eine endlose, plane Landschaft, immer wieder erhellt von den Entladungsblitzen, die dieses Kontinuum zwischen den Dimensionen bestimmten. Der Helk verzichtete darauf, das Relief der Stahlfläche in einer Falschfarbendarstellung für Looweraugen sichtbar zu machen. Ein neuneckiger Ausschnitt erschien auf dem Holo, mit einem blauen Band markiert. Anfangs war er winzig, kaum größer als der vorderste Zipfel eines Greiflappens, aber als An-Keyt blinzelte, nahm er beinahe die gesamte Fläche des Holos ein.
»Drei Sekunden.«
An-Keyt aktivierte den Prallschirm ihres Anzugs. Sie bezweifelte, dass er ihr etwas nützen würde, sollten die Schirme und Andruckabsorber des Helks versagen, aber Befehl war Befehl. Außerdem tat es ihr gut, endlich in irgendeiner Weise zu handeln, und sei es nur, einen Defensivschirm zu aktivieren.
»Zwei Sekunden.«
Der Sektor schien wie festgefroren auf dem Holo. Der Helk musste die Übertragung gestoppt haben, um ihnen den Anblick des Aufpralls zu ersparen.
An-Keyt betrachtete die dunkle Landschaft des Rumpfs vor ihr, als wäre die Zeit eingefroren. Ihre Stielaugen folgten im grellen Licht der Entladungen, das sich in die Netzhäute brannte, den Umrissen der technischen Anlagen, versuchte gegen besseres Wissen, eine Bedeutung in das Bild zu lesen, die in ihm nicht angelegt war. Ihr Sektor. Der ihrem Trupp zufällig zugeteilte Abschnitt des Ziels. Der Ort, den es für sie zu erobern, zu sichern galt. Möglicherweise der Ort ihres Todes. Im Feuer des Gegners – oder im Augenblick des Aufpralls.
Sie musste keine höhere Macht dafür bemühen, die Schicksalhaftigkeit des Augenblicks zu erkennen. Bloßes Pech genügte. Oder Statistik, wie es der Vordenker Negan-Parr ausgedrückt hätte. Auf 98 Prozent hatten die Planer die Chancen der durchkommenden Helks berechnet. In 98 von 100 Fällen würden sich am Aufschlagpunkt keine heiklen technischen Anlagen befinden. Keine der Hauptachsen des Rumpfgerüsts, die den mehrfachen Durchmesser eines Helks besaßen und deren Absorption seinen Schirm innerhalb kürzester Zeit überlastet hätten. Keine Kraftwerke oder Energiespeicher, die beim Aufprall explodierten. Keine Waffensysteme, die ihre Energien spontan freigaben.
»Eine Sekunde.«
98 von 100, das hieß, zwei von 100 Helks würden vernichtet. Das hieß, im nächsten Augenblick würden mehrere hunderttausend Loower sterben. Sterben, noch bevor der erste Schuss abgegeben worden war. Jeder einzelne von ihnen unersetzlich, ein einzigartiges Leben. Wie sie selbst. An-Keyt fragte sich, ob sie jetzt sterben musste – und ob sie es überhaupt bemerken würde.
»Einschlag!«
An-Keyt spürte einen Ruck. Viel schwächer als erwartet, als säße sie in einem einfachen Gleiter, der ohne Andruckabsorber auf dem Boden aufsetzte. War der Einschlag misslungen? Dann, wie als Antwort, bäumte der Helk sich auf. Sie hörte Metall reißen, durchdringend; beinahe glaubte sie, der Knorpelstrang, der ihr als Rückgrat diente, würde zerfetzt. An-Keyt wurde durchgeschüttelt, wäre durch den Innenraum des Helks geschleudert worden, hätten die Gravogurte ihres Kampfanzugs sie nicht festgehalten. Flammen tanzten vor ihren Augen, züngelten im Holo des Helks.
»Plan-Sektor erreicht«, meldete der Helk. Seine gleichmütige Stimme durchdrang mühelos das Reißen des Metalls.
Es dauerte einige Augenblicke, bis die Antwort des Vordenkers kam. »Gegner?« Negan-Parr keuchte.
»Insgesamt 173 biologische Lebewesen im Nahbereich.«
»Alle internen Systeme intakt?«
»Ja.«
»Mannschaft intakt?«
An-Keyt hörte die Rückmeldungen der anderen. Sie kamen in der vorher abgesprochenen Reihenfolge. Schließlich war sie an der Reihe. Sie zwang ein »Ja!« hervor, von dem sie hoffte, dass in ihm zumindest ein Funke des Gleichmuts schwang, über den ihr Helk verfügte.
Die letzte Rückmeldung lief ein. Keiner der Loower war verletzt, auch wenn Belor-Thons »Ja« besorgniserregend brüchig geklungen hatte.
»Gut«, sagte der Vordenker dennoch, dem eigentlich keine Kleinigkeit entging. »Angriff!«
Die Welt um An-Keyt herum zerfiel. Der Helk, der sie an ihr Ziel transportiert hatte, löste sich in seine autonomen Module auf, brachte sich in Gefechtsposition. An-Keyts Kampfschirm flammte automatisch auf. Sein Grüngelb vermischte sich mit den Flammen, die rings um den Einschlagpunkt des Helks tobten, zu einem Regenbogen. Einen Moment lang flutete die unvermutete Schönheit des Lichterspiels über die Loowerin hinweg, dann schaltete sich der Gefechtsverbund zu und projizierte eine erweiterte Darstellung des Schlachtfelds auf die Innenseite ihres Rundhelms.
An-Keyt sah den Brandherd des Einschlags, den glühenden Kanal der Zerstörung, die der Helk in den Rumpf getrieben hatte. Er war mehrere Decks tief. Sie sah die Decks, die an ihren Standort angrenzten, dreidimensional, aber in einer detailarmen Schemadarstellung. Und sie sah Punkte, 90 kleine und einen großen. Der Große war sie selbst, die 89 Kleinen waren die Module des Helks – neun mal neun Maschinen –, die übrigen ihre Gefährten. Die Helk-Module schwärmten aus, sicherten den Einschlagpunkt, die unersetzlichen Leben der Loower. Gleichzeitig erkundeten sie die nächste Umgebung. Mit jeder Sekunde gewann die Schemadarstellung auf An-Keyts Innenschirm an Schärfe und Detail, erweiterte sich ihr Radius.
Dann war der Schwellenwert erreicht. Die Loower konnten in Aktion treten. Der Punkt im System, der für An-Keyt stand, glühte auf, führte sie blinkend zu ihrem Platz auf dem Schlachtfeld. An-Keyt umklammerte den Strahler fester und rannte los. Automatisch, wie eine programmierte Maschine. Für ihre Kameraden hatte sie kaum einen Blick. Sie stürmten an die ihnen zugewiesenen Positionen, daran bestand kein Zweifel. Sie hatten diesen ersten, kritischen Augenblick des Angriffs viele hundert Male geübt.
An-Keyt passierte die Flammenwand. Eine Halle – ein Hangar? – tat sich vor ihr auf. Sie war leer. Die Loowerin rannte weiter, im Bestreben, mit ihrem Gefechtssystem Schritt zu halten. Ein Warnsignal ertönte. Sie hechtete zur Seite – und sah in der Vergrößerung des Rundumdisplays ihres Helms den ersten Gegner. Sie riss die Waffe hoch, legte an, zögerte ... da drang aus den Akustikfeldern des Helms das Zischen von Strahlern. Ihre Gefährten hatten das Feuer eröffnet.
An-Keyt fokussierte das Visier des Strahlers erneut, und während ihr rechter Greiflappen sich auf das Sensorfeld des Auslösers legte, hatte ein Teil von ihr noch Gelegenheit, die Gliedmaßen ihres Gegenübers zu zählen. Es waren acht oder neun. Genauer konnte sie es nicht sehen, bevor der Hitzestrahl ihrer Waffe das Wesen in glühende Fetzen zerplatzen ließ.
Sie legte auf den zweiten Feind an, als ein neues Geräusch aus den Akustikfeldern ihres Helms drang: der Kampfschrei ihrer Gefährten.
Als ihr zweiter Feind zerplatzte, stimmte sie ein. »Für das Leben!«, brüllte sie mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, schnellte hoch und stürmte durch die Halle.
Kapitel 2
LFT-Einheit LUCKY JIM
17. April 1341 NGZ, 12:36 Bordzeit
Vernehmung: Yun, Eingeborener der Kolonialwelt Snowflake
Vernehmungsgegenstand: Snowflake/Shon Leehan/Perry Rhodan
Vernehmender Spezialist: Wilton Dolson
DOLSON: Yun, weißt du, weshalb du hier bist?
YUN: Ich ... ich glaub' schon.
DOLSON: Könntest du es mir vielleicht sagen?
YUN: Die Frau, die mich hierher gebracht hat, meinte, um zu helfen.
DOLSON: Hat sie das? Nun, das ist sicher nicht unrichtig. Aber mich interessiert, was du selbst denkst. Kannst du es mir sagen, in eigenen Worten?
YUN: Hm ... ihr wollt von mir wissen, wie alles passiert ist?
DOLSON: Du bist ein kluger Junge.
YUN: Ich bin kein Junge!
DOLSON: Entschuldige, du bist ein kluger, junger Mann. Besser?
YUN: Ja.
DOLSON: Schön. Vor uns brauchst du keine Angst haben. Wir meinen es gut mit dir. [Beugt sich vor.] Ist Yun dein ganzer Name?
YUN: Was meinst du damit?
DOLSON: Vielleicht hast du ja einen zweiten Namen. Ich heiße zum Beispiel Wilton Dolson. Wilton ist mein Vorname. Dolson mein Nachname.
YUN: Was ist ein Nachname?
DOLSON: Du weißt nicht, was ein Nachname ist?
YUN: He, glotz' mich nicht an, als wär' ich zu doof zum Schneeschippen! Du hast zwei Namen, schön für dich. Kauf dir was davon! Bist du deshalb was Besseres?
DOLSON: Nein, natürlich nicht. Das wollte ich damit nicht sagen. Es war nur ein Beispiel, um dir zu verdeutlichen, was ich ausdrücken wollte. Mein zweiter Name bezeichnet die Familie, der ich angehöre.
YUN: Familie? Davon hab' ich schon mal gehört.
DOLSON: Siehst du. Hast, entschuldige, hattest du eine Familie auf Snowflake?
YUN: Sei nicht so ... so verhuscht. Ihr seid alle so verdammt verhuscht! Schleicht auf Zehenspitzen um mich herum, quatscht so leise, dass ich euch kaum verstehen kann. »Yun, bist du hungrig? Bist du dir sicher, dass du nicht hungrig bist? Ganz sicher?« Oder »Möchtest du noch einen Trivideo sehen?« Oder, und das ist das Beste – »Yun, ist dir warm genug? Hier hast du noch eine Decke!« Damit ihr's wisst: Mir ist nicht kalt, ich frier' nicht. Ich frier' nie. Fast nie. Ich hab' ne Gänsehaut, weil mir zu heiß ist. Euer ganzer Monsterkahn ist ein übler Schwitzkasten.
Also hört endlich auf mit dem Scheiß! Ich bin nicht aus Eis. Ich schmelz' nicht weg, auch wenn's heiß wird, brech' nicht in Stücke, wenn's hart kommt. Kapiert? Ich bin cold. Ich bin frostig.
DOLSON: Entschuldige bitte, wir wollen dich nicht beleidigen. Aber wir machen uns eben Sorgen um dich, Jung... Yun. Ich denke, das ist doch nur natürlich, nach allem, was du durchgemacht hast.
YUN: He – sperr mal deine terranischen Riesenglubscher auf! Ich lebe. L-E-B-E. Das Eis ist dick genug gewesen für mich. Um mich braucht ihr euch nicht zu kümmern. Lasst mich einfach in Ruhe. Ich komm' schon klar. Irgendwie. Bin immer klargekommen.
DOLSON: [Überlegt.] Glaub mir, Yun, ich würde nichts lieber tun, als dich in Ruhe zu lassen, dir eine Atempause geben, nach allem, was du mitgemacht hast. Aber das ist unmöglich. Das hier ist zu wichtig. Du bist zu wichtig für uns.
YUN: Klar. Ich und wichtig!
DOLSON: Würde ich sonst hier sitzen und mir Zeit ganz für dich allein nehmen?
YUN: Hm, weiß nicht ... vielleicht ist ja was dran ...
DOLSON: Du kannst es mir ruhig glauben. Gut, wo waren wir stehengeblieben? Ach ja, bei deiner Familie – willst du mir von ihr erzählen?
YUN: Da gibt's nichts zu erzählen. Ich hatte keine ... denk' ich wenigstens.
DOLSON: Denkst du? Du musst doch wissen, ob du eine Familie hattest.
YUN: Du meinst, Leute, mit denen ich verwandt bin, genetisch? Einen Erzeuger und eine Erzeugerin, die ihr Erbgut zusammengeworfen haben, zufällig?
DOLSON: So in etwa. Eltern nennen wir das. Leute, die dich geliebt haben, einfach so, wie du bist, die sich um dich gekümmert haben.
YUN: [Prustet.] Nein, das ganz bestimmt nicht. Um mich hat sich niemand gekümmert, nicht mal für 'nen Becher Schmelzwasser. Und was dieses Erzeugerding angeht – ich bin Vierter, 'n echter Schneemensch.
DOLSON: »Vierter«. Was bedeutet das?
YUN: Du weißt das nicht?
DOLSON: Nein. Ich ...
YUN: Du schmeißt hier den allwissenden, abgeklärten Superterraner und weißt nicht mal, was ein Vierter ist?
DOLSON: [Holt tief Luft.] Ich habe nie behauptet, allwissend zu sein. Im Gegenteil. Würde ich dir sonst so dumme Fragen stellen?
YUN: Hm, da ist was dran ...
DOLSON: Also, willst du mir jetzt erklären, was du damit meinst, wenn du dich einen »Vierten« nennst?
YUN: Ist ganz simpel. Vierte Generation.
DOLSON: Vierte Generation von was?
YUN: Seit der Ankunft.
DOLSON: Der Ankunft?
YUN: Der Ankunft auf Flake natürlich! Die ersten Siedler!
DOLSON: Verstehe. Du gehörst der vierten Generation von Menschen auf deiner Welt an. Und was macht es für einen Unterschied, welcher Generation man angehört? Zweite, dritte oder vierte – die Angehörigen der früheren Generationen sind eben älter. Haben wahrscheinlich andere Ansichten als die Leute deiner Generation. Sie ...
YUN: Darauf kannst du deinen tollen Doppelnamen in den Schnee pissen! Die Zweiten und Dritten sind noch überhitzter als das, was ich von euch Terranern gesehen habe!
DOLSON: Und die Vierten sind was ... kalt?
YUN: Fängst an zu kapieren. So ähnlich. Wir sind cold. Frostig eben.
DOLSON: Was macht euch so cold?
YUN: Das da. [Hebt einen Arm. Nimmt das nackte Fleisch zwischen Zeigefinger und Daumen und drückt.] Das Fett. Wir Vierten haben es überall am Körper, 'ne zweite Haut unter der Haut. Das Fett isoliert uns. Hält uns schön kuschlig, nicht zu kalt, nicht zu warm. Damit überstehst du 'ne ganze Polnacht, wenn die Sonne wochenlang nicht mehr hochkommt. Hab's selbst ausprobiert. Mit meinen Kumpeln.
DOLSON: Man sieht das Fett kaum. Eigentlich sogar gar nicht. Die Schicht kann nicht sehr dick sein.
YUN: Eben. Die Dritten sind üble Klötze. Können keinen geraden Schritt machen. Wenn du ihre Fußspuren siehst, schmeißt du dich weg vor Lachen. Watschel, watschel, watschel! Hast du schon mal 'nen Dritten gesehen, der versucht, in die Hände zu klatschen? Erst kriegt er's kaum hin, der ganze Speck ist im Weg, dann klingt es, wie wenn man zwei frisch gefangene Fettrobben gegeneinander haut.
DOLSON: Verstehe. Und die Zweiten?
YUN: Trauen sich kaum raus. Sind schlimmer als die paar Ersten, die noch übrig sind. Die packen sich richtig dick ein und trauen sich raus – von weitem sehen sie dann aus wie Dritte –, aber die Zweiten ... hocken immer nur drinnen. Die Anpassung ging schief. An manchen Stellen haben sie dicker Fett als die Dritten, an anderen gar keins. Zweite sind nie zufrieden. Sind immer sauer auf alles und jeden, am meisten auf sich selber. Ist ihnen immer zu heiß oder zu kalt, sitzen nie bequem, und laufen ist ihnen zu anstrengend. Ich geb dir 'nen guten Rat: Geh' den Zweiern aus dem Weg!
DOLSON: Das klingt eher danach, als hätten sie Mitleid verdient.
YUN: [Denkt nach.] Schon, ja. Irgendwie schon. Aber irgendwann ist gut mit Mitleid. Ich mein', sie sind, wie sie sind. Sollen sie dafür die Schuld geben, wem sie wollen. Ich bin's nicht gewesen. Nicht wir Vierten.
DOLSON: Wer hat sie dann?
YUN: Keiner. Die Einer haben es gut mit ihnen gemeint, wollten ihren Kindern bessere Gene mitgeben. Flakie-Gene. Haben alles getan, was sie konnten. Ging schief. Pech.
DOLSON: Und du hast Glück gehabt?
YUN: Eine Riesenschneeschaufel davon. Die Oxtorner, sie ...
DOLSON: Augenblick. Sagtest du »Oxtorner«?
YUN: Klar. Was guckst du plötzlich so? Ist was mit den Oxtornern?
DOLSON: Nein, gar nichts. Sprich weiter – was haben die Oxtorner gemacht?
YUN: Na, mich. Uns, die Vierten. Eines Tages sind sie auf Flake aufgekreuzt. War, bevor ich auf der Welt war. Sind nackt über das Eis spaziert, von oben bis unten angemalt, und haben ausprobiert, wie lang sie's aushalten. Müssen wohl Mitleid gekriegt haben mit den Einsern, Zweiern und Dreiern. Haben ihnen angeboten zu helfen. Und dabei bin sind wir Vierten rausgekommen. Müssen richtig cold sein, Oxtorner.
DOLSON: Hast du noch keinen gesehen?
YUN: Nein. Sie sind wieder gegangen, nachdem sie uns gemacht haben. Gehen viele Geschichten rum, dass sie bald wiederkommen und Fünfte machen. Hab' ich nie geglaubt. Wir Vierten sind perfekt, echte Schneemenschen. Fünfte? Braucht keiner. Aber ... das ist jetzt egal, schätze ich. Wird keine Fünfte mehr geben. Jetzt ganz bestimmt nicht mehr.
Trotzdem, wäre frostig cold, mal einen zu sehen. Einen Oxtorner, mein' ich. Müssen echt Supertypen sein, wenn man den Geschichten trauen kann, die die Leute rumerzählen. He, da fällt mir ein – euer Monsterschiff ist doch riesig und voll mit Leuten. Ihr habt doch bestimmt Oxtorner an Bord, oder?
DOLSON: Ja ... den ein oder anderen.
YUN: Cold. Kann ich einen sehen? Bitte!
DOLSON: Später. Vielleicht.
YUN: Wenn wir hier fertig sind?
DOLSON: Nein. Noch später.
YUN: Wieso später?
DOLSON: Das ist nicht so einfach zu erklären ...
YUN: Und ich bin zu blöd, es zu kapieren, was? Ich bin gar nicht blöd, Mann! Du willst nur nicht, dass ich einen sehe! Gib's zu! Ihr wollt die Oxtorner für euch behalten, was?
DOLSON: Das ist es nicht, Yun. Du verstehst mich falsch.
YUN: Was denn sonst? Du bist nicht ehrlich zu mir. Das ist nicht fair! Du willst, dass ich ehrlich zu dir bin, dir alles erzähle – also musst du auch ehrlich zu mir sein!
DOLSON: [Zögert.] Du hast Recht, entschuldige. Die Wahrheit ist: Wir haben Oxtorner an Bord. Zwei von ihnen. Aber niemand darf zu ihnen. Sie liegen auf der Medostation. Die Ärzte wissen nicht, ob sie durchkommen.
YUN: Das ... das tut mir Leid für sie. Dachte nicht, dass Oxtorner krank werden können.
DOLSON: Sie sind nicht krank. Sie sind verletzt. Sehr böse verletzt.
YUN: Was? Aber das geht doch nicht! Oxtorner haben Haut aus Stahl, das sagen alle Geschichten. Sie fallen von 'nem Eisberg, krachen ins Eis und stehen hinterher auf und grinsen. Du ballerst mit 'nem Strahler auf sie, und sie lachen dich aus!
DOLSON: Das kommt auf die Größe des Strahlers an. Die beiden Oxtorner in der Medostation haben Glück gehabt. Von vielen ihrer Kameraden ist nicht mehr genug übrig, um sie zusammenzuflicken. Von den meisten sogar.
YUN: [Schluckt.] Wie ist das passiert?
DOLSON: Das wissen wir nicht, noch nicht. Wir haben die beiden Oxtorner zusammen mit einem Terraner im All treibend gefunden, in einer Space-Jet, die nur noch eine tote Hülle war. Nicht so viel anders als euch, übrigens.
YUN: Und? Ich sitz' vor dir, ich hab' auf keine Medostation gemusst. Shon auch nicht. Wieso dann die Oxtorner?
DOLSON: Ihnen ist der Sauerstoff ausgegangen. Sie liegen im Koma, alle drei, die beiden Oxtorner und der Terraner. Das Seltsame ist, dass es dem Terraner am besten von den Dreien geht. Einen Arm gebrochen, allgemein erschöpft und durchgeschüttelt – aber in ein paar Tagen ist er wieder der Alte.
YUN: Und die Oxtorner?
DOLSON: Sieht nicht gut aus. Beide haben alle Glieder mehrfach gebrochen, dazu kommen innere Verletzungen. Und natürlich der Sauerstoffmangel. Oxtorner haben einen höheren Bedarf als Terraner. Es ist gut möglich, dass sie überleben, aber nichts davon haben, weil ihre Gehirne irreparabel geschädigt sind.
YUN: Irre... was? Du meinst, dass sie irre geworden sind? Und der Terraner hat nur 'n paar Kratzer. Aber das geht doch nicht! Oxtorner sind viel ...
DOLSON: Ich verspreche dir, dass ich dir alles erzähle. Sobald wir etwas erfahren oder sich etwas Neues ergibt. Ehrenwort. Aber zuerst musst du mir erzählen, was du erlebt und gesehen hast. Jede Einzelheit ist wichtig, auch wenn sie dir noch so unwichtig erscheint. Verstehst du? Viele Oxtorner sind gestorben. Viele ...
YUN: Viele Tring!
DOLSON: Ja, auch viele Tring. Viele Leben sind verloren gegangen. Und wir können sie nicht mehr zurückholen. Wir können nur die Überlebenden zusammenflicken, so gut es geht. Und dafür sorgen, dass nicht noch mehr Leben verloren gehen. Du kannst dafür sorgen, dass es so ist. Du hast viel erlebt in den letzten Wochen, viel gesehen. Darunter vielleicht einiges, was uns hilft, Leben zu retten. Deshalb musst du uns berichten. Erzähle uns alles. Lass nichts aus. Sage uns jede Einzelheit.
YUN: Ja ... ja natürlich. Ich tu', was ich kann. Versprochen. Aber ich bin nur 'n Junge ...
DOLSON: Das bist du nicht.
YUN: Was fragt ihr ausgerechnet mich? Ich flieg' Gleiter, ich bin nie von Flake weggekommen. Was kann ich schon helfen?
DOLSON: Mehr, als du glaubst, Yun.
YUN: Ich ... ich weiß nicht. Irgendwie ... He, da kommt mir eine Idee! Wieso fragt ihr nicht Shon? Shon weiß viel mehr als ich! Er war schon überall, hat alles gesehen. Einfach alles. Er kann euch bestimmt viel mehr helfen als ich. Fragt ihn!
DOLSON: Das haben wir bereits getan. Er hat uns Dinge erzählt, die unglaublich sind. Sie können einfach nicht stimmen. Jede Vernunft spricht dagegen. Aber wir können nicht mit letzter Sicherheit ausschließen, dass er die Wahrheit sagt. Deshalb brauchen wir so viele Informationen wie möglich, um seine Aussagen zu überprüfen. Du kannst uns diese Informationen geben, Yun. Nur du. Wir sind auf dich angewiesen. Denk an die vielen Leben. Du kannst sie retten.
YUN: Du ... du machst mir Angst.
DOLSON: Du brauchst keine zu haben. [Beugt sich vor.] Yun, Shon Leehan ist dein Freund, nicht?
YUN: Ich ... er hat mich nie so genannt ... ich kenn' ihn noch nicht lang ...
DOLSON: Aber du wärst gern sein Freund?
YUN: Ja!
DOLSON: Dann ist jetzt der Moment gekommen, um dich als Freund zu beweisen. Shon Leehan braucht einen Freund. Dringend. Er ist in großen Schwierigkeiten.
YUN: Hat er was angestellt? Bestimmt nicht. Nichts Schlimmes, zumindest. Und wenn, hat er's bestimmt nicht böse gemeint, er will immer nur das Beste!
DOLSON: Shon Leehan steht unter Anklage. Er wird beschuldigt, die Vernichtung des Schlachtschiffs IMDABAN und ihrer Begleitflottille verschuldet zu haben. Möglicherweise sogar die Vernichtung der oxtornischen Heimatflotte. Und den Tod des Ersten Terraners.
YUN: Der Erste Terraner? Du meinst Perry Rhodan?
DOLSON: Ja.
Kapitel 3
Lifkom Tremter war ein Schwächling.
Ein jämmerlicher Wicht.
Ein Nichts.
Für die hundert Meter benötigte er mehr als zehn Sekunden, mit beiden Armen stemmte er gerade einmal 80 Kilo, und das nur für Sekunden und bei lächerlicher Erdschwerkraft. Stürmte es – und wann tat es das nicht? – musste er den Schwerkraftanker seines Schutzanzugs aktivieren, der ihn an den Boden fesselte. Andernfalls hätte der Wind ihn weggeweht wie ein Blatt, und man hätte nie wieder von ihm gehört. Gab es einen Kälteeinbruch, rettete ihn nur sein Anzug davor, nach wenigen Schritten zu einem Eisblock zu gefrieren. Kam danach die Hitze – und sie pflegte unmittelbar nach Kälteeinbrüchen die höchsten Grade zu erreichen – bewahrte ihn derselbe Anzug davor, wie ein Wassertropfen zu verdampfen. Käme er auf die Idee, den Helm seines Anzugs zu öffnen, um frische Luft zu atmen, wäre es sein letztes Vergnügen dieser Art gewesen: Der achtfache irdische Luftdruck hätte ihn umgebracht.
Jeder Schritt, den Lifkom auf Oxtorne unternahm, musste wohlüberlegt sein. Sein Anzug schützte ihn vor den Elementen, die auf diesem Höllenplaneten nur einen Gefühlszustand zu kennen schienen: den der unbändigen Wut. Die Oxtorner selbst sahen es natürlich anders. Sie werteten die Extreme, mit der ihre Welt aufwartete, als Ausdruck schrankenloser Ausgelassenheit. Und je ausgelassener der Planet Oxtorne sich austobte, desto ausgelassener wurden seine Bewohner.
Die Oxtorner spielten. Sie stürzten sich wie die Lemminge der altterranischen Legende über Klippen ins Meer, wetteiferten darum, wer am längsten den turmhohen Wellen standhielt. Der Rekord, bei Sturmstärke 16, lag irgendwo bei über einer Woche. Lifkom selbst hätte keine Minute durchgehalten, bevor er ertrunken oder an den Felsen zu Brei zerschmettert worden wäre.
Aber das war auch kein Wunder. Er war ja ein Schwächling. Seine Haut glich nicht einem Stahlpanzer, seine Knochen übertrafen nicht Metallplastik an Festigkeit. Und wenn er einmal eine Woche nichts trank, war er tot. Für einen Oxtorner begann dann erst der Spaß. Bei acht Wochen lag mittlerweile der Rekord. Ohne bleibende Schäden für den Rekordhalter, aber belohnt mit psychedelischen Effekten, an die keine bekannte Droge auch nur annähernd herankam, und der Hochachtung der Mitmenschen. Natürlich gab es auch noch andere Wege, Achtung zu erreichen. Man konnte beispielsweise aus dem Fenster springen – der Rekord für einen unversehrten Aufprall lag inzwischen bei 14 Stockwerken –, mit Okrills ringen – Rekord: ein halbes Dutzend ausgewachsene Tiere, bezwungen von einem einzigen Oxtorner – oder, war man weniger ehrgeizig, einfach nur seine feste Behausung aufgeben und den Elementen Oxtornes ungeschützt trotzen.
Nichts davon kam für Lifkom in Frage, war er nicht auf Selbstmord aus. Oxtorne war eine Welt der Umweltangepassten. Kein Ort für einen gewöhnlichen Terraner. Ohne Mikrogravitator hätte die Schwerkraft, die mehr als das Vierfache der irdischen betrug, ihn an den Boden genagelt, ihm langsam aber unerbittlich das Leben aus dem Leib gequetscht.
Doch Lifkom harrte aus. Trotzte der Höllenwelt und ihren Bewohnern. Er war der Botschafter Terras auf Oxtorne, direkter Beauftragter der Terranischen Residenz, Repräsentant der Liga Freier Terraner. Eines Sternenreichs der Schwächlinge, zugegeben, aber auf jeden Riesen kamen tausende von Schwächlingen, und in diesem Zahlenverhältnis drückte sich ein Machtgefälle aus, das die Riesen er- und anerkannten. Oxtorne war Zentrum der Praesepe-Koalition, einem Gebilde, zu dem Precheur, Suavity, Folgogon sowie dreißig weitere Welten gehörten, zu wenige und zu dünn besiedelt, um sich den Titel »Sternenreich« zu verdienen. Deshalb hatte sie sich folgerichtig der Liga angeschlossen. Und Oxtorne und die Praesepe-Koalition würden solange keine Anstalten machen, der Liga abtrünnig zu werden, solange man ihre Bewohner nicht über Gebühr belästigte. Ein Sachverhalt, den wiederum die Schwächlinge spürten, weshalb die Liga ihre Präsenz auf Oxtorne, der Zentralwelt der Koalition, auf das absolute Minimum beschränkte: den Botschafter Lifkom Tremter.
»Lifkom?« Das Visiphon des Botschafters sprach an.
»Ja. Wer ist da?« Es war eine unnötige Frage. Er hatte die Stimme erkannt, noch bevor das Bild sich aufgebaut hatte. Doch Lifkom war dazu übergegangen, ab und an seine Unzulänglichkeiten als Terraner überzubetonen, um bei Bedarf sein oxtornisches Gegenüber zu verblüffen.
»Talina natürlich, du blinder und tauber Terraner!« Das Gesicht einer jungen Frau erschien. Ihr Schädel und Gesicht waren haarlos bis auf die Augenbrauen, die, wenn sie sprach, auf- und abhüpften, als führten sie ein eigenes Leben. Zwei wache, große Augen funkelten den Botschafter an. Angriffslustig. Neckisch. »Wenn alle Terraner so sind wie du, wundert es mich, dass euer Volk nicht längst ausgestorben ist!«
»Wir tun unser Bestes, aber es scheint so, dass wir nicht einmal dazu fähig sind.«
Die Oxtornerin und der Terraner lachten. Talinas Bemerkung und Lifkoms Retourkutsche waren längst zum Ritual erstarrt. Dennoch konnte Talina ihren Scherz nicht lassen. Er lag für sie zu sehr auf der Hand, als dass es anders hätte sein können. Der Scherz war Ausdruck ehrlicher, nicht enden wollender Verblüffung: Es wollte den Oxtornern einfach nicht in den Kopf, dass so schwächliche Wesen wie die Terraner in der Lage waren, sich zu behaupten.
»Ich bin hier, um dich aus deinem Bau zu locken, Kleiner!«
»Eine charmante Idee, Große. Aber ich fürchte, ich habe noch zu tun. Die Residenz erwartet meinen Monatsbericht ...«
»Vergiss die Residenz, Kleiner! Die Residenz ist weit, ich aber sitze dir im Nacken ...«
Lifkom rief die Ortsdaten der Anruferin auf. Talina stand vor dem Vierfachschirm seiner Dienstvilla und hüpfte ungeduldig wie ein Kind auf und ab.
»Ich kann nicht einfach alles liegen und stehen lassen«, seufzte der Konsul. Die Wahrheit war, dass er sich seit Tagen mit dem Bericht quälte und nichts mehr willkommen hieß als eine Unterbrechung. Selbst, wenn das bedeutete, die Sicherheit seiner Villa zu verlassen. Aber sein Sträuben gehörte ebenso zu ihrem privaten Spiel wie ihre Spitzen. Beides zusammen machte erst den Reiz aus. »Um was geht es?«
»Das wirst du schon sehen, mein Männchen!«
Oxtorner waren seltsam schwerhörig, wenn Worte wie »nein«, »das geht nicht« oder »unmöglich« fielen. Talina war in dieser Hinsicht noch schlimmer: Sie war stocktaub. Sie würde nicht nachgeben, bis er nachgab.
»In Ordnung«, sagte Lifkom. »Gib mir fünf Minuten.«
Sie gingen zu Fuß.
Talina rannte, in dem Tempo, das unter Oxtornern als Trab durchging: mit 100 Kilometern die Stunde. Lifkom glitt neben ihr über den Boden, getragen vom Flugaggregat seines Anzugs. Er überließ der Anzugpositronik die Steuerung; anders hätte er es niemals vermocht, den Haken zu folgen, die die Oxtornerin schlug. Das Gelände war felsig, ließ keinen geraden Weg zu. Eine Straße gab es natürlich nicht. Es gab nirgends mehr auf Oxtorne Straßen, bestenfalls Trampelpfade, die an den wenigen Orten entstanden, die von vielen Einheimischen frequentiert wurden. Oxtorner verachteten Straßen. Straßen waren für Schwächlinge. Und ein Schwächling war das Letzte, was ein Oxtorner sein wollte.
»Schau nicht so unglücklich drein, Kleiner«, japste Talina. »Es ist ein wunderbarer Tag. Und du wirst es nicht bereuen, vertrau mir.« Ihr Tonfall war mühelos, spielerisch, als würde sie nicht wie eine Verrückte über eine Geröllebene rennen. Ihr Brustkorb, der der oxtornischen Physiognomie entsprechend gut das doppelte von Lifkoms maß, hob und senkte sich kaum wahrnehmbar.
»Wohin gehen wir?«
»Dahin.« Die Oxtornerin zeigte auf die schneebedeckten Gipfel, die die Ebene im Süden abschlossen.
Natürlich, die Berge. Die Oxtorner waren im Grunde Einzelgänger, die ihre eigenen Wege gingen. Wege, die sich dort überkreuzten, wo Extreme lockten: im Hochgebirge, an den Polen, in den Tropen, den Wüsten und auf und in den Meeren. Lifkoms Dienstvilla, in der schützenden Senke einer Ebene errichtet, lief den Idealen der Oxtorner so sehr zuwider, dass es ihnen beinahe schon wieder so etwas wie Respekt einflößte. Hier ging jemand seinen eigenen Weg, ganz gleich, was andere dachten. Die Oxtorner mochten solche Leute.
»Was ist dort?«, fragte der Terraner.
»Es wird dir gefallen!«, sagte Talina nur und zog das Tempo an.
Eine halbe Stunde später hatten sie das Ende der Ebene erreicht. Talina hatte keine weitere Silbe über ihr Ziel aus sich herausquetschen lassen, hatte Lifkoms Versuche in dieser Hinsicht in einem Redefluss ertränkt, gegen den es keine Abwehr gab. Als die beiden die ersten Hügel erklommen, wusste der Terraner über alles Bescheid, was auf Oxtorne zählte: die neuesten Rekorde, die neuesten, noch verrückteren, noch halsbrecherischen Spiele, auf die Oxtorner verfallen waren, und natürlich das wer mit wem, wer mit wem nicht mehr und wer vielleicht mit wem eventuell. Oxtorner blieben Menschen, trotz aller genetischen Modifikationen.
»He, Modesto!« Talina winkte. Lifkom sah in die Richtung, in die die Oxtornerin gestikulierte. Er erkannte einen dunklen Punkt, der sich in wilden Sprüngen durch das karge Grün der Vorberge arbeitete.
»He, Talina!«, kam die Antwort. Der Punkt machte einen abrupten Schwenk und kam auf sie zu, verwandelte sich in einen Oxtorner. Der Mann war bis auf einen breiten, mit Taschen versehenen Gürtel um die Hüften nackt. Seine braune Haut war makellos, wie die aller Oxtorner. Sein Brustkorb erinnerte Lifkom in seiner Mächtigkeit und muskulösen Härte an einen Baumstamm.
»Auch auf dem Sprung?«, rief er. Die beiden Oxtorner machten keine Anstalten, ihre Geschwindigkeit zu verlangsamen. Sie hielten nicht viel von umständlichen Begrüßungszeremonien.
»Klar! Wer würde sich das entgehen lassen?«
»Niemand. Und ich als allerletzter!«
Der Oxtorner musterte Lifkom, der, eingehüllt in die künstliche Umwelt seines Anzugs, neben ihnen flog. »Du solltest ab und zu die frische Luft unseres Planeten schnuppern, Terraner«, sagte er. »Sie ist überaus kräftigend. Würde dir gut tun!«
Der Botschafter lebte schon zu lange unter Oxtornern, um sich die Mühe einer Entgegnung zu machen. Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, hatte sich Modesto, kaum, dass er den Satz beendet hatte, bereits Talina zugewandt. Angeregt unterhielten sich die beiden über Methoden der Abhärtung. Es war eine lautstarke Diskussion: Modesto sah in Kälte und dem Aufenthalt in großen Höhen den Schlüssel zu gesteigerter Unempfindlichkeit, Talina in extremer Hitze. Die Differenzen waren unüberbrückbar, und während der mit Felsen übersäte Talboden unter ihren unfehlbar sicheren, kraftvollen Schritten dahinschwand, steigerten sich die beiden Oxtorner in einen Streit.
Lifkom, der den weiteren Fortgang ahnte, vergrößerte seinen Abstand zu den beiden. Kurze Zeit später kam es, wie es kommen musste: Talinas und Modestos Streit eskalierte in eine handfeste Auseinandersetzung. Die Oxtorner machten Halt, gingen wie terranische Bullen aufeinander los, verkeilten sich ineinander und rollten unter lauten Verwünschungen über die Felsen. Talina riss Modesto den Gürtel vom Leib und versuchte, ihn damit zu erwürgen. Modesto lachte nur darüber, entrang ihr den Gürtel und zerfetzte ihre Kleidung, von der Lifkom überzeugt war, dass sie sie ohnehin nur deshalb angelegt hatte, um die empfindlichen Sensibilitäten ihres terranischen Begleiters zu schonen.
Die Schreie gingen in ein verbissenes Grunzen über, das Grunzen in Stöhnen, das Stöhnen schließlich in wohlige Stammellaute. Das Ringen der Oxtorner verwandelte sich in einen sexuellen Akt. Lifkom drehte sich taktvoll weg. Den Oxtornern war es zwar gleich, wenn er ihnen zuschaute, nicht aber ihm.
Nach einiger Zeit rief Talina: »Lifkom! Worauf wartest du? Wir sind viel zu spät dran! Wir müssen uns beeilen!«
Der Terraner hörte schwere Schritte. Die Oxtorner rannten bereits weiter, hatten schon beinahe den Pass erreicht. Lifkom holte sie mit Hilfe seines Flugaggregats ein.
»Das solltest du auch einmal probieren. Würde dir gut tun«, beschied ihm Modesto, als Lifkom wieder neben den Oxtornern flog.
Kurze Zeit und einige haarsträubende Aufstiege später erreichten sie ihr Ziel. Auf einem mit Eis bedeckten Hochplateau hatte sich eine für oxtornische Verhältnisse beachtliche Menschenmenge versammelt. Lifkom schätzte ihre Zahl auf über zweihundert. Ein weiter Kreis hatte sich um ein halbes Dutzend kleinerer Gruppen gebildet, die so eng zusammenstanden, dass der Terraner nicht erkennen konnte, was bei ihnen vorging.
»Gerade noch rechtzeitig!«, stieß Talina hervor, als wäre die Welt untergegangen, hätten sie sich noch weiter verspätet.
»Du sagst es!«, entgegnete Modesto. »Sie warten auf mich!« Ohne weiteren Gruß schloss sich der Oxtorner einer der Gruppen im Innern des Kreises an. Hoch erhobene Hände und erleichterte Ausrufe begrüßten ihn.
»Komm!« Talina zog Lifkom mit sich. Das Flugaggregat seines Anzugs heulte kurz auf, sah dann aber die Vergeblichkeit seiner Mühen ein und gab die Gegenwehr gegen die Naturgewalt auf. Die Oxtornerin reihte sich in den Kreis der Wartenden ein. Der eine oder andere prüfende Blick streifte den Terraner, dann wandte sich wieder alle Aufmerksamkeit den Gruppen im Kreis zu.
Die Versammelten beugten sich über primitive Apparaturen. Lifkom sah Gestänge, schreiend bunte Flächen aus Leinwand sowie Gurte und Seile.
»Was geht hier vor?«, fragte er.
»Was wohl, Dummerchen? Ein Spiel, ein Rennen.«
»Natürlich. Ich hätte es gleich wissen sollen. Aber was für ein Rennen?«
Talina, die den Blick nicht von der Kreismitte abgewandt hatte, sprang aufgeregt hoch. »Sieh nur! Es geht los!«
Die einzelnen Gruppen hoben ihre Apparaturen an, schritten mit ihnen prahlerisch auf und ab und beschimpften, einer geheiligten oxtornischen Sitte folgend, ihre Konkurrenten.
»Tichklan, was willst du mit diesem Okrill-Frühstück? Mit diesem Klotz hebst du niemals ab!«
»Modesto, du siehst ja völlig abgewrackt aus! Wieder zu viel mit den Weibern rumgemacht, was?«
»Nimm dir einen Regenschutz mit, Grango. Ich werde auf dich runterpissen!«
Als sich die Gemüter zur allgemeinen Zufriedenheit erhitzt hatten, erfolgte der Start. Die Mannschaften hielten ihre Apparaturen in den Wind, und bald darauf flatterten acht Drachen über den Köpfen der Menge – die Schnüre von zweien hatten sich, absichtlich oder durch einen Zufall, beim Start verheddert, und die Fluggeräte waren unter allgemeinem Gelächter abgestürzt. Die Oxtorner brachten wenig Mitgefühl für Verlierer auf.
Dann geschah eine Weile nichts. Die Drachen zogen ihre Kreise. Die Mannschaften verzichteten darauf, einander in die Quere zu kommen, und die Zuschauer nutzten die Gelegenheit zu einer ausgiebigen Mahlzeit.
»Ist das etwa alles?«, wandte er sich an Talina. »Dafür schleppst du mich in die Berge? Für ein Drachensteigen?«
Sie sah ihn mit ihren großen Augen an und schüttelte den Kopf. »Dummerchen, wirst schon sehen, gleich geht es mächtig los.«
»Was du nicht sagst.«
Lifkom hätte es ihr nie eingestanden, aber er genoss die Geplänkel mit Talina. Wenn er mit ihr unterwegs war, konnte er aus seiner steifen Diplomatenhaut heraus, und ihm schien, als verstärke sich mit jedem Wortwechsel das Band zwischen ihnen.
Eine Bö erfasste ihn, hätte ihn davongetragen, wäre nicht der Anzug gewesen. Der Terraner rief die Umgebungsdaten ab. 23 Grad unter null, Luftfeuchtigkeit 14 Prozent, Luftdruck – selbst in dieser Höhe – noch knapp das Sechsfache des irdischen, Windgeschwindigkeit laue 70 Kilometer pro Stunde, keine Wolke am Himmel. Die rote Scheibe der Sonne Illema, um die Oxtorne sich drehte, stand hoch am Himmel. Hätte Lifkom ihr seine ungeschützte Haut ausgesetzt, sie wäre innerhalb von Minuten verbrannt. Den nackten Oxtornern dagegen machte sie nichts aus. Nicht weiter überraschend, wusste man, dass ihre Haut sogar dem Beschuss aus schwachen Strahlern standhielt.
Alles in allem ein perfekter Tag für ein Picknick. Laue Temperaturen, ein laues Lüftchen und Sonne satt, dazu ein grandioser Blick auf die Elftausender der Martianen-Kette, die im Süden des Plateaus aufragten.
Nur: Oxtornern war die Vorstellung eines Picknicks ein Gräuel. Organisierte Untätigkeit? Wer sich so etwas hingab, war so gut wie tot.
Aber was trieb die Oxtorner dann auf das Plateau?
Wie als Antwort schrillte ein Pfiff. Sofort kam Bewegung in die Mannschaften. Sie gaben den Drachen Leine, die Apparaturen schraubten sich höher in den blauen Himmel. Anfeuernde Rufe ertönten – und dann kam der Donner.
Es war ein Schlag, der Lifkom trotz seines Anzugs um ein Haar von den Beinen gerissen hätte. Mit klingelnden Ohren drehte er sich um, nach Norden, die Richtung, in der die Ebene lag. Er blickte auf eine Gewitterfront. Wie eine Wand schob sie sich auf das Plateau zu. Eine rasende Wand.
Regen stürzte auf die Versammelten. Eine kompakte Masse, die ihren Winkel veränderte und rasch aus der Horizontalen über sie fegte, zu einer Flutwelle wurde. Nur der Anzug bewahrte den Terraner davor, weggeweht zu werden. Er sah auf das Display: Windgeschwindigkeit 354 Kilometer pro Stunde. Temperatur plus acht Grad.
»Jaaaaa!!!!«
Talina schrie. Die Zuschauer schrien. Die Mannschaften schrien. Und, zu Lifkoms eigener Verwunderung, er selbst. Der Diplomat, dessen Credo die Zurückhaltung war, schrie sich die Kehle aus dem Leib.
Die Drachen hatten sich in Schemen verwandelt, die abgehackten Tänzen nachgingen, hin- und hergestoßen vom Gewittersturm. Lifkoms Blick suchte und fand Modesto. Der Oxtorner gehörte der Mannschaft an, die am nächsten zu dem Terraner stand. Modesto, nach wie vor nackt, hatte beide Hände in die Führungsleinen verkrallt. Der Drachen zog an ihm mit brachialer Gewalt. Nur das Gewicht der übrigen Mannschaft, die sich in einem kompakten Knäuel um seine Beine klammerte, bewahrte ihn davor, fortgerissen zu werden.
»Los!«
Der Schrei kam von allen Seiten, vielkehlig, ohne dass Lifkom ausmachen konnte, wer das Signal gegeben hatte. Die Oxtorner spürten einfach, wann es Zeit war. In diesen Dingen hatte er bei ihnen noch nie nur die geringste Unsicherheit festgestellt. Es musste ein Instinkt sein, der in seiner Unscheinbarkeit meist unbemerkt blieb.
Die Mannschaften lösten ihren Klammergriff, sprangen zur Seite. Lifkom wurde an eine Blüte erinnert, die sich der Sonne öffnete, nur, dass der Vorgang um ein Vielfaches beschleunigt ablief. Die Flieger schnellten in den Sturm, und innerhalb von Sekunden hatten die dunklen Wolken sie verschluckt.
Ein Blitz zuckte herab, erhellte für einen Augenblick die Umrisse von Drachen und Fliegern in scharfen Konturen.
»Das ist doch Wahnsinn!«, brüllte Lifkom. Ihm wurde die Sache langsam unheimlich, trotz des Anzugs, der ihn schützte. Die Böen erreichten jetzt Spitzen von nahezu 500 Stundenkilometern. »Sie ...« Ein Donnerschlag schnitt ihm das Wort ab.
»Wieso?«, antwortete Talina. »Mach dir keine Sorgen um die Blitze. Sie geben eine großartige Kulisse ab, können ihnen aber nichts anhaben.«
»Das meine ich nicht! Die Flieger, sie haben keine Gurte, keine Haltevorrichtung. Sie klammern sich mit bloßen Händen an die Seile!«
Talina sah ihn erstaunt an. »Natürlich, Dummerchen. Alles andere würde das Rennen verderben. Das ist kein Training.«
»Was, wenn jemand in der dünnen Luft das Bewusstsein verliert? Ihr habt doch sicher Rettungssysteme? Antigravgeräte?«
»Du hörst mir nicht zu. Das ist ein echtes Rennen. Die Wettkämpfer haben lange für diesen Tag trainiert. Was du vorschlägst, würde sie beleidigen!«
Ein geisterhaft wirkendes Holo legte sich über den Startplatz. Es zeigte die einzelnen Flieger. Sie wirkten so konzentriert, als befänden sie sich in ungestörter Abgeschiedenheit. Regen floss in Strömen an ihren Körpern herunter, Hagel prallte an ihnen ab, während sie versuchten, den bockenden Drachen ihren Willen aufzuzwingen. Robotkameras mussten die Flieger begleiten. Und wer Robotkameras besaß, für den wäre es auch ein Leichtes gewesen, andere Roboter auszusenden. Solche, die in Not geratene und stürzende Flieger retteten. Doch davon wollten die Oxtorner nichts wissen.
»Wo ist das Ziel?«, fragte der Terraner.
»Jenseits der Berge.«
»Aber das ist unmöglich! Sie sind über zehntausend Meter hoch.«
»Unmöglich. Das ist das Lieblingswort von euch Terranern, was?« Talina schüttelte tadelnd den Kopf. »Unmöglich gibt es nicht. Es gibt nur Dinge, die noch nie versucht worden sind. Noch nicht oder noch nicht richtig. Das ist alles. Die Flieger sind nicht dumm. Sie haben die Meteorologie dieses Gebiets lange untersucht. Über dem Gewitter befindet sich eine ruhige, fast windstille Zone. Sie müssen es nur durchstoßen, oben etwas schneller nach Luft schnappen und auf der anderen Seite landen.«
»Nur! Und wenn sie es nicht schaffen, knallen sie gegen die Berge wie Vögel gegen eine Scheibe!«
Talina grinste ihn an. »Und wenn schon. Dann sehen wir, wer stärker ist. Oxtorner oder Fels. Wenn du mich jetzt entschuldigst, ich habe zu tun ...« Sie wandte sich ab und feuerte Modesto brüllend an.
Die Zuschauer verfolgten das Rennen auf dem Holo. Vom Sturm, der weiter an Stärke zulegte, nahmen sie keine Notiz. Das Gebrüll der Oxtorner übertönte ihn spielend. Sie beschimpften die Flieger, die am Boden zurückgebliebenen Mannschaften und einander. Lifkom war bereits auf der Suche nach einem sicheren Rückzugsplatz, für den Fall, dass die Oxtorner ihre überschüssigen Energien in einer Massenschlägerei verausgabten, als das Gebrüll abbrach.
Der Terraner wandte sich verwirrt um. Was war los? War einer der Drachenlenker abgestürzt? Er sah zu dem Holo, zählte die Flieger durch. Alle acht hingen noch an den Seilen. Hingen. Sie hatten aufgehört, gegen den Sturm anzukämpfen, ließen sich einfach treiben. Lifkom erhaschte einen Blick auf Modestos Gesicht. Der Oxtorner hatte die Augen geschlossen, horchte in sich hinein.
Eine Regelverletzung? Der Terraner hatte einmal, bei einem Tauchwettbewerb, miterlebt, was dann geschah. Einer der Taucher hatte heimlich einen Sauerstoffvorrat entlang der Strecke platziert und war aufgeflogen. Die Oxtorner hatten das Rennen auf der Stelle abgebrochen. Die Empörung war so groß gewesen, dass Lifkom gefürchtet hatte, Zuschauer und Sportler würden den Betrüger buchstäblich in der Luft zerreißen.
Aber hier? Die Oxtorner gaben keinen Laut von sich. Sie wirkten ernst. Betroffen, wie er sie noch nie gesehen hatte.
»Talina?«
»Pst!«
Das Rennen war vorüber. Die Flieger öffneten die Augen, zogen mit grimmiger Entschlossenheit an den Seilen ihrer Drachen, dirigierten sie aus dem Gewittersturm. Zuschauer und Mannschaften sammelten ihren Abfall zusammen, tilgten die Spuren ihrer Anwesenheit – Oxtorner unterließen das nie, es war eine Höflichkeit gegenüber dem Mitmenschen, der zumindest das Gefühl haben sollte, als Erster den Fuß an einen bestimmten Ort zu setzen. Dann rannten sie los. Wie Irre die steilen Hänge herunter. Nach einigen wenigen Augenblicken verloren die Rennenden den Boden unter den Füßen und hüpften wie Gummibälle dem Tal entgegen.
Nur Lifkom und Talina blieben zurück.
»Talina, was geht hier vor?«
»Mein kleiner Mensch, ich glaube, es wird Zeit, dass du Kontakt mit Terra aufnimmst.«
»Wieso das? Mein Bericht ...«
Am Horizont schossen glühende Speere in den Himmel. Raumschiffe, die mit Vollschub starteten. Einige Augenblicke später schnitt das Donnern ihrer Triebwerke, das selbst den Gewittersturm übertönte, Lifkom das Wort ab.
Kapitel 4
An-Keyts Haar zitterte, als Belor-Thon seine Greiflappen über ihren Körper streichen ließ, ihn erforschte. Die beiden Loower hatten die Kampfanzüge abgelegt, setzten sich der PAN-THAU-RA zum ersten Mal, seit sie das Schiff betreten hatten, ungeschützt aus. Die Immunisierung, die sie an Bord der Transporter erhalten hatten, sollte sie vor allen Keimen und Erregern schützen, die sie befallen könnten.
Lange Stunden des Kampfs lagen hinter ihnen. Eines erfolgreichen Kampfs. Jetzt war es Zeit zu ruhen, sich zu regenerieren und neue Kräfte zu sammeln. Die neun Angehörigen des Kommandos hatten sich in einem Raum versammelt, der kaum größer war als der stählerne Leib des Helks, der sie hierher getragen hatte. Eine unbedachte Bewegung, und An-Keyt stieß gegen einen Kameraden. Noch war es ihr gelungen, das zu vermeiden, aber Belor-Thon, den die Erregung der Paarung erfasst hatte, kannte keine solchen Überlegungen. Die Anwesenheit der anderen ignorierte er. Vielleicht existierten sie auch nicht mehr für ihn, er befand sich in seiner eigenen Welt. Die Berührungen seiner Greiflappen waren so ungeschickt, dass es An-Keyt nicht verwundert hätte, wäre es Belor-Thons erste Paarung.
Es war nicht klug von den Zweidenkern, so eng aneinander zu rücken. Ein Feind konnte das Kommando mit einem einzigen Schuss auslöschen; es würde ihm schwer fallen, auch nur einen Loower zu verfehlen. Doch die Loower brauchten die Nähe, die andere Wesen als qualvolle Enge empfinden würden. Es nährte die Gewissheit ihrer Identität in ihnen, ohne die sie nicht existieren konnten, bestätigte dem Einzelnen seinen Platz in der Gruppe, der Gruppe ihren Platz im Gefüge des Gesamtvolks der Loower und den Loowern ihren Platz im Universum.
Sie gehörten zusammen, auch wenn An-Keyt manchmal den Drang verspürte, allein zu sein, danach, die ständigen Reibereien und Konflikte, die Kehrseite der engen Gemeinschaft, hinter sich zu lassen. Doch das war unmöglich. Die Kammer, in die sich das Kommando zurückgezogen hatte, war ein sicherer Hort, so unverwundbar, wie ein Ort an Bord der PAN-THAU-RA in diesem Moment nur sein konnte.
Jenseits seiner Wände herrschte lebensfeindliches Vakuum und Kälte, die ein ungeschütztes Wesen innerhalb von wenigen Augenblicken in einen Eisblock verwandeln würden. Das Kommando hatte den Kanal, der durch den Einschlag des Helks entstanden war, genutzt, um seinen Sektor abzusichern. Obwohl es sich bei ihm nur um einen winzigen Ausschnitt der PAN-THAU-RA handelte, war er um ein Vielfaches zu groß, als dass das Kommando und sein Helk alle Räume und Verstecke nach Feinden durchkämmen könnten. Das Vakuum nahm ihnen die Arbeit ab. Kein Lebewesen, auch nicht die Wunderwesen, die angeblich auf der PAN-THAU-RA hausten, konnte dem Vakuum und der Kälte widerstehen. Nicht ohne technische Hilfen – und die würden auf den Ortern des Helks erscheinen und die Module des Roboters wie ein Leuchtfeuer unfehlbar zum Feind führen.
Doch die Feuer blieben aus. Die Nacht an diesem Ort, an dem es keine Nacht gab, blieb ungestört. Der Wachring der Helk-Module – besser die Wachsphäre, erstreckte sie sich doch sowohl auf die drei Dimensionen des Raums, als auch auf das überdimensionale Kontinuum – war erstarrt. Die Module verharrten an den ihnen zugewiesenen Standorten, fütterten ihre Daten in das Netz der Helks, während sie selbst es nach relevanten Informationen absuchten. Zwei von ihnen streiften durch den toten Sektor, stellten sicher, dass sich nicht noch irgendwo Leben regte, denn Leben war potentieller Widerstand. Und Leben war hartnäckig. Hier, an Bord des Sporenschiffs PAN-THAU-RA traf das wahrscheinlich noch mehr zu als an jedem anderen Ort des Universums.
Nicht hartnäckig genug jedoch, wie es schien, für den Ansturm der Zweidenker. Die beiden Module trafen nirgends auf Widerstand. Mit dem Gleichmut, der Helks zu Eigen war, legten die Roboter überall in den toten Gängen und Räumen ihre Minen ab, tödliche Detektoren, die die Loower alarmieren würden, sollte sich neues Leben regen, um es dann mit verheerenden Explosionen zu vernichten.
Belor-Thon streichelte mittlerweile mit seinen Flughäuten sanft über die ihren. Er pfiff. An-Keyt ließ ihn gewähren, obwohl ihr seine Zärtlichkeiten nichts bedeuteten. Sie war ebenso wie er in einer eigenen Welt gefangen, doch in keiner der Lust, sondern der rasenden Gedanken.
Immerhin, An-Keyt war froh, dass er sich auf die Flughäute konzentrierte. Sie waren die empfindlichsten Körperteile der Loower, und Belor-Thon wurde dadurch automatisch zärtlicher, sollte er es nicht darauf anlegen, sich selbst wehzutun. Er wollte es nicht, wie sich rasch zeigte. Die Behutsamkeit des Jungen überraschte An-Keyt. Sie gurgelte anerkennend und erreichte den gewünschten Effekt: Belor-Thon verblieb bei den Flughäuten, genoss mit geschlossenen Augen den Triumph, der Älteren Lust zu bereiten.
Es war die Gelegenheit für An-Keyt, ungestört ihren Blick wandern zu lassen. Sie verdrehte ein Stielauge nach rechts, das andere nach links und übersah den Raum in seiner Gesamtheit.
Direkt neben ihr war der Navigator Lef-Krar auf einer improvisierten Matte in die Knie gegangen. Er hatte Tentakel und Flughäute eng um einen ihrer Gefährten geschlungen. So eng war die Umarmung, dass einige Augenblicke vergingen, bis An-Keyt bei einer Drehung des Körper-Knäuels den Zweiten im Bunde erkannte. Es war Mirton-Kehn, der Logistiker des Kommandos, ein älterer und – wie An-Keyt fand – abgrundtief hässlicher Mann, der es nur dem akuten Mangel an verfügbaren Zweidenkern verdankte, dass er am Sturm der PAN-THAU-RA teilnahm. Die Loowerin hätte es sich nie vorstellen können, dass es Mirton-Kehn jemals gelang, jemanden zu finden, der bereit wäre, sich mit ihm zu paaren. Sie hatte sich geirrt. Lef-Krar und Mirton-Kehn paarten sich – und das mit einer Leidenschaft, die An-Keyt verblüffte und gegen ihren Willen Neid in ihr aufsteigen ließ. Mit widerwilliger Faszination folgte sie dem Schauspiel. Lef-Krar war der Dominierende des Paares, er bestimmte, in welchen Schritten die Paarung ihren Gang nahm. Er tat dies mit einer Sorgfalt und Intensität, die An-Keyt verriet, dass der Vordenker sich in dem Navigator irrte. Lef-Krar war nicht nachlässig. Im Gegenteil. Der Navigator offenbarte sich An-Keyt in diesem Moment als ein Mann von großer Gewissenhaftigkeit.
Die Loowerin prägte sich ihre Beobachtung ein. Ein Gefühl sagte ihr, dass sie eines Tages von Wichtigkeit sein konnte.
Ihre Aufmerksamkeit wanderte weiter. In einer Ecke des Raums, eine Körperlänge von den übrigen getrennt, kauerte Mev-Sopran. Um ihn herum verstreut waren Bauteile. An-Keyt erkannte in einem Teil von ihnen einen auseinandergenommenen Kombistrahler und Diagnosegeräte. Die übrigen waren der Loowerin unbekannt. Mev-Sopran musste sie mit an Bord des Helks geschleppt haben, als Waffenwart des Kommandos standen ihm Freiheiten zu, die den übrigen verwehrt blieben. Einige der Bauteile waren seltsam gerundet und aus einem Metall, das im Halblicht des Raums einen Rotstich besaß. Sie wirkten fremd, un-loowerisch auf An-Keyt. Es mussten Gegenstände sein, die der Waffenwart im Lauf der Kämpfe in seinen Besitz gebracht hatte. An-Keyt fragte sich, wie Mev-Sopran es angestellt hatte. Ihr war kein Moment geblieben, nach irgendetwas zu greifen, geschweige denn, gezielt nach technischen Artefakten zu suchen. Die Erinnerung an den Tag hallte in ihren Gedanken als ein einziger Rausch nach, der ihr als Kater müde Knochen und einen angesengten Greiflappen bescherte. Letzterer verursacht vom Lauf ihres heißgeschossenen Strahlers.
Mev-Sopran beugte sich nach vorne, über ein Helk-Modul, dessen stählerne Haut er geöffnet hatte wie ein Chirurg den Körper eines Patienten. Eins seiner Stielaugen steckte tief in den Eingeweiden des Moduls. Das Zweite stand senkrecht, seine Pupille drehte sich abwesend im Ausdruck absoluter Konzentration. Das Helk-Modul, mit dem der Waffenwart sich beschäftigte, war im Verlauf der Kämpfe ausgefallen. Negan-Parr hatte es zurücklassen wollen. Kein Grund, ein wertvolles Loowerleben zu riskieren. Das Modul hätte sich innerhalb von Minuten eigenständig vernichtet, um dem Gegner nicht von Nutzen sein zu können. Ihr Helk bestand aus Dutzenden von Modulen; was kümmerte sie ein Einzelnes?
Der Waffenwart hatte den Befehl des Vordenkers missachtet. Als er vom Schicksal des Moduls erfuhr, hatte er sich wortlos aus seiner Deckung erhoben und war an den Abschnitt der Front gestürmt, in dem das Modul verloren zu gehen drohte. Die Auswertung seines Gefechtssystems hatte hinterher ergeben, dass Mev-Soprans Schirm ein halbes Dutzend Mal vor dem Zusammenbruch gestanden hatte und eigentlich im gegnerischen Feuer hätte kollabieren müssen. Doch er hatte standgehalten.
An-Keyt vermutete, dass der Waffenwart den Schirm modifiziert hatte, »optimiert«, wie er es nannte. Mev-Sopran konnte seine Greiflappen von keinem Gerät lassen, musste an jedem technischen Spielzeug herumfummeln, das Maximum an Leistung herauskitzeln. Der Vordenker Negan-Parr wusste darum und missbilligte die Spielereien, die er als »Manipulationen« bezeichnete, war aber technisch zu ungebildet, um sie Mev-Sopran nachzuweisen. »Eines Tages wirst du dich damit umbringen«, sagte er deshalb nur, wenn er wieder einmal auf den Waffenwart wütend war, und schüttelte drohend die Tentakel.
Eines Tages vielleicht. Eines Tages würde dem Waffenwart seine Besessenheit zum Verhängnis werden. Nicht an diesem Tag. Mev-Sopran war quicklebendig, in seinem Element. An-Keyt hatte keinen Zweifel, dass das Helk-Modul am nächsten Tag wieder funktionstüchtig sein würde. Das und mehr. Mev-Sopran würde es sich nicht verkneifen können, »Optimierungen« vorzunehmen.
An-Keyt japste, als Belor-Thons Greiflappen sich mit unvermittelter Grobheit in ihre empfindlichen Flughäute gruben. Der Junge zuckte zurück, entschuldigte sich stotternd und machte sich wieder ans Werk, als die Loowerin seine Beteuerungen mit Schweigen quittierte. Er fasste es als Zustimmung auf. Er lag nicht völlig falsch. Ein Teil der Erregung von Lef-Krar und Mirton-Kehn, die sich zügig von Semi-Höhepunkt zu Semi-Höhepunkt arbeiteten, war auf die Zweidenkerin übergesprungen. Möglicherweise, überlegte An-Keyt, wurde aus dem Jungen, der sich an ihr abmühte, noch etwas. Sie musste nur etwas Geduld haben. Dies war nur die erste Nacht von vielen, davon war An-Keyt überzeugt. Ihre Optionen waren auf absehbare Zeit begrenzt, sie musste nehmen, was sie bekam. Das Beste daraus machen, nicht damit hadern, dass sie sich mit einem Frischling abgeben musste.