Das Netz der Sterne - Andreas Brandhorst - E-Book
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Das Netz der Sterne E-Book

Andreas Brandhorst

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Beschreibung

In die unbekannten Weiten des Universums vorzustoßen – das ist der Job der Kartografen bei Interkosmika, dem Konzern, der die interstellaren Reisen zwischen den Sternen kontrolliert. Tess ist eine solche Kartografin, doch nicht freiwillig, denn sie muss bei Interkosmika die Schulden ihrer Familie abarbeiten. Und sie weiß, dass ihre Mission alles andere als einfach wird. Denn ihr Auftrag führt sie in eine Region, aus der noch keiner lebend zurückgekehrt ist … Mit »Das Netz der Sterne« stößt Andreas Brandhorst das Tor zu einer neuen Welt auf – ideal für Brandhorst-Fans und Neueinsteiger!

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© Piper Verlag GmbH, München 2019Covergestaltung: Guter Punkt, MünchenCovermotiv: Arndt Drechsler

 

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Inhalt

Cover & Impressum

Motto

ERSTER TEIL

An dunklen Gestaden

Unerwarteter Besuch

1

2

3

4

Fünf Jahre

5

6

7

Transit

8

9

10

Im Orion-Tunnel

11

12

Tot und vergessen

13

14

15

16

17

Ein Lebenszeichen?

18

19

20

Du könntest lügen

21

22

Allein

23

24

25

Zuflucht

26

27

Das Schiff

28

29

30

Was sein wird

31

32

33

Obligat

34

35

36

In Gedenken an …

37

38

39

40

Esprit

41

Neun Sonnen

42

43

44

Zara

45

46

Zerbrochenes Leben

47

48

49

Hyperon

50

51

52

Die Tücken der Zeit

53

54

55

56

57

ZWEITER TEIL

Gesänge von Unendlichkeit

Rosengarten

58

59

60

Im grauen Licht der Zukunft

61

62

63

64

Was soll aus uns werden?

65

66

67

Wir brauchen dich

68

69

Dass ich dir in die Seele blicke

70

71

72

Giganten

73

74

75

Ein Wechselbalg

76

77

78

Corricund

79

80

81

Wie es das Gesetz verlangt

82

83

Es gibt keine Götter

84

85

86

87

Sterbende Welt

88

89

90

91

Die Wahrscheinlichkeitsmatrix

92

93

94

Ein Schwert im Stein

95

96

97

Eine Bombe

98

99

Unendlichkeit

100

101

102

Tausend Tode

103

104

Kosmische Melodien

105

106

107

Abschied

108

109

110

Epilog

Glossar

Kontakt mit dem Autor

Motto

»Wie auch immer der Wind weht, wir lassen uns nicht beirren.«

Credo von Rosengarten

ERSTER TEIL

An dunklen Gestaden

Unerwarteter Besuch

1

Die Dämmerung kroch über den Himmel und kündigte eine lange Nacht an, die zweiunddreißig Jahre dauern würde. Tess ging über den steinigen Weg den Hang hinab, zum Obsidian, wie so oft während des fast drei Jahrzehnte langen Tages, der nun zu Ende ging und ihre Kindheit und Jugend gesehen hatte. Der Ozean – er verdankte seinen Namen dem tiefschwarzen Kolorat, einem Licht absorbierenden Mineral – schien mit dem fernen, dunkler werdenden Horizont zu verschmelzen. Noch lag er glatt wie Glas, aber ein scharfer Geruch in der Luft wies darauf hin, dass bald die Stürme beginnen würden, wie zu Beginn jeder langen Nacht.

Ein letztes Lied, dachte Tess. Ein letzter Gesang, um Abschied zu nehmen von den Oktopoden und ihrer Welt.

Am Ufer blieb sie stehen, bei den kleinen runden Steinen, wie stets seit ihrer Kindheit. Einige Meter hinter ihr setzte sich Sinclair auf einen Felsen und wartete stumm – dies war allein ihr Moment. Schon als Kinder hatten sie diesen besonderen Ort gemeinsam besucht. Tess erinnerte sich an sein Staunen, mit großen Augen und offenem Mund, als er zum ersten Mal ihren Gesang gehört hatte. Damals, zu Beginn des jetzt zu Ende gehenden langen Tages, war etwas zwischen ihnen entstanden und über die Jahre gewachsen, erst eine zarte Verbindung, dann eine feste Brücke und schließlich ein Wir. Es war ein großes Wir, groß genug für Opferbereitschaft und Selbstlosigkeit.

Sinclair hatte beschlossen, seinen Vertrag als Hyperschiffpilot vorzeitig zu kündigen, um Tess nach Harmonie im Ophiuchus-Sektor zu begleiten. Die Einladung von der Musikakademie lag bereits vor. Als Kind hatte er sich nichts sehnlicher gewünscht, als eines Tages Raumschiffe durchs All zu steuern, erst interplanetare Lichtschiffe innerhalb von Sonnensystemen, dann Hyperschiffe, die den von Kartografen und Einrichtern erforschten Gleisen des Hyperons folgten und viele Lichtjahre innerhalb weniger Tage oder Wochen zurücklegten. Sein größter Wunsch war in Erfüllung gegangen, doch er war bereit, darauf zu verzichten, damit sie zusammenbleiben konnten.

Einige Sekunden stand Tess reglos, nahm die Stille in sich auf und spürte, wie sie tief in ihrem Innern zu einer Art Resonanzboden wurde. Erste Sterne funkelten – die heranrückende lange Nacht würde noch viel mehr von ihnen an den Himmel bringen. Ein mehrmaliges Flackern wies auf die Position der Hyperon-Station hin – vielleicht stammte es von dem Schiff, mit dem Anita kam.

Tess lächelte bei diesem Gedanken. Ihre Schwester hatte sich angekündigt, kurz nach der Einladung nach Harmonie. Interkosmika hatte ihren Antrag auf eine Dienstpause genehmigt, damit sie hier auf Rosengarten feiern und Abschied nehmen konnten.

Die Stille schien sich auszudehnen, weit über das Obsidian hinweg. Die Dämmerung schwieg und wartete.

Tess holte tief Luft und begann zu singen.

Sie sang in der alten Sprache, die sie von ihrer Mutter gelernt hatte, vom Tag und von der Nacht, die einander abwechselten, von Wäldern, grün wie Smaragd, und Meeren, blau wie Opal. Sie sang von Leben, Hoffnung und Freude, und wie immer fühlte sie, wie sie dabei wuchs und ihre Stimme in allem Lebendigen widerhallte, das sie umgab.

Erste Oktopoden erschienen. Das Obsidian war nicht mehr glatt und unbewegt. Die schwarze Oberfläche kräuselte sich, kleine Wellen entstanden, und rundliche Geschöpfe mit langen Fangarmen stiegen auf, blickten mit verblüffend menschenähnlichen Augen zum Ufer, erst einige wenige, dann Dutzende, schließlich Hunderte. Rostbraun und dunkelgrau, je nach Alter und Geschlecht, ragten sie aus dem Wasser und neigten sich langsam von einer Seite zur anderen. So war es immer, wenn Tess sang, obwohl die Oktopoden angeblich gar keine Ohren hatten.

Tess beobachtete den Tanz im Meer, weiterhin singend, bis eine kurze Vibration des Signalbands an ihrem Handgelenk darauf hinwies, dass es Zeit wurde – die Familie rief sie.

Das Ende des Gesangs beendete auch den Tanz. Die Oktopoden verschwanden im schwarzen Ozean, einer nach dem anderen.

Sinclair näherte sich. »Ich kann mir kaum vorstellen, dass du jemals noch besser singen wirst.«

»An der Musikakademie auf Harmonie werde ich viel lernen.«

»Vielleicht haben sie dich eingeladen, damit du anderen das Singen beibringst.«

Tess lächelte und nahm seine Hand. »Wir werden sehen, wir werden sehen. Komm, die Familie hat gerufen.«

2

Als sich die Familie Velazca vor mehr als vierhundert Jahren auf Rosengarten im Joumis-System niedergelassen hatte – im Sagittarius-Sektor, mehr als tausend Lichtjahre von der Erde entfernt –, war sie reich und mächtig gewesen. An diesen früheren Status erinnerte das Haupthaus auf dem Hügelplateau: die grauen Mauern dick und wuchtig bis hinauf zu den Zinnen, die allein ästhetischen Zwecken dienten; die runden Türme hoch, als wollten sie den dunkler werdenden Himmel erreichen; die Dächer steil, als erwarteten sie Schnee; in der Mitte die goldene Kuppel des alten Observatoriums mit den Familienarchiven und dem Hyperskop, eingerichtet vom Kartografen, der Rosengarten – damals noch ein Planet ohne Namen, nur mit der Bezeichnung NSK1284-B – ans Netz angeschlossen hatte, ans Hyperon. Über dem wie eine Burg oder Festung wirkenden Hauptgebäude leuchtete hell und bunt das holografische Symbol der Velazca: eine offene Hand, über deren Handfläche die Erde schwebte.

Zwei Bedienstete in blauen Livreen standen beim offenen Tor, aber wenige Meter vor ihnen wandte sich Tess nach links. Es gab noch etwas anderes, auf das sie einen letzten Blick werfen wollte, bevor sie die Reise nach Harmonie antrat.

»Wohin?«, fragte Sinclair hinter ihr. »Wohin willst du?«

Tess lief, als wollte sie den Wind spüren, den jene Nacht brachte, die sie nicht mehr miterleben würde. Sie schlüpfte durch die Lücke zwischen den Nebenhäusern, deren Fenster bereits hell erleuchtet waren, und als sie den großen Werkzeugpavillon an der Ecke des Gartens erreichte, bemerkte sie die Lichter in der Ebene hinter den Hügeln am Rand des Obsidians. Dort bereitete sich die Stadt auf die Nacht vor – die Dormitorien für all jene, die die kommenden zweiunddreißig Jahre im sicheren Schlaf verbringen wollten, waren bereits geöffnet.

Hinter dem Haupthaus erstreckte sich jener Rosengarten, dem der Planet seinen Namen verdankte: ein weiter Park mit Erde von der Erde, großen, alten Eichen und Buchen und zahlreichen Rosen in allen Farben, einige von ihnen fast so schwarz wie das Obsidian.

Das Signalband vibrierte erneut, aber Tess beschloss, sich noch etwas mehr Zeit zu nehmen. Dies war wichtig, sie wusste nicht, wann – in wie vielen Jahren oder vielleicht sogar Jahrzehnten – sie Gelegenheit bekommen würde, den Park erneut zu besuchen.

Hinter den beiden größten Eichen, die eine Art Portal bildeten, lag der Friedhof der Familie Velazca. Tess ging langsam an den Gräbern vorbei, las die Inschriften, dachte an vergangenen Ruhm und fragte sich, ob auch sie irgendwann hier liegen würde.

»Wir waren einmal mächtig«, sagte sie und blieb am Grab ihres Großvaters stehen. Auf einer Marmorplatte weiß wie Schnee stand sein Name in goldenen Buchstaben: Frederik Ibrahim Velazca, Letzter der terranischen Velazca-Dynastie.

»Ihr seid noch immer sehr angesehen«, sagte Sinclair. Er stand neben Tess, schlank und feingliedrig, das dunkle Haar kurz, die Brauen geschwungen. Aus dem Jungen von damals war ein Mann geworden, aber es gab ihn noch, den staunenden Knaben. Sie sah ihn in seinem Gesicht, in seinen Augen.

»Wir leben von vergangenem Ruhm, das weißt du«, erwiderte Tess. »Mit dem Tod von Großvater Frederik begann unser Niedergang. Er war nicht nur der Letzte der terranischen Dynastie, er hat sich auch Interkosmika gegenüber behaupten können. Inzwischen haben wir fast alle unsere Niederlassungen an Interkosmika verloren. Es ist uns kaum mehr geblieben als dieses Haupthaus. Wir sind längst keine Gouverneure und Administratoren mehr, nur noch einfache Bürger.«

»Mir ist gleich, wer ihr seid, ob reich oder arm, ob groß oder klein.« Sinclair sprach in seiner ruhigen, gelassenen Art. »Du bist du. Nur das ist wichtig.«

Tess belohnte seine Worte mit einem Lächeln. »Und wir sind wir. Wir stehen am Anfang unseres Weges. Wer weiß, wohin er uns führen wird.«

»Zweifellos zu Glanz und Glorie. Du wirst die beste Sängerin in der bekannten Galaxis werden, da bin ich mir sicher.«

»Und du?«

»Oh, vielleicht werde ich der Vater deiner Kinder.«

Tess lächelte erneut, aber nur kurz. »Du solltest Raumschiffpilot sein. Das hast du dir immer gewünscht. Ich weiß noch, wie wir dort unten auf den Steinen gesessen haben, die Sonne noch nicht ganz im Zenit, und du von fernen Sternen und Galaxien erzählt hast. Du wolltest durchs Hyperon reisen, weiter als alle anderen vor dir. Du wolltest neue Welten entdecken.«

»Ja«, sagte Sinclair. »Und dann habe ich dich entdeckt.« Er fügte hinzu: »Wir haben Zeit, Tess, wir sind jung. Erst kommt deine Ausbildung auf Harmonie. Eine Einladung der Musikakademie schlägt man nicht aus. Und wenn du dort fertig und zur besten Sängerin in der Milchstraße geworden bist … Dann werde ich wieder Pilot, und wir gehen gemeinsam auf Reisen.«

Wir haben Zeit, wir sind jung. Es klang gut und richtig, und trotzdem fröstelte Tess plötzlich. Es lag nicht an der sinkenden Temperatur. Etwas Bedrohliches ragte auf, dunkel wie die kommende Nacht, etwas, das einen tiefen Schatten warf auf Sinclair und sie. Ein Missklang in einer ansonsten perfekten Melodie. Doch die Vision – wenn es wirklich eine Vision gewesen war, geschaffen vielleicht von ihrem Esprit – verschwand sofort wieder.

»Ich bedauere, die Nacht nicht zu erleben«, sagte sie, um sich abzulenken.

»Ich glaube, wir können froh sein, dass wir sie nicht erleben müssen.« Etwas in Sinclairs sanftem Gesicht verriet: Er hatte gemerkt, dass etwas nicht stimmte, aber er stellte keine Fragen. »Meine Eltern haben mir davon erzählt. Die letzte Nacht muss sehr schlimm gewesen sein. Die Stürme wollten kein Ende nehmen, und es wurde so kalt, dass das Obsidian gefror.«

Tess deutete auf die Rosen, die aus fruchtbarem Boden von der Erde wuchsen. »Ich hoffe, sie überstehen die Nacht.«

»Eure Gärtner werden Lampen aufstellen, damit die Pflanzen genug Licht bekommen, und Schilde werden sie vor Kälte und Wind schützen.«

Das Signalband an Tess’ Handgelenk vibrierte zum dritten Mal, länger als die beiden Male zuvor.

»Meine Familie wird ungeduldig.« Tess seufzte, ergriff Sinclairs Hand und ging mit ihm über den Weg, vorbei an Rosen, Eichen und Buchen. »Wie auch immer der Wind weht …«, zitierte sie das Credo von Rosengarten.

»Wie auch immer der Wind weht, wir lassen uns nicht beirren.«

3

Als Tess den Großen Saal mit den Ahnenporträts an den hohen Wänden betrat, begriff sie, dass sie tatsächlich eine Vision vom Esprit empfangen hatte – die Präsenz des Mannes in der schiefergrauen Uniform von Interkosmika war Beweis genug.

Begleitet von Sinclair ging sie am langen Tisch vorbei, und mit jedem Schritt verstärkte sich ihr Unbehagen.

Das Gesicht des Mannes von Interkosmika verriet nichts, es war steinern, eine Maske. Seine Augen blickten streng und abschätzend. Unbehagen war darin nicht auszumachen, obwohl ihm klar sein musste, dass er hier, an diesem Ort, bei den Velazca, auf Ablehnung stieß.

Die beiden jüngeren Brüder von Tess, Asgard und Trenkor – beide einen halben Tag alt, vierzehn und sechzehn Normjahre –, standen vorn neben ihrer Mutter, die im Helfer saß, dem mobilen Ektoskelett, das sie bewegte und trug. Mutter Amandea, einen vollen Tag-Nacht-Zyklus von Rosengarten alt – vierundsechzig Jahre –, verdankte ihre Lähmung einer Drehwurm-Infektion. Die zu späte Diagnose und die dadurch ebenfalls zu späte Behandlung der Krankheit waren eine direkte Folge der Verarmung der Familie gewesen.

Vater Solomar, siebenundsechzig Jahre, stand dürr und hoch aufgerichtet neben Amandeas Ekto. Sein gebräuntes Gesicht, das in der kommenden Nacht die Farbe verlieren würde, wirkte fast so steinern wie die Miene des Interkosmika-Mannes.

»Wo ist Anita?«, fragte Tess, ohne einen Gruß an den Mann in der dunkelgrauen Uniform zu richten. »Ich habe ein Hyperschiff kommen sehen.«

»Anita ist nicht da.« Trenkor warf dem Uniformierten einen finsteren Blick zu.

Tess war stehen geblieben. »Sie hat sich angekündigt. Wir haben ihre Nachricht erhalten. Was ist geschehen?«

Die Ekto-Motoren summten leise. Amandeas Lippen zitterten, und eine synthetische Stimme erklang: »Es tut mir leid, Tochter.«

»Was tut dir leid?« Als Tess keine Antwort bekam, wandte sie sich an ihren Vater. »Wo ist Anita? Und was macht dieser … Mann hier?«

Der Gesandte von Interkosmika trat vor. »Mein Name ist Tirell Wayfare. Ich bin als Exekutor hier.«

»Was wollen Sie noch von uns?«, fragte Tess scharf.

»Es geht um Ihre Schwester Anita«, sagte Wayfare. »Und es geht um Sie.«

»Was ist mit Anita?«

»Glauben Sie bloß nicht, Sie könnten uns Tess einfach so wegnehmen, wie Sie es mit Anita gemacht haben!«, zischte der impulsive, manchmal jähzornige Asgard.

Vater Solomar räusperte sich. »Trenkor, Asgard …«, mahnte er.

Die beiden Jungen, einer von ihnen fast schon ein Mann, senkten die Köpfe.

Tess fröstelte wie zuvor beim Rosengarten. Da war sie wieder, die Präsenz von etwas Bedrohlichem. »Anitas Antrag auf eine Dienstpause wurde von Interkosmika genehmigt«, sagte sie. »Sie wollte herkommen, vor meiner Abreise nach Harmonie Ophiuchus.«

»Ihre Schwester hat die genehmigte Dienstpause genutzt, um abtrünnig zu werden«, entgegnete Wayfare, und Tess fühlte sich von seinem Blick wie durchbohrt. »Mit anderen Worten: Sie hat sich davongemacht.«

Davongemacht, dachte Tess. Und hier bin ich.

»Interkosmika nimmt Sie in Regress, so wie es die Vereinbarungen vorsehen«, fuhr Wayfare fort. »Sie werden den Vertrag erfüllen, den Ihre Schwester unterschrieben hat.«

Ihr Hals schien plötzlich in einer Schlinge zu stecken. Tess brachte keinen Ton mehr hervor.

»Ich werde nicht zulassen, dass Sie Tess mitnehmen!«, rief Sinclair. Er stand so dicht neben ihr, dass sie seine Körperwärme fühlte.

Der Mann von Interkosmika richtete den Blick auf ihn. »Wer sind Sie?«

»Sinclair Van Groote. Meine Familie gehört zu den Unabhängigen und ist schuldenfrei.«

Für zwei oder drei Sekunden erweckte Wayfare den Eindruck, einer inneren Stimme zu lauschen, vielleicht dem Datenflüstern eines Implantats, dann sagte er völlig emotionslos: »Ich empfehle Ihnen, sich nicht in Dinge einzumischen, die Sie nichts angehen, Van Groote.«

»Das hier geht mich sehr wohl etwas an«, entgegnete Sinclair in einem herausfordernden Ton. »Tess und ich …« Er zögerte, und Tess bemerkte, wie er kurz zu ihren Eltern blickte. »Wir sind … gebunden.«

»Gebunden?«, wiederholte Amandea in ihrem Ekto. Solomar stand steif, gerade und stumm, sein Gesicht ohne sichtbare Veränderung.

»Die Schulden der Familie Velazca betreffen nicht Sie, Van Groote.« Wayfare ging zum Tisch, legte einen kleinen Holoprojektor auf das alte Holz und schaltete ihn ein. Eine Interkosmika-Bilanz erschien, eine Debit-Kredit-Waage mit roten und schwarzen Zahlen. »Ich stelle fest: Die Familie Velazca ist mit vierzig Millionen Debitpunkten bei Interkosmika verschuldet«, verkündete der Uniformierte mit offiziell klingender Stimme. »Ich stelle fest: Anita Velazca hat sich bereit erklärt, für zwanzig Jahre in die Dienste von Interkosmika zu treten, ein Jahr für jeweils zwei Millionen Debitpunkte. Ich stelle fest: Anita Velazca hat ihren Dienstbereich verlassen und ist abtrünnig geworden.« Wayfare legte eine Pause ein und musterte die Versammelten der Reihe nach. »Ich stelle fest: Das Obligat bestimmt Tess Velazca zur Vertragsnachfolgerin. Sie muss die Verpflichtungen von Anita Velazca übernehmen.«

»Zwanzig Normjahre?«, fragte Tess tonlos.

»Achtzehneinhalb Jahre sind von der ursprünglichen Verpflichtung übrig«, erklärte Tirell Wayfare. »Doch für Abtrünnigkeit ist eine Vertragsstrafe von zehn Millionen Debitpunkten vorgesehen.« Er zeigte auf die betreffende Stelle im Hologramm. »Das entspricht sechs weiteren Jahren. Die Laufzeit des Vertrages beträgt also vierundzwanzigeinhalb Jahre.«

»Ich habe eine Einladung erhalten«, sagte Tess mühsam. »Von der Musikakademie auf Harmonie Ophiuchus. Sie verliert ihre Gültigkeit, wenn ich sie nicht innerhalb von drei Normmonaten annehme.«

Der Mann von Interkosmika deutete erneut ins Hologramm, das über dem Holz des alten Tisches schwebte. »Dies ist die Situation. Dies sind Ihre Pflichten. Sie werden mit mir kommen, Tess Velazca.«

»Wann?«, ächzte Tess.

»Jetzt sofort.« Wayfare deaktivierte das Holo, nahm den kleinen Projektor vom Tisch und steckte ihn ein.

Amandeas Lippen zitterten wieder. Speichel rann ihr aus den Mundwinkeln. In Solomars Augen lag tiefe Trauer.

»Das können Sie nicht tun!«, platzte es aus Sinclair hervor.

Wayfare hob Brauen, so grau wie seine Uniform. »Ich bin Exekutor. Ich habe die Befugnis.« Er sah Tess an. »Wenn Sie nicht mit mir kommen, wenn Sie sich weigern, wird das Obligat Ihrer Familie neu bewertet. Dann gehen auch die restlichen Ländereien auf Rosengarten Sagittarius sowie dieses Haupthaus mit allen Nebengebäuden ins Eigentum von Interkosmika über.«

»Es wäre unser endgültiger Ruin«, sagte Solomar leise.

Tess begriff, dass es um mehr ging als ihre eigene Zukunft. »Ich komme mit.«

4

Der Orbiter kletterte in die Höhe, und unter ihm wurde Rosengarten zu einer Kugel, die eine Hälfte, das Obsidian, schwarz wie der Weltraum, die andere braun, grün und grau wie die Uniform des Mannes von Interkosmika.

»Wohin bringen Sie mich?«, fragte Tess.

»Wohin bringen Sie uns?«, korrigierte Sinclair. Er hatte darauf bestanden, Tess zu begleiten.

»Kommt darauf an.« Tirell Wayfare saß zurückgelehnt in einem Sessel weiß wie Schnee. Hinter ihm steuerte der Pilot – ein jüngerer Mann, dessen Uniform ein helleres Grau zeigte als die des Exekutors – den Orbiter zur großen Raumstation, die Rosengarten in einer Höhe von zweitausend Kilometern umkreiste. Der Zylinder des Hyperon-Rezeptors, Teil der Station, ragte als zwei Kilometer langer Dorn ins All.

»Worauf?«, fragte Tess.

»Darauf, wie Sie sich entscheiden.«

»Hat sie eine Wahl?«, fragte Sinclair scharf.

Wayfare seufzte leise. »Ja, die hat sie durchaus.« Er beugte sich vor, sah Sinclair direkt ins Gesicht. »Sie aber … Sie sollten nicht hier sein. Sie sollten nicht hier vor mir sitzen, an Bord dieses kleinen Schiffes. Denn Ihre Wahl ist größer als die von Tess Velazca, die von jetzt an Tess Rosengarten Sagittarius sein wird, bis sie hierher zurückkehrt, in vierundzwanzigeinhalb Jahren.«

Sinclair holte tief Luft. »Wie auch immer der Wind weht, wir bleiben zusammen.«

Er streckte die Hand aus, aber Tess ergriff sie nicht und schüttelte den Kopf.

»Nein, nein«, sagte sie matt, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, dass er bei ihr blieb, und dem Wissen, dass er einen großen Fehler machte.

Sie blickte durchs Fenster und beobachtete die Welt, auf der sie geboren war. Die Grenze zwischen Tag und Nacht ließ sich deutlich erkennen: die eine Seite hell und warm, die andere kalt und dunkel. Weiße Wirbel deuteten auf Stürme hin, die sich dort bildeten, wo die Temperaturunterschiede starke Luftströmungen verursachten. Sie dachte an den Rosengarten hinter dem Haupthaus ihrer Familie und hoffte, dass die wärmenden Lampen und Schilde rechtzeitig installiert wurden.

»Welche Entscheidung muss ich treffen?«, fragte Tess. Sinclair sah sie an, das fühlte sie, sein Blick war heiß in ihrem kalten Gesicht. »Zwischen was muss ich wählen?«

»Nicht hier«, wehrte Wayfare ab. »Sie werden Ihre Wahl an Bord des Cruisers treffen, des Hyperschiffs, mit dem ich gekommen bin. In der Gegenwart von zwei Notaren, die als juristische Zeugen alles aufzeichnen. Wie es das Gesetz verlangt.«

Das Gesetz von Interkosmika, dachte Tess.

Noch immer mied sie Sinclairs Blick. Das nahe Fenster zeigte ihr die Raumstation über Rosengarten, zusammengesetzt aus zahlreichen kantigen Modulen und den Oktaedern von insgesamt drei Reaktoren. Tess zählte siebzehn interplanetare Lichtschiffe an den Auslegern und Gravitationsankern. Zwei von ihnen legten gerade ab und fuhren ihre Segel aus, was ihnen das Erscheinungsbild von Lilien oder Orchideen gab. Auf der anderen Seite, beim langen Dorn des Rezeptors, schwebte ein Hyperschiff an einem rubinroten Gravanker: das Schiff, mit dem Wayfare gekommen war, ein silberner Keil, der Bug spitz, das Heck breit und mit den kerbenartigen Öffnungen der Transtatoren, die es dem Schiff ermöglichten, dem Verlauf eines Hyperon-Gleises zu folgen, mit einem Vielfachen der Lichtgeschwindigkeit.

»Sie machen einen großen Fehler«, sagte Sinclair.

Wayfare reagierte nicht darauf. Er hatte sich wieder zurücksinken lassen, saß stumm da und musterte Tess, die weiterhin aus dem Fenster sah.

»Sie nehmen der Galaxis eine begnadete Sängerin«, fügte Sinclair hinzu.

Wayfare hob die Brauen. »Höre ich da die Stimme eines verliebten jungen Mannes?« Ein dünnes Lächeln erschien kurz auf seinen Lippen und verschwand sofort wieder.

Tess wandte den Blick vom Fenster ab.

»Welche Arbeit haben Sie Anita gegeben?«, fragte sie. »Wozu haben Sie sie gezwungen? Warum ist sie abtrünnig geworden?«

»Wir zwingen niemanden«, entgegnete Wayfare. »Jeder kann sich frei entscheiden. Jeder hat die Wahl. Auch Sie werden entscheiden und wählen können. Gleich.«

Ein kleiner, kaum merklicher Ruck ging durch den Orbiter. Wayfare nickte dem Piloten zu und stand auf.

»Wir sind da. Kommen Sie, mein Schiff wartet auf uns.«

 

Der Raum an Bord des Cruisers sah aus wie eine kleine Version der Gerichtssäle, die Tess in den holografischen Aufzeichnungen ihrer Familie gesehen hatte und in denen über die Geschicke der Velazca entschieden worden war: vorn ein breiter Tisch auf einem Podest, mit dem Exekutor Wayfare wie als Richter dahinter; zu beiden Seiten und etwas tiefer kleinere Tische mit den Notaren, die ihre holografischen Protokollanten bereits eingeschaltet hatten; und schließlich, hinter einem trennenden Geländer, ein niedriger Tisch mit zwei Stühlen, auf denen Tess und Sinclair saßen.

Die beiden Notare – offiziell Repräsentanten der terranischen Gerichtsbarkeit, in Wirklichkeit aber in Diensten von Interkosmika – trugen anthrazitfarbene Uniformen und waren jung, kaum älter als Sinclair, der Tess zuflüsterte: »Es wird alles gut.«

Nein, das waren dumme Worte, es wurde nicht alles gut, sie spürte es deutlich. Der Esprit teilte es ihr mit. Hier, an diesem Ort, gab es keine Hoffnung.

Tirell Wayfare beugte sich vor und legte beide Hände auf den Richtertisch. »Sind die Zeugen bereit?«

»Wir sind bereit«, meldeten die beiden Notare. »Wir sehen und hören.«

»Gut.« Wayfare betätigte einen verborgenen Schalter. »Ich stelle fest: Tess Rosengarten Sagittarius, geborene Velazca, wird in Regress genommen für Schuldenflucht und Abtrünnigkeit ihrer Schwester Anita. Es sind zu tilgen: siebenundvierzig Millionen Debitpunkte, davon zehn Millionen Strafe wegen Abtrünnigkeit. Ich stelle fest: Daraus folgt eine Dienstverpflichtung von vierundzwanzigeinhalb Jahren.«

Die beiden Notare nickten. »Zur Kenntnis genommen.«

Tess hob die Hand.

Wayfare richtete einen fragenden Blick auf sie.

»Wäre es möglich, die Dienstverpflichtung auf später zu verschieben? Auf die Zeit nach meinem Studium an der Musikakademie von Harmonie?«

»Ich stelle fest: Die Dienstverpflichtung beginnt sofort, hier und jetzt.«

Ein Hologramm erschien vor Tess und Sinclair. Unter dem Zeichen von Interkosmika – den stilisierten Buchstaben I und K vor dem Hintergrund der Milchstraße – zeigte sich eine Auflistung von Tätigkeiten.

»Tess ist Sängerin«, betonte Sinclair. »Wie soll sie als Lichtschiff-Ingenieurin oder Botanikerin in einer hydroponischen Anlage arbeiten?«

»Man kann alles lernen«, meinte Wayfare ungerührt.

Tess las die Liste, die vor allem aus technischen Berufen bestand. Hinter den meisten Einträgen war die Dienstzeit mit vierundzwanzigeinhalb Jahren angegeben. Nur ganz unten, am Ende der Liste, gab es Auswahlmöglichkeiten mit reduzierter Anzahl von Dienstjahren: zwanzig, siebzehn und fünfzehn.

»Sanitäterin bei den Koloniekonflikten im Eridanus-Sektor«, las sie laut, »zwanzig Jahre. Infanteristin bei den Koloniekonflikten im Eridanus-Sektor, Einsatzbeschränkung auf einen Planeten, Urlas oder Wunca, siebzehn Jahre.« Und der letzte Eintrag: »Infanteristin bei den Koloniekonflikten im Eridanus-Sektor, ohne Einsatzbeschränkung auf einen Planeten, fünfzehn Jahre.«

»Achteinhalb Jahre weniger«, sagte Wayfare.

»Tess soll für Sie in den Krieg ziehen?«, fragte Sinclair voller Unglauben.

»Das wäre eine der Möglichkeiten. Es gibt noch eine andere, die nicht auf der Liste steht.«

»Welche?«, fragte Tess sofort.

Die beiden Notare warteten, ihre Datenstifte und Protokollanten bereit.

Wayfare lehnte sich langsam zurück. Seine Hände blieben auf dem Tisch.

»Es ist eine Möglichkeit, die es uns erlaubt, Ihre Dienstverpflichtung von vierundzwanzigeinhalb Jahren auf nur zehn Jahre zu verkürzen«, erklärte er.

Tess hörte ein tiefes Brummen, das vermutlich von den Gravitationsmotoren stammte. Es gab keine Fenster, die einen Blick ins All gestatteten, aber sie stellte sich vor, wie sich der silberne Keil des kleinen Hyperschiffs vom Dorn des Rezeptors entfernte und für den Hyperon-Transit beschleunigte.

»Wieso steht sie nicht auf der Liste?«, fragte Sinclair argwöhnisch.

»Weil es sich um ein besonderes Angebot handelt«, antwortete Wayfare ohne besondere Betonung. »Um eine Geste des guten Willens.«

»Des guten Willens«, murmelte Tess. Sie vermied es noch immer, Sinclair anzusehen. »Ein großzügiges Angebot, ja? Bitte nennen Sie es.«

»Sie könnten Kartografin und Einrichterin werden«, schlug Wayfare vor, die Hände noch immer auf dem Tisch.

»Auf keinen Fall!« Sinclair sprang auf. »Ich bin Pilot gewesen, bevor ich meinen Vertrag gelöst habe. Ich habe mit Hyperon-Kartografen gesprochen. Das Risiko …«

»Setzen Sie sich«, sagte Wayfare.

»… ist enorm hoch. Zwanzig Prozent aller Kartografen überleben nicht einmal das erste Dienstjahr!«

»Sie sollen sich setzen!«, wiederholte Wayfare scharf.

Sinclair sank zurück auf seinen Stuhl. Diesmal wandte Tess den Kopf und sah ihn an. Hör auf!, rief sie ihm stumm zu. Verlass diesen Raum! Verlass dieses Schiff, bevor es mit seiner Reise beginnt, wohin auch immer sie führt!

Es wären vernünftige Worte gewesen, doch Tess schaffte es nicht, sie auszusprechen.

»Mit wem auch immer Sie gesprochen haben, das Risiko wird oft übertrieben.« Wayfares Blick kehrte zu Tess zurück. »Die Arbeit von Kartografen und Einrichtern ist sehr, sehr wichtig. Ja, auch gefährlich, das will ich nicht leugnen. Sie erweitern das für uns zugängliche Hyperon. Sie errichten Gegenstationen an Orten, die noch nicht von unseren Schiffen erreicht werden können. Ja, damit sind Gefahren verbunden, denn Kartografen stoßen in neue, zumeist völlig unbekannte Gebiete vor. Sie leisten Pionierarbeit.« Wayfare legte eine kurze Pause ein. »Dreizehneinhalb Jahre weniger, Tess Rosengarten. Als Gegenleistung für einen großen Dienst, den Sie der ganzen Menschheit erbringen.«

»Nein!«, stieß Sinclair hervor.

»Einverstanden«, sagte Tess, ohne lange zu überlegen. Zehn Jahre waren besser als vierundzwanzig. In zehn Jahren war sie noch jung genug für ein Studium an der Musikakademie von Harmonie.

Wayfare lächelte. »Was ist mit Ihnen, Sinclair Van Groote? Sie haben darauf bestanden, Tess Rosengarten bis hierher zu begleiten, zu dem Ort der Entscheidung, und Sie haben gehört, wie sie sich entschieden hat. Möchten Sie mein Schiff verlassen, bevor es mit dem Hyperon-Flug beginnt? Oder möchten Sie sich ebenfalls verpflichten?«

»Nein!« Diesmal war es Tess, die das Wort rief.

Wayfare hob eine Hand vom Tisch und hielt sie hoch. »Ich nehme an, Sie möchten bei Ihrer Partnerin bleiben.«

Tess hörte ein nachdrückliches »Ja!« von Sinclair.

Der Exekutor von Interkosmika lächelte erneut, und diesmal blieb das Lächeln etwas länger auf seinen Lippen. »Ich habe einen Vorschlag für Sie. Für Sie beide. Sinclair Van Groote, wenn Sie bereit sind, an den Kartografierungsmissionen von Tess Rosengarten teilzunehmen, wenn Sie sich ebenfalls als Kartograf und Einrichter bei Interkosmika verpflichten, reduziere ich die Dienstzeit um weitere Jahre.«

Tess wollte nicht, dass sich Sinclair in Abhängigkeit von Interkosmika begab. Dennoch regte sich zarte Hoffnung in ihr.

Sinclair suchte erneut ihre Hand, und diesmal griff sie danach.

»Um wie viele Jahre?«, fragte er.

»Fünf«, sagte Wayfare. »Fünf Jahre für Sie und Tess Rosengarten.«

Tess öffnete den Mund, aber Sinclair kam ihr zuvor. »Garantieren Sie ausnahmslos gemeinsame Einsätze?«

Wayfare blickte nach rechts und links zu den Notaren. Sie nickten.

»Ich bin als Exekutor befugt und bestätige hiermit: fünf gemeinsame Jahre als Hyperon-Kartografen.«

»Danach sind die Schulden getilgt?«, vergewisserte sich Tess. »Danach ist das Obligat meiner Familie gelöscht?«

»Für die beiden Protokollanten: Ich bestätige die Tilgung der Schulden und die Löschung des Familienobligats mit Abschluss der fünfjährigen Dienstzeit von Tess Rosengarten Sagittarius und Sinclair Van Groote, der mit dieser Vereinbarung zu Sinclair Rosengarten Sagittarius wird!«

Die Notare nickten erneut.

Sinclair sprach schnell, vielleicht weil er Widerspruch von Tess befürchtete. »Ich bin einverstanden!«

Tess räusperte sich. »Ich bin es ebenfalls«, sagte sie mühsam.

Tirell Wayfare stand auf. »Ich beglückwünsche Sie zu Ihrer Entscheidung und heiße Sie bei Interkosmika willkommen. Wir fliegen zur Erde. Dort, beim aktuellen Knotenpunkt des Hyperons, wird Ihr Dienst beginnen.«

Fünf Jahre

5

Die Erde, Wiege der Menschheit, Herz und Hirn von Interkosmika. Eine Kugel, blau und weiß im All, wie ein glänzendes Juwel auf schwarzem Samt. Der Rezeptor einer großen Orbitalstation empfing Wayfares Cruiser aus dem Hyperon, und Tess dachte daran, dass vielleicht Menschen unten auf der Erde das Flackern des Energiefelds sahen.

»Wasser«, sagte sie. »So viel Wasser. Eine Ozeanwelt. Und Tag und Nacht dauern jeweils nur zwölf Stunden, nicht zweiunddreißig Jahre.«

Sinclair trat neben sie ans Fenster ihrer Kabine. »Die Rotation der Erde hat sich verlangsamt. Sie dreht sich nicht mehr in vierundzwanzig Stunden um die eigene Achse, sondern in vierundzwanzigeinhalb.«

»Vierundzwanzigeinhalb«, murmelte Tess. »Ein seltsamer Zufall.«

»Es sind fünf Jahre«, sagte Sinclair. »Nur fünf. Das schaffen wir.« Er rang sich ein Lächeln ab.

»In fünf Jahren wäre ich mit dem Studium an der Musikakademie von Harmonie fertig gewesen. Fünf Jahre sind viel Zeit. In fünf Jahren kann viel geschehen.« Tess sah wieder aus dem Fenster. »So viel Wasser, und es ist blau, nicht schwarz. Hier hat sich unsere Spezies entwickelt, nicht wahr? Auf der Erde. Aber warum heißt dieser Planet ›Erde‹? Sollte man ihn nicht ›Wasser‹ nennen?« Sie sprach und sprach, ein Wort folgte dem anderen, schnell, um bohrende Gedanken zu vertreiben.

»Ich bin schon einmal hier gewesen.« Sinclair stand so dicht bei ihr, dass Tess seinen Geruch wahrnahm, den sie immer gemocht hatte und der sie an Rosengarten erinnerte, an den Wind, das Obsidian und die Felsen in der Brandung. »Als Pilot eines Kurierschiffs. Früher hat es Kontinente auf der Erde gegeben, fünf oder sechs, aber dann stieg der Meeresspiegel, die Große Flut kam, und sie war wirklich groß, so groß wie die Flut, die in einer alten religiösen Geschichtensammlung beschrieben ist. Die Kontinente verschwanden in den Meeren, kein Damm war hoch genug. Übrig blieben die Bergspitzen. Die vielen Archipele erinnern daran.«

»Was ist aus den damaligen Menschen geworden?«, fragte Tess, aber eigentlich wollte sie fragen: Was wird aus uns?

»Sie siedelten auf dem Erdenmond und auf dem Mars.« Sinclair sprach ruhig. Während des Hyperon-Flugs schien er sich mit allem abgefunden zu haben. So konnte er sein: manchmal so impulsiv und fast so jähzornig wie Tess’ jüngerer Bruder Asgard, aber auch sanft und bereit, sich mit Gegebenheiten abzufinden, die er nicht ändern konnte. Er hatte seine Entscheidung getroffen und beschlossen, mit den Konsequenzen zu leben. »Oder sie ließen sich in Rotationshabitaten nieder, in künstlichen Welten, die Millionen von ihnen Platz boten.«

Er legte eine nachdenkliche Pause ein.

»Andere legten sich schlafen«, fügte er hinzu. »Sie zogen sich in die Hibernation zurück, in der Hoffnung auf eine bessere Welt bei ihrem Erwachen.«

»Und?« Tess betrachtete eine grünblaue Inselgruppe, eingebettet ins Blau eines globalen Ozeans. »Haben sie eine bessere Welt gefunden, als sie erwacht sind?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Sinclair. »Vielleicht schlafen sie noch.«

Ein Rufsignal erklang, gefolgt von einer Stimme. »Tess und Sinclair Rosengarten, Sie werden gebeten, die Luftschleuse aufzusuchen.«

Sie nahmen ihre Habseligkeiten – zwei kleine Taschen genügten dafür – und verließen die Kabine. Ein glatter, gerader Korridor erwartete sie, nicht die Gerüste und engen Schächte, die Tess von Rosengartens Lichtschiffen kannte. Als sie die Luftschleuse erreichten, wartete Tirell Wayfare auf sie, wieder in einer schiefergrauen Uniform mit dem Emblem von Interkosmika an den Schultern.

Er deutete auf die Taschen. »Das bleibt hier«, sagte er statt einer Begrüßung. »Sie bekommen von uns, was Sie brauchen.«

Tess dachte an die holografischen Bilder, die sie mitgenommen hatte. Sie zeigten ihre Familie, das Obsidian und die Oktopoden, die ihrem Gesang lauschten. »Ich habe einige Erinnerungsstücke darin, die …«

»Das Zeitfenster schließt sich bald«, unterbrach sie der Exekutor. »Wir müssen uns beeilen.«

Ein Bot nahm die Taschen entgegen und trug sie fort.

Innen- und Außenschott waren geöffnet, der Cruiser hatte bereits angedockt. Sie verließen das Hyperschiff, betraten die Orbitalstation und damit eine lautere, lebendigere Welt. Maschinen summten, Aggregat-Cluster brummten, mobile Bots surrten. Hinzu kamen Dutzende menschliche Stimmen.

»Welches Zeitfenster meinen Sie?«, fragte Tess und sah sich um. Der Weg, dem sie folgten, führte mitten durch ein Rotationselement der Station, eine kleine Welt mit Wäldern, Seen und pastellfarbenen Gebäuden in einer hügeligen, parkartigen Landschaft, die sich um sie herum drehte. Das Habitat schien alt und stammte vielleicht aus der Anfangszeit des Orbitalkomplexes, als es noch keine Gravitationsmotoren gegeben hatte und Schwerkraft mithilfe von Rotation simuliert worden war.

Mehrere Uniformierte kamen ihnen entgegen, Männer und Frauen mittleren Alters, keine Angehörigen von Interkosmika, sondern hochrangige Offiziere von Protektor, dem terranischen Militär. Selbst sie grüßten den Exekutor respektvoll, bemerkte Tess.

»Ihre Frage weist auf ein Problem hin.« Wayfare ging mit geradem Rücken und hoch erhobenem Kopf. Bei einem anderen Menschen hätte das steif gewirkt, aber bei ihm war jede Bewegung geschmeidig. »Sie wissen nicht Bescheid. Deshalb erhalten Sie beide ein Memex.«

Aus dem Augenwinkel sah Tess, wie Sinclair das Gesicht verzog.

»Was ist das?«, fragte sie mit etwas Unbehagen.

»Ein Datenimplantat«, erklärte Sinclair. »Eine Art künstliches Gedächtnis mit gespeichertem Wissen.« Und er fügte mit wenig Begeisterung hinzu: »Interkosmika will uns eine Stimme in den Kopf pflanzen.«

Tess blieb erschrocken stehen. »Was?«

»Es ist ein routinemäßiger Eingriff, der nur wenige Minuten dauert«, sagte Wayfare. »Und er ist notwendig für die Einsatzeffizienz und erspart eine langwierige Ausbildung. Für Sie bedeutet das: Sie können sofort beginnen, Ihre fünf Jahre abzuarbeiten. Oder wäre es Ihnen lieber, wenn noch einige zusätzliche Monate Grundausbildung hinzukämen?«

Tess schwieg.

Wenige Minuten später verließen sie das Habitat, schritten durch einen perlweißen Flur mit weniger Menschen und erreichten einen medizinischen Bereich. Die Männer und Frauen hier trugen cremefarbene Kittel, wie Wayfares Uniform mit dem Interkosmika-Symbol. Schließlich betraten sie einen runden weißen Raum mit grünen Liegen an den Wänden und Geräte- und Instrumentenblöcken in der Mitte. Medizinische Bots mit dünnen, flexiblen Greifarmen und Sensorbündeln standen neben zwei dieser Liegen.

Wayfare streckte den Arm aus. »Wenn ich bitten darf …«

Tess zögerte.

»Ich darf Ihnen versichern, dass keinerlei Unannehmlichkeiten damit verbunden sind«, erklärte der Exekutor. »Sie erhalten das Wissen, das Sie brauchen, um Ihre Aufgabe als Kartografen und Einrichter zu erfüllen, und es dauert nur wenige Minuten.«

»Als Pilot habe ich auf so ein Ding verzichtet und mich lieber Schlafschulungen unterzogen«, sagte Sinclair.

Wayfare maß ihn mit einem strengen Blick. »Schlafschulungen reichen in diesem Fall nicht aus. Sie sollen keine Piloten werden, sondern Kartografen. Sie sollen das Unerforschte erforschen, und dazu müssen Sie auf alles vorbereitet sein. Also …« Er wiederholte die Geste in Richtung der beiden Liegen.

Tess dachte daran, dass jeder Tag, den sie verlor, ein Tag zu viel war. Sie ging zu den beiden Liegen und legte sich auf eine davon.

Die Hände von Bots, ausgestattet mit Werkzeugen und Sensoren, berührten sie sanft. Sie schloss die Augen und hörte, wie sich Sinclair auf der Liege neben ihr ausstreckte. Etwas zischte, etwas Kühles berührte sie am Nacken und verursachte ein kurzes Frösteln.

Vor der Leinwand ihrer Lider sah sie das Haupthaus der Familie, den Hügel und die Klippen vor dem endlosen Obsidian, dem schwarzen Meer. Die lange Nacht, dachte sie. In fünf Jahren kann ich sie sehen. In fünf Jahren kehre ich heim und kann den Rest des Windes und die große Kälte erleben.

Nach einer Weile öffnete sie die Augen. »Wann beginnt der Eingriff?«

»Er hat bereits stattgefunden«, antwortete einer der Bots. »Sie können aufstehen.«

Tess schwang die Beine über den Rand der Liege. Als sie stand, spürte sie eine Veränderung und sah, wie sich Sinclair, der seine Liege ebenfalls verlassen hatte, den Nacken rieb.

Wayfare nickte zufrieden. »Ich stelle fest: Sie sind bereit. Das Zeitfenster ist noch offen. Lassen Sie es uns nutzen.«

6

Das Zeitfenster. Erinnerungen, die nicht ihre eigenen waren, erzählten Tess, was es damit auf sich hatte.

Das Hyperon, von Interkosmika entdeckt und mit Transtatoren zugänglich gemacht, bestand aus zahllosen energetischen Strängen, die man »Gleise« nannte, weil Raumschiffe – Hyperschiffe – über sie hinwegglitten wie Schwebezüge über Magnetschienen. Die Stränge reichten durch eine dem normalen Raum-Zeit-Kontinuum übergeordnete Dimension, die Interkosmika »Hyperraum« nannte, und ermöglichten Reisen mit einem Vielfachen der Lichtgeschwindigkeit. Selbst Hunderte oder Tausende von Lichtjahren entfernte Sterne konnten mit dem Hyperon innerhalb weniger Stunden oder Tage erreicht werden.

Es gab nur einen kleinen Haken: Reisen entlang der Hyperon-Gleise führten nur dann sicher zum Ziel, wenn es am Bestimmungsort des Hyperschiffs eine Empfangsstation gab. Ein Gleis ohne einen fest eingerichteten und synchronisierten Rezeptor führte ins Nichts; ein Hyperschiffpilot, der sich auf einen solchen Flug einließ, strandete schließlich im Irgendwo, ohne die Möglichkeit zur Rückkehr. Mit den Transtatoren konnte er ins Hyperon zurück, aber ohne Orientierung, sodass er nicht wusste, ob ihn der nächste Flug näher zur Erde und an eine ihrer Kolonien brachte oder noch weiter weg, vielleicht in die große Leere zwischen den Galaxien.

Deshalb brauchte Interkosmika Kartografen und Einrichter: Menschen, die die Reise ins Ungewisse wagten, um die Stränge des Hyperons zu erforschen und Empfangsstationen einzurichten. Sie brachen mit Forschungskapseln auf, mit »Explorern«, ohne genau zu wissen, wo der Flug endete. Das Ziel konnte nur grob bestimmt werden, anhand eines »Zeitfensters«, in dem bis dahin unerforschte Bereiche des Hyperons für Interkosmikas Scanner, deren Technologie strenger Geheimhaltung unterlag, sichtbar wurden. Diese Sichtbarkeit erlaubte es, Explorer möglichst nahe zu gewünschten Zielen zu bringen.

Doch die Kartografen und Einrichter wussten nie, was sie erwartete, wenn sie schließlich aus dem Hyperraum zurückkehrten, vielleicht in gefährlicher Nähe zu einer Sonne, zu dicht über einem Planeten, im Strahlensturm eines Gammablitzes, am Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs oder in der intergalaktischen Leere. Es gab viel, das schiefgehen konnte. Kartografen und Einrichter gingen ein hohes Risiko ein, und deshalb wurden sie von Interkosmika gut bezahlt. Wer überlebte, durfte sich über ein üppig mit Kreditpunkten gefülltes IK-Konto freuen, auf das er oder sie überall Zugriff hatte, abgesehen von den Welten, die an den Koloniekonflikten beteiligt waren.

Die Verlustliste war lang und wurde immer länger. Jeder Tote bekam von Interkosmika eine posthume Prämie von zehn Millionen Kreditpunkten, die seinen Erben zur Verfügung stand, und ein Ehrenmal auf der Erde, auf einem der zur Insel gewordenen Berggipfel.

An all das »erinnerte« sich Tess und an noch viel mehr, auch an den alten Horace, der sie im Transitraum in Empfang nehmen sollte. Das Datenimplantat erzählte ihr, dass er mit seinen achtundneunzig Jahren einer der ältesten Kartografen war, was das Lebensalter betraf. Wenn man die Dienstjahre als Maßstab nahm, war er tatsächlich der älteste: Seit siebenundsiebzig Jahren erforschte und kartografierte er das Hyperon und hielt mit fünfundsechzig eingerichteten Empfangsstationen den Rekord. Dreimal war er im Hyperon verschollen gewesen, und einmal hatte man ihn sogar für tot erklärt.

Tess fragte sich, ob es ein gutes Omen war, dass Interkosmika ausgerechnet ihn zu ihrem Einweiser bestimmt hatte.

7

Horace war groß, dürr und klapprig. Wenn er sich bewegte, konnte man hören, wie seine Knochen knackten, wie es in seinen alten Gelenken knirschte, und sein Atem zischte wie der sterbende Wind von Rosengarten. Manchmal schnappte er ohne erkennbaren Grund nach Luft und blickte sich wie nach etwas um, das nur für ihn existierte.

Etwas Wirres lag in seinen wässrigen blauen Augen, aber auch eine Schärfe wie im Blick eines Adlers. Sein schmales, hohlwangiges Gesicht war eine Landschaft aus Narben und Falten, die Nase darin ein kleiner zerklüfteter Berg.

Als Tirell Wayfare sie in den Transitraum führte, hantierte der alte Horace mit Werkzeugen und Instrumenten, umgeben von Kisten, Ausrüstungsbehältern und Geräteblöcken mit bunten holografischen Anzeigen. Weiter hinten öffnete sich gerade das Außenschott des Hangars; der dünne energetische Vorhang eines Atmosphärenschilds verhinderte, dass die Luft ins All entwich. Davor stand ein kleines Schiff, nicht glatt und elegant wie Wayfares Cruiser, sondern voller Ecken und Kanten, wie eine Ansammlung von Würfeln, Quadern und Stangen, die jemand aufs Geratewohl zusammengesetzt hatte, um anschließend einige Transtatorkerben hinzuzufügen. Die Einstiegsluke war geöffnet, Licht fiel aus dem Innern, und ein Gravitationsmotor brummte tief und leise.

»Sind sie das?«, fragte Horace mit kehliger, rauer Stimme.

»Tess und Sinclair Rosengarten Sagittarius, wie angekündigt«, sagte Wayfare. »Wie weit sind Sie? Das Zeitfenster schließt sich in …« Er neigte den Kopf ein wenig zur Seite und lauschte. »… zehn Minuten.«

»Ein Fenster klappt zu, ein anderes klappt auf.« Horace zuckte mit den Schultern, wobei sein Blick Sinclair streifte, um dann bei Tess zu verweilen.

Wayfare seufzte leise. »Dieses Fenster ist wichtig.«

Horace verzog das narbige und faltige Gesicht. »Alle Fenster sind wichtig, nicht wahr? Jedes auf seine Weise.«

»Dieses führt in den Orion-Tunnel. Damit ist es besonders wichtig.«

»Aber sicher doch. Eine Empfangsstation im Orion-Tunnel wäre eine Abkürzung für Protektor zu den aufständischen Kolonien. Eine Möglichkeit, ihnen in den Rücken zu fallen.«

Tess hörte, wie Wayfare erneut seufzte. »Ein Weg ins Herz der Galaxis und darüber hinaus, zur anderen Seite der Milchstraße. Ein neuer Hauptstrang, der das uns bekannte Hyperon um zehn oder sogar zwanzig Prozent erweitern könnte. Sie wissen das alles, Horace. Wir haben Sie informiert.«

Der dürre Alte schnaubte. »Wir können gleich los. Ich brauche nur noch … dies und dies …«

Zwei kleine Bots nahmen die Objekte, auf die Horace gezeigt hatte – mehrere Behälter mit Energiepatronen und teuren Transtatorkomponenten, die ein Printer nur mit hohem Energie- und Zeitaufwand produzieren konnte.

Tess blickte sich erstaunt im Hangar um. »Hier soll sich der Knotenpunkt des Hyperons befinden?«

Dann erinnerte sie sich auch daran: Der Knotenpunkt – eine Verbindungsstelle von zahlreichen Gleisen – wanderte wie die magnetischen Pole der Erde. Das Implantat nannte ihr die aktuellen Daten: In einigen Jahren würde sich der Knotenpunkt im Mare Imbrium auf dem Mond befinden, unweit des großen Kopernikuskraters. Er strich durch das Sonnensystem der Erde wie der Wind über das Obsidian von Rosengarten.

»Was ist mit unserer Ausrüstung?«, hörte sie Sinclair fragen und dachte sofort an die kartografischen Instrumente, an die Scanner, Sensoren und Programmmodule für den Printer, der nicht nur Kleidung und Proviant herstellen würde, sondern auch Rezeptoren für die zu errichtende Empfangsstation. Sie wusste, wo sich was befand und wie man damit umging.

Für einen Moment wankte sie, wie von den neuen Erinnerungen aus dem Gleichgewicht gebracht. Sie fühlten sich nicht fremd an, sie waren ein Teil von ihr, ein Teil von etwas Neuem, das es zu erkunden galt und sie zu einer anderen Person machte. Die Welt in ihrem Kopf, das mentale Universum namens Tess Velazca, war größer geworden. Eine neue Person wartete dort darauf, entdeckt zu werden.

»Noch acht Minuten«, sagte Tirell Wayfare.

Horace schnaubte erneut und winkte. »Kommt her. Kommt zu mir.«

Tess und Sinclair gingen zu ihm.

»Macht euch nichts vor«, brummte der alte Kartograf. »Die Implantate erinnern sich für euch, aber ihr habt trotzdem keine Ahnung, was euch erwartet. Seht ihr das hier?« Er hob die Hand zum Gesicht. »Sind mehr als vierzig Jahre alt, diese Narben. Damals war ich schon seit vielen Jahren in den unerforschten Bereichen des Hyperons unterwegs und hab geglaubt, alles zu wissen, alles zu kennen. Es hat mich unvorsichtig gemacht, und unvorsichtige Hyperon-Kartografen überleben für gewöhnlich nicht lange.«

Wayfare stand mit auf den Rücken gelegten Händen da und räusperte sich demonstrativ.

»Oh, die Technik war kein Problem, die wurde immer besser, immer leistungsfähiger. Mit einem Explorer ins Unbekannte zu fliegen, im Zielsektor einen Printer aufzubauen, damit er eine Empfangsstation mit allem Drum und Dran druckt … Alles Routine, alles kein Problem. Ich habe auch immer auf jederzeit einsatzbereite Notausrüstung geachtet.«

»Horace Addison Eridanus …«, begann der Exekutor von Interkosmika in einem strengen, mahnenden Ton.

Der dürre Alte achtete nicht auf ihn. »Ich bin bei den Riffen des Neungestirns im Herakia-Sektor gewesen – und nichts und niemand hat mich darauf vorbereitet, wie gefährlich die sind.« Horace hatte die Schultern gestrafft und den Kopf hoch erhoben. »Die Daten des Memex, das ich zu jener Zeit benutzt hab, waren nicht vollständig, was ich aber erst später erfuhr. Pech. Und ich habe mich zu sicher gefühlt. Ein großer Fehler, der mich fast das Leben gekostet hätte. Ich bin beim Neungestirn zwischen den beiden Roten Riesen aus dem Hyperraum gekommen, zu nahe an der Materiebrücke. Die Energieriffe hätten meinen Explorer fast zerrissen und hinterließen mir diese Andenken, übrigens nicht nur im Gesicht.«

Mit den Fingerkuppen berührte er die Narben, eine behutsame Geste, die fast zärtlich wirkte.

»Ich bin in den dunklen Sternenräumen von Utox gewesen«, fuhr er fort, und seine Stimme klang nun anders, hohl, wie aus einem Gewölbe. »In Staubwolken so dicht, dass sie selbst das Licht der nahen Sterne schlucken. Meine Explorer sind am hundert Kilometer tiefen Grund von Eismondozeanen und in den Wolkenmeeren von Gasriesen aus dem Hyperraum gekommen. Ich hab die Alabasterschreine von Gizzah gesehen, Hinterlassenschaften der Namenlosen, die vor hundert Millionen Jahren die Milchstraße durchstreiften. Ich bin im hellen, heißen Kern der Galaxis gewesen, wo die Sonnen derart kumuliert sind, dass es auf ihren Planeten nie dunkel wird. Ich bin am Rand gewesen, wo die Sterne einsam leuchten. Ich wanderte durch die Schluchten von Ascaron, einer Welt aus Stein und Staub, habe der Stille gelauscht und in ihr das Flüstern der Ewigkeit gehört. Ich …«

»Noch fünf Minuten«, warf Wayfare ein, und Tess glaubte, in seiner Stimme den Beginn von Ungeduld und sogar Nervosität zu hören.

»… habe die Mantas des Gasriesen Karikaran gesehen, gewaltige Geschöpfe, die vom Auftrieb ihrer Wasserstoffzellen getragen durch dichte Wolkenmeere segeln.«

Der alte Kartograf beugte sich vor, und Tess nahm seinen Geruch wahr: nicht frisch wie der von Sinclair, der mit offenem Mund zuhörte, sondern trocken und modrig, wie von Kleidung, die zu lange vergessen in einer Ecke gelegen hatte.

»Und ich habe den Schlund gesehen«, fügte Horace düster hinzu.

»Das reicht!«, fauchte Wayfare, die Stimme scharf wie ein Laserskalpell. »Noch vier Minuten. Wenn Sie nicht sofort aufbrechen, schicke ich Sie zur Erde.«

Der alte Kartograf deutete eine Verbeugung an und wies zum offenen Eingang des Explorers. »Wenn ich bitten darf, die Herrschaften …«

Dann nahm er Haltung an wie ein Soldat und hob die Hand zur Stirn. »Kartograf Horace meldet Beginn des Einsatzes.« Er drehte sich um. »Also los, Kinder, an Bord mit euch!«

Hinter ihnen rief Wayfare: »Tess Rosengarten Sagittarius und Sinclair Rosengarten Sagittarius, ich stelle fest: Ihre fünfjährige Dienstzeit beginnt jetzt!«

 

Im hell erleuchteten Innern des Explorers erwarteten sie kleine Räume, schmale Gänge und ein Durcheinander aus Streben und Stangen. Horace kletterte und zwängte sich durch Lücken.

»Er weiß, dass ich nicht zur Erde will, das weiß er genau«, brummte er. »Ich auf einem Planeten festsitzen? Ha! Seid ihr noch da?« Er drehte den Kopf.

Der Alte war erstaunlich flink. Tess und Sinclair hatten Mühe, mit ihm Schritt zu halten.

»Schiff!«, rief Horace.

»Zu Diensten«, erklang eine androgyne Stimme.

»Bring uns nach draußen«, wies der Alte den Kognitor des Explorers an. »Bereitschaft für Energiekern und Transtatoren. Der Sprung ist programmiert?«

»Ich bestätigte, Horace.«

»Manöver einleiten.«

»Sie sind noch nicht im Kontrollraum. Sie sind noch nicht von Harnischen geschützt.«

»Du hast gehört, was ich gesagt habe«, knurrte Horace, der es plötzlich sehr eilig hatte. »Kommt, Kinder, kommt!«

Tess erinnerte sich mit dem Memex daran, welche Vorbereitungen für einen Sprung in die unerforschten Bereiche des Hyperons nötig waren.

»Die Stabilisatoren und Transtatoren müssen kalibriert werden«, sagte sie. »Die Energieflussregler …«

Horace kletterte zwischen mehreren Stangen und wandte den Kopf. »Kennst dich damit aus, Mädchen, nicht wahr?«

»Ich habe als Hyperschiffpilot gearbeitet«, warf Sinclair ein. »Ich weiß, wie man …«

»Du weißt nichts!«, zischte der alte Kartograf. Vor ihm schwang eine Luke auf. Im kleinen Kontrollraum dahinter leuchtende virtuelle Kontrollen. »Du hast keine Ahnung, Junge. Hyperschiffpilot! Du hast Schiffe über stabile Gleise gesteuert, das ist ein Kinderspiel. Dies hier …« Er hielt sich mit einer Hand an einer Strebe fest und vollführte mit der anderen eine Geste. »Dies hier bedeutet, die bequeme Couch zu verlassen und den Kopf in den stürmischen Wind zu halten.«

Wind, dachte Tess, und etwas stach tief in ihrer Brust. Sie stellte sich das Obsidian vor, die Oberfläche nicht glatt wie Glas, sondern von den Stürmen des Tag-Nacht-Wechsels aufgewühlt, mit hohen, schaumgekrönten Wellen.

»Wir sind draußen, Horace«, meldete der Kognitor des kleinen Schiffs. »Nähe zum Knotenpunkt achtundneunzig Prozent. Keine anderen Schiffe in der Nähe. Keine erkennbaren Störfaktoren. Der Weg ins Hyperon ist frei. Beginne mit der Synchronisierung der Transtatoren.«

Horace schnaufte und betrat den Kontrollraum, gefolgt von Tess und Sinclair. Fensterartige Holos zeigten die Erde, die Orbitalstation mit ihren Rotationselementen, den zwei Kilometer langen Dorn des Rezeptors, an dem mehrere kleine Kurierschiffe wie silberne Schiffe lagen, und den dunklen Koloss eines Protektor-Schlachtschiffs mit Dutzenden Gefechtskuppeln und vier langen Hangarbänken, in ihnen Jäger und interplanetare Kampfschiffe ohne den Ballast von Transtatoren und damit ohne Zugang zum Hyperon.

Horace glitt wie eine Schlange in den Kommandosessel, der sich halb um ihn schloss, streckte die Hände in die virtuellen Kontrollen und bemerkte Tess’ Blick.

»Dickes Ding, nicht wahr?«, brummte er. »Ziemlich eindrucksvoll.« Ein Schatten fiel auf sein narbiges, faltiges Gesicht. »Ich habe solche Schlachtschiffe im Einsatz gesehen, mit ihren Blastern, Pulskanonen, Diskontinuatoren und Aktoren. Bei Wunca im Heraldor-System hat so ein Riese eine KS ins Hyperon geschickt, um die lokale Empfangsstation und ihre Rezeptoren zu zerstören. Ich war gerade in der Nähe unterwegs, auf dem Weg nach Orion wie gleich wieder, und es hätte mich fast erwischt. Auf Wunca ging es ziemlich turbulent zu, wie ich hörte. Starke Erdbeben, hervorgerufen von Gravitationsanomalien.«

»KS?«, murmelte Tess.

»Eine Künstliche Singularität.« Horace betätigte die virtuellen Kontrollen. »Ein kleines Schwarzes Loch.«

»Der Einsatz Künstlicher Singularitäten ist nach dem Waffengesetz des Protektorats verboten«, sagte Sinclair, und es klang, als wollte er Horace widersprechen. »Seit zwanzig Jahren.«

»Was weißt du von Waffengesetzen und ihrer Anwendung? Nichts!«, donnerte Horace. »Ha! Dort draußen in den Weiten des Alls schert sich Protektor nicht um die Gesetze der Erde. Dort heißt es für die Soldaten: siegen und leben oder verlieren und sterben.«

»Das Zeitfenster schließt sich, Horace«, warnte der Kognitor.

»Schnallt euch an, Kinder. Macht euch fest und sicher.«

»Er meint die Sicherheitsharnische, Tess und Sinclair Rosengarten«, erklärte das Schiff.

Die Orbitalstation verschwand aus den Holos, und die Mondsichel erschien, gesäumt von den Sternen der Milchstraße. Das tiefe Brummen des Gravitationsmotors wurde lauter, und vor Horace leuchteten noch mehr Symbole auf, viele von ihnen gelb oder in einem warnenden Rot.

Sinclair deutete auf die Kontrollen, nachdem er in einen freien Sessel gesunken und den Sicherheitsharnisch aktiviert hatte. »Wir sind nicht synchron.«

Auch Tess setzte sich, dicht neben ihm, und sofort legte sich der Schleier des Sicherheitsharnischs um sie, ein Energiefeld, das sich weich wie Watte anfühlte und die Geräusche dämpfte.

»Wir sind knapp dran, es könnte holprig werden«, sagte Horace. »Und ziemlich unangenehm für Leute, die nicht an einen ungesteuerten Flug ohne stabiles Gleis gewöhnt sind. Hat euch das Memex darauf hingewiesen? Nein? Dann steht euch eine kleine Überraschung bevor. Achtung, es geht los!«

Horace schloss die Hand um ein vor ihm schwebendes rotes Symbol.

Der Explorer sprang ins Hyperon.

Tess würgte und übergab sich.

Transit

8

Eine Stimme durchdrang den Nebel des Elends. »Wie geht es dir, Mädchen?«

Sie würgte erneut, doch es kam nichts mehr heraus, weil der Magen bereits leer war.

»Hören Sie auf, mich Mädchen zu nennen.« Der Ärger brachte Kraft, sie wollte daran festhalten.

»Schon gut, Mädchen. Ich meine, schon gut, Tess. Verstehe. Hätte nicht gedacht, dass es so schlimm für dich ist.« Ein zerfurchtes Gesicht mit wässrigen blauen Augen erschien vor ihr. »Ich schätze, es liegt an deinem Esprit. Hab’s in den Infos gelesen, die mir Interkosmika über dich geschickt hat. Kommst von Rosengarten im Sagittarius-Sektor und wolltest Musik studieren, und jetzt bist du hier bei mir, na so was …«

Er sprach und sprach, und Tess begriff, dass er mit den vielen Worten über seine Sorge hinwegtäuschen wollte.

»Sinclair?«

Eine Hand berührte sie an der Wange, warm wie der Tag von Rosengarten. »Geht es dir besser?«

Sie würgte erneut. »Nein.«

»Es wird bald wieder, Mädchen. Tess, meine ich. Du liegst in unserer kleinen Krankenstation, und der Medobot behandelt dich. Schiff?«

»Ja, Horace?«

»Du passt gut auf sie auf, nicht wahr?«

»Natürlich, Horace.«

Es tat nicht weh, Tess hatte keine Schmerzen. Aber ihr war speiübel, und sie fühlte sich so schwach wie nach einer enorm großen körperlichen und geistigen Anstrengung.

»Ist es immer so schlimm?«, fragte sie mühsam und versuchte, mehr von ihrer Umgebung zu erkennen. Der Schemen neben ihrer Liege schien Sinclair zu sein.

Die Gestalt auf der anderen Seite beugte sich vor, und das schmale, hohlwangige Gesicht mit den vielen Falten und Narben kehrte zurück. »Der Sprung ohne ein stabiles Gleis ins Hyperon ist nie angenehm, aber mit der Zeit gewöhnt man sich daran. Allerdings war das Zeitfenster diesmal ziemlich knapp, wir hätten den Orion-Tunnel fast verfehlt.«

»Sie haben sich zu viel Zeit gelassen!«, sagte Sinclair vorwurfsvoll. »Es ist Ihre Schuld, dass es so knapp war!«

»Reg dich ab, Junge, reg dich ab«, knurrte der alte Kartograf. »Sie wird nicht sterben.«

Eine andere Hand berührte sie, kälter und rauer. »Schlaf, Tess. Die Scanner und Ida sagen, dass wir noch einige Tage im Transit bleiben. Ruh dich aus.«

»Ida?«

»Das bin ich«, ertönte die Stimme des Kognitors. »Manchmal nennt er mich so.«

Das weckte Tess’ Neugier. »Warum Ida?«

»Oh, es ist eine lange Geschichte«, sagte Horace. »Vielleicht erzähle ich sie euch später. Schlaf jetzt, dann hast du es schneller hinter dir. Ich geh und kümmere mich ums Schiff.« Er wandte sich ab.

»Sinclair?«

»Ich bleib hier«, antwortete er sofort.

»Gut«, murmelte Tess. »Das ist gut.« Sie schloss die Augen und schlief.

9

Sie saßen im Kontrollraum, den Horace »Nest« nannte, umgeben von holografischen Darstellungen, die nicht das All zeigten, sondern etwas, das aussah wie eine karmesinrote Flüssigkeit, in der gelegentlich etwas dunklere Blasen aufstiegen. Tess sah den Hyperraum zum ersten Mal und beobachtete fasziniert das scheinbar träge Strömen.

»Die Blasen«, sagte sie und trank einen Schluck von dem irdischen Kaffee, den der kleine Bot namens Hieronymus gebracht hatte und der aus dem kleinen Bordprinter stammte. »Was hat es mit ihnen auf sich?«

Der alte Kartograf im Kommandosessel zuckte mit den Schultern. Er trug, wie auch Tess und Sinclair, einen Werkzeugoverall, mit dem Unterschied, dass seiner Schmutzflecken aufwies und aussah, als würde er schon seit Jahren benutzt.

»Wer weiß?« Horace verzog das Gesicht, vielleicht der Versuch eines Lächelns. »Was sagt unser Hyperschiffpilot dazu? Kennt sich bestimmt aus, der junge Mann.«

»Ich habe den Hyperraum nie auf diese Weise gesehen«, erklärte Sinclair. Es klang fast trotzig, und Tess fragte sich, ob sich hier ein dauerhafter Konflikt anbahnte. Horace mochte Sinclair nicht und zeigte das auch ganz deutlich. »Und ich bin nicht lange Hyperschiffpilot gewesen, nur ein Jahr. Vorher habe ich Lichtschiffe geflogen.«

Horace lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Vielleicht sieht der Hyperraum gar nicht so aus, wie wir ihn hier in diesen Holos sehen. Nicht wahr, Ida?«

»Ich versuche, ihn so darzustellen, wie ihn menschliche Augen sehen würden, wenn sie die Daten der Sensoren und Scanner direkt empfangen könnten«, erklang die Stimme des Kognitors.

»Mit anderen Worten«, sagte Horace, »es gibt keine Garantie dafür, dass der Hyperraum wirklich so beschaffen ist.«

»Es gibt auch keine Garantie dafür, dass die von uns wahrgenommene Realität tatsächlich existiert«, gab Sinclair zu bedenken. »Es könnte alles eine Illusion sein, geschaffen von unserem Gehirn.«

Horace schnaubte. »Bist nicht nur ein erfahrener Hyperschiffpilot, sondern auch Philosoph. Ha!« Er wandte sich an Tess, und seine Stimme wurde sanfter. »Hyperraumphysiker und Philosophen wie unser Freund hier zerbrechen sich seit Jahrhunderten den Kopf über das Phänomen namens Hyperraum, seit der Entdeckung durch Interkosmika. Es gibt viele Theorien, deren Spektrum von absurd bis grotesk reicht, wenn ihr mich fragt. So heißt es zum Beispiel, dass die Blasen dort Universen sein könnten. Demnach wäre der Hyperraum ein Medium, in dem unser Universum zusammen mit vielen anderen eingebettet liegt.«

»Die Theorie vom Multiversum ist noch älter als Interkosmika«, warf Sinclair ein.

»Danke für den Hinweis, Schlaukopf.«

Sinclair setzte zu einer scharfen Erwiderung an, doch Tess fragte schnell, um eine Auseinandersetzung zu vermeiden: »Wo ist das Hyperon? Wo sind die Stränge, die Gleise?«

»Du möchtest das Hyperon sehen?«

»Ja, zeigen Sie es mir.«

»Schluss mit dem Sie. Wir sind Kollegen, wir duzen uns. Ida?«

»Ich bin noch da, Horace.«

»Zeig uns das Hyperon.«

Ein neues Hologramm bildete sich, wie die dreidimensionale Darstellung einer Teilchenkollision: Hunderte oder sogar Tausende Linien gingen von einem zentralen Punkt aus und führten in alle Richtungen, vor allem aber nach links und rechts.

Tess beugte sich vor und streckte die Hand aus. Das Gesteninterface reagierte sofort und vergrößerte einen Teil der Hyperon-Karte, und die Hauptlinien wurden länger und etwas dicker. Zwischen ihnen ließen sich Verbindungen erkennen, ein hauchzartes, filigranes Netz.

»Ein Spinnennetz«, sagte sie leise. »Aber wo ist die Spinne?«

»Gute Frage.« Horaces Miene verfinsterte sich. »Vielleicht meinst du den Schlund.«

»Ich habe davon gehört.« Sinclair klang noch immer ein wenig herausfordernd. »Auf Pentagatt Ophiuchus. Im dortigen medizinischen Zentrum wurde ein Kartograf behandelt, den man schwer verletzt geborgen hatte. Angeblich war er in den Schlund geraten. Als ich andere Piloten danach gefragt habe, wollte mir niemand Auskunft geben. Offenbar dürfen Kartografen nicht darüber reden.«

Horace durchbohrte ihn mit seinem finsteren Blick. »Welcher Kartograf auch immer auf Pentagatt behandelt wurde: Er kann nicht in den Schlund geraten sein, denn sonst hätte man ihn nicht bergen können.«

»Was ist der Schlund?« Tess wandte den Blick von den Blasen im roten Strömen des Hyperraums. »Und warum dürfen Kartografen nicht darüber reden?« Sie hob die Hand zum Nacken. »Mein Memex weiß nichts davon.«

Horace lachte humorlos. »Kein Wunder. Interkosmika möchte nicht, dass die Sache bekannt wird. Weil es den Nachschub an Kartografen beeinträchtigen könnte. Hättet ihr euch auf einen Vertrag mit Interkosmika eingelassen, wenn euch klar gewesen wäre, dass in den Tiefen des Hyperons etwas Gefräßiges lauert, das Kartografen und Einrichter mit Haut und Haar verschlingt?«

Einige Sekunden lang war nur das Summen der Bordsysteme und Transtatoren zu hören.

»Wollen Sie uns erschrecken?«, fragte Sinclair. »Wollen Sie uns Angst einjagen?«

»Wie könnte ich einem mit allen Wassern gewaschenen Hyperschiffpiloten wie dir Angst einjagen?«, entgegnete Horace.

»Wir hatten keine Wahl«, sagte Tess. »Ich hatte keine Wahl.« Sie erzählte vom Obligat ihrer Familie und der Abtrünnigkeit ihrer Schwester Anita.

»Verstehe.« Horace nickte langsam. »Ich hab mich schon gefragt, was euch veranlasst haben könnte, eine fünfjährige Verpflichtung für Interkosmikas kartografischen Dienst einzugehen. Abenteuerlust? Die Dummheit der Jugend?« Er nickte erneut. »Eine abtrünnige Schwester. Die bereit war, die Schulden der Familie abzuarbeiten. Warum ist sie abtrünnig geworden? Weißt du das, Tess?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Und wohin ist sie verschwunden?«

»Interkosmika konnte es mir nicht sagen.«

Horace musterte sie, die Schärfe des Adlers kehrte in seine Augen zurück. »Vielleicht wollte Interkosmika es dir nicht sagen«, spekulierte er. »Weil es Exekutor Wayfare und den Leuten hinter ihm gut in den Kram passt, dass du jetzt für sie arbeitest. Wegen deines Esprits. Vielleicht hoffen sie, dass du mit deiner besonderen Begabung viele neue Hyperon-Gleise für Interkosmika erschließt.«

Tess schwieg nachdenklich.

»Du wolltest uns vom Schlund erzählen«, sagte Sinclair, als Tess still blieb.

»Wollte ich das?«

»Und von Ida«, fügte Tess hinzu. »Es ist eine lange Geschichte, hast du gesagt. Wir haben Zeit, nicht wahr?«