8,99 €
Von der Vergangenheit in ferne Zukünfte... Von Menschen, die auf und in riesigen Medusen leben... Über Außerirdische in Venedig bis hin zu den Welten von DAS SCHIFF (All die Jahrtausende) und OMNI (Die Sterne zählen)... In diesem Buch finden Sie sämtliche Kurzgeschichten von Andreas Brandhorst, jede begleitet von einem Vorwort, das von ihrer Entstehung erzählt. Wie für ihn die Zukunft begann: Das Knistern der Zeit zeigt seinen Werdegang vom Debütanten vor über 40 Jahren bis hin zum heutigen Bestsellerautor. Es sind einzigartige Geschichten, die Einblick geben in Schaffenskraft und Fantasie eines Schriftstellers, der heute zu Deutschlands erfolgreichsten Autoren zählt.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
ANDREAS BRANDHORST
DAS KNISTERN DER ZEIT
Geschichten aus anderen Welten 1981 - 2019
Erzählungen
Signum-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Das Buch
Der Autor
Ein Blick in die Vergangenheit
Die sterbende Welt
Mondsturmzeit
Die Planktonfischer
An den Gestaden der Wahrscheinlichkeit
Sturmwelt
In der Hölle
Hallo, Mr. McCarthy
Rotmarkierung
Walkinder
Der Venedig-Effekt
All die Jahrtausende
Die Sterne zählen
Wie schön es klingt, dein Lachen
Down in the Park – Ein Nachwort von Christian Dörge
Copyright © 1981 - 2019/2025 by Andreas Brandhorst.
© Copyright der Gesamtausgabe 2025 by Signum-Verlag.
© Copyright des Autoren-Photos by Marcus Isernhinke.
© Copyright der Innen-Illustrationen by Christian Dörge.
© Copyright des Nachworts by Christian Dörge.
Lektorat: Andreas Brandhorst.
Korrektorat: Christian Dörge.
Redaktion: Dr. Birgit Rehberg und Christian Dörge.
Cover: Copyright © by Christian Dörge.
Verlag:
Signum-Verlag
Winthirstraße 11
80639 München
www.signum-literatur.com
Künstlerwebsite: www.andreasbrandhorst.de
Kontakt: [email protected]
Von der Vergangenheit in ferne Zukünfte...
Von Menschen, die auf und in riesigen Medusen leben...
Über Außerirdische in Venedig bis hin zu den Welten von Das Schiff (All die Jahrtausende) und Omni (Die Sterne zählen)...
In diesem Buch finden Sie sämtliche Kurzgeschichten von Andreas Brandhorst, jede begleitet von einem Vorwort, das von ihrer Entstehung erzählt. Wie für ihn die Zukunft begann: Das Knistern der Zeit zeigt seinen Werdegang vom Debütanten vor über 40 Jahren bis hin zum heutigen Bestsellerautor. Es sind einzigartige Geschichten, die Einblick geben in Schaffenskraft und Fantasie eines Schriftstellers, der heute zu Deutschlands erfolgreichsten Autoren zählt.
Andreas Brandhorst, Jahrgang 1956.
Andreas Brandhorst, geboren 1956 im norddeutschen Sielhorst, zählt mit Thrillern wie Das Erwachen, Die Eskalation und Der Riss und Science-Fiction-Romanen wie Das Schiff und Omni zu den erfolgreichsten Autoren unserer Zeit. Spektakuläre Zukunftsvisionen verbunden mit einem atemberaubenden Thriller-Plot sind zu seinem Markenzeichen geworden und verschaffen ihm regelmäßig Bestseller-Platzierungen. Andreas Brandhorst hat dreißig Jahre in Italien gelebt, ist inzwischen in seine alte Heimat in Norddeutschland zurückgekehrt und lebt im Emsland.
Ich schreibe, seit ich schreiben kann, seit dem achten oder neunten Lebensjahr. Damals waren es kurze Geschichten über Tiere oder Ritter und Piraten. In der Grundschule durfte ich sie vor der Klasse vorlesen – die damalige Lehrerin muss etwas geahnt haben –, was mich natürlich anspornte. Mit 13 oder 14 Jahren verfasste ich erste Romane und fand sogar den Mut, sie Verlagen zu schicken, die sie prompt ablehnten. Was mich aber nicht daran hinderte, weitere Romane zu verfassen und es immer wieder zu versuchen. Mit 19 Jahren schließlich gelang es mir, den ersten Roman zu verkaufen, und wenige Jahre später schaffte ich den Sprung ins Profi-Lager.
Aber die Lernkurve, das weiß ich heute, war noch ziemlich steil.
Dieses Buch zeigt Ihnen einen Teil meines Weges vom jungen Erwachsenen zum reifen Autor, der ich heute bin. Es präsentiert Ihnen fast alle Kurzgeschichten, die ich jemals geschrieben habe, von den allerersten bis hin zu den aktuell letzten. Viele sind es nicht, denn meine Vorliebe galt immer längeren Stoffen, die mir mehr Raum für Geschichte und Figuren boten. Das merkt man auch den hier versammelten Storys an, denn einige von ihnen sind recht lang geraten. Ich habe sie der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst und vorsichtig überarbeitet, um sie lesbarer zu machen. Im Original, das muss ich leider gestehen, stecken sie voller Fehler und stilistischer Schwächen. Es mangelt nicht an nachgestelltem Genitiv, unangebrachten perspektivischen Wechseln und plumpem Jonglieren mit Begrifflichkeiten, das ich damals aus Mangel an Erfahrung für geschickt und innovativ gehalten habe.
Ich gestehe, dass ich gerade den ersten Geschichten heute sehr kritisch gegenüberstehe und lange überlegt habe, ob ich sie noch einmal einem breiten Publikum präsentieren soll. Aber sie sind Teil meines Weges, meines Lernens. Sie zeigen, wie sich meine sprachlichen Werkzeuge nach und nach entwickelt haben.
Entstanden sind die Geschichten als Beiträge für Anthologien, wie sie heute kaum noch existieren. Damals brachten verschiedene Verlage immer wieder solche Bände mit Kurzgeschichten internationaler Autoren heraus, und in den meisten Fällen war dabei ein bestimmtes Thema vorgegeben, zum Beispiel Städte und Lebensräume der Zukunft, Umgang mit Ressourcen und natürlich Ökologie. Denken Sie daran, wie die Welt in den 80er-Jahren beschaffen war. Der Kalte Krieg hatte seine kritischste Phase erreicht. Die Furcht vor einem Atomkrieg und dem Ende der Welt war weit verbreitet. Es gab noch keine Klimakrise im heutigen Sinn, aber Ökologie und die Problematik der Umweltverschmutzung rückten immer mehr ins Bewusstsein vieler Menschen.
1984 bin ich nach Italien ausgewandert und fühlte mich dort manchmal wie auf einem anderen Planeten. Während der ersten Jahre bekam ich es mit einem seltsamen Phänomen zu tun: Ich verlor einen Teil meines Gefühls für die deutsche Sprache. Einige Jahre später gewann ich es zurück, was nicht zuletzt an zahlreichen Übersetzungen aus dem Englischen lag, die ich damals anfertigte und die mich zu einem sehr bewussten, zielgerichteten Umgang mit Sprache zwangen. Hinzu kam eine Erweiterung meines linguistischen Horizonts durch das Italienische, was sich ebenfalls als große Hilfe erwies. Die sprachliche Neuorientierung ist erkennbar: Walkinder (1988) markiert das Ende des jungen, immer noch experimentierenden Autors; Der Venedig-Effekt (1989) ist deutlich sicherer und reifer. Hier zeigt sich auch eine Entscheidung, die ich damals bewusst getroffen habe. War ich mir zuvor nicht sicher, wie ich zwischen Fantasy und Science-Fiction wählen sollte – in meinen ersten Geschichten gab es starke Fantasy-Elemente, deshalb nannte man sie Science Fantasy –, so schlage ich mit Der Venedig-Effekt ganz klar den Weg der Science-Fiction ein.
Übrigens: Ende der 70er- und Anfang der 80er-Jahre wurde noch mit Schreibmaschine geschrieben, teilweise nicht einmal mit einer elektrischen, sondern mit einer mechanischen. Änderungen am Manuskript waren äußerst mühsam. Auch das merkte man den damaligen Storys und Romanen an. Außerdem gab es noch kein Internet für Recherchen, nur Dienste wie Compuserve – damit unternahm ich Mitte der 80er meine ersten Online-Ausflüge.
Warum heißt diese Kurzgeschichten-Sammlung »Das Knistern der Zeit«? Weil ich es bei der Zusammenstellung gehört habe, das Knistern der vielen vergangenen Jahre, manchmal ziemlich laut.
- Andreas Brandhorst,
Haselünne im August 2024
1981, in Der große Ölkrieg, herausgegeben von
Hans-Joachim Alpers, Moewig (ISBN 3-8118-3531-9).
Dies ist meine erste professionell veröffentlichte Story, geschrieben 1980, publiziert 1981 in einer von Hans-Joachim Alpers herausgegebenen Anthologie, in der es um Ressourcen, Energie und Atomkraft ging. Das sprachliche Spiel mit Begriffen und Wortneuschöpfungen, das später noch breiteren Raum einnehmen sollte, zeigt sich hier bereits. Es führte mich auf einen falschen Weg, wie ich heute weiß, aber damals war ich noch auf der Suche nach einer eigenen Stimme und experimentierte mit neuen sprachlichen Ausdrucksformen.
Als Knabe war Dreiauge ausgezogen, als Vollwert kehrte er nun zurück. Es war ein angenehmes, fast berauschendes Gefühl, und in diesem Augenblick vergaß er die Gefahren der zurückliegenden Zeit, die Entbehrungen, die Einsamkeit. Muruim an seiner Seite knurrte leise, und Dreiauge fuhr mit der Hand über die dicken Hornplatten des Metazahns. Seine Dünnlippen verzogen sich unwillkürlich. Niemand vor ihm – zumindest nicht aus seinem eigenen Stamm – hatte es geschafft, einen Metazahn als Symbopartner zu gewinnen. Die meisten Brüder und Schwestern, die auszogen, um Vollwert zu werden, schlossen Partnerschaft mit leichter zu gewinnenden Begleitern. Metazahn würde Dreiauges Ansehen erhöhen.
Muruim knurrte erneut und hob den großen Kopf. Dreiauge spürte die Unruhe und schnupperte aufmerksam.
»Was ist nur mit dir los?«, summte er. »Du weißt doch, dass wir uns der Lebens-Enklave nähern. Hier droht uns keine Gefahr mehr.«
Muruim drehte seinen Schädel, und die beiden Augenpaare blinzelten Dreiauge dunkel an.
»Ver... änderung...«, summte der Metazahn.
Dreiauge schritt wieder aus, vergewisserte sich aber, dass der Kurzspeer aus Hartholz und das Klebnetz einsatzbereit waren. Muruim folgte ihm sofort. Seine lange, blaue Zunge glitt durch eine der Aussparungen in seinen Doppelzahnreihen, tanzte nervös vor dem Schädel hin und her.
Je weiter sie sich der Lebens-Enklave seines Stammes näherten, desto mehr lichtete sich der sonst so undurchdringliche Dschungel. Links von ihnen tauchten die Trommelbäume auf. Die borkigen, mehr als fünf Manneslängen durchmessenden Stämme reckten sich wie Säulen in den Himmel, und ihre Kronen vereinten sich weit über ihnen mit dem Dach der Welt. Dreiauge trat näher an die Trommler heran und legte seine Breithand auf die Rinde. Zwei seiner Augen schlossen sich, während das dritte aufleuchtete.
Die Trommelbäume starben.
Noch war ihnen äußerlich nichts anzusehen, aber ihr innerster Kern war bereits tot, und der Prozess der Auflösung würde sich weiter fortsetzen.
Dreiauge war alarmiert.
Die Trommelbäume eines jeden Stammes waren ein Schatz, der gehütet werden musste. Was war denn ein Vollwertfest ohne die abgestimmte Melodie dieser Riesen? Dreiauges Ohren vibrierten sanft.
»Komm, Muruim. Es ist nicht mehr weit.«
Der Metazahn grunzte und hechelte. Seine Unruhe nahm weiter zu, und langsam begann Dreiauge zu glauben, dass diese Nervosität ihren Grund hatte. Um sie herum war es seltsam still, und während Dreiauge und sein Begleiter weitermarschierten, beobachteten sie aufmerksam die Umgebung, besonders die überhängenden Zweige, auf denen sich oft Kleber aufhielten, die sich auf einen allzu Unachtsamen fallen lassen und ihn binnen weniger Sekunden auflösen und verdauen konnten.
Der Dschungel lichtete sich. Aber etwas fehlte. Dreiauge musste lange nachdenken, um zu verstehen. Es fehlte das Geschrei der Verkünder, die ihn schon längst bemerkt haben mussten, ebenso die Rufe der Knaben, die dem Heimkehrer ihre Bewunderung entgegenriefen.
Muruims Flanken bebten, als vor ihnen die Helligkeit zunahm. Der Rand der Lebens-Enklave, Dreiauges Heimat, sein Zuhause.
»Bö... se...« summte der Metazahn und drängte sich näher an Dreiauge. Der duckte sich, packte den Kurzspeer fester und trat dann auf die Ausläufer der riesigen Lichtung.
Sein Stamm existierte nicht mehr.
Der Boden war aufgerissen. Wo vorher die vielen Thornhütten der Seinen gewesen waren, klafften nun breite Risse im Erdreich, gewaltigen Wunden gleich, die aufgehört hatten zu bluten. Nur an wenigen Stellen noch bedeckte das Rotmoos den Boden. Soweit das Auge reichte nur Zerstörung, Auflösung. Es sah so aus, als wäre eine ganze Schar von Glitschern hier an die Oberfläche gedrungen, als hätten sie hier den Boden auf der immerwährenden Suche nach Nahrung durchwühlt, so lange, bis alles tot und öde war.
Wie betäubt trat Dreiauge an eins der gewaltigen Löcher heran. Nein, es konnten keine Glitscher gewesen sein. Die charakteristischen glänzenden Lachen fehlten, und am Grund des Loches zeigten sich seltsame Spuren, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Sie verliefen parallel, etwa anderthalb Manneslängen voneinander entfernt, und wirkten fast wie eine magische Zeichnung.
Dreiauges Hauptaugen tränten, und sein Zusatzblick öffnete sich weit. Der Boden gewann daraufhin eine andere Farbe. Das tote Gelbbraun verwandelte sich in ein strahlendes Blau, und nur dort, wo Muruim und er den Boden berührt hatten, glühte er in einem dunklen Rot.
Der Metazahn knurrte, duckte sich eng an den Boden und jagte dann mit einem Satz davon. Dreiauge folgte ihm. Als er seinen Begleiter einholte, kauerte dieser vor einem unförmigen, wimmelnden Haufen. Es waren die Überreste eines Stammesbruders. Dreiauges Zusatzblick zeigte ihm, dass sein Bruder schon lange tot sein musste. Dennoch war sein Körper noch nicht zersetzt. Die Larven handtellergroßer Schaben waren eingedrungen, und die Sekrete der Muttertiere hatten den Leichnam konserviert, als Nahrungsreserve für ihre Brut. Dreiauge wandte sich ab, hob den Kopf und stimmte einen Klagegesang an.
Stunden später, als das rote Großlicht bereits am Rand der Welt versunken war, legte er sich zum Sterben nieder. Der Metazahn legte sich neben ihn, und seine Augenpaare musterten seinen Herrn. Ab und zu stieß er ein wehklagendes Winseln aus. Dreiauge berührte die Hornplatten, und das riesige Geschöpf erschauerte unter den Berührungen. Begriff es, dass es nun an der Zeit war, Abschied zu nehmen? Sein Herr weinte. Es war ein befreiendes Weinen, das den Kummer aus ihm herauswusch, ein nicht enden wollender Strom silberner Tränen. Ohne den Stamm war der Einzelne nichts. Der Stamm war das Heim, und was war ein Vollwert ohne Heim? Er war dazu verurteilt, als Einsamer die Welt zu durchstreifen, ohne Sinn und ohne die Geborgenheit, die er nur unter den Seinen finden konnte.
Als der Tränenstrom versiegte, war Dreiauge bereit. Er legte den Beutel mit dem Lebensstein ab, von dem in der ihn umgebenden Dunkelheit das Strahlenlicht ausging, deponierte Kurzspeer und Klebnetz daneben. Dann drehte er sich um und schritt einige Hundert Meter weiter, um sich direkt am Rand eines der riesigen Erdlöcher erneut niederzulegen. Der Dämon, der seinen Stamm vernichtet und die Lebens-Enklave verwüstet hatte, würde auch ihn holen und töten. Und dann war er wieder mit seinem Stamm vereint, in den Jenseits-Sphären, von denen die Schamanen sprachen, in der Groß-Enklave, wo so viele Lebenssteine existierten, dass nie ein Mangel herrschte.
Dreiauge wollte sich in die Halbstarre versetzen, die den Tod erleichterte, aber es gelang ihm nicht. Die Glieder waren plötzlich schwach, und sein Atem rasselte. Sein Kurzarm begann zu zittern, dann die beiden Beine, dann auch der Langarm. Es war empörend! Dreiauge versuchte, das Zittern und Zucken zu überwinden, aber es wurde immer intensiver. Dabei hatte er keine Angst vor dem Ende. Im Gegenteil. Es sollte die Erlösung bringen, nicht Furcht. Etwas Klebriges berührte ihn an der Wange. Der Metazahn. Der Begleiter hockte direkt neben ihm, wackelte mit dem Schädel, warf ihn dann empor und hechelte. Aus seinem breiten Maul lösten sich Tropfen einer grünen, schaumigen Flüssigkeit.
»Schmerz... schwach...« summte Muruim und stieß seinen Herrn immer wieder an. »Hel...fen...«
Der Metazahn sprang auf, von ihm fort, dorthin, wo Dreiauge seine Ausrüstung niedergelegt hatte, kehrte dann zurück, stieß ihn an.
»Ich will sterben!«, wies der ihn zurecht. »Lass mich in Ruhe!«, Aber Dreiauge erhob sich, weil er neugierig geworden war. Als er auf den Beinen stand, verschwamm das Bild vor seinen Hauptaugen, und plötzlich fühlte er sich schwach. Die Lebenssteine des Stammes, fuhr es ihm durch den Sinn. Sie sind fort, alle fort. Der Dämon, der den Meinen den Untergang brachte, hat alle Lebenssteine gestohlen. Und das hat meine Brüder und Schwestern getötet! Muruim brüllte. ohrenbetäubend, als er merkte, dass noch nicht alles Leben aus seinem Herrn gewichen war. Seine Sprungbeine gruben sich tief in den Boden, warfen den mehr als drei Manneslängen großen Körper vorwärts. Dreiauge folgte dem Metazahn, und je näher er seiner abgelegten Ausrüstung kam, desto mehr wich die Schwäche aus ihm. Als er schließlich den Beutel mit seinem Lebensstein umlegte, kehrte die Kraft in seine Glieder zurück. Und Muruim rieb zufrieden seinen Außenpanzer an Dreiauges Beinen.
»Ich wollte sterben«, sagte Dreiauge ruhig in der summenden Sprache der Metazähne. »Aber ich habe kein Recht, auch dich in den Tod mitzunehmen. Der Dämon, der meinen Stamm auslöschte, hat alle Lebenssteine gestohlen. Jedes Geschöpf weiß, dass nur die Lebenssteine die Fortdauer der Welt garantieren. Ohne Lebenssteine gibt es keine Lebens-Enklaven und keinen Zusammenhalt mehr. Alles wird untergehen.«
»Besser... jetzt... Kraft...« summte Muruim und schnalzte mit der Zunge.
»Ist es ein Zeichen?‘«, murmelte Dreiauge nachdenklich. »Vielleicht. Es gibt noch viele andere Stämme. Und möglicherweise ist der Hunger des Dämons nach Lebenssteinen noch nicht gestillt. Muruim, ich habe noch eine Aufgabe, bevor ich mich zum Sterben niederlegen darf. Ich muss den Dämon finden und ihn vernichten.«
Sie kehrten in den Dschungel zurück. Bald hatten sie einen Silbertau gefunden und legten sich zur Ruhe. Es war die einsamste Nacht, die Dreiauge je verbracht hatte.
Dreiauge wusste nicht, wo er seine Suche beginnen sollte. Er verließ sich ganz auf seine Intuition, die ihm schon oft ein hilfreicher Verbündeter gewesen war. Lange hatte er nach irgendwelchen Spuren des Dämons gesucht, aber natürlich hatte er keine gefunden. Er hatte auch noch nie von einem Dämon gehört, der Abdrücke im Erdreich hinterließ. Und doch, erinnerte er sich, hatte er am Grund der gewaltigen Erdlöcher diese seltsamen Spuren gesehen. Was musste das für ein teuflisches Geschöpf sein, das solche Abdrücke hinterließ?
Am Nachmittag des zweiten Tages nach ihrem erneuten Aufbruch erreichten Dreiauge und Muruim die Randregion der Lebens-Enklave. Schon zuvor hatten sie gespürt, dass der Lebenszusammenhang in diesem Gebiet zunehmend auseinanderbrach. Mit Hilfe seines Lebenssteins konnte Dreiauge zwar die unsichtbaren Bande von Pflanzen und Tieren wahrnehmen und sich zunutze machen, aber er wusste auch, dass die Bande nicht mehr lange halten würden. Wenn sie zerrissen, dann würde die Lebens-Enklave-ohne-Stamm wieder dem Dschungel weichen und so werden, wie sie viele Generationen zuvor gewesen war, bevor die Bebende Erde Lebenssteine an die Oberfläche der Welt geworfen hatte. Ohne ihr Strahlenlicht würde die Einheit zerfallen und dem Chaos weichen, in dem jede Lebensform gegen die andere arbeitete. Die Kolonie der Wanderschaben, die sich über die Leichen seiner Brüder und Schwestern hergemacht hatte, war ein deutliches Zeichen. Dreiauge fürchtete nicht das Leben außerhalb der Enklave, auch nicht die Gefahren, die dort wohnten. Viele Tag-Nacht-Perioden – viel mehr als Finger an seinen Händen – hatte er inmitten des Lebens-ohne-Einheit zugebracht. Außerdem begleitete ihn ein Metazahn.
Als das Großlicht nicht mehr weit vom Rand der Welt entfernt war, stießen Dreiauge und sein Begleiter auf vier Singende Steine. Bereits zuvor war es merklich kühler geworden – eine erste Ankündigung der Gefahr. Jetzt, wo sie unmittelbar am Rand der Kalten Zone standen, fröstelte Dreiauge. Ein eigenartiges Schwirren und Sirren erfüllte die Luft. Die Singenden Steine wuchsen. Der Zufall hatte es gewollt, dass Dreiauge und Muruim während der Aktivitätsphase auf sie gestoßen waren. Es handelte sich um kegelförmige, grauschwarze Steinwesen, die in die Höhe wuchsen und dabei der Umgebung Wärme entzogen. Das Erdreich um sie herum war dunkler als an anderen Stellen, und Pflanzenkeimlinge hatten hier keine Chance.
Dreiauge und der Metazahn machten einen großen Bogen um die vier Singenden Steine. Nur zu leicht konnte es geschehen, dass ein Unvorsichtiger vor Kälte erstarrte, wenn er zu nahe herankam. Und wenn er sich nicht mehr bewegen konnte, dann saugten die Singenden Steine, die zum Glück nicht laufen konnten, alle Wärme aus dem Körper, der dann dem Tod anheimfiel.
Als sie die wachsenden Steine weit hinter sich gelassen hatten, legte Dreiauge den Kopf in den Nacken. »Wir werden uns bald einen Silbertau suchen müssen«, summte er. »Die Nacht ist nicht mehr fern, und die Dunkelheit trübt den Blick und verbirgt die Gefahren.«
Die Zunge des Metazahns tastete hin und her. Die Nacht war sein Zuhause, und er wollte auf die Jagd gehen, wenn sein Herr sicher in einem Silbertau schlummerte.
Ganz in ihrer Nähe ertönte ein Schrei. Muruim duckte sich sofort dicht an den Boden, und Dreiauge packte seinen Kurzspeer. Er horchte in sich hinein, doch die Ausstrahlungen, die er empfing, verrieten ihm nichts. Hier hatte nie die Einheit des Lebens existiert. Hier gab es keine Lebenssteine.
»Das war kein Tier«, murmelte Dreiauge und bewegte sich vorsichtig vorwärts. Muruim schlich an seiner Seite, und seine Augenpaare beobachteten die Umgebung. Wieder ertönte der Schrei, näher und qualvoller.
»Wir sollten uns beeilen, Muruim.« Das Jagdfieber erwachte in ihm.
Stille.
Der Dschungel schwieg, und auch der Schrei ertönte nicht mehr. Insekten, Tiere und Mobilpflanzen verharrten, verhielten sich still.
»Aufpassen, Muruim. Das gefällt mir nicht.« Dreiauges Begleiter grunzte nur. Um einen Metazahn außer Gefecht zu setzen, bedurfte es mindestens eines Fließers oder Glitschers. Die aber hätten sich durch ihre charakteristischen Geräusche längst verraten.
Es war ein Goldhauch.
Das schleierähnliche Gebilde, das sich in dem Geflecht aus Blättern und Ästen einige Meter über dem Boden verborgen hatte, hing jetzt dicht über dem Erdboden, durch zwei weiße Stränge mit dem eigentlichen Körper verbunden, der irgendwo über ihnen im Weltdach verborgen war. Das golden glitzernde Netz hatte sich blitzschnell auf sein Opfer gesenkt, es umhüllt und war nun sicher dabei, es zu zersetzen und zu verdauen. Der Überfall konnte noch nicht lange her sein, wie die Schreie bewiesen.
Es wäre besser – und klüger – gewesen, dem Goldhauch aus dem Weg zu gehen, aber der Schrei hatte vertraut geklungen.
»Muruim, du nimmst die Verbindungsstränge.« Der Metazahn hatte nur auf eine Anweisung gewartet. Er katapultierte sich mit seinen Sprungbeinen nach vorn und schlug seine Zähne dicht oberhalb des Goldhauchnetzes in das weiße, zähe Material. Dreiauge riss das Messer aus dem Gürtel und stieß es in den goldenen Schimmer hinein. Es handelte sich um ein merkwürdiges Werkzeug, das er während seiner langen Wanderschaft gefunden hatte, aus einem Material härter als der härteste Stein. Und die scharfe Kante der silbernen Klinge blieb immer scharf, ganz gleich, was sie schnitt.
In das Blätterdach über ihnen kam Bewegung. Der Zentralkörper des Goldhauchs war von dem Angriff alarmiert.
»Wir müssen uns beeilen!«, rief Dreiauge. Nachdrücklich, aber vorsichtig führte er die Klinge durch den Schleier hindurch. Zähe Flüssigkeit tropfte auf den Boden, und dort, wo sie auftraf, kochte und dampfte es. Säure. Dreiauge war vorsichtig genug, den Tropfen auszuweichen und nicht in die sich ansammelnden Lachen zu treten. Schließlich hatte er die äußersten Schichten des Goldhauchmagens durchtrennt. Ins Innere war noch kein Verdauungssekret eingedrungen. Sie waren also gerade noch rechtzeitig gekommen. Aus dem entstandenen Loch fiel eine Hand, der ein schlaffer, bewegungsloser Arm folgte. Dreiauge steckte das Messer weg, packte den Arm und zog den Inhalt des Magens ans Tageslicht. Rasch schleppte er den bewusstlosen fort. Dort, wo die zähe Flüssigkeit zwischen den Rändern des Magens auf die Haut des Leblosen getroffen war, bildeten sich Verätzungen. Rasch holte Dreiauge seinen Beutel hervor, nahm den Lebensstein heraus und legte ihn auf die Brust des Mannes, die sich nur langsam hob und senkte. Das Leben war noch nicht aus ihm gewichen.
In dem Blätterdach rumorte es. Der Metazahn wich ein wenig zur Seite. In dem Grün dicht vor ihm erschien ein gelbliches Geschöpf, das entfernte Ähnlichkeit mit einem Fließer hatte. Natürlich war es nicht annähernd so groß.
Muruim duckte sich. Seine Flanken zitterten, und dann sprang er. Die mächtige Kraft seiner hinteren Sprungbeine warf ihn vorwärts, direkt auf den Zentralkörper des Goldhauchs zu. Das gewaltige Maul schnappte zu. Es krachte, dicke Äste brachen. Die Pranken des Metazahns gruben sich tief in den Körper, rissen ihn auf. Dickes, blaues Blut sickerte heraus und benetzte den Boden. Ein paar Augenblicke später war alles vorbei, und Muruim hatte seine Mahlzeit.
Die Verätzungen des bewusstlosen heilten unter der Strahlung des Lebenssteins. Sein Atem ging gleichmäßiger. Dreiauge wies Muruim an, den Geretteten zu bewachen, machte sich auf die Suche nach den schmackhaften Thila-Früchten und fand dabei auch eine Silbertaukolonie, die ihnen Schutz vor den Geschöpfen der Nacht gewähren würde. Als er zurückkehrte, war die Bewusstlosigkeit des Fremden einem tiefen Schlaf gewichen. Dreiauge schleppte ihn zu einem Silbertau, sah zu, wie sich das schützende Fangnetz um ihn schloss, und legte sich dann selbst zur Ruhe.
Der Name des Fremden war Vielarm. Seinen wahren Namen nannte er Dreiauge natürlich nicht. Für so viel Vertrauen bestand auch noch kein Anlass. Vielleicht später, wenn sie sich besser kannten...
»Ich danke dir, Bruder«, sagte Vielarm und ließ sich eine Thila schmecken. Seine Sprache klang merkwürdig, hatte eine seltsame Klangfärbung. Dreiauge vermutete, dass Vielarm die Bedeutung der einzelnen Wörter aus seinem Geist entnahm. Vielarm musste von weither kommen und hatte sicher bis vor kurzem seine Sprache gar nicht gekannt. »Dafür, dass du mir mein Leben zurückgegeben hast.«
Der Fremde trug seinen Namen zu Recht. Er war etwas kleiner als Dreiauge. Seine Beine waren dick und kurz und schienen sehr kräftig zu sein. Die Arme dagegen waren klein und verkrüppelt. Jedoch besaß Vielarm die besondere Gabe, sich nach Belieben neue Arme wachsen zu lassen, sie mal kräftiger und mal schwächer gestalten zu können.
Dreiauge dagegen besaß nur seinen Zusatzblick und war bis auf den Buckel und unförmige Gelenke an Armen und Beinen normal gewachsen.
»Du hättest für mich sicher das Gleiche getan«, gab Dreiauge höflich zurück und reichte dem Geretteten eine weitere Frucht. »Wo ist dein Begleiter? Und wo dein Lebensstein?««
Vielarms Miene verdüsterte sich. »Das ist eine lange Geschichte. Mein Begleiter und treuer Freund starb viele Tageslängen von hier. Bis jetzt habe ich keinen neuen gefunden. Und mein Lebensstein...« Für einen Augenblick hielt Vielarm damit inne. »Ich bin schon lange auf der Wanderschaft, musst du wissen. Sehr, sehr lange. Ich habe die Großen Seen tief im Süden gesehen. Ich war in einem Land, in dem kaum noch Bäume wachsen und der Boden mit einer kalten, weißen Schicht bedeckt ist, die, behält man sie in der Hand, zu Wasser wird. Ich habe viel gesehen. Ich habe vielen Gefahren widerstanden, dem Tod oft ins Auge geblickt. Ich bin nicht ängstlich, mein Freund, auch wenn ich gestehen muss, dass die Fressfalle, die du Goldhauch nennst, mir einen gehörigen Schrecken eingejagt hat. Aber einmal hatte ich doch wirklich Angst. Es war weit im Westen und dann noch ein Stück nach Süden, dort, wo der Dschungel sich lichtet und weiten Ebenen Platz macht. Dort gibt es Nebel, die in der Lunge beißen und töten können, wenn man nicht achtgibt. Dort habe ich Männer und Frauen gesehen – und auch Kinder –, die tagaus, tagein an vielen, vielen Pflanzenstauden arbeiten, ja, inmitten des todbringenden Nebels. Manchmal taucht ein blitzendes Ding in der Luft auf, das summt wie ein Singstein. Oder zumindest so ähnlich. Und wenn es landet, dann stößt es Wesen aus, die uns ähneln. Aber nicht ganz. Sie gleichen sich einander, wie es nicht einmal Gleichgeborene tun. Und die Pflanzenarbeiter fürchten sie und tun alles, was sie sagen. Und die Gleichen haben fürchterliche Waffen! Waffen, die viel weiter reichen als dein Kurzspeer. Waffen, die manchmal nur Schmerz bringen, manchmal aber auch töten können. Offenbar sind die glänzenden Dinger, die in der Luft schweben oder auch auf dem Erdboden dahinkriechen können, ihre Begleiter. Es ist kein gutes Land, und ich habe mich auch beeilt, es wieder zu verlassen. Doch gerade, als ich diesen Beschluss Fasste, sank ich zu Boden und fiel in einen tiefen Schlaf. Als ich aufwachte – an einem ganz anderen Ort! –, war mein Lebensstein verschwunden. Bis heute weiß ich nicht, was damals geschehen ist. Ich setzte meine Wanderung fort und suchte einen neuen Lebensstein. Aber sie sind selten geworden. Ich wurde schwächer und schwächer, konnte schließlich kaum noch weiter. Da hörte ich von einem Stamm, der hier in der Nähe leben und viele Lebenssteine haben soll. Ich wollte ihn aufsuchen, aber ich war bereits so geschwächt, dass ich in die Fressfalle geraten bin, aus der du mich schließlich gerettet hast.« Und damit stopfte er sich eine weitere Thila in den kauenden Mund.
Dreiauge nickte. Am Rand der kleinen Lichtung, auf der sie hockten und die Wärme von Großlicht genossen, knackte etwas, dann trottete Muruim auf seinen Herrn zu. Vielarm hielt mit dem Kauen inne.
»Keine Angst«, beruhigte ihn Dreiauge. »Das ist ein Metazahn. Mein Begleiter.« Und er war mächtig stolz, dies sagen zu können. Vielarm war beeindruckt. Aber auch noch immer hungrig. Dreiauge erzählte ihm schließlich seine Geschichte.
»Das ist sehr traurig«, sagte Vielarm daraufhin ernst. »Wahrscheinlich war dein Stamm derjenige, von dem ich hörte. Es spricht für deinen Mut und deine Ehre, dass du dich auf die Suche nach dem Dämon gemacht hast. Ich wünsche dir viel Glück. Und möge deine Rache bald über deine Feinde kommen!«
Dreiauge nickte nur und dachte über Vielarms Erzählung nach. Noch nie zuvor hatte er von den Gleichen gehört.
Es konnten keine Tiere sein, wenn sie in der Lage waren, Brüder und Schwestern aus seinem Volk zu unterwerfen. Sie kannten offenbar auch die Sprache des Geistes. Mit beiden Händen umklammerte Dreiauge seinen Lebensstein und vertiefte sich noch einmal in die Bilder, die noch immer in Vielarms Geist waren. Er sah die tödlichen Nebel, die Gleichen – wie seltsam sie waren! –, Wesen, die so waren wie er und Vielarm, auch wenn sie natürlich nicht ihnen beiden ähnelten. Er sah die Begleiter.
Und er sah die Spuren, die sie auf dem Erdboden hinterließen.
Dreiauge schrie plötzlich und sprang auf. Muruim knurrte böse und wusste nicht so recht, wem er seinen Unmut zuwenden sollte. Einige Ranken und Langblüten wandten ihre Blütenkelche in seine Richtung.
»Der Dämon, den ich suche«, brachte Dreiauge hervor. »Er hinterließ die gleichen Spuren in den Erdlöchern wie auch die Begleiter der Gleichen!«
»Du musst dich irren, mein junger Freund«, erwiderte Vielarm sanft. »In diesen Gebieten bin ich noch nie auf Gleiche gestoßen. Und bis zu den Bereichen des Todnebels ist es ein sehr weiter Weg, glaub mir.« Vielarm schüttelte sich und verlor seinen Appetit.
»Soweit der Weg auch ist«, entgegnete Dreiauge bestimmt, »ich werde ihn zurücklegen. Komm, Muruim, wir brechen auf.«
Vielarm erhob sich ebenfalls.
»Ich wünsche dir Glück.«
»Du kommst nicht mit?«
»Ich war einmal dort, und das reicht. Du kennst die Gefahren nicht, die dich erwarten.«
»Aber du hast keinen Lebensstein. Und ich kann meinen nicht entzweibrechen! Allein bist du verloren.«
Vielarm winkte mit vier seiner Krüppelarme. »Da hast du recht...«
»Ich kenne einen Ort«, sagte Dreiauge, »an dem wir Lebenssteine finden können. Wenn du mich begleitest, führe ich dich dorthin. Und außerdem vergiss nicht, dass du in meiner Schuld stehst!«
»Du bist recht hartnäckig für dein junges Alter«, sagte Vielarm und lächelte. »Nun gut. Mein Leben hast du mir zurückgegeben. Mein Leben für deine Rache. So sei es.«
Und damit brachen sie auf. Rache, dachte Dreiauge. Rache für die Auslöschung meines Stamms? Vielleicht. Aber das allein ist es nicht. Vielleicht auch ein bisschen Neugier? Nein, Neugier ist nicht ganz das richtige Wort. Furcht. Ja, Furcht.
Vor nicht vielen Tagen noch war Dreiauges Welt überschaubar gewesen. Er hatte einen Stamm gehabt, zu dem er zurückkehren konnte. Eine Frau, die er wählen musste. Lebenssteine, die Kraft und Wohlempfinden spendeten, das Leben zu einer Einheit machten.
Die Welt verändert sich, dachte Dreiauge. Sie verändert sich schnell.
Als sie zwei Wochen unterwegs waren, bebte die Erde. Es war kein großes Beben, auch nicht sonderlich gefährlich, dennoch suchten sie in einem Silbertau Schutz. Seltsamerweise gelang es Dreiauge erst beim dritten Versuch, den Silbertau zu veranlassen, sie aufzunehmen. Er nahm es als ein schlechtes Omen.
Einige weitere Tagesmärsche brachten sie in das Zentrum des Bebens, das inzwischen abgeflaut war. In dieser Region waren die Dschungelriesen wie Miash-Hölzer umgeknickt, und das Weiterkommen war entsprechend schwierig. Im Boden klafften tiefe Risse, Lebenssteine fanden sie allerdings nicht. Vielleicht war das Beben nicht stark genug gewesen, um Lebenssteine an die Oberfläche zu bringen. Vielleicht... Aber Spekulationen nützten nichts.
Dreiauge und Vielarm begannen sich unwohl zu fühlen. Zwar reichte das Strahlenlicht ihres einzigen Lebenssteins aus, um das Überleben zu sichern, aber der lange Entzug voller Strahlenkraft machte sich nun bemerkbar. Außerdem hätten sie nach Dreiauges Rechnung längst die Region erreichen müssen, von der sein Vater behauptet hatte, dort gäbe es jede Menge Lebenssteine, fast so viele wie dort, wo der Stamm gelebt hatte. Die Lebens-Enklave hatten sie längst hinter sich gelassen. Das brachte neue Gefahr mit sich, denn nun genügte nicht mehr das Konzentrieren auf das Strahlenlicht, um Informationen über die Umgebung und mögliche Bedrohungen zu gewinnen. Hier existierten nur sehr wenige Lebensformen, die jemals in Berührung mit der Kraft von Lebenssteinen gekommen waren. Chaos war die Folge. Auch war in dieser Region die Vegetation nicht mehr so üppig, wie es Dreiauge, Vielarm und auch Muruim liebten. Sie machte sogar einen eher kraftlosen Eindruck, als hätte sie den Kampf ums Weiterleben aufgegeben.
»Der Boden ist tot«, vermutete Vielarm gegen Abend eines weiteren Marschtages. »Er enthält nur noch wenige Mineralien. Und nicht das Strahlenlicht. Es wird nicht mehr lange dauern, und der Dschungel macht der Savanne Platz.«
»Woher weißt du das?«, fragte Dreiauge. »Was sind Mineralien?«
Vielarm erklärte es ihm. Er erzählte, dass die Schamanen seines Volkes Legenden hüteten. Natürlich durfte man Legenden nicht unbedingt trauen und sie schon gar nicht als Wahrheit hinnehmen, aber manchmal lag ein Hauch Wahres in ihnen, und mittels Lebenssteinen gelang es den Schamanen, Wahrheit von Übertreibung zu trennen. Ihre Vorfahren, behauptete Vielarm, mussten viel mehr über solche Dinge gewusst haben.
Wieder neigte sich das Großlicht dem Rand der Welt entgegen, und wieder machten sie sich auf die Suche nach einem Silbertau für die Nacht. Es dauerte nicht lange, dann hatten sie auch eine Kolonie gefunden. Es waren gewaltige, silberfarbene Netze mit engen, klebrigen Maschen, ihre Außenleinen mit Zweigen und Ästen, Baumstämmen und dem Erdboden verbunden. Die Fänger – es mussten zwei oder drei sein – hatten sich irgendwo im Dickicht versteckt. Dreiauge holte seinen Lebensstein aus dem Beutel, konzentrierte sich kurz und schritt dann auf den nächsten Silbertau zu. Er berührte eine der Maschen – und klebte fest.
Der Metazahn knurrte unwillig und sah sich grimmig um.
»Ich hänge fest!«, rief Dreiauge erschrocken und konnte es gar nicht fassen.
So etwas hatte er nie zuvor erlebt. Immer hatten die Silbertau Wanderern Unterschlupf gewährt, wenn sie das Strahlenlicht bei sich trugen. Dieser aber akzeptierte ihn nicht, sondern hielt ihn wie ein Opfer fest!
Zu seiner Rechten bewegte sich etwas.
»Der Fänger kommt!«, rief Vielarm. »Der Fänger!«
Es war ein Geschöpf, das seinen halbkugelförmigen, über und über behaarten Körper auf zwölf doppelgelenkigen Beinen trug. Unter den sieben Augen, die auf der Halbkugel glänzten, befand sich ein Kiefer, der mühelos dicke Knochen zermalmen konnte.
Dreiauge wagte kaum, sich zu bewegen. Jede Vibration der Klebmasche musste den Fänger weiter alarmieren, ihn näher heranlocken – wenn er sie nicht bereits gewittert hatte. Langsam und vorsichtig löste Dreiauge seinen Kurzspeer. Er war nicht vorsichtig genug. Eine neue Erschütterung – und der Fänger raste blitzschnell auf den Silbertau zu und glitt an den Maschen auf das gefangene Opfer herab. Muruim brüllte, aber der Fänger ließ sich davon nicht beeindrucken. Dreiauge unterdrückte die Furcht, holte aus und warf den Speer. Er bohrte sich knirschend direkt in den Kiefer des Fängers, der daraufhin erstarrte, zu zittern begann und am Silbertau entlang auf den Boden stürzte, dicht neben Dreiauge. Die Beine zuckten. Der Metazahn brüllte erneut und stürzte sich mit einem Satz auf den gefährlichen Gegner.
Vielarm war plötzlich an Dreiauges Seite.
»Nimm das Messer!«, stieß Dreiauge hervor. »Dort, wo ich an der Masche hänge, musst du die oberen Hautschichten lösen. Anders komme ich nicht los.«
Es schmerzte, aber Dreiauge brachte keinen Laut über die Lippen. Als Vielarm ihn befreit hatte, rann dickes rotes Blut aus einer hässlichen Wunde an seiner rechten Hand. Mit Hilfe des Lebenssteins konnte die Verletzung jedoch schnell geheilt werden. Muruim hatte dem Fänger inzwischen den Garaus gemacht und tat sich an dem Kadaver gütlich. Knochen und Chitin knackten.
Die Dunkelheit war gekommen, Und sie hatten kein sicheres Nachtlager. Im Osten ertönte ein Summen, als hätten dort Singende Steine eine eigenartige Melodie angestimmt.
»Sieh mal«, sagte Vielarm.
Das Summen ging von einem hellen Punkt aus, der sich ihnen näherte. Dreiauge hatte so etwas noch nie gesehen. Ein Finger aus grellweißem Licht ging von dem Ding aus, strich hierhin und dorthin, verblasste wieder, flammte erneut auf. Plötzlich strich der Lichtkegel auch über Dreiauge, Vielarm und Muruim hinweg. Die Blendung währte nur einen Sekundenbruchteil, aber Dreiauge erschrak zutiefst. Das Summen wurde wieder leiser.
Vielarms Gesicht drückte tiefe Besorgnis aus. Der Metazahn sah von seiner Mahlzeit auf und knurrte dem verblassenden Licht nach.
»Ruhig, Muruim, ruhig.«
»Das waren sie«, sagte Vielarm leise und brachte Dreiauge den Speer zurück. »Das war ein Begleiter der Gleichen!«
»Ich dachte, du hast sie hier noch nie gesehen...«
»Bis jetzt noch nicht.«
In der Richtung, aus der der Summer gekommen war, glühte ein diffuses Licht.
»Was mag das sein?«
Vielarm zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht mehr als du, mein junger Freund.«
»Dort müssen die Lebenssteine sein, von denen mein Vater erzählt hat. Das heißt, falls ich mich nicht in der Richtung getäuscht habe.««
Vielarm antwortete nicht und schwieg auch dann, als er von Dreiauge zum Weitermarschieren aufgefordert wurde. Die ersten Hornizz tauchten auf, Stechinsekten, Aasfresser, so groß wie eine Männerhand. Muruim fauchte, aber die Hornizz kümmerten sich nicht weiter um ihn. Sie würden sich vollfressen – und dann nach einem Wirt Ausschau halten, in dessen lebendem Körper sie ihre Eier ablegen konnten. Dreiauge wollte nicht von innen heraus aufgefressen werden. Das Licht jenseits der Hügelkette zog ihn an, und Muruim und Vielarm folgten ihm.
Der Pflanzenfilz wurde sehr schnell lichter. Dreiauge horchte in sich hinein, aber er empfing nicht die Ausstrahlungen des Strahlenlichts. Vielleicht hatte sich sein Vater geirrt, vielleicht war es auch nur eine Geschichte gewesen, wie man sie Kindern erzählte. Der Metazahn hatte seine Mahlzeit beendet, wurde aber dennoch immer unruhiger. Das war kein gutes Zeichen. Wäre Dreiauge allein gewesen und hätte er seinen toten Stammesbrüdern und -schwestern nicht versprochen, ihren Tod zu rächen, dann wäre er vielleicht umgekehrt.
Das Rotmoos verschwand, und als sie die Ausläufer der Hügel erreichten, war es vollkommen finster geworden. Das Kleinlicht wanderte nicht über den Himmel, und nur wenige Junglichter waren zu sehen. Vielarm hatte behauptet, dass der wahre Name Großlichts Sonne sei und jener der Junglichter Sterne, aber Dreiauge konnte mit diesen Namen wenig anfangen.
Das Licht, das hinter den Hügeln schimmerte, reichte zur Orientierung gerade aus. Ein leises Summen lag in der Luft, ähnlich dem des Objekts, das über sie hinweggeschwebt war. Dreiauge hatte seinen Zusatzblick weit geöffnet und vergewisserte sich, dass ihnen von den Nachtgeschöpfen hier keine Gefahr drohte. Immer wieder musste er sich daran erinnern, dass er an diesem Ort keine Verbindung mehr hatte. Sein Lebensstein konnte ihm kaum noch weiterhelfen.
»Ganz ruhig, Muruim«, brummte Dreiauge, und der Metazahn drückte sich an ihn. Etwas machte seinem Begleiter Angst, und das ließ auch Dreiauge nervös werden.
Als sie schließlich die Kuppe des Hügels erreichten, ließen sie sich zu Boden fallen und zitterten. Unter ihnen öffnete sich eine gewaltige Grube, einem Loch in der Welt gleich. Sie war unzählige Manneslängen tief, und der gegenüberliegende Rand lag inmitten eines dunstigen Nebels verborgen, dessen winzige Tropfen Licht von Gebilden reflektierten, die Dreiauge und auch Vielarm noch nie zuvor gesehen hatten. Tief am Boden des riesigen Loches krochen Begleiter der Gleichen dahin. Sie fraßen sich mit ihren hungrigen Mäulern in den Boden hinein und hinterließen weitere, kleinere Löcher. Manchmal hielt einer dieser Begleiter inne, und dann lösten sich Lebewesen, die im Vergleich zu ihnen winzig aussahen, von ihnen. Sie schritten umher und kehrten dann wieder in das Innere ihrer Begleiter zurück.
»Dein Vater hat nicht gelogen««, sagte Vielarm leise. »Hier hat es Lebenssteine gegeben. Vielleicht sogar sehr viele. Aber die Gleichen haben sie alle mitgenommen, und jetzt sind so wenige übrig, dass wir kaum das Strahlenlicht wahrnehmen können.«
Dreiauge fühlte sich plötzlich unsagbar müde.
»Warum?«, fragte er. »Wissen die Gleichen denn nicht, dass sie damit die Einheit zerstören? Hier wird es bald keine Thilas mehr geben. Und die Silbertaue reagieren nicht mehr auf unsere Signale...«
»Die Welt verändert sich«, entgegnete Vielarm leise. Seine Stimme vibrierte leicht.
»Sieh dort.« Dreiauge deutete nach links. An dem Steilhang, der zur Grube hinabführte, wuchsen fünf Singende Steine. »Die Kraft der Lebenssteine, die ihr Wachstum verhindert, existiert nicht mehr. Nicht lange, und es werden mehr werden. Die Große Kälte wird kommen und alles Leben ersticken.«
Die Müdigkeit in Dreiauge nahm weiter zu. Er hatte Mühe, seine drei Augen offen zu halten. Der Metazahn neigte den großen Kopf und zischte. Dreiauge packte seinen Speer. »Ich habe die Dämonen gefunden«, sagte er, und seine Breitlippe verformte sich dabei. Die Kälte der Nacht floss in seinen Gliedern, und er verfestigte seine Außenhaut, indem er sich auf seinen Lebensstein konzentrierte. Jetzt würde er nur noch wenig Körperwärme verlieren. Muruims Zunge tastete umher. »Willst du mir helfen, Freund? Ich habe geschworen, die Dämonen anzugreifen und zu vernichten. Ich werde den Schwur nicht brechen.«
»Ge... fahr...«
»Ja, ich weiß, Muruim. Große Gefahr.«
»Nicht... die... Gleichen... anders...«
»Was macht das schon?«, Dreiauge lachte bitter. »Unsere Welt stirbt. Wir sterben. Alles geht einmal einem Ende entgegen.«
Er drehte sich auf den Rücken. Das Gras, das an den Hängen des Hügels wuchs, veränderte sich. Überall öffneten sich Blüten, schwangen hin und her und setzten dabei Schwärme von Pollen frei, die der sanfte Wind davontrug.
Dreiauge strich sich über seine nun harte Haut, malte leise murmelnd Zeichen in den staubigen Belag. Eine seltsame Heiterkeit erfasste ihn, und gleichzeitig wurde er müde. Lachend fiel Dreiauge in einen tiefen Schlaf.
Der Metazahn hechelte und leckte über den Körper seines Herrn, um die Haut von dem Blütenstaub zu befreien. Aber immer weitere Pollensäcke platzten.
Während der Nacht veränderte sich Vielarms Geschlecht. Die Pollen waren der Auslöser, und die Drüsen überschwemmten seinen Körper daraufhin mit Hormonen. Während der Metazahn sich einige Meter zurückgezogen hatte, immer bereit, aus seinem Halbschlaf hochzufahren, wenn Gefahr drohte, wurde Dreiauges und Vielarms Schlaf zu einer euphorischen Trance. Dreiauges Lebensstein schien heller zu strahlen, als er auf die Veränderung des Hormonhaushalts in den beiden Körpern reagierte und die Veränderung synchronisierte.
Dreiauge und Vielarm legten ihre Kleidung ab. Vielarms Penis hatte sich erst verformt und dann zurückgebildet. Die Veränderung, erst einmal in Gang gekommen, forderte Entsprechungen. Muruim knurrte‚ aber er begriff auch, dass er keine Möglichkeit hatte, hier einzugreifen. Einige Minuten lang war Vielarm geschlechtslos, der Penis vollkommen zurückgebildet. Im Unterleib bildeten sich andere Organe, und dann wuchs zwischen seinen Schenkeln eine Vagina. Aus Vielarm dem Wanderer wurde Vielarm die Empfängerin. Dreiauges Hände strichen über noch weiter anschwellende Brüste. Sein eigener Penis war hart und steif geworden, und sein Herz pochte schnell und laut. Die Dämonen waren vergessen, die Welt schrumpfte.
Wären die Ausstrahlungen weiterer Lebenssteine in der Nähe gewesen, hätten sie diesen Prozess vielleicht bewusst miterleben und steuern können. Möglicherweise hätten sie dann auch die Kraft gehabt, die Veränderung zu unterbrechen oder so lange zu verschieben, bis sie aus der Nähe des Dämonenlochs verschwunden waren. So aber waren sie nur Marionetten, von einer stärkeren Kraft gesteuert.
Dreiauge drang in Vielarm ein. Wärme empfing ihn. Er bewegte sich erst langsam, doch seine Stöße wurden bald schneller und härter. Sein Atem ging keuchend. Vielarms Augen glänzten. Sie schrie, aber niemand von ihnen hörte die Schreie. Bis auf den Metazahn, der immer unruhiger wurde, wohl wissend, dass er nicht eingreifen konnte. Während ihre harten, rhythmischen Bewegungen immer schneller wurden, rutschten Dreiauge und Vielarm langsam von der Kuppe des Hügels und dem Steilhang entgegen, der in die Tiefe führte, zum Grund des gewaltigen Lochs, das die Dämonen in die Welt gefressen hatten.
Der Metazahn sprang auf und kroch dem stöhnenden und schreienden Knäuel entgegen.
»Nicht... gefähr... lich... hinab... stürzen...«
Der Boden begann zu knirschen. Muruim verharrte, verlagerte dann seinen Schwanz und wollte zurückspringen, doch es war bereits zu spät. Das zusätzliche Gewicht des Metazahns war der Auslöser. Ins Erdreich kam Bewegung. Muruim brüllte, konnte jedoch nichts mehr tun. Sie rutschten hinab ins Weltloch.
In dem Augenblick, in dem Dreiauge sich entlud, prallte sein Kopf auf einen Felsen. Schmerz fuhr den Nacken hinab, rann durchs Rückgrat und lähmte die Nerven. Für einen Moment verschwand die Trance. Hilflos beobachtete er, wie die Begleiter der Gleichen näher kamen. Dunkelheit legte sich um seinen Geist.
Als Dreiauge wieder erwachte, hatte sich seine Umgebung gründlich verändert. Er befand sich in einer sehr sonderbaren Höhle mit glatten Wänden, die hell schimmerten, fast so hell wie die Klinge seines Messers. Sie waren eben, und sein Zusatzblick offenbarte ihm, dass sie auch annähernd die gleiche rötliche Tönung hatten. Nirgendwo waren Verfärbungen zu erkennen, keine Gesteinsverunreinigungen, keine Flechten. Der Boden war ebenso glatt. Dreiauge versuchte sich zu bewegen, aber etwas hemmte die Bewegungen. Der Einfluss wurde stärker, wenn er sich ihm entgegenstemmte.
»Muruim«, brummte er beunruhigt, »wo bist du?«
Er war nackt. Das allein war sicher kein Grund, Furcht zu empfinden. Aber seine ganze Ausrüstung war verschwunden. Das Messer, der Kurzspeer, das Klebnetz. Und sein Lebensstein!
Das linke Großauge registrierte eine Bewegung. Ein glänzender Arm schob sich in sein Blickfeld. Der Arm endete nicht in einer Hand, sondern in einer Spitze. Dicht über der Spitze schwappte eine grüne Flüssigkeit. Dreiauge beobachtete. Die Spitze verharrte kurz, näherte sich dann zielstrebig seinem linken Arm. Dreiauge wollte den Arm bewegen, aber der hemmende Einfluss war inzwischen so stark geworden, dass er sich nicht mehr rühren konnte. Die Spitze stach in seine Armbeuge, was nicht sonderlich schmerzte, und die grüne Flüssigkeit verschwand.
Die Gleichen, dachte er, als er sich zu erinnern begann. Wir sind in das Weltloch gestürzt. Die Dämonen haben uns gefangen.
Er schloss die Augen und murmelte die alten Worte, die den Einfluss böser Magie zurückdrängen sollten. Das Summen um ihn herum veränderte sich. Irgendwo zischte etwas, dann drangen Stimmen an seine Ohren. Stimmen, deren Worte er nicht verstehen konnte. Eine seltsame Gestalt näherte sich. Sie war groß, bestimmt anderthalb Manneslängen, und ihre Haut glänzte und knisterte, wenn sie sich bewegte. Auf dem Kopf trug sie einen silberfarbenen Schmuck, der das ganze Haupt umhüllte und nur in Höhe der Augen einen schmalen Schlitz freiließ. Nein, verbesserte sich Dreiauge, es war kein Schlitz, es war ein Material, durch das man hindurchblicken konnte wie durch klares Wasser. Eine zweite Gestalt trat hinzu – und sie glich der ersten.
Sie sind es, dachte Dreiauge. Es sind die Gleichen. Die Dämonen.
Wieder ertönten die Stimmen. Die beiden Gleichen entfernten sich von ihm, traten diesmal aber nicht hinter ihn, sondern näherten sich der Wand vor ihm. Sie berührten Flächen, deren Rot etwas tiefer und kräftiger war, wie ihm sein Zusatzblick offenbarte. Das Summen wurde intensiver. Der Boden bewegte sich, Klappen öffneten sich. Silberne Finger wuchsen in die Höhe. Sie hatten Ähnlichkeit mit Singenden Steinen, aber ihre Laute waren anders. Die Finger waren mit Ausformungen und Glimmpunkten bedeckt, die die Gleichen in einer bestimmten Reihenfolge berührten. Ein weiterer Finger wuchs und Dreiauge hätte beinah aufgeschrien. Auf diesem Finger lag der Beutel, der seinen Lebensstein enthielt!
Erst jetzt bemerkte Dreiauge die Schwäche in ihm. Er musste lange von seinem Lebensstein getrennt gewesen sein und hatte das Strahlenlicht bitter nötig. Er schloss die Augen, versetzte sich in die Halbstarre und saugte die lebensspendende Kraft auf. Dabei machte er eine seltsame Erfahrung. Wenn er sich nun konzentrierte, konnte er einige der Worte der Gleichen verstehen. Und je länger er lauschte, desto mehr verstand er, auch wenn die Worte manchmal mehr als fremdartig waren.
»Er ist ekelhaft. Noch widerwärtiger als die Mutas, die wir hier oben haben.«
Eine Frauenstimme, wusste Dreiauge. Bezog sich die Bemerkung wirklich auf ihn?
Eine Schaltung. »Er strahlt wie ein ganzer Kernreaktor. Meine Güte! Wir dürfen uns nicht zu lange in seiner Nähe aufhalten. Nicht einmal mit diesen Schutzanzügen!«
»Hast du den Stein schon untersucht?«
»Ja, Es ist hochprozentiges Thorium. Kein Wunder also, dass der Bursche so aufgeladen ist.« Ein Kichern. »Weißt du eigentlich, wie wir ihn gefunden haben?«
Ein Bild, das Dreiauge auffing. Zwei Körper, ineinander verschlungen, die Geister von Ekstase erfüllt. Er begriff. Die Pollen hatten den Fruchtbarkeitsschlaf ausgelöst, zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Es war nicht Dreiauges erste Vereinigung gewesen, aber die erste als Vollwert. Und der kam eine besondere Bedeutung zu. Aber sein Stamm war tot, und niemals wieder würden die Tänze der Freude Glück und neues Leben spenden. Er hatte sich mit einer Empfängerin vereinigt, deren wahren Namen er nicht einmal kannte!
»Ich habe noch nie einen so riesigen Penis gesehen«, fuhr der Mann lachend fort. »Mensch, das war wirklich ein Riesending!«
Die Frau drehte sich um und trat wieder an Dreiauge heran. Ihre rechte Hand berührt Dreiauges Penis, der wieder schlaff war, hob ihn an, ließ ihn wieder fallen.
»Jetzt ist er wieder normal«, erklärte der andere Gleiche. »Wenn sich zwei Erdmutas vereinigen, dann kommt es kurzzeitig zu Körperveränderungen. Wir kennen das ja schon. Aber einen so amüsanten Fund hatten wir lange nicht mehr.«
»Er ist abscheulich.«
»Natürlich ist er das. Er gehört einer angepassten Lebensform an, vergiss das nicht. Ich finde es irgendwie faszinierend.«
»Hast du die Hirnstrommessungen schon vorgenommen?«
Das war wieder so ein Wort, das Dreiauge nicht verstand. Er fühlte sich jetzt kräftiger und machte die Erfahrung, dass Worte von Bildern begleitet wurden, die den Inhalt beschrieben. Neue Informationen strömten in sein Denken und vergrößerten sein Begriffsvermögen.
»Ja. Er ist vor wenigen Minuten wach gewesen. Aber der Schock der für ihn fremdartigen Umgebung hat ihn in eine Starre versetzt. Hirnstrom ist jetzt Null-null-eins-sieben.«
Die Frau stieß einen Knurrlaut aus. »Das ist weitaus weniger als bei unseren Mutas. Ich verstehe nicht, warum wir immer wieder Erdmutas aufnehmen und untersuchen. Es hat sich herausgestellt, dass sie für unsere Zwecke unbrauchbar sind. Die meisten sind nicht einmal für einfache Arbeiten zu gebrauchen. Unsere Mutas sind Intelligenzbestien dagegen. Und ihre Vermehrungsrate ist hoch genug, um keinen Mangel an Arbeitskräften entstehen zu lassen.«
»Ich verstehe ja deinen Ekel‘«, sagte der Mann. »Aber du solltest dich wirklich nicht dazu verleiten lassen, einen möglichen Wert zu missachten. Du weißt so gut wie ich, dass die Erdmutas von Radioaktivität leben. Nein, das ist nicht ganz richtig. Sie leben nicht davon. Radiostrahlung ist ein Lebenskatalysator für sie. Und du weißt auch, dass wir nicht wertvolle Energie damit verschwenden dürfen, nach neuen, von den Beben freigelegten Thorium-, Uran- und Plutoniumlagerstätten zu suchen. Die Erdmutas sind gewissermaßen organische Detektoren. Wir haben in der Euros-Region ein neues Vorkommen entdeckt. Die Strahlung ist dort so hoch, dass wir keine Stadtmutas einsetzen können. Und auch die Dominanten und Rezessiven können nur sehr beschränkt benutzt werden. Allein die Abschirmung, die nötig ist, verschlingt zu viel Energie. Es liegt doch auf der Hand, dass die Erdmutas die geeigneteren Arbeitskräfte sind.«
Wieder empfing Dreiauge Bilder. Er sah die Begleiter der Gleichen, sich in den Boden wühlend, Lebenssteine fressend. Er war empört und wütend. Begriffen sie denn nicht, was sie taten? Weitere Bilder. Die Lebenssteine wurden zu Staub zermahlen, das Strahlenlicht wurde von seltsamen Gebilden verschlungen, die wiederum andere Dinge antrieben.
»Hast du bereits eine Gen-Probe entnommen?‘«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Das Ergebnis wird so sein wie gewohnt. Ein offenes Gen-Muster, noch stärker ausgeprägt als bei unseren Mutas. Ein genetisches Programm, das keins ist und auf jede Umweltveränderung sofort reagiert. Allerdings scheint diese DNS-Maschine nur mit Radioaktivität zu funktionieren.«
»Und doch reagiert zumindest die erste Generation von Erdmutas, die wir auf den Plantagen einsetzen, äußerst heftig auf Pestizide und Insektizide. Erst die zweite Generation zeigt eine achtzigprozentige Resistenz.«
»Da siehst du, wie wertlos sie für uns sind.«
»Nimm trotzdem eine Gewebeprobe. Wir können ihn mit einer Stadtmuti kreuzen. Es wäre sicher interessant, das Ergebnis näher zu untersuchen. Und dann«, er lachte kurz, »kann er sich mit seiner Freundin in der Euros-Region weiter vergnügen.«
»Sei nicht geschmacklos!«
»Huh! Er ist nicht nur einfach eine lebende, sich reproduzierende Fleischmasse. Wenn du nicht das Glück gehabt hättest, dass sich deine Vorfahren als stabil herausstellten und kurz nach der TÖK, dem ökologisch-ökonomischen Zusammenbruch, in eine der Städte ziehen durften, dann würdest du heute vielleicht genauso aussehen. Vielleicht würdest du dich dann mit dem Riesending amüsieren.«
»Das reicht. Mit dir arbeite ich nicht mehr zusammen! Ich werde eine Eingabe machen!«
»Tu, was du nicht lassen kannst. Ich habe nur versucht, dir zu erklären, dass wir mit den Erdmutas verwandt sind. Historisch und entwicklungsgeschichtlich gesehen. Und nun nimm die Gewebeprobe!
Sie holte ein Sterilisatormesser und näherte sich dem deformierten Geschöpf auf der Liege.
Dreiauge hatte nicht alles von dem begriffen, was die beiden Gleichen gesagt hatten. Er verstand aber, dass die Gleichfrau in seinen Körper schneiden wollte. Und ihre Gedanken waren voller Hass und Abscheu. Vielleicht schnitt sie tiefer als nötig. Dreiauge fühlte sich wieder stark und kräftig, dennoch konzentrierte er sich jetzt erneut auf seinen Lebensstein. In seiner Vorstellung schwoll er zu einem gewaltigen Block an. Der hemmende Einfluss ließ nach; die Frau beugte sich zu ihm nieder. Die Augen hinter dem Schlitz glänzten. Dreiauge kehrte von Halbstarre zu Vollaktivität zurück. Er sprang auf, hieb der Frau seine Faust gegen die Kopfbedeckung, stürmte zu dem Finger mit seinem Lebensstein und streckte den Mann auch noch nieder.
Er drehte sich um und verdrängte den Triumph in ihm. Hinter dem Gestell, auf dem er geruht hatte, war eine Öffnung in der Wand. Dreiauge überlegte nicht lange, sondern rannte hindurch und stürmte durch den sich daran anschließenden Tunnel.
Dreiauge hatte Angst. Hatte die Dämonenburg, in der er sich befand, keinen Ausgang? Immer neue Tunnel tauchten vor ihm auf, die manchmal in Hallen mündeten. Helles Licht erstrahlte in diesen Kavernen, während die Korridore nur spärlich beleuchtet waren. Und dennoch war nirgendwo Großlicht – die Sonne – zu sehen. Eine Dämonenburg, ja. Aber Dreiauge hatte inzwischen begriffen, dass ihre Bewohner keine Dämonen waren. Viele Informationen lagerten noch in seinem Denken, die ausgewertet werden wollten. Keine Dämonen, aber mächtige, sehr mächtige Geschöpfe, dazu imstande, die Nacht zum Tag zu machen.
Mehrmals begegnete er Gleichen, die nicht von der silbern glänzenden Haut umgeben waren. Offenbar hatten sie keine Angst vor ihm, denn sie liefen nicht auseinander. Sie sahen nur auf und beschäftigten sich dann weiter mit undefinierbaren Dingen. Einige lachten und meinten damit seine Nacktheit. Das war auch so eine Sache, die Dreiauge nicht begriff.
Dann ertönte ein auf- und abschwellendes Heulen, mal lauter, mal leiser. Und eine monotone Stimme, deren Worte er nicht verstehen konnte, weil kein Geist da war, der die Worte formulierte. Das Heulen erstarb bald, aber die Stimme blieb, ganz gleich, wohin er auch kam. Das Verhalten der Gleichen veränderte sich daraufhin. Sie waren nicht länger gleichgültig ihm gegenüber, sondern stoben auseinander, wenn er sich näherte. Bald begegnete er Gleichen, die wieder in die Silberhäute gekleidet waren, in Schutzanzüge. Dreiauge war verwundert darüber, dass die Gleichen sich offenbar vor dem Strahlenlicht der Lebenssteine schützen mussten. Warum aber durchwühlten sie dann die Erde, um sie zu finden?
Und immer weitere Tunnel, immer neue Abzweigungen. Die Burg musste einfach gewaltig sein. Aber irgendwo, sagte sich Dreiauge nervös, musste doch auch ein Ausgang sein...
Die Silberhäutigen flohen nicht vor ihm, sie verfolgten ihn. Und Dreiauge hatte alle seine Waffen verloren. Zudem ermüdete er rasch, ein Umstand, den er nicht begreifen konnte. Er hatte doch so lange geschlafen und zudem seinen Lebensstein wieder bei sich.
Einmal traf ihn ein Lichtblitz, der von einem seiner Verfolger ausgegangen war. Dort, wo er auf seinen Körper auftraf, wurde die Haut taub und verlor jedes Gefühl. Die Gleichen waren wirklich mächtig.
Dann fand der Tunnel, durch den er floh, ein Ende. Er mündete in eine Kaverne ohne einen anderen Ausgang existierte. Dreiauge saß in der Falle. Er wollte sich seinem Gegner stellen, doch dann entdeckte er etwas, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Eine der Wände war durchsichtig, und dicht dahinter bewegten sich schleierartige Gebilde. Vorsichtig und auf alles gefasst trat er näher. Schwindel griff nach ihm. Weit unten lag die Welt. Es war unfassbar! Dreiauge konnte Flüsse sehen, glänzende Seen, dann Berge, weite Ebenen. Er befand sich in einem riesenhaften Flieger! Dreiauge wimmerte, als er begriff, dass er niemals aus der Dämonenburg fliehen konnte. Die Welt war viel zu weit unter ihm. Ein Fall würde ihn zerschmettern.
Langsam drehte sich Dreiauge um. Die Verfolger stürmten gerade in die Halle und richteten Waffen auf ihn. Zwei Lichtblitze trafen ihn auf der Brust. Er stürzte zu Boden und spürte den Aufprall bereits nicht mehr.
Als Dreiauge wieder zu sich kam, hatte sich seine Umgebung erneut verändert. Sofort tastete er zu seiner Seite, um den Lebensstein zu umschließen, aber der Beutel war fort.
Ein Gesicht erschien über ihm.
»Keine Angst, junger Freund. Vorerst bist du in Sicherheit.«
»Vielarm!«
Dreiauge richtete sich abrupt auf. »Ich dachte schon...«
Über ihm war der Himmel, unter ihm feuchte Erde. Er befand sich nicht länger in dem Flieger der Gleichen, sondern wieder auf der Welt. War vielleicht alles nur ein Traum? Nein, sein Lebensstein fehlte. Und dennoch blieb er ohne Schwäche.
»Hier brauchst du keinen Lebensstein‘«, beantwortete Vielarm seine stumme Frage und streichelte ihn sanft. »Sieh dich nur um.«
Nacht. Dunkelheit. Aber Dreiauges Zusatzblick offenbarte ihm seine Umgebung. Eine gewaltige Grube, auf deren Grund sie sich befanden. Nicht nur Vielarm und er, sondern außer ihnen noch viele andere aus Fremdstämmen. Manche schliefen, manche lächelten ihm zu. Manche sprachen mit der Gedankenstimme, spendeten ihm Trost.
»Nein«, sagte Vielarm, ohne das Streicheln zu unterbrechen. »Das ist nicht die Grube, in die wir gestürzt sind. Es ist eine andere, nicht weniger tief.« Aus der Brust wuchs ihr ein neuer Arm, dünn und zerbrechlich. Auch er streichelte Dreiauge. »Ein Begleiter der Gleichen hat dich wieder zu uns gebracht.«
Vielarms Stimme war warm, aber gleichzeitig auch von tiefem Kummer getrübt. Dreiauge richtete sich auf. Deutlich spürte er, dass die Erde hier voller Lebenssteine war. Darum war er nicht geschwächt. Darum wies sein Körper keine Verletzungen auf, obwohl zwei Lichtpfeile der Gleichen ihn getroffen hatten.
Dreiauge blickte kurz in Vielarms Geist und wusste, was sie bewegte.
»Du hast die Frucht verloren«, sagte er mild. Vielarm nickte.
»Wir beide wuchsen in einem Einswesen in mir«, sagte Vielarm traurig. »Als ich nach dem Sturz erwachte, war ich an einem anderen, seltsamen, ja furchterregenden Ort. Gleiche umgaben mich und nahmen mir die Frucht. Sie sprachen von einem genetischen Weiterentwicklungsprogramm. Und ich habe die Worte nicht verstanden.«
Eine Stunde gaben sie sich der meditativen Trauer hin und entfernten den Schmerz aus sich.
»Wir werden Rache nehmen«, versprach Dreiauge ernst. »Wir beide. Mein toter Stamm und das zerstörte neue Leben verlangen es.«
Vielarm nickte. Dreiauge deutete auf die Angehörigen der anderen Stämme, dann auf Vielarm. »Warum seid ihr hier? Warum seid ihr nicht aus dem Loch geflohen?‘««
Vielarm wandte den Kopf. Nicht weit entfernt hockten die dunklen Schatten der Gleichen-Begleiter. »Wir können es nicht. Wenn wir versuchen, die Hänge hinaufzusteigen, treffen wir bald auf eine unsichtbare Mauer, die schmerzt und uns wieder zurückwirft. Außerdem ist da noch dies.«
Sie hob einen ihrer vielen Arme. Ein Ring aus einem festen Material umgab ihn kurz vor der Hand. »Die Gleichen verlangen von uns, dass wir die Lebenssteine aus der Erde holen. Und wenn wir ihnen nicht gehorchen, dann senden diese Armringe Schmerzen aus. Grässliche Schmerzen.«
Dreiauge sank zurück.
In Vielarms Gedanken lag Resignation. Sie war bereits seit mehreren Wochen hier und hatte oft mit angesehen, wie Angehörige anderer Stämme zu fliehen versucht hatten. Es war immer vergeblich gewesen. Und dabei liebte Vielarm das Wanderleben, das Durchstreifen der Welt, so sehr.
Aber die Welt veränderte sich. Rasch.
Dreiauge schlief ein. In ihm war keine Wut. Und auch keine Rache. Aber er hatte einen Schwur geleistet, den es zu erfüllen galt.
Muruim war fort. Dreiauge vermisste den Metazahn sehr.
Dreiauge erfuhr nie, warum so viel Zeit vergangen war, seit sie in das erste Loch gestürzt waren. Dabei hatte er doch in der Dämonenburg nicht einmal eine einzige Nachtperiode zugebracht.
Er hasste Arbeit. Vor allen Dingen dann, wenn sie offensichtlich sinnlos war. Gleiche ließen sich nur sehr selten blicken. Und wenn, dann tauchten sie in ihren Schutzanzügen auf. Ihre Befehle bekamen sie von einem Fremdstammling, dessen Geist sehr merkwürdig war. Aber offensichtlich konnte er die Gleichen gut verstehen.
Halbkopf – das war sein Name - verlangte, dass sie die Lebenssteine aus dem Boden herauswühlten und in einem bestimmten Bereich der Grube stapelten. Dort wurden sie dann, wenn das riesige Auge der roten Sonne dem Rand der Welt entgegen- schwebte, von einem Gleichen-Begleiter abgeholt.
Halbkopf. Er wurde deswegen so genannt, weil sein Denken irgendwie seltsam war, fast so seltsam wie das der Gleichen. Dreiauge erfuhr bald, dass Halbkopf nicht von der Welt, sondern aus der Dämonenburg stammte. Wie viele andere, die in der Grube arbeiteten. Sie waren so bemitleidenswert! Offenbar ertrugen auch sie die Strahlung der Lebenssteine nicht lange, denn an jedem Morgen waren einige von ihnen tot und wurden dann am Abend durch neue Fremdlinge ersetzt. Gegen Abend bekamen sie auch zu essen. Es waren Früchte, die Dreiauge und Vielarm noch nie zuvor gesehen hatten, und sie schmeckten einfach abscheulich. Viele teilten ihre Meinung. Die Stammesfremdlinge aus der Dämonenburg hingegen stürzten sich mit Vorliebe auf diese Nahrung und ließen die wenigen Thilas unbeachtet. Von Vielarm erfuhr Dreiauge, dass die seltsame Nahrung aus den Regionen stammte, in denen die Todnebel schwebten und wo riesige Ebenen existierten, auf denen nur eine einzige Fruchtart wuchs.
Plantagen, erinnerte sich Dreiauge daraufhin an ein Wort, das er in der Dämonenburg gehört hatte. Insektizide, Pestizide. Die Nebel, so erfuhr Dreiauge, vernichteten alles Leben – die Früchte ausgenommen.
Einmal versuchte Dreiauge zu fliehen. Es war kein wirklich ernsthafter Versuch, denn er hatte sich längst einen Plan zurechtgelegt. Er wollte nur wissen, was es mit dem Armring, den auch er trug, auf sich hatte. Er war noch nicht weit gekommen, als von dem Ring ein intensiver Schmerz ausging, der die Knie weich werden ließ. Gleichzeitig stach etwas in seine Haut, und in seinen Körper drang eine Flüssigkeit ein, die die Gedanken benebelte, den Willen lähmte. Dreiauge war darauf vorbereitet, und das Strahlenlicht der Lebenssteine hatte ihn inzwischen so weit gestärkt, das er den Einfluss zurückdrängen konnte.