Mars Discovery - Andreas Brandhorst - E-Book
SONDERANGEBOT

Mars Discovery E-Book

Andreas Brandhorst

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 14,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eleonora Delle Grazie verlor ihre Eltern früh bei einem tragischen Raumfahrtsunglück der NASA. Die Welt ahnt nichts von dem sogenannten »Mysterium«, dem Eleonoras Eltern auf der Spur waren, und Eleonora ist fest entschlossen, die geheime Mission ihrer Eltern fortzuführen. Als sie Jahre später an Bord der »Mars Discovery« ins All aufbricht, scheint sie dem Ziel nah. Kurz nach dem Start erfährt sie von einem außerirdischen Artefakt auf dem Mars. Doch was Eleonora tatsächlich auf dem Roten Planeten findet, übersteigt die Vorstellungen der Menschheit. Ein kosmisches Abenteuer beginnt …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Entdecke die Welt der Piper Science Ficition:

www.Piper-Science-Fiction.de

© Piper Verlag GmbH, München 2021

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München), mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Guter Punkt, München

Coverabbildung: Arndt Drechsler

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Cover & Impressum

Zitat

Prolog

Dune Acres, nördlich von Chesterton, Indiana, USAMärz 1999

Erster Teil

Februar–Oktober 2031: Der Mars

Mysterium

Orbit der ErdeFebruar 2031

Ohne Licht

Cape Canaveral, Florida, USA

Anfang September 2004

Das Geheimnis

Raumschiff Mars Discovery, 11 Tage nach dem Start,

auf dem Weg zum Mars

Februar 2031

Abschied

Cape Canaveral, Florida, USA

Mai 2005

Zwischen den Welten

Raumschiff Mars Discovery, 85 Tage nach dem Start,

auf dem Weg zum Mars

Ende April 2031

Gemeinsam

Raumschiff Mars Discovery, 85 Tage nach dem Start,

auf dem Weg zum Mars

Ende April 2031

Streiflicht

Rom, August 2031

Zwei Probleme

Raumschiff Mars Discovery, 182 Tage nach dem Start,

auf dem Weg zum Mars

August 2031

Streiflicht

Die Erde, August 2031

Das Erwachen

Raumschiff Mars Discovery, 182 Tage nach dem Start,

auf dem Weg zum Mars

August 2031

Streiflicht

Rom, August 2031

Wer bist du?

Raumschiff Mars Discovery, 205 Tage nach dem Start,

noch 6 Tage bis zur Landung auf dem Mars

August 2031

Streiflicht

Rom, August 2031

Der Mars

Raumschiff Mars Discovery, 210 Tage nach dem Start,

noch 1 Tag bis zur Landung auf dem Mars

September 2031

Streiflicht

Die Erde, September 2031

Wir sind da

211 Tage nach dem Start

Auf dem Mars

September 2031

Das Objekt

10 Sol (Marstage) seit der Landung

Acheron Fossae, 423 km nördlich von Olympus Mons

Oktober 2031

Ein langer Weg

10 Sol seit der Landung

Acheron Fossae, 491 km nordwestlich von Olympus Mons

Oktober 2031

Steine und Sand

11 Sol seit der Landung

Acheron Fossae, 470 km nordwestlich von Olympus Mons

Oktober 2031

Konflikt

13 Sol seit der LandungAcheron Fossae, 423 km nördlich von Olympus MonsOktober 2031

Zweiter Teil

Oktober 2031–September 5089: Die Sterne

Den Frieden bewahren

13–1450 Sol seit der LandungAcheron Fossae, 423 km nördlich von Olympus MonsOktober 2031-September 2035

Entscheidung

1450 Sol seit der Landung

Acheron Fossae, 423 km nördlich von Olympus Mons

September 2035

Trennung

1451 Sol seit der Landung

Raumschiff Mars Discovery, 150 km über dem Mars

September 2035

Tür zum Universum

1546 Sol seit der Landung

Raumschiff Mars Discovery, 150 km über dem Mars

Dezember 2035

Du sollst brennen!

1639 Sol seit der Landung

Acheron Fossae, 423 km nördlich von Olympus Mons

März 2036

Eine neue Welt

402 Jahre nach Verlassen der Marsumlaufbahn

Sternsystem Trappist-1

39 Lichtjahre von der Erde entfernt

Dezember 2437

Bin ich tot?

402 Jahre nach Verlassen der Marsumlaufbahn

Sternsystem Trappist-1

39 Lichtjahre von der Erde entfernt

Dezember 2437

Ich will leben!

402 Jahre nach Verlassen der Marsumlaufbahn

Sternsystem Trappist-1

39 Lichtjahre von der Erde entfernt

Dezember 2437

Aufbruch

402 Jahre nach Verlassen der Marsumlaufbahn

Sternsystem Trappist-1

39 Lichtjahre von der Erde entfernt

Dezember 2437

Unendliche Weiten

Entfernung von der Erde: 971 Lichtjahre

Irdische Zeit: November 3401

Eine Wand aus Photonen

Entfernung von der Erde: 1241 Lichtjahre

Irdische Zeit: Mai 3694

Am Ziel

Entfernung von der Erde: 2316 Lichtjahre

Irdische Zeit: September 5089

Stadt in den Wolken

Entfernung von der Erde: 2316 Lichtjahre

Irdische Zeit: September 5089

Letzte Zuflucht

Entfernung von der Erde: 2316 Lichtjahre

Irdische Zeit: September 5089

Dritter Teil

September 5089–Mai 8417: Die Galaxis

Die bittere Wahrheit

Entfernung von der Erde: 34 000 Lichtjahre

Irdische Zeit: September 5089

Der Kustode

Entfernung von der Erde: 34 000 Lichtjahre

Irdische Zeit: September 5089

Die Erde

Im Sonnensystem

Irdische Zeit: Mai 8417

Der Mars

Im Sonnensystem

Irdische Zeit: Mai 8417

Vierter Teil

Mai 8417–∞: Das Universum

Steig auf, Adler

Entfernung von der Erde: 67 000 Lichtjahre

Irdische Zeit: vielleicht August 10 117

Kaskade

Entfernung von der Erde: 2,3 Millionen Lichtjahre

Irdische Zeit: vielleicht Jahr 100 000

Nekropole

Entfernung von der Erde: 250 Millionen Lichtjahre

Irdische Zeit: vielleicht Jahr 200 000

Das Schiff

Entfernung von der Erde: 250 Millionen Lichtjahre

Irdische Zeit: vielleicht Jahr 200 000

Die Reisenden

Entfernung von der Erde: 250 Millionen Lichtjahre

Irdische Zeit: vielleicht Jahr 200 000

Knisternder Raum, brechende Zeit

Entfernung von der Erde: 250 Millionen Lichtjahre

Irdische Zeit: vielleicht Jahr 200 000 bis ∞

Mars Discovery

Entfernung von der Erde: ∞Irdische Zeit: ∞

»Die Zeit des Lebens ist zu kostbar, um sie mit Trauer zu vergeuden.«

Eleonora Delle Grazie

Prolog

Dune Acres, nördlich von Chesterton, Indiana, USAMärz 1999

Sie waren alle gegangen, die Männer und Frauen in ihren hübschen Uniformen, auch die Verwandten und Freunde in ihren dunklen Anzügen und mit den schwarzen Schleierhüten. Eleonora, klein, zart und sieben Jahre jung, stand allein neben Großvater Francis, der ihr eine schwere Hand auf die Schulter legte.

»Es ist kalt, Ele.« Er sprach normal, nicht wie die anderen. »Lass uns gehen.«

Wind wehte über die nahen Dünen, trug den Geruch des Michigansees zum Friedhof und rauschte in den Bäumen. Ein Hauch von Schnee lag in der Luft.

Eleonora blickte auf die schiefergraue Grabplatte. Ganz oben, bei den beiden goldenen Namen, brannte eine kleine Flamme, in einem Glas vor dem Wind geschützt.

»Ist ihnen auch kalt dort unten?«, fragte sie, obwohl sie tief in ihrem Innern wusste, dass es eine dumme Frage war.

»Deine Eltern liegen hier nicht«, antwortete Großvater Francis geduldig. »Das Grab ist ein Symbol.«

Eleonora verstand nicht ganz, warum sich die Erwachsenen all die Mühe gegeben hatten, nur wegen eines Symbols.

»Ist dir nicht kalt, Ele?« Francis klappte den Kragen des Mantels hoch. »Möchtest du nicht zurück ins Warme?«

»Wo sind sie?«, fragte Eleonora, den Blick noch immer auf die Grabplatte gerichtet. Sie beobachtete das Flackern der kleinen Flamme, als der Wind dennoch einen Weg ins Glas fand.

»Das Unglück hat nichts von ihnen übrig gelassen«, sagte Großvater Francis. »Jedenfalls haben wir nichts gefunden, und wir haben lange, lange gesucht.«

Auch das mochte Eleonora an ihm: Er gab immer ehrlich Antwort und versteckte sich nicht hinter schön klingenden Worten.

»Sie sind verbrannt, als die Rakete explodiert ist«, sagte Eleonora und sah, wie die kleine Flamme tanzte.

»Ja«, bestätigte Francis.

»Und nur wir wissen davon.«

»Außer uns gibt es nur wenige andere Personen, die Bescheid wissen.«

»Weil es ein Geheimnis ist.«

»Deine Eltern sollten zu einer geheimen Mission aufbrechen«, sagte Francis und fügte hinzu: »Es wird viele Jahre dauern, bis sich wieder so eine Gelegenheit ergibt. Das Unglück ist ein großer Rückschlag.« Die Hand kehrte kurz auf Eleonoras Schulter zurück. »Und ein immenser Verlust für uns alle.«

Sie schwiegen eine Zeit lang.

»Sind sie im Himmel?«, fragte Eleonora.

Großvater Francis seufzte. »Schwer zu sagen, Ele. Ich bin kein sehr religiöser Mensch, weißt du. Ich glaube vor allem an die Dinge, die ich sehen und berühren kann. Aber wenn du meine ehrliche Meinung wissen willst …«

»Ja?«

Francis atmete tief durch. »Ich glaube, ihre Seelen sind unterwegs zu den Sternen.«

Auf dem Rückweg zum Wagen dachte Eleonora darüber nach. »Ich hätte Mom und Dad gern noch einmal wiedergesehen.«

Diesmal antwortete Großvater Francis nicht sofort. Er wartete, bis sie im Auto saßen.

»Bist du traurig, Ele?«, fragte er sanft.

Sie sah ihn an, den großen Mann, der wie ein Bär in Menschengestalt wirkte. »Ich werde sie nie wiedersehen, nicht wahr?«

»Nein, nie«, sagte Großvater Francis aufrichtig. »Aber du wirst dich immer an sie erinnern. Hier und hier.« Sein Zeigefinger berührte sie erst an der Stirn und dann auf der Brust, dort, wo ihr Herz schlug.

»Das Grab soll für dich ein Ort sein, an dem du dich erinnern kannst.« Francis startete den Motor. »Sei nicht traurig, Ele. Deine Eltern hätten nicht gewollt, dass du traurig bist. Weißt du, was deine Mutter immer gesagt hat?«

Eleonora wartete.

»Sie hat gesagt: ›Die Zeit des Lebens ist zu kostbar, um sie mit Trauer zu vergeuden.‹« Er lächelte und nickte ihr zu. »Sei nicht traurig, leb dein Leben.«

An jenem Abend lag Eleonora lange wach. Sie hielt die Augen geschlossen und lag reglos, als Großvater Francis die Tür ihres Zimmers öffnete; er sollte glauben, dass sie schlief. Leise trat er zum Bett, zog ihr behutsam die Decke hoch bis zum Kinn und ging wieder.

Stille breitete sich aus.

Eleonora wartete auf den Schlaf, doch er kam nicht. Zu viele Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Seltsamerweise fiel es ihr schwer, sich an die Gesichter ihrer Eltern zu erinnern. Das erschreckte sie ein bisschen, weil sie befürchtete, dass sie zu vergessen begann.

Schließlich öffnete sie die Augen, stand auf und blickte aus dem Fenster. Der Himmel war klar, zahllose Sterne leuchteten über dem Michigansee. Eleonora beobachtete sie und fühlte, wie sich Ruhe in ihr ausbreitete.

»Wenn ich groß bin, komme ich zu euch«, flüsterte sie.

Erster Teil

Februar–Oktober 2031: Der Mars

Mysterium

Orbit der ErdeFebruar 2031

1

Das Donnern von neunundzwanzig Triebwerken verschlang alle anderen Geräusche und füllte die Welt. Eleonora, Captain der im Orbit wartenden Mars Discovery, fühlte sich in ihren Sessel gedrückt, der zu einer Liege geworden war – ihr Gewicht nahm immer mehr zu, bis es ihr Mühe bereitet hätte, auch nur die Hand zu heben. Mehr als dreißigtausend Kilonewton Schubkraft stemmten sich den starken Schwerkraftarmen entgegen, mit denen die Erde die aufsteigende Rakete festzuhalten versuchte.

»Alle Systeme aktiv und korrekt«, drang eine Stimme aus Eleonoras Helmlautsprecher. Sie gehörte Sergei, dem Stellvertretenden Kommandanten der Mars Discovery. »Wir sind auf Kurs. Zentraler Kern und Seitenkerne perfekt synchron.«

Damit meinte er die erste Stufe der Falcon Superheavy – bestehend aus einem Kranz mit acht Triebwerken und einem neunten in der Mitte – und die beiden Booster mit jeweils neun weiteren Triebwerkseinheiten. Die Anzeigen vor beziehungsweise über Eleonora bestätigten, dass alle Düsen wie vorgesehen feuerten und genau den Schub gaben, den sie geben sollten. Sie blickte nach links, zu Sergei und Saya, der philippinischen Biologin, dann nach rechts zu Santiago aus Ecuador, Arzt der Mars Discovery, und der Deutschen Kattrin, zuständig für organisches und anorganisches Recycling. Fünf von dreizehn, dachte sie. Die anderen acht Besatzungsmitglieder, die zusammen mit ihnen die weite Reise zum Mars antreten würden, befanden sich bereits in der Orbitalstation.

Wie der Ritt auf einer Bombe, so hatte es die aus Mexiko stammende Azzurra genannt. Eleonora dachte an eine langsame, streng kontrolliert ablaufende Explosion und erinnerte sich an eine andere Explosion, die vor zweiunddreißig Jahren ihre Eltern getötet hatte.

»Wir kriegen einen mächtigen Tritt in den Hintern, als Abschied von der Erde.« So hatte es Sergei ausgedrückt, der klare Worte liebte. Er erinnerte Eleonora ein wenig an Großvater Francis, der seit sechsundzwanzig Jahren neben einem leeren Grab in den Dune Acres lag. Der Gedanke an ihn brachte dumpfen Schmerz, auch nach all der Zeit.

Vibrationen begannen, als die Rakete höher kletterte. Sie wurden so stark, dass Eleonora die Zähne klapperten. Sie behielt die Anzeigen im Auge, was gar nicht nötig gewesen wäre, denn das Computersystem der Falcon – eine leistungsfähige KI, wenn auch nicht so hoch entwickelt wie Amelie, die Künstliche Intelligenz der Mars Discovery – kümmerte sich um alles.

»Triebwerke korrekt«, meldete Sergei, als die Vibrationen nachließen und der Flug ruhiger wurde. »Navigation korrekt. Alle Funktionen aktiv und innerhalb der Norm. Wir sind auf Kurs. Captain?«

»In Ordnung«, bestätigte Eleonora. »Helme öffnen.«

Die fünf Menschen in der Falcon-Kapsel klappten die Visiere ihrer Raumhelme auf.

»Wir sind unterwegs«, sagte die Biologin Saya. Mithilfe der internen Sensoren überprüfte sie Integrität und Stabilität der Kryo-Fracht, die in ihren Zuständigkeitsbereich fiel. Deshalb erfolgte der Start mit einer Superheavy – die Rakete brachte mehr als nur fünf Besatzungsmitglieder der Mars Discovery ins All.

Eleonora blickte aus dem Fenster und betrachtete die Erde, die von einer flachen Welt zu einer großen Kugel geworden war.

»Noch nicht ganz«, erwiderte sie. »Unsere eigentliche Reise beginnt erst morgen, wenn wir die Umlaufbahn der Erde verlassen.«

Dies war ein kleiner Abschied. Der große, ohne Wiederkehr, stand ihnen noch bevor.

2

Das Kupplungselement vor Eleonora bildete den Übergang von den schwerelosen Laboratoriumsektionen der Raumstation zum Kommandosegments. Vorsichtig zog sie sich an den Handgriffen durch den gelb und rot markierten Bereich und fühlte, wie sie wieder Gewicht bekam. Ihre Füße fanden den Boden, und sie schwebte nicht mehr, sondern ging durch den Ring, dessen Rotation Schwerkraft simulierte. Mehrere in grauweiße Overalls gekleidete Besatzungsmitglieder der Station grüßten respektvoll, als Eleonora – leichter als auf der Erde – durch das Verwaltungszentrum schritt und sich dem Büro des Stationskommandanten näherte.

Vor der Tür zögerte sie kurz und fragte sich erneut, warum Edmund Edgar Winters – von allen Eddie genannt, wenn er es nicht hörte – sie allein sprechen wollte. Warum galt die Einladung zu einem Gespräch nur ihr und nicht auch Sergei und den anderen Crewmitgliedern?

Unbehagen regte sich in ihr, als sie die rechte Hand zum Sensorfeld hob, und für einen irrationalen Moment befürchtete sie, die Mission der Mars Discovery könnte im letzten Moment abgesagt werden.

Das darf nicht geschehen, dachte sie. Ich muss ein Versprechen einlösen.

Die Tür öffnete sich und Eleonora Delle Grazie, Captain der Mars Discovery, betrat das Büro des Stationskommandanten.

Edmund Edgar Winters stand hinter seinem Schreibtisch auf. Links neben ihm bot ein Panoramafenster Blick auf die Erde – sie präsentierte das weite Blau des Pazifischen Ozeans.

»Bitte setzen Sie sich, Captain.« Winters deutete auf den Sessel vor dem aus leichtem Holzimitat bestehenden Schreibtisch.

»Sir …« Eleonora nahm Platz und saß mit geradem Rücken, die Hände auf den Beinen.

»Das ›Sir‹ können Sie sich sparen, Captain«, sagte Winters. »Ich bekleide keinen militärischen Rang, wie Sie wissen.«

»Ja, Sir.«

Die Andeutung eines Lächelns huschte über den dünnlippigen Mund des Stationskommandanten, als auch er sich setzte. »Sie fragen sich vermutlich, warum ich Sie allein hierhergebeten habe.«

»In der Tat, Sir.«

Edmund Edgar Winters faltete die Hände auf dem Schreibtisch. Links neben ihm erschienen die weißen Wolken eines Wirbelsturms über der Erde. »Es geht um die Mars Discovery und ihre Mission.«

Eleonora wartete. Ihre Anspannung nahm zu.

Winters musterte sie über den Schreibtisch hinweg, nachdenklich und gleichzeitig sehr aufmerksam. Er war Ende fünfzig: ein hagerer Mann mit spitzem Kinn, durchdringend blickenden Augen und schütterem Haar. Manche Leute sagten ihm nach, »winterkalt« zu sein, aber Eleonora, die ihm zum ersten Mal direkt begegnete, spürte keine Kälte, die von ihm ausging, sondern eher Distanziertheit – der Stationskommandant versuchte, Abstand zu wahren, nicht nur zu den Dingen, denen seine Verantwortung galt, sondern auch Personen gegenüber. Ihm ging es darum, immer den Überblick zu wahren. Er erinnerte sie ein wenig an Blake Hammings, den Direktor des Space Center in Florida.

Winters deutete zum Fenster. »Von hier oben aus sieht die Erde friedlich aus, nicht wahr?« Winters gab Eleonora keine Gelegenheit zu einer Antwort. »Der Schein trügt. Die Spannungen nehmen wieder zu. China zieht Truppen an der indischen Grenze zusammen, Russland rüstet weiter auf, Feuer verbrennen den Urwald des Amazonas, die Lunge der Erde, in Brasilien kommt es immer wieder zu Krawallen, Nordkorea plant einen weiteren Wasserstoffbombentest … Und so weiter und so fort. Ihr Schiff, Captain Delle Grazie, wird ein Zeichen setzen. Es wird zeigen, wie gut die Zusammenarbeit der Nationen funktionieren kann.«

Erleichterung durchströmte Eleonora. Die Mars Discovery würde zu ihrer langen Reise aufbrechen.

»Ihr Schiff steht für friedliche, erfolgreiche Kooperation«, fuhr Winters fort, weiterhin in eine Aura ernster Unnahbarkeit gehüllt. »Dieses Symbol wird in den kommenden Wochen und Monaten in den Medien der Erde eine große Rolle spielen.«

»Wir sind uns unserer Verantwortung bewusst, Sir«, sagte Eleonora.

Winters kniff andeutungsweise die Augen zusammen. »Was ist die Mission der Mars Discovery, Captain Delle Grazie?«

»Bitte nennen Sie mich Eleonora, Sir. Wir haben beschlossen, auf unsere Nachnamen zu verzichten.«

Winters nickte kurz. »Wie Sie wünschen, Captain Eleonora. Nun, was ist die Mission Ihres Schiffs? Mit welcher Aufgabe brechen Sie zum Mars auf?«

Die Frage erstaunte Eleonora. Es konnte Winters wohl kaum darum gehen, sie auf die Probe zu stellen.

»Wir bringen die Menschheit zum Roten Planeten«, sagte sie. »Wir fliegen zum Mars, um dort eine Kolonie zu gründen. Die Arche der Mars Discovery enthält die Saat des Lebens, von Samen zahlreicher Pflanzen über tierische Embryonen bis hin zu etwas, gegen das der Vatikan heftig protestiert hat: die Anfänge menschlichen Lebens in Form von Sperma und zehntausend gespendeten Eizellen – zehntausend potenzielle Menschen, die auf dem Mars aufwachsen werden.«

Winters nickte erneut. »Eine zweite Welt für den Homo sapiens. Für den Fall, dass mit der ersten etwas schiefgeht. Eine Garantie für sein Überleben. Ihnen ist klar, dass Sie nicht zurückkehren werden. Vor wenigen Stunden haben Sie die Erde verlassen, und zwar für immer. Sie werden den Rest Ihres Lebens auf dem Mars verbringen. Sie, Captain Eleonora, und Ihre Crew.«

»Ja, Sir.«

»Deshalb sind Sie unter all den möglichen Kandidaten ausgewählt worden, nicht nur, weil Sie bestens qualifiziert sind, sondern auch, weil niemand von Ihnen irgendwelche Bindungen auf der Erde hat: keine Familie, keine Angehörigen, keine Freunde. Sie sind allein und werden allein bleiben. Sie werden niemandem nachtrauern.«

»Die Zeit des Lebens ist zu kostbar, um sie mit Trauer zu vergeuden, Sir«, zitierte sie Großvater Francis beziehungsweise ihre Mutter.

»Sehr richtig«, bestätigte Winters. »Sehr richtig.«

Er öffnete eine Schublade, holte einen silbernen Datenchip, groß wie eine Münze, hervor und legte ihn auf den Schreibtisch. Einige Sekunden lang sah er stumm darauf hinab, dann kehrte sein Blick zu Eleonora zurück.

»Ihre Eltern sind 1999 bei einem tragischen Unglück ums Leben gekommen. Damals waren Sie sieben Jahre alt. Ihr Großvater Francis hat sich um Sie gekümmert, bis er sechs Jahre später starb. Er brachte Sie zu SpaceX.«

»Ich verdanke ihm viel«, sagte Eleonora.

»Er hat Ihnen den Weg ein wenig erleichtert, aber die größten Hindernisse haben Sie aus eigener Kraft geschafft«, betonte Winters. »Von Kindesbeinen an wollten Sie Astronautin werden. Sie haben hart dafür gearbeitet. Für etwas anderes gab es in Ihrem Leben keinen Platz.«

Eleonora suchte im Gesicht des Stationskommandanten nach Hinweisen, worauf er hinauswollte, doch seine Mimik gab nichts preis.

»Wissen Sie, worum es damals ging?«

Eleonora zögerte.

»Sie können offen sprechen, Captain. Ich bin in alles eingeweiht. Ich kenne die Hintergründe.«

»Ich kenne sie nicht«, sagte Eleonora. »Ich weiß nur, dass meine Eltern zu einer geheimen Mission aufbrechen sollten. Mehr hat mir mein Großvater nie erzählt.«

Winters beugte sich vor und schob den silbernen Datenchip über den Schreibtisch. »Die darin gespeicherten Informationen betreffen die geheime Mission Ihrer Eltern, die jetzt zu Ihrer Mission wird, Captain Eleonora. Sie ist mindestens ebenso wichtig wie Ihre offizielle Aufgabe.«

Mindestens, dachte Eleonora und starrte auf den Chip.

»Mysterium«, fuhr Winters fort. »Diesen Namen haben wir Ihrem zweiten Auftrag gegeben. Die Daten sind verschlüsselt und können mit Ihrer ID-Nummer decodiert werden, wenn die Mars Discovery elf Tage unterwegs und mindestens eine Million Kilometer von der Erde entfernt ist. Alles unterliegt strengster Geheimhaltung, Captain. Sie werden auch Ihrer Crew gegenüber Stillschweigen wahren.«

»Wir sind eine Gemeinschaft«, sagte Eleonora. »Wir haben keine Geheimnisse voreinander.«

»Dies wird Ihr Geheimnis bleiben«, entgegnete Winters streng. »Sie werden den anderen zwölf Crewmitgliedern nichts darüber verlauten lassen. Sie verstehen den Grund, sobald Sie vom Inhalt des Datenchips Kenntnis erlangen.«

Der Stationskommandant saß ebenso gerade wie Eleonora und faltete erneut die Hände auf dem Schreibtisch.

»Die Russen bereiten ebenfalls eine Marsmission vor, aber bei Ihrem Projekt kam es zu Verzögerungen. Sie werden später starten und müssen daher den weiteren Weg zum Mars nehmen. Mit ihrem Eintreffen rechnen wir nicht vor zwei Jahren nach Ihrer Landung. Auch die Chinesen könnten ein Raumschiff auf die Reise schicken, wir wissen es nicht genau.« Winters zögerte kurz. »Zu Ihre Crew gehören zwei Russen und ein Chinese.«

»Nein«, sagte Eleonora.

Winters hob die Brauen.

»Sergei und Alenka stammen aus Russland und Tseng aus China«, erklärte Eleonora. »Aber das betrifft nur die Herkunft. Sie sind Astronauten, ihre Nationalität spielt keine Rolle.«

»Wie Sie meinen. Wir gehen davon aus, dass Sie anderthalb bis zwei Jahre Zeit auf dem Mars allein sein werden. Zeit genug für Mysterium.«

Winters stand auf.

»Morgen werde ich Sie und die Crew offiziell verabschieden«, sagte er. »Aber ich wünsche Ihnen schon jetzt viel Glück und viel Erfolg.«

Eleonora erhob sich ebenfalls. »Danke, Sir.«

Mit dem kleinen Datenchip, heiß und schwer wie Blei in der Hosentasche, verließ sie das Büro des Stationskommandanten.

3

Es hatte ein bewegender Moment sein sollen, die offizielle Verabschiedung der Crew im großen Ausrüstungsraum vor dem Verbindungstunnel, der zum Anleger mit dem Shuttle führte. Vielleicht war er das auch für die übrigen Teilnehmer und die Zuschauer auf der Erde. Doch Eleonoras Gedanken glitten immer wieder zu dem kleinen Datenchip, den sie im Sicherheitsfach ihrer Kabine wusste. Mysterium. Es gefiel ihr nicht, ein Geheimnis zu haben, das sie nicht mit Sergei und den anderen teilen durfte, denn es rückte sie ein wenig von der Gemeinschaft weg.

Würdenträger, Staatsmänner und andere Personen auf der Erde, die aus irgendeinem Grund als wichtig galten, blickten von den extra für diesen Anlass installierten Bildschirmen und sprachen über die Menschheit und ihre Zukunft im All. Eleonora hörte mit halbem Ohr zu und nahm zur Kenntnis, dass kein Repräsentant des Vatikans zu den Rednern zählte – die katholische Kirche gehörte noch immer zu den größten Kritikern von Fracht und Mission der Mars Discovery. Ihr gefiel nicht, dass die ersten Menschen des Mars das Ergebnis von künstlicher Befruchtung sein sollten und nicht in einem Mutterleib heranreifen würden.

Was konnte mindestens ebenso wichtig sein wie die offizielle Mission, mit der sie zu einer sieben Monate langen Reise aufbrachen?

Die versammelten Wissenschaftler und Besatzungsmitglieder der Raumstation unterbrachen die Rede des Stationskommandanten immer wieder mit höflichem Beifall. Eleonora fragte sich, wer von ihnen Bescheid wusste. Auf wen beschränkte sich die Kenntnis von der zweiten, nicht minder wichtigen Mission? Eine Antwort auf diese Frage hätte ihr vermutlich einen Anhaltspunkt gegeben, worum es dabei ging.

Während Edmund Edgar Winters die historische Bedeutung der Mars Discovery mit dem Flug der Apollo 11 vor mehr als sechzig Jahren verglich, kehrten Eleonoras Gedanken zu ihren Eltern zurück. Eine geheime Marsmission im Jahr 1999? Ein geplanter Flug zum Roten Planeten, von dem die Öffentlichkeit damals nichts erfahren hatte? Warum? Was steckte dahinter?

Ich trete euer Erbe an, dachte sie. Aber ich weiß noch nicht, woraus dieses Erbe besteht. Ich erfahre es erst in elf Tagen.

Winters sprach über die internationalen Vorbereitungen für den Flug der Mars Discovery und die Auswahl der Kandidaten. Er stand reglos und gerade, nur seine Lippen bewegten sich. Die Gesichter auf den großen Bildschirmen beobachteten ihn, einige von ihnen schienen sich ein wenig zu langweilen. Die Besatzungsmitglieder und Wissenschaftler wirkten entspannt, viele lächelten – dieser Tag gehört auch ihren Träumen und Hoffnungen. Es ging los, es ging endlich los, nach all den Jahren.

Rechts und links neben Eleonora wartete ihre Crew auf das Ende der feierlichen Zeremonie: Sergei, Tseng, Saya, Santiago, Kattrin, Alenka, Lambert, Helena, Bertrand, Azzurra, Penelope und Reynolds. Dreizehn mit ihr, sieben Frauen und sechs Männer, nicht nur kompetent, sondern auch psychologisch kompatibel. Wie weit diese Kompatibilität reichte, würde sich in den kommenden sieben Monaten zeigen. Auch das gehörte zu Eleonoras Aufgaben als Kommandantin: einen Ausgleich zu schaffen, das ruhige Zentrum zu sein und entstehende Konflikte rechtzeitig zu erkennen.

Mysterium, flüsterte es in ihr. Welches Geheimnis hatten ihre Eltern damals mit in den Tod genommen?

Schließlich kam sie selbst an die Reihe und löste Winters am Rednerpult ab. Sie sprach frei, ohne ein Manuskript, das ihr Augmented-Reality-Linsen in den Augen zeigten. Vor vielen Jahren hatte sie gelernt, sich ganz auf eine Sache zu konzentrieren, alles andere auszublenden, und das gelang ihr auch jetzt. Sie sprach die Worte, die Winters und das Kolonieprojekt von ihr erwarteten, vor allem für die Medien der Erde bestimmte Worte, die ihr den lautesten Applaus und ein anerkennendes Nicken von Winters einbrachten.

Die Gesichter der VIPs verschwanden von den Bildschirmen, es wurden noch einmal Hände geschüttelt, zum letzten Mal, und der Ausrüstungsraum leerte sich. In Schutzkombis gekleidet und mit dem Raumhelm unterm Arm gingen die dreizehn der Mars Discovery durch den Verbindungstunnel zum Anleger mit dem Shuttle.

»Eddie war noch steifer als sonst«, sagte Helena auf dem Weg zum Schiff.

»Die beste Rede hast du gehalten, Eleonora«, fügte Penelope hinzu. »Von den meisten anderen haben wir nur leere Worte gehört.«

»Ja«, pflichtete ihr Santiago bei. »Du hast wirklich Abschied genommen. Man konnte es fühlen.«

Eleonora nahm das Lob mit einem dankbaren Nicken entgegen, blickte durchs Fenster des Shuttles und betrachtete die Mars Discovery in ihrer Warteposition einige Kilometer über der Raumstation. Besonders schön war sie nicht: eine Ansammlung von Kugeln, Zylindern und Ringen, dazwischen ein Netzwerk aus Streben, Verbindungsröhren und kleinen Kuppeln, die in verschiedene Richtungen zeigten. Die Kommandokapsel wirkte wie ein kleiner Buckel auf dem Drehkörper, dessen Rotation eine Schwerkraft von Erdnorm simulieren würde, was die Crew vor Muskelschwund bewahrte. Die »Arche« befand sich unterhalb des Drehkörpers, hinter einer besonderen Abschirmung aus mit Blei angereicherten Kohlefasern und Nanoröhren, um sie so gut wie möglich vor Strahlung und Mikrometeoriten zu schützen: zwölf Tanks, angeordnet wie die Patronenkammern eines Revolvers, in der Mitte eine hohle Achse, die nicht nur Zugang zu den einzelnen Räumen der Arche gewährte, sondern auch zu Reaktorkern und Triebwerk und den mehrere Kilometer lang ausgebreiteten »Flügeln« aus hocheffizienten Solarzellen.

Sergei beugte sich zu ihr. »Du wirkst sehr nachdenklich«, sagte er leise. »Freust du dich nicht, dass unsere Reise beginnt?«

»Ich bin neugierig darauf, was uns erwartet«, gab Eleonora zur Antwort.

4

Am elften Flugtag der Mars Discovery saß Eleonora im Kommandosessel, der sich ihrer Körperform anpasste; sie fühlte sich von ihm umarmt. Der große Wandschirm vor ihr sah aus wie ein Fenster zum All und zeigte die Erde, blau und grün, geschrumpft, klein geworden und von einem kleinen Mond umkreist. Fast eine Million Kilometer hatte die Mars Discovery zurückgelegt, viele weitere Millionen lagen noch vor ihr.

»Wir sind genau auf Kurs«, sagte Sergei. Er saß neben Eleonora, beobachtete die Instrumentenanzeigen und berührte Schaltflächen. »Automatische Navigation aktiv und korrekt. Rotation des Drehkörpers aktiv und korrekt. Reaktor und Ökosysteme …«

»Aktiv und korrekt?«, kam ihm Eleonora zuvor.

»Ja.«

Korrekt, dachte Eleonora. Kommt darauf an. Vielleicht erfahre ich bald etwas, das alles in einem ganz neuen Licht erscheinen lässt.

Es fehlten nur noch zwei Stunden bis zu vollen elf Tagen und einer Million zurückgelegten Kilometern.

»Was ist mit der Arche?«, fragte Eleonora, den Blick auf das Erde-Mond-System.

»Alle biologischen Systeme innerhalb der normalen Funktionsparameter«, antwortete Sergei. »Der Computer meldet keine Abweichungen. Die Saat des Lebens ist intakt.«

»Menschen für den Mars«, murmelte Eleonora.

»Ohne den Segen der Kirche.«

»Das Leben war zuerst da, die Kirchen kam erst sehr viel später. Und ich fürchte, sie zählen nicht unbedingt zu den besten Erfindungen der Menschheit. Wir brauchen Vernunft auf dem Mars, keinen Glauben, an dem Blut klebt.«

»Dein Wort in Gottes Ohr«, entgegnete Sergei.

Eleonora deutete zum Wandschirm. »Wie klein die Erde von hier wirkt. Wie zerbrechlich. Ein Asteroid genügt, um alles zu zerstören. Wie vor fünfundsechzig Millionen Jahren bei den Dinosauriern. Und wenn es kein Felsbrocken aus dem All ist … Die Klimakatastrophe oder ein neuer globaler Krieg reichen, und die Welt, wie wir sie kennen, gibt es nicht mehr. Wir sind die zweite Chance, wenn unsere Zivilisation auf der Erde untergeht.«

»Warum sollte sie ausgerechnet jetzt untergehen?«, fragte Sergei.

»Ja, warum?«, erwiderte Eleonora und beobachtete die kleine, ferne Erde. »Andererseits … Es kann immer etwas geschehen, mit dem niemand rechnet.«

Kurze Zeit später begann Sergei mit einer weiteren Inspektionsrunde durch das Schiff. Eleonora blieb allein in der Kommandokapsel zurück. Die anderen waren noch immer damit beschäftigt, in den verschiedenen Abteilungen Feinabstimmungen vorzunehmen und die Systeme der Mars Discovery zu regulieren.

Eleonora sah auf die Uhr und wartete geduldig.

Zwei Stunden vergingen und machten die Erde und ihren Mond noch etwas kleiner.

»Übernimm du, Amelie«, sagte sie schließlich.

»Bin gern zu Diensten«, antwortete die KI des Schiffes.

Eleonora stand auf und verließ die Kommandokapsel. Die Zeit für das Geheimnis war gekommen.

Ohne Licht

Cape Canaveral, Florida, USA

Anfang September 2004

5

Das Startareal jenseits des glitzernden Wassers lag still – es dröhnten keine Feuer speienden Triebwerke, die eine Rakete ins All brachten. Die Sonne brannte am klaren Himmel, es war heiß.

Großvater Francis wischte sich Schweiß von der Stirn und seufzte erleichtert, als sie den Schatten der Bäume erreichten. Er deutete auf eine nahe Sitzbank.

»Lass uns ein wenig ausruhen, Ele.«

Das geschah in letzter Zeit immer öfter. Der Mann, stark wie ein Bär, hatte nichts von seiner imposanten Größe eingebüßt, schien aber nicht mehr so stark wie früher. Immer öfter musste er eine Pause einlegen, um neue Kraft zu schöpfen.

Eleonora sah, wie er blinzelte, als er mit einem Schnaufen auf die hölzerne Bank sank. Er schwitzte noch immer, trotz der Schatten und des kühlenden Winds vom Meer.

»Es ist heiß«, sagte Francis.

Eleonora zuckte mit den Schultern. Die Hitze machte ihr nichts aus. In kurzer Jeans und T-Shirt saß sie neben ihrem Großvater und blickte zum Startgelände. Nichts bewegte sich dort, alles ruhte.

»Die Klimaforscher sagen, dass es bald noch heißer wird«, fügte Francis hinzu. »Weil wir immer mehr Treibhausgase freisetzen.«

»Kohlendioxid«, sagte die zwölf Jahre alte Eleonora. »Und Methan, ein Gas mit noch höherem Treibhauspotenzial.«

»Ja. Ein von uns Menschen gemachter Klimawandel droht, heißt es. Der Meeresspiegel könnte steigen, Wüsten könnten sich ausbreiten, der Golfstrom könnte versiegen. Du bist jung, Ele, du wirst es erleben.«

»Wir werden etwas dagegen unternehmen«, erwiderte Eleonora. »Die Wissenschaft wird uns die notwendigen Mittel geben.«

Großvater Francis nickte. »Der Wissenschaft kannst du vertrauen, nicht aber den Menschen. Merk dir das gut, Ele: Rechne immer mit der menschlichen Irrationalität.«

Sie deutete zum Startgelände. »Wann hebt die nächste Rakete ab?«

Eine kleine, von der NASA dominierte Stadt erstreckte sich vor ihnen, bestehend aus Hangars, Rampen, Verwaltungsgebäuden, Entwicklungslaboratorien und einem Ausbildungszentrum, das Eleonora an drei Tagen in der Woche besuchte. Zwei weitere Tage verbrachte sie in der Windermere Preparatory School, einer Privatschule bei Orlando, und hinzu kam ein Tag in der Obhut von Mr. und Mrs. Coleman, zwei Privatlehrern, die auch an der University of Florida lehrten, der Universität von Florida. Der siebte Tag blieb Großvater Francis vorbehalten.

»In wenigen Tagen«, lautete die Antwort. »Eine Boeing Delta 2. Sie bringt einen militärischen GPS-Satelliten in den Orbit. Allerdings steht noch nicht fest, ob der Start wie geplant stattfinden kann. Ein aufziehender Sturm könnte uns zwingen, ihn zu verschieben.«

Großvater Francis blinzelte erneut. Eleonora bemerkte es. »Ist dir ein Insekt ins Auge geflogen?«

»Ich schwitze zu sehr«, sagte er. »Vielleicht ist mir etwas von dem Schweiß ins Auge geraten. Hast du den Stein dabei, Ele?«

»Ja.« Eleonora trug ihn fast immer bei sich, es war ihr zur Angewohnheit geworden. Sie zog ihn aus der Tasche der Shorts, einen graubraunen Stein rund wie ein Kiesel, mehrere Zentimeter groß.

Francis nahm ihn so vorsichtig entgegen wie etwas, das leicht zerbrechen konnte. Lächelnd betrachtete er den Stein, drehte ihn dabei hin und her. Als er eine Stelle rieb, wurde ein wabenförmiges Muster sichtbar, noch undeutlich, weil Feuchtigkeit fehlte.

»Deine Urgroßmutter, meine Mutter, hat ihn gefunden. Als Kind habe ich ihn oft in der Hand gehalten.«

»So wie jetzt?«

»Ja, so wie jetzt. Dann habe ich einen nassen Lappen genommen, ihn geputzt und die Muster bestaunt. Dieser Stein ist vierhundert Millionen Jahre alt, Ele. Die Muster stammen von Korallen, die in einem warmen Meer gelebt haben. Ob sie damals wussten, dass wir vierhundert Millionen Jahre später ihre Überbleibsel betrachten?«

Er gab den Stein zurück. Eleonora steckte ihn wieder ein.

»Sie können nichts davon gewusst haben«, sagte sie. »Um etwas zu wissen, braucht man ein Gehirn und Korallen haben keins.«

Eine Zeit lang saßen sie schweigend im Schatten. Der Wind zupfte an Eleonoras langem rotblondem Haar, das sie diesmal offen trug, nicht zu einem Zopf geflochten. Sie blickte zum Startgelände.

»Die Raketen bringen immer nur Satelliten ins All«, sagte sie nach einer Weile.

»Zumindest sehr oft«, erwiderte Francis. »Abgesehen von den Astronauten für die internationale Raumstation ISS.«

»Als ich geboren wurde, lag die erste bemannte Mondlandung schon dreiundzwanzig Jahre zurück. Wann fliegen wir wieder zum Mond? Und wann geht es weiter hinaus, tiefer in den Weltraum?«

»Oh, es gibt Pläne, Ele. Manche sind bekannt, Zeitungen haben darüber geschrieben, das Fernsehen hat über sie berichtet.« Francis zögerte. »Und dann gibt es noch andere Pläne, von denen die Öffentlichkeit nichts weiß.«

Er hob die Hand und legte sie ihr auf die Schulter, aber nur kurz.

»Du könntest Glück haben«, murmelte er. »Vielleicht klappt es.«

»Was meinst du?«

Er zögerte erneut, wie von etwas abgelenkt.

»Du machst gute Fortschritte«, sagte er langsam, als müsste er zunächst jedes Wort auf die Waage legen. »Du bist begabt, doch das allein reicht nicht. Man muss sich Mühe geben, immer und überall, wenn man es unter die Besten schaffen will, und du bist auf dem richtigen Weg.«

»Was könnte ich schaffen?« Eleonora spürte, dass sie hier einer wichtigen Sache auf der Spur war.

Großvater Francis schnaufte wieder. »Vor fünf Jahren, am Grab deiner Eltern …«

»In dem sie nicht begraben liegen.«

»Wie wir beide wissen.« Francis nickte. »Damals habe ich dir anvertraut, dass deine Eltern in geheimer Mission unterwegs waren.«

»Ja?«, fragte Eleonora mit wachsender Ungeduld. »Ja?«

»Du könntest vielleicht …« Der große Mann neben Eleonora unterbrach sich und begann zu zittern. Sie sah, wie sich seine Hände fest um die Kante der Sitzbank schlossen.

»Großvater? Was ist?«

Ein seltsames Geräusch kam von ihm. Es klang fast wie ein Stöhnen. Langsam stand er auf und schwankte.

»Ele?«

Eleonora war ebenfalls auf den Beinen. »Großvater?«

Er streckte die Hand nach ihr aus, aber wie jemand, der im Dunkeln nach etwas tastete.

Francis seufzte tief und schwer. »Nimm meine Hand, Ele.« Seine Stimme war plötzlich sehr sanft. »Zeig mir den Weg zurück. Führ mich über den Weg, den wir hierher genommen haben.«

Eleonora ergriff die Hand und fühlte, wie ihr Großvater vorsichtig zudrückte. »Was ist denn? Ich verstehe nicht.«

Francis wandte ihr das Gesicht zu, doch seine Augen blieben leer.

»Es passiert nicht zum ersten Mal, aber diesmal dauert es länger als sonst«, sagte er. »Ich sehe nichts mehr, Ele. Ich bin ohne Licht. Zeig mir den Weg.«

Einige Stunden später, am Nachmittag, konnte Francis noch immer nicht sehen, und daraufhin brachte ihn ein Wagen des Space Center zum Krankenhaus. Eleonora ließ es sich nicht nehmen, ihn zu begleiten. Während der Arzt – Marvin, ein guter Freund von Francis – seinen Patienten untersuchte, wartete sie in einem Zimmer, das einer kleinen Bibliothek glich, und las in einem Buch über die Geschichte der Raumfahrt und ihre mögliche Zukunft. Sie war so sehr darin vertieft, dass sie Dr. Marvin Avens Rückkehr erst bemerkte, als er sich räusperte.

Sofort legte sie das Buch beiseite und stand auf. »Wie geht es ihm?«

»Besser«, sagte Dr. Avens und sah sie durch seine große Brille an. »Du kannst jetzt zu ihm.«

Großvater Francis saß in einem Stuhl am Fenster, neben einer Wandtafel mit Buchstaben und Zahlen. Weiter hinter stand ein Tisch mit Untersuchungsinstrumenten, wie sie ein Augenarzt benutzte.

Der große Mann wirkte geschrumpft und längst nicht mehr so stark wie ein Bär.

»Ele, bist du das?«

»Kannst du noch immer nicht sehen?« In Eleonoras Hals hatte sich ein Kloß gebildet. »Was ist denn los mit dir?«

Großvater Francis atmete tief durch. »Ein Tumor.« Auch diesmal war er offen und ehrlich. »Marvin ist nicht sicher, ob ich jemals wieder sehen kann.« Er machte eine vage Geste mit der Hand. »Ich sitze hier am Fenster, ich spüre den warmen Sonnenschein, aber ich bin ohne Licht.«

Eleonora stand neben ihm und fühlte sich hilflos.

»Von jetzt an wird es noch schwerer für dich, Ele«, sagte ihr Großvater. »Ich kann nicht mehr so für dich sorgen wie bisher. Sprich mit Marvin und Direktor Hammings. Die können dir helfen, wenn ich dir nicht mehr helfen kann.« Er suchte ihre Hand und fand sie. »Versprich mir etwas, Ele.«

»Was?«

»Dass du dir weiterhin Mühe gibst, was auch immer geschieht. Dass du versuchst, dein Bestes zu geben, die Beste zu sein. Dann könntest du es eines Tages schaffen.«

Er sagte nicht, was sie schaffen konnte, und sie fragte nicht danach. Der Kloß im Hals hinderte sie daran.

Das Geheimnis

Raumschiff Mars Discovery, 11 Tage nach dem Start,

auf dem Weg zum Mars

Februar 2031

6

Der Speicherchip lag vor Eleonora auf dem kleinen Tisch in ihrer Kabine. Bilder von der Erde schmückten die Wände, einige von ihnen zeigten Großvater Francis, als er noch groß und kräftig wie ein Bär gewesen war, andere ihre Eltern in Raumanzügen, kurz vor dem fatalen Raketenstart. Sieben Jahre alt war sie damals gewesen. Vor zweiunddreißig Jahren, kurz nach dem tragischen Unglück, hatte Eleonora von diesem Geheimnis erfahren, und nun lagen die Antworten auf all ihre Fragen auf dem Tisch, gespeichert in dem kleinen Chip.

Plötzlich war Eleonora nicht mehr sicher, ob sie erfahren wollte, was hinter dem Geheimnis steckte. Allein das Wissen um seine Existenz trennte sie bereits von Sergei und den anderen. Die Hintergründe und Einzelheiten zu erfahren, würde den Abstand vergrößern. Der Hauptgrund aber war: Sie fürchtete plötzlich eine Bürde, die zu schwer für sie sein konnte.

Schließlich aber nahm sie den Chip mit ruhigen Fingern und schob ihn in den Datenscanner. Einige Sekunden lang summte das Gerät, dann erschien ein Gesicht auf dem Bildschirm an der Wand.

»Wenn Sie dies sehen und hören, sind Sie seit mindestens elf Tagen zum Mars unterwegs und haben bereits eine Million Kilometer zurückgelegt, Captain Delle Grazie«, sagte Edmund Edgar Winters. »Was Sie nun erfahren, ist streng geheim, und Sie sind hiermit angewiesen, es auch vor Ihrer Crew geheim zu halten. Es sei denn, die Umstände zwingen Sie, jemanden zurate zu ziehen oder auf Hilfe zurückzugreifen. Je weniger Personen von dieser Sache wissen, desto besser. Bis wir auf der Grundlage der von Ihnen übermittelten Berichte entscheiden, unser Wissen einem größeren Kreis und vielleicht der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.«

Der Kommandant der internationalen Raumstation über der Erde blickte ernst vom Bildschirm. Er unterschied sich nicht von dem Mann, den Eleonora vor elf Tagen zum letzten Mal gesehen hatte. Sie fragte sich, wann die Aufzeichnung angefertigt worden war. Vermutlich nicht sehr lange vor dem Start der Mars Discovery.

»Wie Sie wissen, plant man bei Roskosmos in Russland ebenfalls eine Marsmission und auch die Chinesen wollen ein Schiff schicken. Wir wissen nicht, wie viel sie wissen, was die ganze Sache ein bisschen kompliziert macht. Jedenfalls sollten Sie an die Möglichkeit denken, dass Sie etwa zwei Jahre nach Ihrer Ankunft auf dem Mars Besuch erhalten. Bis dahin müssen Sie herausgefunden haben, was es mit dem Mysterium auf sich hat. Wir überlegen uns dann, welche Maßnahmen es zu ergreifen gilt.«

Er sagte nicht einfach nur »Mysterium«, sondern benutzte den Artikel.

»Die beiden Viking-Missionen der NASA, gestartet am 20. August und 19. September 1975, entdeckten mehr, als die Öffentlichkeit damals erfahren hat. Nein, die beiden Lander fanden keine Spuren von Leben – das ist ein Mythos, der sich bis heute gehalten hat. Aber der Orbiter von Viking 2, der bis zum 27. Juli 1978 in Betrieb blieb, entdeckte etwas, das die NASA zum Anlass nahm, eine weitere Marsmission vorzubereiten. Der Bau der Sonde erwies sich als schwierig, weil spezielle Messinstrumente benötigt wurden und entwickelt werden mussten, wovon jedoch niemand etwas erfahren sollte. Die notwendige Geheimhaltung führte immer wieder zu Verzögerungen, und deshalb konnte die neue Mission erst siebzehn Jahre nach dem Start der beiden Viking-Sonden beginnen, beziehungsweise vierzehn Jahre nach dem Ausfall des Viking-2-Orbiters im Jahr 1978.«

Der Mann auf dem Bildschirm legte eine kurze Pause ein, als wollte er Eleonora Zeit zum Nachdenken geben.

»1992 startete eine Trägerrakete vom Typ Titan III/Commercial vom Launch Complex 40 auf Cape Canaveral«, fuhr Winters fort. »Die gut eine Tonne schwere Nutzlast bestand aus einer Sonde, die wir ›Mars Observer‹ nannten. Beim Flug zum Mars kam es angeblich zu Fehlfunktionen, und in den damaligen Meldungen hieß es, dass die Sonde am 21. August 1993, nur drei Tage vor Erreichen ihres Ziels, verloren ging. Sie würde sich nicht mehr melden und alle Versuche, Funkkontakt mit ihr herzustellen, wären erfolglos geblieben. Nach einigen Wochen geriet die Sache in Vergessenheit. Andere Ereignisse machten Schlagzeilen. Im September kam es zum Massaker von Sochumi, bei dem siebentausend georgische Zivilisten in Abchasien getötet wurden. Einen Monat später, während der russischen Verfassungskrise, ließ Präsident Boris Jelzin das Parlament beschießen. Im November trat der Vertrag von Maastricht in Kraft, und aus der Europäischen Gemeinschaft wurde die Europäische Union. Für eine schweigende Marssonde interessierte sich niemand mehr.«

Das Bild auf dem Schirm teilte sich. Das Gesicht des Stationskommandanten wurde kleiner und glitt nach links, rechts erschienen Datenblätter. Eleonora strich mit dem Zeigefinger über das Touchpad des Scanners, woraufhin das erste Datenblatt in den Vordergrund rückte.

»Es gab keine Fehlfunktionen an Bord des Mars Observers«, sagte Winters, »der Funkkontakt ging nicht verloren. Die Sonde erreichte ihr Ziel, das Bremstriebwerk zündete wie vorgesehen und brachte sie in eine Umlaufbahn, allerdings in eine andere als die ursprünglich vorgesehene.«

Ein weiteres Bild erschien. Es zeigte den Mars und eine dünne weiße Linie, die um den Roten Planeten führte. Eine zweite Linie, smaragdgrün, ging von der ersten aus, neigte sich dem Planeten entgegen und traf ihn nördlich von Olympus Mons.

Das Gesicht verschwand vom Bildschirm und wich einer vergrößerten Darstellung des Mars. Mehr Details wurden sichtbar.

Ein gelber Punkt blinkte in den Ebenen von Amazonis Planitia.

»Das ist der vorgesehene Landebereich für die Shuttles der Mars Discovery«, erklärte Winters. »Aber Ihre Landung wird etwa zweitausend Kilometer weiter nordöstlich erfolgen, in den Acheron Fossae, einem ausgedehnten Horst- und Grabensystem. Vielleicht kommt es im entscheidenden Moment zu einem Navigationsfehler. Lassen Sie sich einen plausiblen Grund dafür einfallen, dass Sie einen anderen Landeort wählen, Captain Delle Grazie. Zeit dafür haben Sie genug, mehr als sechseinhalb Monate.« Das ernste Gesicht kehrte zurück. »Die genauen Koordinaten des Landeplatzes entnehmen Sie bitte den beigefügten Datenblättern, ebenso die der Anomalie.«

»Anomalie?«, murmelte Eleonora.

»Wir haben auf dem Mars etwas gefunden, das nicht natürlichen Ursprungs ist.« Die Stimme von Edmund Edgar Winters bekam einen anderen Klang. »Die Viking-Daten ließen noch Platz für Zweifel, aber spätestens der Lander des Mars Observers brachte Gewissheit: Bei der Anomalie handelt es sich um ein außerirdisches Artefakt.«

Eleonora fühlte sich von den Worten wie elektrisiert. Sie beugte sich vor und betrachtete Bilder, die eine rotbraune marsianische Landschaft zeigten. Felsen ragten auf, in Mulden und Senken bildete Sand kleine Dünnen in wellenartigen Mustern. Das Gelände stieg an, und als die Aufnahmen wechselten, stellte Eleonora fest, dass sie aus dem Innern eines Kraters stammten.

Ein Bild zeigte etwas, das aus der Kraterwand ragte: ein dunkles Objekt, glatt und rund, wie vor kurzer Zeit poliert. Der Zoom brachte es näher, einen grauschwarzen Bogen, in dem Eleonora wabenartige Muster zu erkennen glaubte – sie fühlte sich an den Petoskey-Stein erinnert, den sie von ihrer Urgroßmutter erhalten und Großvater Francis ins Jenseits mitgegeben hatte.

»In der Kraterwand steckt etwas, das sehr, sehr schwer ist, und der Meteorit, der den Krater schuf, scheint es in keiner Weise beeinträchtigt zu haben«, erläuterte Winters. »Das Objekt ist so schwer, dass es den Viking-Sonden durch die lokale Veränderung des Gravitationsfelds auffiel. Es macht sich auch im elektromagnetischen Spektrum bemerkbar, wenn man weiß, wonach man Ausschau halten muss. In den Siebzigerjahren hat niemand mit so etwas gerechnet, und deshalb waren Viking 1 und 2 nicht mit entsprechenden Messgeräten ausgestattet, weder die Orbiter noch die Lander. Den damaligen Spezialisten fehlten die Computer und KI-Systeme, die uns heute zur Verfügung stehen. Sie brauchten Jahre, um die gewonnenen Daten zu analysieren und die einzelnen Mosaiksteine, so winzig, wie sie waren, zu einem Bild zusammenzusetzen, das sie verstehen konnten.«

Eleonora betrachtete den dunklen Bogen, der wie das Ende einer Kralle aus der Kraterwand ragte. Fragen brannten in ihr.

»Orbiter und Lander des Mars Observers lieferten weitaus mehr Informationen, und auf ihrer Grundlage wurde eine neue Marsmission vorbereitet.« Winters sprach, während die Bilder wechselten, den Krater mit dem Artefakt aus großer Höhe zeigten, aufgenommen von einer Orbitalkamera. Im Süden des Grabensystems der Acheron Fossae ragte Olympus Mons auf, mit einem Durchmesser von fast sechshundert Kilometern und einer Höhe von sechsundzwanzig Kilometern über der umliegenden Tiefebene der größte Vulkan im ganzen Sonnensystem. »Eine bemannte Mission. Sie sollte im März 1999 aufbrechen, doch unglücklicherweise explodierte die Rakete kurz nach dem Start.«

Eleonora senkte den Blick und starrte auf ihre Hände, die plötzlich kalt geworden waren. Bestimmt wusste Winters, dass ihre Eltern damals ums Leben gekommen waren, aber er ging nicht darauf ein.

»Der zweite bemannte Flug zum Mars wurde zurückgestellt«, fuhr Winters fort. »Man schickte weitere Sonden zum Roten Planeten: Global Surveyor im November 1996, der noch mehr Daten sammelte, nur einen Monat später Pathfinder, Anfang und Mitte der 2000er-Jahre Mars Odyssey, Mars Express, die Rover Spirit und Opportunity, den Mars Reconnaissance Orbiter, der zwanzig Jahre in Betrieb blieb. Im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrtausends folgten Phoenix, Curiosity, MAVEN, Insight und so weiter. Wir haben darauf geachtet, uns vom Fundort des Artefakts in den Acheron Fossae fernzuhalten, und gleichzeitig versucht, mit besseren Sensoren und Kameras mehr darüber herauszufinden.«

»Niemand sonst sollte davon erfahren«, murmelte Eleonora.

»Wir haben Zeit für die Vorbereitung eines bemannten Flugs zum Mars gewonnen«, sagte Edmund Edgar Winters. Eleonora hörte das »Wir« und fragte sich, ob der Kommandant der internationalen Raumstation direkt an Planung und Entwicklung beteiligt gewesen war. »Die Fehler, die 1999 zu dem Unglück geführt haben, durften sich nicht wiederholen. Uns war auch klar, dass wir nur eine einzige weitere Chance haben würden. Unsere Konkurrenten in Russland, China und anderen Staaten hatten offenbar etwas erfahren und ebenfalls den Mars im Auge.«

Winters kehrte auf den Schirm zurück und wirkte noch ernster als zuvor.

»Jetzt sind Sie unterwegs, Captain Delle Grazie. Unsere Hoffnungen ruhen auf Ihnen. Ihre Verantwortung ist noch größer, als Sie dachten, aber wir sind sicher, dass Sie ihr gerecht werden. Dafür wurden Sie sorgfältig ausgewählt.«

Winters wich von der Kamera zurück, die ihn und seine Worte aufzeichnete.

»Die Auswirkungen des Objekts auf das lokale marsianische Gravitationsfeld sowie seine elektromagnetische Aura sind nicht allein durch die erstaunlich große Masse zu erklären. Wir gehen von einem energetischen Effekt aus, was bedeutet: Das Objekt ist noch aktiv. Es könnte sich um ein Raumschiff handeln. Oder um einen von Außerirdischen errichteten Stützpunkt. Stellen Sie sich vor, was es für uns bedeuten würde, Zugang zu dieser fremden Technik zu erhalten. Ein Entwicklungssprung von hundert oder tausend Jahren, Captain!«

Winters hob den Zeigefinger.

»Und genau deshalb darf das Objekt auf dem Mars nicht in die falschen Hände geraten. Eins der automatischen Versorgungsmodule, die Sie in den Monaten nach Ihrer Landung auf dem Mars erreichen, wird eine kleine, aber sehr leistungsfähige Bombe enthalten. Sollte die Gefahr bestehen, dass unsere Konkurrenten Zugriff auf das Artefakt und seine Technologie erhalten, werden Sie das Objekt mit dieser Bombe vernichten. Dies bleibt nicht Ihrem Ermessensspielraum überlassen, Captain Delle Grazie. Es ist ein Befehl der Einsatzleitung.«

Der ernste Mann auf dem Bildschirm rang sich ein kurzes Lächeln ab.

»Die Einzelheiten von Mysterium entnehmen Sie bitte den beigefügten Datenblättern. Ich wünsche Ihnen viel Glück, Captain.«

Abschied

Cape Canaveral, Florida, USA

Mai 2005

7

Eleonora hielt ihr Versprechen. Sie gab sich Mühe, sie konzentrierte sich ganz auf das Lernen und versuchte, die Beste zu sein: in Mathematik und Sprachen, in Astrophysik und Philosophie, in Astronomie und Geologie, in Navigation, Sport und Kunst. Manche Unterrichtsfächer lagen ihr mehr als andere, und mit großem Eifer arbeitete sie daran, die Lücken in ihrer Begabung zu schließen und das, was ihr an Talent fehlte, mit Fleiß wettzumachen.

Die Tage waren zu kurz, sie hockte bis spätabends und manchmal bis in die Nacht über ihren Büchern. Wenn sie ihren blinden Großvater besuchte, bemühte sie sich, nicht traurig zu sein, denn Trauer, so erinnerte sie sich, war vergeudete Lebenszeit. Der Sonntag blieb ihm vorbehalten, obwohl ihr die Zeit fürs Lernen fehlte – ein Tag für sie beide, in Licht und Dunkelheit.

Der Rest des Sommers verging schnell, Herbst und Winter brachten Stürme, und das war nicht gut für das Raumfahrtprogramm der NASA; häufig mussten Raketenstarts wegen des schlechten Wetters verschoben werden. Eleonora besuchte ihren Großvater zuerst im Krankenhaus, wo er viel Zeit verbrachte, und dann in einem speziellen Pflegeheim außerhalb des Space Center. Er hörte immer aufmerksam zu, wenn sie davon erzählte, welche Fortschritte sie in welchen Fächern erzielte, und von ihrem neuen Leben in der Familie Hammings, die sie aufgenommen hatte.

»Sie sind sehr freundlich zu mir«, sagte sie im Januar bei einem ihrer Besuche und verschwieg, dass Direktor Hammings immer eine gewisse Distanz wahrte. Er war freundlich, ja, aber auf eine zurückhaltende, kühle Art. Später, als Erwachsene, begriff sie: Es war eine Art von Zurückhaltung, die in Verantwortung wurzelte, Menschen und wichtigen Projekten gegenüber. Direktor Hammings, verantwortlich für das Space Center, verhielt sich wie ein Mann, der nicht nur die einzelnen Bäume sah, sondern den ganzen Wald überschaute; doch dafür musste er sich außerhalb davon befinden. Manchmal beobachtete er sie, auf seine zurückhaltende Art, und wenn Eleonora dann seinem Blick begegnete, erkannte sie in Blake Hammings’ Augen etwas, dem sie auch in denen ihres Großvaters begegnet war, wenn sie mit ihm über die Raumfahrt gesprochen hatte.

»Fühlst du dich wohl bei ihnen?«, fragte Großvater Francis.

»Ja.« Die Hammings gaben ihr Gelegenheit, ungestört zu lernen. »Wie geht es dir, Großvater?«

Wenn sie sprach, legte er den Kopf ein wenig auf die Seite und lauschte ihrer Stimme.

»Es geht mir schon viel besser«, behauptete der gealterte Mann, der einst wie ein Bär in Menschengestalt gewesen war. »Bestimmt kann ich bald nach Hause, und dann kommst du wieder zu mir.«

Im Februar regnete es ungewöhnlich oft und viel, und deshalb mussten sie auf Spaziergänge verzichten. Im März, als das Wetter besser wurde und Eleonora hoffte, wie früher vom kleinen Park aus Raketenstarts beobachten zu können, war ihr Großvater in so schlechter Verfassung, dass er kaum mehr aus eigener Kraft gehen konnte. Meistens saß er am Fenster, das Gesicht im warmen Sonnenschein, ein Gesicht, in dem es plötzlich zu viel Haut zu geben schien, ebenso wie am Hals, und mit Falten wie tiefen Tälern. Er trug immer eine Mütze, weil ihm wegen der Chemotherapie das Haar ausgefallen war. Seine Augen hatten sich getrübt, ein milchiger Film lag über den Pupillen. Doch trotz allem lächelte er immer, und einmal sagte er: »Ich freue mich über jeden Tag.«

Im April konnte Großvater Francis nicht einmal mehr am Fenster sitzen. Er lag im Bett, wenn Eleonora ihn besuchte, in einem hübschen Zimmer mit frischen Blumen auf dem Tisch und bunten Bildern an den Wänden.

»Wenn das Fenster offen ist und der Wind aus der richtigen Richtung kommt, kann ich das Donnern der Raketenstarts hören«, krächzte er eines Tages. »Es klingt nach einem fernen Gewitter.«

Er sprach nicht mehr, er krächzte nur noch, oft so leise, dass Eleonora genau hinhören musste, um ihn zu verstehen. Und er wog nur noch halb so viel wie im September des vergangenen Jahrs, als ihn das Licht endgültig verlassen hatte.

Am 7. Mai 2005 starb Großvater Francis, ohne operiert worden zu sein. Er hatte sich strikt dagegen ausgesprochen. Eleonora erinnerte sich an seine Worte, als sie vor seinem Grab stand, direkt neben dem leeren ihrer Eltern in den Dune Acres am Michigansee: »Wenn es um einen anderen Körperteil ginge, kein Problem. Aber an meinen Kopf lasse ich kein Messer heran, nicht einmal ein kleines.«

Sechs Jahre waren seit dem anderen Begräbnis vergangen, bei dem es gar keine Toten gegeben hatte. Diesmal fehlte eine schwere Hand auf ihrer Schulter, als Eleonora zwischen Dr. Marvin Avens und Direktor Blake Hammings stand. Sie erinnerte sich daran, die kleine Flamme beobachtet zu haben, die in einem Glas auf der Grabplatte gebrannte hatte, bei den goldenen Namen ihrer Eltern. Eine ähnliche Flamme tanzte und flackerte nun auf dem neuen Grab. Eleonora betrachtete sie und fühlte sich so allein wie nie zuvor in ihrem Leben.

Als die meisten Trauergäste gegangen waren, trat sie vor und legte einen Petoskey-Stein auf den Sarg mit ihrem Großvater.

»Was ist das?«, fragte Direktor Hammings.

Der Stein war mehrere Zentimeter groß. Wenn man ihn befeuchtete, zeigte er die versteinerten Skelette von Korallen, die im Devon in einem warmen Meer gewachsen waren – solche Steine konnte man nur an den Ufern des Michigansees finden.

»Er stammt von hier.« Sie deutete zum See. »Angeblich hat ihn meine Urgroßmutter nach einem Sturm gefunden. Mein Großvater fand ihn hübsch. Er hat ihn immer gern betrachtet.«

»Ich verstehe«, sagte Direktor Hammings – der Direktor für sie blieb und nie zu Blake Hammings wurde –, und vielleicht verstand er wirklich. Als er den wartenden Männern das Zeichen gab, den Sarg hinabzulassen, wies er sie an: »Seien Sie vorsichtig, damit der Stein nicht herunterfällt.«

Einige Tage später, als Eleonora in ihrem Zimmer bei den Hammings’ über den Büchern saß und sich auf die nächste Prüfung vorbereitete, kam der Direktor herein.

»Du lernst und lernst«, sagte er anerkennend.

»Ich habe es meinem Großvater versprochen.«

Hammings blieb in der Mitte des Zimmers stehen. »Wenn du einen Wunsch frei hättest, was würdest du dir wünschen?«

»Ich würde mir wünschen, dass Großvater Francis wieder lebendig wird, ohne den Tumor in seinem Kopf«, antwortete Eleonora sofort. Und weil sie dreizehn war, nicht mehr sieben, sich ein wenig rebellisch fühlte und provozieren wollte, fügte sie hinzu: »Und ich würde mir eine Antwort auf die Frage wünschen, was die geheime Mission meiner Eltern war.«

Für einen Moment zeigte sich Überraschung in Direktor Hammings’ Gesicht.

»Nur ein Wunsch«, sagte er. »Der weder Francis noch deine Eltern betrifft.«

Eleonora sah auf die vor ihr liegenden Bücher. Darunter befand sich ein großer Bildband, dessen Cover den Mars zeigte – er enthielt Fotos von den Viking-Missionen der NASA in den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts.

»Ganz ehrlich«, betonte Hammings. »Dein größter Wunsch.«

Die Sterne, dachte Eleonora. Ich möchte das Universum sehen.

Doch dieser Wunsch erschien ihr ein bisschen zu groß, und deshalb sagte sie: »Ich möchte Astronautin werden und zum Mars fliegen.«

Der Direktor des Space Centers nickte langsam.

»Wer weiß, wer weiß«, murmelte er. »Du könntest es schaffen.«

Jahre vergingen, brachten neue Erfahrungen und neue Gedanken. Aus dem Mädchen wurde eine Frau, die ihr rotblondes Haar lang trug, oft zu einem Zopf geflochten. Ihre Haut blieb hell, die Sommersprossen auf Nase und Wangen wurden mehr. Sie lernte und lernte, Bücher blieben ihre ständigen Begleiter, für etwas anderes gab es in ihrem Leben kaum Platz. Noch immer versuchte sie, die Beste zu sein, auf eine ruhige, unauffällige Art, die andere Menschen nicht herausforderte, und wenn es ihr nicht gelang, analysierte sie die eigenen Schwächen und Unzulänglichkeiten.

Die Welt außerhalb von Cape Canaveral veränderte sich, und einige dieser Veränderungen betrafen auch die Raumfahrt, die bis dahin so etwas wie ein Monopol der NASA gewesen war. Bereits existierende private Raumfahrtunternehmen und neu gegründete erzielten erste Erfolge und trieben die technologische Entwicklung voran: SpaceX, 2002 von Elon Musk gegründet, plante einen eigenen Weltraumbahnhof in Boca Chica Village bei Brownsville, Texas – für die Baukosten wurden hundert Millionen Dollar veranschlagt. Hinzu kamen Blue Origin, von Amazon-Chef Jeff Bezos ebenfalls im Jahr 2002 gegründet; Virgin Galactic (2004) des Briten Richard Branson und des Amerikaners Burt Rutan; Vulcan Aerospace (2015) von Microsoft-Co-Founder Paul Allen; und andere Unternehmen, auf bestimmte Aspekte der unbemannten und bemannten Raumfahrt spezialisiert.

In den Zwanzigerjahren, als Eleonoras Astronautenausbildung begann, beschlossen die NASA und mehrere der privaten Unternehmen, unter ihnen SpaceX als wichtigster Partner, die Anlagen von Boca Chica Village, Texas, und Cape Canaveral, Florida, gemeinsam zu nutzen. Man arbeitete mit der ESA und der indischen ISRO zusammen. Russlands Roskosmos und Chinas CNSA ließen sich nicht dazu bewegen, an der internationalen Raumfahrt-Kooperation teilzunehmen – dort verfolgte man eigene Projekte und wollte sich nicht in die Karten schauen lassen.

Eleonora blieb allein. Zuerst steckte keine bewusste Absicht dahinter – ihre wenigen Männerbekanntschaften engten sie zu sehr ein, und sie hatte nie das Gefühl, ganz verstanden zu werden. Einmal kam ihr eine Frau recht nahe, eine Freundin, die ebenfalls eine Astronautenausbildung absolvierte und für das neue Mondprogramm eingeteilt wurde. Eine Woche lang hielt Eleonora es für möglich, dem eigenen Geschlecht zugewandt zu sein, und sie fragte sich, ob es tatsächlich möglich war, so etwas erst mit dreißig zu entdecken. Doch die neugierige Freude, die sie beim ersten engeren Kontakt empfunden hatte, wich bald der Unruhe, die sie immer dann erfasste, wenn sie sich nicht ihrer Aufgabe widmete, jenen Dingen, die von Kindesbeinen an ihr Leben bestimmten.

Die Partnerin wurde wieder »nur« zu einer Freundin, und Eleonora kam eine wichtige Erkenntnis: Das Alleinsein gehörte zu ihren Vorbereitungen. Etwas in ihrem Unterbewusstsein hatte begriffen, dass sie keine Beziehung eingehen durfte, wenn sie den Weltraum erforschen wollte – es durfte keine Fäden oder gar Stricke geben, die sie mit der Erde verbanden.

Miriam – so hieß die zwei Jahre jüngere Frau, die wieder zur Freundin geworden war – brach einige Zeit später zum Mond auf und blieb zwölf Monate dort, in der neuen Basis am Südpol, wo es in den tiefen Kratern, unerreicht vom Sonnenlicht, reichlich Wassereis gab. Kaum zurückgekehrt, drängte es sie schon wieder hinaus – nach nicht einmal sieben Monaten flog sie erneut zum Mond und wurde Mitglied der permanenten Crew der lunaren Station.

Für Eleonora verging die Zeit mit noch mehr Lernen und weiteren physischen und psychischen Vorbereitungen. Neben ihren Studien nahm sie an einem sportlichen Leistungsprogramm teil, bestimmt für Astronauten, denen besonders lange Flüge durchs All bevorstanden. Sie beneidete Miriam, der Mond reizte sie, aber der Mars lockte sie noch viel mehr, und die Reise dorthin dauerte nicht wenige Tage, sondern mindestens sechs oder sieben Monate.

Als weitere Jahre verstrichen und ihr vierzigster Geburtstag näher rückte, regten sich Zweifel, dass sie jemals die Erde verlassen würde. Andere Astronauten, die ihre Ausbildung später begonnen hatten, flogen zur neuen internationalen Raumstation oder zum Mond, während Eleonora an weiteren Schulungen und langen psychologischen Tests teilnahm.

An einem trüben Tag im Januar 2030 bat Direktor Hammings sie in sein Büro.

Er saß zurückgelehnt hinter seinem breiten Schreibtisch, die Hände auf dem Bauch gefaltet, der sich inzwischen deutlich sichtbar vorwölbte. Im Alter war er nicht geschrumpft wie damals Großvater Francis, sondern gewachsen, vor allem in der Breite. Vor ihm lagen fächerförmig ausgebreitet Dokumente und Computerausdrucke.

»Setz dich, Eleonora, setz dich.«

Sie sank auf den Stuhl vor dem Schreibtisch.

Hammings beugte sich vor. »Dies sind die Ergebnisse der letzten Tests.«

Eleonora spürte den Beginn von Nervosität. Sie räusperte sich. »Wie habe ich abgeschnitten?«

»Was? Oh, mit deinen Tests ist alles in bester Ordnung. Die Resultate könnten kaum besser sein. Dies hier«, er deutete auf die Dokumente und Ausdrucke, »betrifft einige bisher als kritisch eingestufte technische Systeme.« Hammings sah von den Unterlagen auf. »Wir sind ein bisschen spät dran, aber wenn wir uns noch mehr Zeit nehmen, wird die Entfernung zu groß, und dann dauert die Reise viel länger. Dieses Jahr wird es leider nichts mehr, aber im nächsten ist es so weit.«

Als Eleonora schwieg, fügte er hinzu: »Die unterschiedlichen Umlaufbahnen. Das muss ich dir sicher nicht erklären.«

»Ich verstehe dennoch nicht …«, brachte Eleonora hervor und fragte sich, ob sie hoffen durfte.

»Der Mars.« Hammings lächelte kurz. »Wir fliegen zum Mars. Mit einem neuen Schiff. Mit einer besonderen Fracht. Und mit dir. Wir haben bereits mit dem Bau der Mars Discovery begonnen.«

»Ich soll … zum Mars fliegen?«

»Wenn du möchtest. Wenn du bereit bist.«

Wilde Freude stieg in Eleonora auf. »Ob ich möchte? Ob ich bereit bin? Natürlich!«

»Die Crew der Mars Discovery